7 Das Dach der Welt

Als die Gipfel jenseits des Waldes sich vom zarten Rot der Morgendämmerung in das flammende Gold des Sonnenaufgangs verwandelten, ging Rabe tief über dem Lager in die Kurve, wobei sie den Bäumen gekonnt auswich. Von ihrem Ausguck hoch oben in der Luft konnte sie zahlreichen, früh-morgendliche Aktivitäten beobachten. Yazour und Eliizar häuteten am Fluß zwei Hirsche, wobei Shia, die zweifellos bei der Jagd auf die Tiere begeistert geholfen hatte, ihnen zusah. Bohan trat gerade aus der anderen Richtung durch die Bäume, und die Kaninchen, die er gefangen hatte, baumelten schlaff von seinen gewaltigen Händen, während Nereni, die am Feuer das Frühstück vorbereitete, aufblickte und ihr zuwinkte. Das geflügelte Mädchen bemerkte mit einem Anflug von Ärger, daß Aurian und Anvar verschwunden waren – wieder einmal.

Rabe landete, und die Luftwirbel ihrer Flügel ließen das Feuer auffunkeln. Sie begrüßte Nereni mit warmen Worten und übergab ihr ihre Beute – zwei Fasane und eine Wildente, die sie dabei erwischt hatte, wie sie sich ein Stück stromaufwärts am Ufer ausruhte. »Wo sind die Magusch?« fragte sie.

»Vielleicht fischen gegangen oder die Pferde zusammentreiben.« Nereni gab ihr im Gegenzug für die Vögel eine Tasse dampfender Suppe. »Beim Schnitter, ich bin froh, daß wir morgen aufbrechen. Je früher ich wieder Wände um mich herum habe, um so besser.«

»Wahrhaftig«, murmelte Rabe und dachte an Harihn, Wie sehr sie ihn vermißt hatte, seit er zum Turm aufgebrochen war! Mehr als zwei Wochen lang hatte sie jetzt wie ein Packesel geschuftet und den anderen bei den Vorbereitungen für die anstrengende Reise in die Berge geholfen. Sie hatte so getan, als bewache sie Harihns Lager, hatte dabei geholfen, die groben Schutzzelte aus geflochtenen Zweigen aufzubauen, die nun überall um die Lichtung herum verstreut waren, hatte für Nereni Vögel gefangen, die diese kochte, und hatte für die Jäger als Kundschafterin gearbeitet, um Hirsche, Wildschweine und andere Tiere zwischen den Bäumen auszumachen. Ihre aufgeschürften, rauhen Hände bezeugten die Tatsache, daß sie Holz und Wasser herbeigeschafft hatte, als wäre sie nie eine Prinzessin gewesen. Und bei alledem hatte sie immer noch Zeit gefunden, Nereni bei ihrer endlosen Näherei zu helfen.

Nach der Gluthitze in der Wüste hatte sich die Kälte der Berge als Problem erwiesen, denn die Gewänder, die sie getragen hatten, waren für diese kälteren Gebiete zu dünn, und die Kleidung, die in Dhiammara gelagert gewesen war, um die Raubzüge des Khisu auszustatten, hatte Harihn mitgenommen. Die Gefährten hatten jedoch Glück gehabt. Am Waldrand hatte Bohan die verlassenen Zelte des Prinzen und seiner Gefolgschaft gefunden. Nereni, die ihren Nähkasten während des ganzen Weges durch die Wüste wie einen königlichen Schatz gehütet hatte, machte nun aus dem Seidenstoff der Zelte neue Kleider für sie alle; sie nähte sie in doppelten Schichten und fütterte sie mit Wolle von wilden Ziegen, mit dem Pelz der Kaninchen, die Bohan gefangen hatte, und den weichen, warmen Daunen von Rabes Vögeln.

Es war eine mühsame und lästige Arbeit, die den größten Teil von Nerenis Zeit in Anspruch nahm und so viel Zeit, wie das geflügelte Mädchen erübrigen konnte. Die anderen halfen, wo sie nur konnten; Bohan wirkte zu jedermanns Erstaunen Wunder mit Nadel und Faden und produzierte mit Fingern, die so dick waren, daß sie die Nadel verdeckten, flinke, zierliche Stiche. Aurian hatte sich beim Nähen als vollkommen nutzlos erwiesen, und obwohl sie mittlerweile nicht mehr in der Verfassung war, bei den anstrengenden Arbeiten im Lager zu helfen, schaffte sie es, sehr zu Rabes Unwillen, doch immer wieder, dieser verhaßten Tätigkeit zu entkommen.

Die Jäger, zu denen auch Shia gehörte, hatten jedoch alles Wild herbeigeschafft, das sie finden konnten. Einiges davon aßen sie und waren froh darüber nach dem gräßlichen Hunger in der Wüste, aber das meiste räucherten und trockneten sie für die Reise. Selbst die Pferde waren fleißig gewesen und hatten eifrig nach frischem Gras gesucht. Die Verbesserung ihres Zustandes war für alle deutlich sichtbar, während die Tage so schnell verflogen, wie die Flüsse des Waldes fließen konnten – bis die Magusch endlich, als Rabe ihre Ungeduld kaum noch ertragen konnte, beschlossen, daß es Zeit zum Aufbruch war.


»Aber wir haben doch jetzt bestimmt genug.« Aurian blickte auf den Haufen getüpfelter Forellen, die glitzernd und funkelnd am Flußufer lagen, und streckte mit einer Grimasse ihren schmerzenden Rücken.

»Es ist aber immer noch besser, als nähen zu müssen, nicht wahr?« neckte sie Anvar.

Aurian verzog das Gesicht. »Alles ist besser als diese Näherei!«

»Alles ist besser als deine Näherei«, kicherte Anvar. »Abgesehen von den schauderhaften Auswirkungen auf deine Laune hatte ich schon Visionen, wie die Kleider um uns herum in Stücke zerfielen, noch bevor wir auch nur den ersten Berg erklommen hätten.«

»Und du könntest es besser?« erwiderte Aurian.

»O nein! Wir Magusch mögen viele Talente haben, aber Nadelarbeit scheint irgendwie nicht dazuzugehören.«

Aurian hatte es geschafft, dem verhaßten Nähen zu entkommen, indem sie fischen ging, und so kam es, daß Anvar schließlich doch noch die Kunst des Forellenfangs erlernt hatte; nicht im Meer, sondern in den eisigen Waldflüssen und mit Aurian als seiner Lehrerin. Forral hatte ihr vor langer Zeit in Eilins See die notwendigen Kunstgriffe beigebracht, und Aurians Herz krampfte sich jedesmal zusammen, wenn sie an ihr jüngeres Selbst dachte, einen mageren, kleinen Kobold mit zerzaustem Haar, der bis zu den Ellbogen in den stillen Seewassern gestanden hatte, während er jede Bewegung des Schwertkämpfers nachahmte, mit Augen voller Bewunderung und einem Gesicht, das vor Freude leuchtete. Ach, das waren glückliche Tage gewesen! Jetzt war sie erwachsen und hatte die bittere Schale der Trauer und der Entbehrungen bis zur Neige ausgetrunken. Ein anderer Kopf, blond statt braun, kauerte ganz in ihrer Nähe, während sie durch die bernsteinfarbenen Waldbäche spähte, und Anvars leuchtend blaue Augen irrten wieder und wieder vom Wasser ab, um sehnsüchtig zu ihr hinüberzuschauen.

Anvar, der am Flußufer saß, säuberte die Fische mit schnellen, geübten Bewegungen. »Kommst du heute abend mit uns?« erkundigte er sich beiläufig, während sie ihren Fang in einen von Nerenis geflochtenen Körben stapelte. Aurian wußte, daß die Frage, so beiläufig sie auch klang, alles andere als das war und leicht eine der Streitereien auslösen konnte, die in letzter Zeit so häufig zwischen ihnen waren. Seit sie der Wüste entkommen waren, hatte Anvar begonnen, ihr mit seinem Beschützerinstinkt auf die Nerven zu gehen, aber Aurian wußte, daß dem, was sie im Augenblick tun konnte, enge Grenzen gesetzt waren.

»Was?« fragte sie ihn in entrüstetem Tonfall. »Du willst, daß ich Pferde stehlen gehe? Im Wald, mitten in der Nacht, in meinem Zustand?« Sie grinste, als sie das kurze Aufflackern von Erleichterung in seinem Gesicht sah. »Erwischt!«

»Biest!« Er warf einen Fisch in ihre Richtung, und Aurian fing das schlüpfrige Geschöpf mitten in der Luft auf, bevor es sie treffen konnte.

»Bist du verrückt«, protestierte sie. »Wir müssen ihn noch essen.«

»Um genau zu sein«, kehrte sie zu ihrem ursprünglichen Thema zurück, »habe ich die Absicht, im Bett zu liegen und zu schlafen, wenn ihr heute abend aufbrecht, also macht keinen Lärm.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, brummte Anvar. »Aber im Ernst, Aurian, wirst du das wirklich tun? Macht es dir nichts aus?«

Die Magusch sah ihn durchdringend an. »Anvar, es macht mir mehr aus, als ich sagen kann. Aber was würde ich euch schon nützen? Ich kann mich nicht schnell genug bewegen, und es würde mir schwerfallen zu kämpfen, wenn es sein müßte. Aber was ist, wenn es eine Falle ist? Hast du daran schon einmal gedacht? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum Harihns Leute so lange hier verweilt haben. Und es erstaunt mich wirklich, daß sie uns nicht gefunden haben.«

Anvar schüttelte den Kopf. »Warum sollte es eine Falle sein?« wandte er ein. »Sie wissen doch nicht, daß wir ihre Pferde stehlen wollen, und da Shia und Rabe die ganze Zeit unser Lager bewacht haben, hätte keiner von ihnen nahe genug herankommen können, um uns auszuspionieren. Wenn du mich fragst, ich glaube nicht, daß der Prinz überhaupt noch dort ist.«

»Was?« Das war eine Neuigkeit für Aurian.

»Nun, denk doch mal darüber nach. Rabe hatte keine Ahnung, wie viele Leute zur Gefolgschaft des Prinzen gehörten, aber als Shia das Lager ausgekundschaftet hat, sagte sie, die Hälfte der Leute wäre verschwunden – vor allem von den Bewaffneten. Du weißt, wie kaltblütig Harihn uns zurückgelassen hat – ich glaube, er ist mit seinen Soldaten vorgegangen und hat seine Diener zurückgelassen, die ihn auf dem Weg durch die Berge wahrscheinlich nur aufhalten würden. Wenn diese Leute versuchen, sich hier niederzulassen, würde das erklären, warum sie jagen und Früchte sammeln, statt die Gegend zu erkunden.«

»Bei den Göttern, daran habe ich überhaupt nicht gedacht.« Aurian runzelte die Stirn. »Das würde Harihn ähnlich sehen. Wenn du recht hast, sollte es die Expedition heute nacht erheblich erleichtern, aber trotzdem …« Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf seinen Arm. »Anvar, um alles in der Welt, sei vorsichtig, ja?«

»Natürlich.« Er streckte die Hand aus, um sie an sich zu ziehen – und Aurian ließ mit einem heimtückischen Grinsen den Fisch, den sie sich eigens für einen solchen Augenblick aufgehoben hatte, hinten in den Kragen seines Gewandes gleiten.


»Shia, bist du bereit?« Anvar spähte durch die Büsche hindurch auf die düsteren, schattenhaften Gestalten, die zufrieden und selbstvergessen auf der Lichtung grasten.

»Was glaubst du eigentlich, wie schnell ich mich durch diesen Wirrwarr hindurchschleichen kann?« drang Shias angespannte Gedankenstimme zu ihm herüber. »Willst du, daß ich diese dummen Geschöpfe vor Angst wieder zurück in die Wüste treibe?« Dann herrschte für kurze Zeit Stille, bevor sie fortfuhr: »Ich bin jetzt in Position. Kannst du sie sehen?«

»Sie sind direkt vor mir. Gibt es eine Wache auf deiner Seite?« Da Anvar die Nachtsichtigkeit der Magusch besaß, hatte man ihn ausgewählt, um mit Shia zusammen die Pferde der Khazalim zu stehlen.

»Hier ist nur ein Mann – genau dort, wo Rabe es gesagt hat«, informierte die Katze ihn. »Und der Narr schläft tief und fest!«

»Wunderbar!« Anvar grinste. »Schleich dich ganz langsam heran, so daß die Pferde nicht in Panik geraten. Wir wollen ihn nicht aufwecken.«

»Ich weiß, ich weiß!«

Anvar hockte im Gebüsch und wartete. Irgendwo auf der anderen Seite der Lichtung, das wußte er, würde Shia jetzt vorsichtig auf die Tiere der Khazalim zukriechen. Sie befand sich auf der dem Wind abgewandten Seite von ihnen und würde nun jederzeit … Eines der Pferde warf den Kopf in den Nacken und schnaubte, als es den Eindringling witterte. Da die Pferde jedoch mit Fußfesseln angebunden waren, konnten sie nicht fliehen. Statt dessen begannen sie, als sich die Unruhe von einem Tier zum anderen ausbreitete, sich in einer dichten Traube von der Gefahr wegzubewegen. Auf die Weise kamen sie aus der Lichtung heraus, weg von der schlafenden Wache – und, wie Anvar mit einem Grinsen dachte, direkt in seine Arme!

»Kommt, meine Schönen«, flüsterte der Magusch sanft und ließ ein Seil um den Hals des Leitpferdes gleiten. Unter normalen Umständen härten die Tiere vielleicht dazu geneigt, vor einem Fremden zurückzuschrecken, aber jetzt, mit der großen Katze im Nacken, wußten sie, daß ein Mensch Schutz bedeutete. Anvar pfiff leise, und Yazour, Eliizar und Bohan tauchten wie Schatten aus dem Wind auf, um ihm zu helfen. Sie befreiten vier Pferde von ihren Fußketten und führten sie weg, zurück durch den Wald zu ihrem Lager, wo alles für den Aufbruch bei Morgendämmerung bereitgestellt und gepackt war, damit sie weg sein konnten, bevor die Khazalim auf die fehlenden Pferde aufmerksam wurden.

Anvar, der besser als die anderen sehen konnte, ging voran. Aber nur ein Teil seiner Aufmerksamkeit richtete sich darauf, den besten Weg durch das dichte, verschlungene Unterholz zu finden. Er verspürte ein Gefühl der Erleichterung darüber, daß das Stehlen der Pferde so einfach gewesen war, aber gleichzeitig quälte ihn ein nagender Verdacht. Es war einfach gewesen, ja wahrhaftig – zu einfach, verdammt noch mal! Was, so fragte sich Anvar, ging da vor? Alles in allem würde er froh sein, diesen Wald endlich verlassen zu können.

Während die Pferde sich in dem gesprenkelten Licht unter den Bäumen einen qualvoll engen Ziegenpfad hinaufmühten, sah Aurian sich um und sagte dem Ort, der ihr etwa einen Monat lang ein sicherer Hafen gewesen war, ein letztes Lebewohl. Ironischerweise war die Magusch jetzt, da es an der Zeit war, den Wald zu verlassen, nur widerwillig bereit, seine schützende Zuflucht aufzugeben. Aber es war gewiß nicht die Schönheit des Ortes, die sie zögern ließ. Es war schiere Angst.

Seit ihre Kräfte sie verlassen hatten, versetzte ihre eigene Verletzlichkeit Aurian beinahe in einen Zustand vollkommener Lähmung. Nach Monaten der Flucht und des Kämpfens hatte ihr Körper sie im Stich gelassen, zwang sie, in ihrem Kampf innezuhalten. Ihre Ängste tauchten jedoch, während sie schlief, immer wieder auf und füllten ihre Träume mit entsetzlichen Todesgeistern, mit grauenhaften Visionen von Miathans Verwüstungen zu Hause in Nexis und dem Leiden von Rabes geflügeltem Volk, bis sie schließlich jede Nacht schweißgetränkt und zitternd erwachte. Die Magusch war zerrissen zwischen ihrem Wunsch, die Reise fortzusetzen, und dem Bedürfnis, im sicheren Schutz des Waldes zu bleiben, bis ihr Sohn geboren wurde. Erst jetzt, da sie seine Gedanken fühlen konnte, war das Kind ganz und gar Wirklichkeit für sie geworden, und sie stellte zu ihrem eigenen Erstaunen fest, daß sie es mit wildem Beschützerinstinkt liebte. Nicht einmal Anvar hatte sie das anvertrauen können, und ohne daß ihre Freunde davon wußten, trug sie im Wald einen ungeheuren, inneren Kampf mit sich aus, um den Mut zu finden, ihren Weg weiterzugehen. Das letzte, was sie zugeben wollte – sogar sich selbst gegenüber –, war die Tatsache, daß ihre Angst und Unentschlossenheit von dem Verlust ihrer Magie herrührten.

Jetzt jedoch konnte Aurian es nicht länger aufschieben. Es war lebenswichtig, daß sie sich gegen den Erzmagusch stellte, und Rabes Turm war ein Schritt in die richtige Richtung. Welche Wahl hätte sie sonst gehabt? Sie und Anvar mußten ohnehin nach Norden reisen. Die Magusch war froh darüber, daß die Nähe des Lagers der Khazalim ihr die Entscheidung abgenommen hatte, aber bei Chathak, dieser Reise sah sie gewiß nicht mit Freude entgegen!

Den ganzen Tag ritten die Kameraden einen gewundenen Weg entlang durch den Wald, bis sie sich schließlich über die holprigen Viehpfade, die die immer felsiger werdenden Hänge durchzogen, ins Gebirge hinaufquälten. Am frühen Abend hatten sie die Baumgrenze erreicht. Mit einem Blick auf die trostlose Einöde aus Geröll und Felsbrocken, die sich bis zu den Knien des feindlichen Berges hinaufzog, beschlossen die Reisenden, eine letzte Nacht im Schutz des Waldes zu verbringen. Die Luft war bereits merklich kühler geworden, und sie scharten sich dankbar um ein munteres Feuer, über dem sie Kaninchen und Fasane von der Jagd des vergangenen Tages rösteten, während Shia eine Hirschkeule verschlang.

Nach dem Abendessen erbot sich Aurian, die erste Wache zu übernehmen, denn sie hatte Angst, daß sie wieder von ihren furchtbaren Träumen heimgesucht würde, wenn sie einschlief. Mit dem Schwert in der Hand saß sie ganz nah am Feuer, sah zu, wie sein tanzendes Licht rötliche Schattengesichter auf die dunklen Tannen zeichnete, und fragte sich, was die Freunde und Feinde, die sie in Nexis zurückgelassen hatte, wohl im Augenblick taten. Seit ihrem Traum von Eliseth fühlte sie sich unwohl – und der Anblick des unablässig fallenden Schnees, der die fernen Gipfel einhüllte, hatte zu ihrer Sorge noch beigetragen. Wenn Eliseth tot ist, müßte ihr Winter doch mittlerweile an Kraft verloren haben, dachte die Magusch. Jenseits des tröstlichen Rings des Feuers konnte sie die bedrohliche Gegenwart der Berge spüren. Und so war es, als beobachteten sie sie mit unfreundlichen Augen, ja, als warteten sie auf sie.


Während die Magusch und ihre Kameraden durch die gewundene Kette von Tälern kletterten, die zu den hohen Bergpässen hinaufführten, wurde der Marsch immer schwieriger, und die beißende Kälte nahm noch zu. Die kahle, steinerne Landschaft, die eingezwängt zwischen zerklüfteten Kliffen und unerklimmbaren Geröllhängen lag, wirkte zutiefst grimmig, obwohl sie manchmal ein seltenes, grünes Tal fanden, das durch eine Eigenheit der Bergformation vor dem unablässig heulenden Wind geschützt war. Glücklich hielten sie in diesen Zufluchtsstätten auf ihrem Weg inne und gönnten den Pferden die Chance, ein wenig zu grasen, und sich selbst eine Ruhepause von der überwältigenden Trostlosigkeit der Landschaft; aber während sie höher hinaufkamen, überzog der Frost die Pfade mit einem schlüpfrigen Film, der die Pferde ins Taumeln brachte und ihnen ein Schneckentempo aufzwang. Die Angst, daß jemand ernsthaft stürzen könnte, war ihnen zum ständigen Begleiter geworden. Bohan renkte sich eine Schulter aus, als sein Pferd zu Boden stürzte, und es war reines Glück, daß das Tier anschließend nicht lahmte. Immer öfter waren sie gezwungen, zu Fuß weiterzuklettern und die Tiere am Zügel zu führen – eine qualvolle Angelegenheit, die ihnen die Kräfte raubte und sie so sehr entmutigte, daß sie alle am Ende des eiskalten Marsches die denkbar schlechteste Laune hatten.

Die Reise forderte von jedem seinen Tribut. Das Essen für die Menschen und Pferde war streng rationiert, und es war nie genug, um ihnen die Kraft zu geben, sich gegen die harten Märsche und die tödliche Kälte zu wappnen. Die kleine Gruppe wurde mit jedem Tag reizbarer, und selbst der sanftmütige Bohan zeigte immer öfter eine finstere Miene. Außerdem hatte er eine auffällige Abneigung gegen Rabe entwickelt, aber da er nicht sprechen konnte, war er nicht in der Lage zu erklären, warum das so war. Anvar machte sich die größten Sorgen um Aurian. Tag um Tag wurde sie hagerer und hohlwangiger, während das Baby ihr die Nahrung für sein eigenes Wachstum stahl, bis seine Mutter nur noch aus Bauch und Knochen bestand. Da ihr mittlerweile selbst zum Reden die Energie fehlte, wehrte sie sich nicht länger gegen seine Hilfe, während sie sich Schritt für Schritt weiterzog und sich auf den Stab der Erde stützte, den sie mit erfrorenen, mit Lumpen umhüllten Fingern umklammerte. Nachts konnte sie keinen Augenblick lang aufhören zu zittern, obwohl Bohan und Shia sich an sie schmiegten und Anvar immer in ihrer Nähe war, um ihren Körper mit dem seinen zu wärmen. Anvar konnte zu seiner zunehmenden Bestürzung keine Möglichkeit finden, ihr Leiden zu erleichtern, und er wünschte sich aus ganzem Herzen, die Qualen beenden zu können, die Miathan seiner Geliebten und zahllosen anderen neben ihr bereitete.

Während die Tage sich dahinschleppten und die Gefährten ihren kalten, erbärmlichen Marsch fortsetzten, ließ ein Gedanke Anvar nicht mehr los. Warum sollte Aurian ihre Sicherheit und die ihres Kindes aufs Spiel setzen? Er verfügte doch jetzt über seine eigenen Kräfte, und die Magusch hatte ihn, bevor sie ihre Magie verlor, so gut es nur ging ausgebildet. Vielleicht konnte er einen Weg finden, selbst gegen Miathan zu kämpfen. Hätte er sich Aurian anvertraut, hätte sie ihm so tapfere, aber auch törichte Ideen ausgetrieben, denn ohne die fehlenden Waffen hatten sie zu zweit kaum eine Chance gegen den Kessel und würden vielleicht nur einen Krieg zwischen zwei gleich starken Mächten auslösen, einen Krieg, der die ganze Welt zerstören konnte. Aber Anvar behielt seine Gedanken für sich und arbeitete immer weiter an einer Idee, die wie ein Krebsgeschwür in ihm wuchs. Er war überzeugt, daß das seine Chance wäre, seine Mitschuld an Forrals Tod zu sühnen.


Die Freunde waren bereits einige Tage unterwegs, als der Schneesturm zuschlug. Den ganzen Morgen über waren sie geklettert und hatten die Pferde, die seltsam unruhig waren, an ihren Zügeln geführt. Plötzlich spürte Aurian den ersten, scharfkörnigen Schnee im Wind – harte, winzige Kügelchen, die in der rissigen Haut ihrer Hände und ihrer Gesichter brannten und in feinen Strängen über die Felsen wehten und sich schließlich, ohne zu schmelzen, in jeder Felsspalte sammelten. Der Himmel wurde schwarz und schwer, als senkten sich die Wolken, um ihnen bei ihrem Marsch den Berg hinauf entgegenzukommen. Die Gewalt des Windes nahm immer weiter zu, und Rabe, die vor ihnen hergeflogen war, landete plötzlich neben den beiden erschöpften Magusch. »Ich glaube, wir sollten zurückkehren«, sagte sie. »Es gibt keine Möglichkeit für uns, irgendwo Schutz zu finden – wir nähern uns dem höchsten Punkt des Berggrats, und da oben sieht es ziemlich schlimm aus.«

Aurian fluchte. Die Hänge um sie herum bestanden aus nacktem Schotter, und weiter unten war es dasselbe gewesen. »Auch dort, wo wir hergekommen sind, gibt es mittlerweile keine Zuflucht«, sagte sie. Alle sahen einander an, und keiner von ihnen wollte auch nur ein winziges Stück ihres so hart erstrittenen Fortschritts verlieren. Bevor sie noch zu einer Entscheidung kamen, war die Luft voll von weißen, dicken Flocken, die mit schockierender Plötzlichkeit auf sie niederprasselten; der Schnee war so dicht, daß es ihnen schwerfiel zu atmen und sie einander kaum noch sehen konnten.

»Bleibt, wo ihr seid!«„rief Yazour. Aurian streckte die Hand aus, um nach Anvars Ärmel zu greifen, und spürte, wie seine Hand sich fest um ihre eigene schloß. Auf ihrer anderen Seite fühlte sie Bohans große Hand auf ihrer Schulter und hoffte, daß ihre Kameraden einander auf die gleiche Weise festhielten.

Eliizars Stimme durchdrang das anschwellende Heulen des Windes. »Bleibt zusammen!« rief er. »Bindet die Pferde im Kreis aneinander und stellt euch in ihren Kreis hinein!« Es war schwer, seinem Rat Folge zu leisten, blind wie sie waren und mit den eingeschüchterten Pferden; außerdem waren ihre Hände fast taub und völlig unbeholfen durch die Kälte. Nach größten Anstrengungen fanden sie sich schließlich in dem notdürftigen Schutz des Kreises zusammengekauert wieder, während der Schnee sich um sie herum auftürmte. Sie versicherten sich, daß sie alle da waren, indem sie einander berührten. Keiner von ihnen wagte es, sich hinzusetzen, aus Angst, daß er nie wieder aufstehen würde.

Die Kameraden klammerten sich aneinander und teilten ihre Wärme, die der gnadenlose Wind jedoch schnell aus ihren Knochen sog. Aurian hatte schon lange alles Gefühl in ihren halb erfrorenen Füßen verloren, und die Kälte durchdrang mit schläfriger Taubheit ihren Körper. Sie führte sie zurück in ihre Kindheit, zu jenem Tag, an dem sie in dem endlosen Schnee nach Forral gesucht hatte … Sie erwachte in der warmen, hell erleuchteten Küche im Turm ihrer Mutter, dort am See, und sie sah das ängstliche Gesicht des Schwertkämpfers auf sie hinunterblicken …

»Aurian, wach auf!« Es war Anvars Stimme. Aurians Traum schmolz dahin wie Schnee – o gütige Götter, der Schnee! Sie öffnete mit einigen Schwierigkeiten die Augen und zog sich hoch. Anvar schüttelte sie. »Dank den Göttern, daß du in Ordnung bist! Du bist eingeschlafen, du Dummkopf! Hätte ich nicht gespürt, wie du zu Boden gesunken bist …«

Aurian stöhnte. »Ich hatte einen wunderbaren Traum.«

»Das will ich hoffen«, erwiderte Anvar grimmig, »denn es wäre um ein Haar dein letzter gewesen.«

Zum ersten Mal fiel der verwirrten Magusch auf, daß sie Anvars Stimme plötzlich recht deutlich hören konnte. Der Wind hatte sich gelegt. Es schneite immer noch, aber deutlich schwächer als zuvor, und Aurian konnte in einem Umkreis von mehreren Metern ihre Umgebung erkennen. Nicht, daß es viel zu sehen gab … nur Schnee und noch mehr Schnee – und ihre Begleiter, die von dem schrecklichen Zeug so dicht eingehüllt wurden, daß sie kaum noch von dem blendendweißen Hintergrund zu unterscheiden waren.

Rabe mit der ihrer Rasse angeborenen Widerstandskraft gegen die Kälte schien von allen die munterste zu sein. »Wir müßten jetzt eigentlich schon ziemlich nah am Turm sein«, sagte sie. »Wenn ihr hier wartet, fliege ich hinauf und stelle fest, wo wir sind.«

Nereni seufzte. »Ich wünschte, wir könnten Feuer machen. Wir brauchten jetzt alle eine warme Mahlzeit.«

Nereni würde sich jedoch weiter vergeblich nach einem Feuer sehnen müssen. Den mageren Vorrat Feuerholz, den sie vom letzten Tal mitgenommen hatte, hatten sie schon vor einigen Tagen aufgebraucht. Die Kameraden brauchten jedoch nicht lange zu warten, bis Rabe zurückkehrte. »Das habe ich mir doch gedacht«, sagte sie zu ihnen. »Der Turm liegt am anderen Ende des nächsten Tals. Wir sollten ihn eigentlich vor der Dunkelheit erreichen können, nur daß …« sie zog eine Grimasse. »Für euch flügellose Geschöpfe gibt es da vielleicht ein Problem.«

Grimmig und schweigend drängten die Wanderer ihre müden, halb erfrorenen Pferde durch brusthohe Schneewehen hindurch bis hinauf auf den Gipfel des Hügels. In der Nähe dieses Gipfels wurde das Gehen leichter, denn der Wind hatte dort den Schnee weggeblasen, bis er nur noch eine hauchdünne Schicht über den dunklen Felsen bildete. Auf dem windgepeitschten Berggrat hielten sie kurz inne, um sich über die nächsten Schritte ihres Marsches Klarheit zu verschaffen. Unter ihnen öffnete sich ein weites Tal, dessen leuchtendes, vom Schnee ersticktes Weiß nur hier und dort von dunklen Klumpen verzerrten Immergrüns durchbrochen wurde, das sich unter seiner wintrigen Last krümmte wie ein alter Mensch. Über dem Tal ragten gewaltige Gipfel auf, die wie scharfkantige Reißzähne nebeneinanderstanden, als warteten sie darauf, sich in eins ihrer jämmerlichen, menschlichen Opfer zu bohren.

Die Magusch spürte, wie ihr Mut sank beim Anblick des Weges, den sie vor sich hatten. Jetzt, da sie die Bergkuppe erreicht hatten, konnte sie nur allzugut verstehen, warum Rabe diesen Weg als Problem betrachtet hatte – ein Ausdruck, der Aurians Ansicht nach eine ungeheure Untertreibung war. Der Paß unter ihnen, der einzige Weg, der ins Tal hinunterführte, war unter Schneemassen begraben.

»Genau das brauchen wir jetzt«, seufzte Aurian. »Wie sollen wir es je schaffen, uns da einen Weg durchzukämpfen?«

Shia, die in den Bergen geboren und aufgewachsen war, betrachtete den von Schneewehen versperrten Paß. »Der Weg sieht ziemlich steil aus«, meinte sie. »Eine Lawine würde ihn vielleicht frei machen, zumindest so weit, daß wir da hinunterklettern könnten. Wenn wir nur eine auslösen könnten …«

»Eine was?« Anvar hockte neben ihr. Er hatte seine kalten Hände unter seinem Mantel versteckt, während die große Katze ihm von den gewaltigen Schneerutschen erzählte, die sich manchmal von den Berghängen lösten und alles, was ihnen im Weg stand, mit sich rissen. Er runzelte die Stirn und blickte noch einmal auf den Paß hinunter. »Glaubst du, es wäre möglich, eine solche Lawine auszulösen?«

»Natürlich.« Shia hielt inne. »Solange du bereit bist, denjenigen zu opfern, der das tut – denn das Risiko, von den Schneemassen mitgerissen zu werden, ist ungeheuer groß.«

»Oh!« Enttäuschung spiegelte sich auf Anvars Gesicht wider, aber die Worte der großen Katze hatten Aurian zu denken gegeben. »Anvar, glaubst du, du könntest den Schnee mit dem Stab der Erde in Bewegung setzen?«

Er drehte sich zu ihr um, und sein Gesicht leuchtete vor Erregung. »Aurian, du bist unschlagbar! Das heißt … wenn es dir nichts ausmacht, ihn mir noch einmal zu leihen?«

Aurian zuckte mit den Schultern. »Wenn ich die Wahl habe, dir entweder den Stab zu leihen oder mir auf diesem verfluchten Berg den Hintern abzufrieren, ist das keine Frage für mich. Aber, Anvar, ich bitte dich, um der Götter willen, sei vorsichtig. Der Stab hat die Eigenschaft, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen; er ist so mächtig, und Shia hat uns gerade erzählt, wie gefährlich diese Sache ist. Du mußt es erst gründlich durchdenken, bevor du etwas tust und – «

»Ich weiß, ich weiß!« Er grinste sie an. »Keine Angst, Aurian. Ich komme schon zurecht.«

Die Magusch zog den Stab aus ihrem Gürtel und reichte ihn ihm, obwohl sie im gleichen Augenblick von einer unguten Vorahnung überfallen wurde. Diese Situation war ganz anders als die, in der er den Stab zum ersten Mal benutzt hatte, vor einigen Wochen bei ihrem Kampf in der Wüste. Damals hatte er um sein Leben gekämpft – und sie hatte außerdem ihre beruhigende Hand auf dem Stab gehabt, um einen Teil von dessen ehrfurchtgebietender Energie abzufangen. Ich und meine klugen Ideen, dachte Aurian. Einen erschreckenden Augenblick lang sah sie in Anvar das, was er in ihr gesehen haben mußte, als sie den Stab in der Stadt der Drachen errungen hatte. In seinen Augen glühte ein Feuer wie von Saphiren, während er zum Eingang des Passes hinüberschritt, wo der Schnee sich vertiefte und der Weg zum Tal hin abzufallen begann.

»Tretet zurück!« rief Anvar fröhlich. Aurian fluchte leise. Sie wußte, wie es war – sie hatte diese Euphorie ebenfalls verspürt, als sie den Stab zum ersten Mal in den Händen gehalten hatte. Sie konnte bereits sehen, daß sein Zauber erste Wirkung zeigte, denn ein Gewebe leuchtend grüner Linien schlängelte sich einen Weg durch den Schnee und hinunter zum Fuß des Passes. Aber Anvar brauchte doch nur ein wenig von dem Schnee auf dem Gipfel zu bewegen, hatte Shia gesagt. »Anvar, nein!« schrie Aurian.

Die Kraftlinien flackerten in einem blendenden, smaragdgrünen Licht. Mit einem Rumoren, das zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen anstieg, begann der Schnee, den schmalen Hohlweg hinabzudonnern; polternd und grollend krachte er in einer unerbitterlichen Woge zu Boden, während die Erde unter ihnen zitterte und bebte und große Wolken pudriger, weißer Kristalle in die Luft stiegen. Das Schneebrett, auf dem Anvar stand, begann sich zu bewegen, rutschte nach vorn und hinunter in die Tiefe. Anvar, der wild um sich schlug, um das Gleichgewicht zu halten, schrie in schriller Verzweiflung noch einmal laut auf – und war verschwunden.

Загрузка...