13 Incondors Klagelied

Die große Katze humpelte über die überall im Tal verstreuten Felsblöcke, und ihre kraftlosen Füße hinterließen eine Blutspur auf den grausam spitzen Steinen. Ihre massige Gestalt, die durch die einsame Größe der Berge viel kleiner erschien als sonst, kam Anvar mitleiderregend zerbrechlich vor; ihre hervorstehenden Rippen warfen Streifen aus Licht und Schatten über das glanzlose, matte Fell, das an ihren eingesunkenen Flanken herabhing. Ihre Schnauze war da, wo ihre Zähne sich grimmig um den Stab der Erde klammerten, mit Blasen und Schorf überzogen, und Speichel hing ihr in dicken, schleimigen Fäden vom Kiefer herab.

»Shia! Große Götter, Shia!« rief Anvar laut, unfähig, den Anblick des Leidens der großen Katze zu ertragen.

Sie blickte zu ihm auf, und ihre gelben Augen waren stumpf und glasig. »Was willst du?« sagte sie kurz, ohne eine Pause auf ihrer qualvollen, eintönigen Wanderung einzulegen.

»Shia! Was ist los? Geht es dir gut? Bei den Göttern, was ist mit dir geschehen?«

Die große Katze fauchte trotz des Stabes, den sie im Maul hielt. »Sehe ich so aus, als ginge es mir gut?« schnaubte sie. »Und um dir deine andere dumme Frage zu beantworten. Was mit mir passiert ist? Ganz einfach: Dieses Ding, das ich da trage, versucht, mich allmählich zu töten. Aber es wird keinen Erfolg haben, was immer es selbst auch denken mag. Und es denkt wirklich – wenn auch vielleicht nicht im gewöhnlichen Sinne. Es ist mehr wie ein Instinkt; da ich seine Macht nicht benutzen kann, versucht es, mich zu zerstören. Ihr Magusch solltet das eigentlich wissen.« Sie taumelte, stöhnte vor Schmerz einmal kurz auf und begann schließlich weiterzusprechen, während sie ihren mühseligen Marsch wieder aufnahm. »Und was die Frage betrifft, wo ich gerade bin – ich bin auf dem Weg zu dir. Aurian hat mich gebeten, dir dieses verflixte Ding zu bringen, damit du von Aerillia entkommen und ihr zu Hilfe eilen kannst …«

Das Tal schien sich mit einem silbrigen Nebel zu füllen, der wie eine unablässige Flut über das Land strömt. Anvar verlor Shia … sie verschwand vor seinen Augen …

»Was machst du überhaupt da?« fuhr sie ihn an. »Hör sofort mit diesem Unsinn auf, und geh wieder in deinen Körper! Ich würde ja schön dastehen, wenn ich dieses gräßliche Ding den ganzen Weg nach Aerillia trage, und du bist tot. Wage es bloß nicht, Aurian so im Stich zu lassen. Sie braucht dich …«

Shia und das Tal waren plötzlich verschwunden. Alles, was übrigblieb, war der klebrige, silberne Nebel …, der sich hob, um ihm Aurian zu zeigen, zusammengekauert neben dem Feuer in dem quadratischen, kleinen Raum in Incondors Turm; ihre Schultern hingen müde herab und verrieten vollkommene Niedergeschlagenheit. Anvars Herz sehnte sich nach ihr. »Aurian!« rief er, und es verlangte ihn danach, sie zu trösten, aber ohne ihre Kräfte konnte sie ihn nicht hören. Nach einer Weile hob sie blinzelnd den Kopf, und er sah die gelben Schrammen auf ihrem Gesicht, die Miathans Hand dort hinterlassen hatten. Zorn brodelte in ihm auf. Es war lebenswichtig, daß er entkam und sie rettete – aber wie?

Was hatte Shia gesagt? Geh wieder zurück in deinen Körper … Wenn ich dieses gräßliche Ding den ganzen Weg nach Aerillia trage, und du bist tot …

Anvars stöhnte. »Ist es das, was gerade mit mir passiert? Aber ich kann doch jetzt nicht sterben!« Verzweifelt taumelte er durch den bösartigen Nebel und suchte einen Weg zurück zu seinem Körper; mit jedem Augenblick, der verging, wuchs seine Panik. »Helft mir doch, irgend jemand – o Götter – ich kann nicht hinaus … helft mir hüte …

»Na komm schon, Junge, Kopf hoch.« Die schroffe und doch sanfte Stimme mit ihren Erinnerungen an Zuversicht und lange vergangene Freundlichkeiten durchschnitt Anvars Furcht, wärmte ihm das Herz und bestärkte seine Entschlossenheit wie ein Schluck starken Weines. Anvars Entsetzen löste sich auf, und wilde Freude schoß durch ihn hindurch. »Forral! Aber du bist doch …!«

»Jawohl, ich bin tot – und du auch, jedenfalls beinahe, was auch der Grund dafür ist, daß ich dich erreichen kann.«

Anvar konnte ihn jetzt beinahe sehen – eine breite, schattenhafte Gestalt inmitten von wirbelnden Nebeln, das geisterhafte Flimmern, das nur dieses schnelle, blitzartige Lächeln sein konnte, das Anvar so gut kannte.

»Komm schon, Junge, wir müssen dich zurückbringen, bevor man herausfindet, was ich vorhabe. So etwas darf ich nämlich eigentlich nicht tun, weißt du!« Da war es wieder, dieses vertraute, boshafte Kichern. Anvar brauchte Forral nicht zu sehen, um zu wissen, daß wieder dieses alte Zwinkern in seinen Augen lag – wie es früher immer gewesen war, wenn er und Vannor etwas getan hatten, um den Erzmagusch zu überlisten. Eine schwielige Hand umschloß die seine. Wie kann ich das spüren, wenn wir doch tot sind? dachte der Magusch wild.

Dann hatte Anvar das Gefühl, plötzlich heftig herumgewirbelt zu werden, und fand sich schließlich in der Höhle wieder, wo er auf sein eigenes graues Gesicht niederblickte, ein Gesicht, das ganz spitz war und vom Fieber glänzte. Sein Körper zuckte unruhig unter den Pelzen, und eine weißgeflügelte Gestalt kniete stirnrunzelnd über ihm, während sie eine Hand auf sein Herz legte.

»Sieh lieber zu, daß du schnell wieder da reinkommst, du hast nicht mehr viel Zeit«, riet Forrals Stimme ihm. Obwohl er den Schwertkämpfer nicht sehen konnte, spürte Anvar den Druck von Armen um seine Schultern, spürte, wie er fest gegen einen anderen Leib gepreßt wurde. Forrals Stimme flehte ihn an: »Um aller Götter willen, Junge, paß auf Aurian auf!«


Anvars Kopf schien zerplatzen zu wollen, und sein Mund war trocken und pelzig. Ihm war übel, und sein Körper schmerzte, als hätte er eine schlimme Rauferei hinter sich. Aber erst als er mit aller Kraft versuchte, sich aufzusetzen, sah er die niedrige, gezackte Decke der Höhle und das jugendliche, feinknochige Gesicht, das, unter einer Fülle schneeweißen, seidigen Haars verborgen, zu ihm hinunterblickte. Die Gestalt war in zusammengefaltete, weiße Hügel eingehüllt, und hinter ihr, am Eingang der Höhle, stand ein bewaffneter, in Schwarz gekleideter Wachposten.

»Was …« Anvars Mund war so trocken, daß die Worte ihm in der Kehle steckenblieben. Er spürte einen unangenehmen Druck auf der Brust und konnte nur in flachen, keuchenden Stößen atmen. Er hustete, und ein scharfer Schmerz durchfuhr seine Rippen. Dann wurde ihm eine Tasse an die Lippen gedrückt, und er spürte, wie ein knochiger Arm seinen Kopf stützte. Anvar trank begierig, verschluckte sich und dachte an nichts anderes als an die Bedürfnisse des Augenblicks, bis sein furchtbarer Durst gestillt war. Dann öffnete er wieder den Mund, um zu sprechen, wurde jedoch unterbrochen.

»Pst! Schone deine Kraft. Du hattest hohes Fieber von deiner Reise hierher und von den Entbehrungen, die du vorher erlitten hast.« Der geflügelte Mann runzelte die Stirn und wirkte plötzlich deutlich älter. »Das Gift hat sich in deinen Lungen niedergelassen«, fuhr er fort. »Du warst nur einen Federhauch davon entfernt, die Pfade des Himmels zu beschreiten …«

Anvar schauderte. Gleichgültig, wie man es ausdrückt, dachte er, tot ist immer noch tot. Irgend etwas nagte in den Tiefen seines Bewußtseins an ihm, aber der Himmelsmann hatte wieder zu sprechen begonnen und vertrieb damit alle anderen Gedanken. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er, »aber ich habe ein Feuer entzündet, und daneben findest du ein wenig Suppe und zusätzliches Brennholz. Du mußt dich um jeden Preis warmhalten. In dieser Flasche hier ist Medizin gegen deinen Husten. Ich komme zurück, sobald ich kann«, fügte er hinzu und war auch schon verschwunden. Anvar konnte ihm nur sprachlos hinterhersehen.


Da war Schmerz und nur Schmerz. Er umschlang ihre ganze Welt. Rabe lag niedergedrückt unter der furchtbaren Last der Qual, die in pulsierenden Wogen über sie hinwegrollte. Sie öffnete die Augen, um das Bein ihres Nachttischchens zu betrachten, einen Teil des Bodens – und Blut – soviel Blut, überall, auf jedem Fleck, den sie mit ihrem kleinen Gesichtskreis erfassen konnte. Klumpen verklebter, schwarzer Federn lagen in einer klebrigen Masse, vermischt mit winzigen Knochensplittern. Rabe erbrach sich und zuckte bei dem Anblick zusammen; die Bewegung schnitt wie ein Messer aus Feuer durch ihre Nerven, und sie versuchte, sich wieder in die Bewußtlosigkeit fallenzulassen, versuchte, der Erinnerung an die Schläge, die auf sie niedergehagelt waren, zu entfliehen, dem Schmerz zerrissenen Fleisches und zersplitterter Knochen. Ihre Ohnmacht war ihr zu diesem Zeitpunkt höchst willkommen gewesen. Mit dem Wunsch zu sterben hatte sie die Dunkelheit umarmt, wie sie einst Harihn umarmt hatte. Ein Lachen voller Selbstverhöhnung, so bitter wie Galle, stieg in Rabes Kehle hoch, und sie zuckte wieder zusammen, so weh tat es. Schwarzkralle hatte einen Narren aus ihr gemacht. Er hatte sie wieder einmal übertölpelt. Angesichts der raffinierten Grausamkeit seiner Natur hätte sie wissen müssen, daß der Tod das letzte war, was er für sie bereithielt, das letzte Glied in einer lange Kette von Qualen.

Aber keine Qual konnte schlimmer sein als dieses Schicksal, das Incondor zur bitteren Niederlage geführt hatte. Sie würde nie wieder fliegen können. Die belebende Freiheit des Himmels war ihr für immer verwehrt. Oh, aber dieser Schuft von einem Priester war schlau! Wenn er sie heiratete, konnte er als ihr Gemahl die Macht ergreifen, aber sie würde immer noch Königin und damit für alle Zeit eine Bedrohung für ihn sein. Er konnte sie kaum weiter gefangenhalten – sie und ihre Mutter mußten in der Zitadelle immer noch Anhänger haben. Auf diese Weise würde er jedoch alles bekommen. Sie war die letzte von Flammenschwinges Geschlecht, aber verkrüppelt wie sie war, würde man ihr nie gestatten zu herrschen. Es verstieß gegen das Gesetz ihres Volkes. Wenn Schwarzkralle es fertigbrachte, daß sie ein Kind von ihm bekam, konnte er ein ganzes Leben lang als Regent für einen Marionettenerben herrschen. Um die königliche Linie am Leben zu erhalten, würde ihr Volk es zulassen. In diesem Falle würde sie selbst natürlich verzichtbar sein, es sei denn, er beschloß, sie zu seiner eigenen Belustigung weiterleben zu lassen.

Rabe schauderte. Leben? Als Krüppel, als ein Gegenstand des Spotts oder, was vielleicht noch schlimmer war, des Mitleids? Da kam ihr der rettende Gedanke, und ihr Lachen – ein echtes Lachen des Triumphes diesmal – schrillte durch den verlassenen Raum. Oh, sie konnte ihn immer noch schlagen, und wie süß würde es sein, sich ihren letzten, noch verbliebenen Wunsch zu erfüllen, mit dem sie gleichzeitig ihrem Feind einen Strich durch all seine Rechnungen machen würde.

Selbst die kleinste Bewegung schien eine Ewigkeit zu dauern. O Mutter, es tut so weh! Mach, daß es aufhört! Der Raum um sie herum begann zu verblassen, und Rabe biß sich auf die Lippe, blinzelte heftig und atmete so tief durch wie möglich, bis sie endlich wieder klar sehen konnte. Im Hintergrund hörte sie das Heulen des Windes in den Turmspitzen des Tempels. Incondors Klagelied, so nannte ihr Volk diesen Klang. Das alptraumhafte Gebäude des Tempels war eigens erbaut worden, um seinen Niedergang zu bezeugen – und sein Schicksal.

Incondors Klagelied … Jetzt verstand Rabe das Unglück einer gequälten Seele, das in diesem furchterregenden Klang mitschwang. Mit träumerischem Gleichmut betrachtete sie ihre Hand – eine weiße Spinne, überströmt mit rostrotem Blut –, wie sie einen qualvollen Zentimeter nach dem anderen auf das spindeldürre Bein des Nachttischs zukroch. Endlich berührten ihre Finger den Tisch und schlossen sich um das glatte, kalte Metall. Gut. Die Beine hatten immer einen etwas unsicheren Stand gehabt; sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Mutter wieder und wieder gequält hatte, das Tischchen reparieren zu lassen. Rabe holte tief Luft und biß die Zähne zusammen. Fall jetzt nur nicht in Ohnmacht! befahl sie sich zornig. Prinzessin des Himmelsvolkes, wage es nicht, ohnmächtig zu werden! Dann zog sie, zog so fest sie nur konnte.

Der Schrei explodierte gegen ihre zusammengebissenen Zähne und tauchte schließlich als ein Wimmern daraus auf, ein Laut, der jedoch sogleich durch das Krachen splitternden Kristalls übertönt wurde. Das Geräusch verhallte, und alles wurde schwarz. Verflucht sollst du sein, Rabe, fall nicht in Ohnmacht! Irgendwie schaffte die Prinzessin es, sich von dem Rand des Abgrunds zurückzureißen, indem sie jeden Fluch vor sich hinmurmelte, den sie von Aurian gelernt hatte, bis der Schmerz den Punkt erreicht hatte, an dem er einfach nur noch unerträglich war. Sie öffnete wieder die Augen. Und da war es. Die Schale ihres Kristallkelchs war in kleine Stücke gesplittert, aber der dickere Stiel war unversehrt davon abgebrochen, wie sie es gehofft hatte. Die Stelle, an der er früher mit dem Kelch verbunden war, hatte jetzt einen scharfen gezackten Rand.

Sie hatte ihn sich eigentlich in die Brust rammen wollen. Aber als sie zitternd dalag, jeder Muskel und jeder Knochen überdehnt und kraftlos, wußte Rabe, daß sie es nicht schaffen würde. Außerdem waren die Herzen der Geflügelten schwer zu finden, denn sie lagen geschützt unter dem großen, kielförmigen Brustbein, in dem die Muskeln ihrer mächtigen Schwingen verankert waren.

O Vater des Himmels – warum haben sie mir meine Flügel genommen? Endlich gestattete Rabe es sich, einige Tränen zu vergießen, Tränen um all die Herrlichkeiten, die sie nun nie wieder würde genießen können; die Freude an der Jagd – zu schweben über sich unablässig verändernden Wolkengebirgen, hindurchzustoßen durch kälteste, graue Nebel, um unter sich die majestätischen Berge aufblitzen zu sehen … Und das Licht! Die reinen, strahlenden Farben, die sich mit jeder Stunde des Tages veränderten …

Trunken von der Herrlichkeit eines lang vergessenen Sonnenuntergangs, griff Rabe nach dem abgebrochenen Stiel des Kelchs und riß das gezackte Kristall über die Adern ihres ausgestreckten Arms …


Cygnus saß auf dem einsamen Hocker in seiner winzigen Zelle in den Gewölben unter dem Tempel des Yinze und las. Zumindest versuchte er zu lesen. Der Wind blies immer noch heftig, und das kreischende Jammern von den Turmspitzen über ihm konnte mühelos durch den soliden Felsen dringen, der zwischen dem jungen Arztpriester und der Quelle dieses abscheulichen Geräusches lag. Cygnus stöhnte, wobei der Klang seiner Stimme in dem allgemeinen Hintergrundgetöse ungehört verklang. Incondors verfluchtes Klagelied! Es störte ihn nicht nur in seiner Konzentration, sondern machte ihn mit seinem unheimlichen Heulen schon seit einiger Zeit nervös. Wenn das noch lange so geht, dachte er, verliere ich den Verstand. Schwärzeste Gotteslästerung, die es sein mochte, wünschte Cygnus sich doch, daß der Schöpfer des Tempels etwas mehr an die armen Priester gedacht hätte, die in seinen unteren Gewölben leben mußten.

Abgesehen von der Qual des Klagelieds gingen dem jungen Arztpriester zu viele Dinge durch den Kopf, um sich zu konzentrieren. Die Oberste Ärztin Elster hatte sich ebenfalls um die Königin gekümmert, als diese krank gewesen war, und Cygnus wußte, daß sie die Wirkung des Giftes erkannt haben mußte, das er Flammenschwinge auf Schwarzkralles Anweisung hin verabreicht hatte. Nur Elsters wilder Blick und der eiserne Griff, mit dem sie ihre Krallen in die Knochen seines Handgelenks gebohrt hatte, hatten ihm verraten, daß sie wußte, was er getan hatte; die Tiefe seines Respekts für seine alte Lehrerin hatte ihn jedoch davon abgehalten, die Wahrheit vor Schwarzkralle herauszusprudeln und sie zu verraten. Das hätte sehr wohl den Tod seiner alten Lehrerin bedeuten können. Schwarzkralles Spione waren überall in der Zitadelle, und er hatte Ohren in jedem Raum.

Es war Elster, die dafür verantwortlich gewesen war, daß Cygnus seine Karriere als Tempelwache für ›den Pfad des Lichts‹ aufgegeben hatte, wie die Geflügelten das Studium der heilenden Kunst nannten. Mit einer einzigen Tat hatte die Meisterärztin sein Leben für alle Zeit verändert. Cygnus war in jenen Tagen nichts als der sorglose Sproß einer berühmten Familie gewesen, gesegnet mit einem unbekümmerten Geist und einer Schnelligkeit, die sowohl Körper als auch Verstand umfaßte. Wie man es von ihm in der dem Kastenwesen unterworfenen Gesellschaft des Himmelsvolkes erwartete, war er der Syntagma beigetreten, der elitären Kriegerwache der Priesterschaft, und war dort bestens vorwärtsgekommen – bis zu dem Tag, an dem er um ein Haar den Tod von Sonnenfeder, seinem engsten Freund, verschuldet hätte.

Der Unfall fand während einer Trainingsübung statt, bei einer gewaltigen Kollision mitten in der Luft, die ganz und gar seiner eigenen Unaufmerksamkeit zuzuschreiben war. Cygnus, der genug Platz in der Luft hatte, um seinen taumelnden Sturzflug wieder unter Kontrolle zu bekommen, entging der Strafe für seine Unvorsichtigkeit. Sonnenfeder, der durch den Zusammenstoß bereits bewußtlos gewesen war, war direkt gegen einen Berghang geprallt. Cygnus, zu erschüttert für Worte, hatte sich zu der entsetzten Traube seiner Kameraden hinzugesellt, die sich um das Opfer geschart hatte, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sein Freund aufhörte zu atmen. Genau in diesem Augenblick war Meisterin Elster erschienen. Zerbrechlich, alt und zerzaust von ihrem hastigen Aufbruch, hatte sich Elster mit wenigen energischen Worten ihren Weg durch die Menge gebahnt. Ihr düster dreinblickendes, feinknochiges Gesicht war durchzogen von Falten und gekrönt von einer Fülle seidigen Haares, das auf auffällige Weise schwarz und weiß gesträhnt war. Ihre knochige Gestalt war in zusammengefaltete Flügel gehüllt, deren Federn bunt gescheckt und von einem kühnen Muster gezeichnet waren. Cygnus sah voller Ehrfurcht und mit wachsender Ungläubigkeit zu, wie sie auf Sonnenfeders Brust schlug und ihm den Atem ihres eigenen Lebens in die Lungen hauchte, bis sein Freund wieder selbst zu atmen begann.

Sonnenfeder hatte den Sturz überlebt, eine Tatsache, die Cygnus wie ein Wunder erschien. Elster hatte ihm nicht nur viel Trauer erspart, sondern ihn auch vor der lebenslangen Last der Schuld bewahrt. Seine Bewunderung für die ältere Ärztin kam beinahe glühender Verehrung gleich. Wie hatte sie das Wunder bewirkt, den Toten wieder ins Leben zurückzuholen? Plötzlich schien es Cygnus eine weit würdigere Tat zu sein, Leben zu retten, als es zu nehmen, wie man es ihn bisher gelehrt hatte.

Es hatte jedoch längere Zeit gedauert, bis es ihm gelang, Elster davon zu überzeugen, daß er es mit seinem neuen Ehrgeiz ernst meinte. Erst als er seine Stelle in der Syntagma aufgegeben hatte und daraufhin von seiner Familie verstoßen wurde, stimmte sie endlich und auch nur widerwillig zu, ihn in die Lehre zu nehmen. Sie war sicher, daß er die langen Jahre der mühsamen und vielfältigen Ausbildung niemals durchhalten würde. Cygnus hatte sich darangemacht, ihr das Gegenteil zu beweisen, und damit ihre Bewunderung und ihre Zuneigung gewonnen – bis er ihr beim Einbruch dieses furchtbaren Winters wegen eines anderen, finstereren Lehrers die Treue gebrochen hatte.

Als der Weiße Tod seine Klauen in ihre Berge schlug, fielen die Geflügelten in großer Zahl der Kälte zum Opfer. Überall um den gepeinigten Cygnus herum erlagen die Bewohner Aerillias einem langsamen, qualvollen Tod, starben an Kälte, Krankheit und Entbehrung. Der junge Arzt konnte das Ungeheuer nicht besiegen; all die Künste, auf die er so stolz gewesen war, waren machtlos dagegen. Cygnus begann an sich selbst und seinen Fähigkeiten zu zweifeln, und die Nutzlosigkeit all seiner Versuche umfing ihn, bis sein Verstand nur noch haltlos in einer See aus Finsternis trieb.

Cygnus, der in einem Morast aus Verbitterung und Verzweiflung versank, klammerte sich hilflos an den letzten, schwachen Hoffnungsschimmer – Schwarzkralle und seine Opferungen. Weil er sonst nichts mehr hatte, woran er hätte glauben können, gewöhnte sich Cygnus langsam an die Vorstellung, daß es nur dann wieder möglich sein würde, die legendären, heldenhaften Heilungen zu bewirken, die in den alten Annalen beschrieben waren, wenn es dem Hohenpriester gelang, die verlorenen magischen Kräfte der geflügelten Rasse wiederherzustellen. Widerstrebend zuerst, aber mit wachsender Bereitwilligkeit, hatte er sich Schwarzkralles Lehren zu eigen gemacht – und die Methoden, mit denen er seine Ziele erreichte.

Es war schon eine ganze Weile her, seit Cygnus seine Energien in Schwarzkralles gnadenlose, ehrgeizige Pläne gesteckt hatte, aber bei Yinze, Flammenschwinges Tod war furchtbar gewesen für ihn! Sie hatte mit Zähnen und Klauen um ihr Leben gekämpft und damit in ihrer Sturheit schreckliches Leiden über sich gebracht, das ihr sonst vielleicht erspart geblieben wäre. Cygnus erinnerte sich noch gut an sie: mit schwarzem Gesicht, würgend und nach Luft ringend, ihre Glieder verzerrt und von Krämpfen geschüttelt, die sie sich unter der Qual ihrer grausamen Schmerzen beinahe gebrochen hätte. Und doch hatte sie aus irgendwelchen inneren Quellen die Kraft gefunden, Schwarzkralle noch mit ihrem letzten Atemzug zu verfluchen.

Später in jener Nacht, in der Verwirrung, die gewöhnlich mit dem Tod einer Königin einherging, war Cygnus davongeschlüpft, um in das gerade erst zurückgekehrte Wüten des Winters hineinzufliegen, bis er in sicherer Entfernung von Aerillia war. Dort hatte er zitternd auf einer verlassenen Turmspitze gekauert und zum ersten Mal begonnen, seine Verbindung mit dem Hohenpriester in Zweifel zu ziehen; aber noch immer, nach alle den vielen Tagen, die seit jener furchtbaren Nacht vergangen waren, hatte er keine Antwort auf die nagenden Zweifel seines Gewissens gefunden.

Cygnus runzelte die Stirn. Trotz aller Versuche Schwarzkralles, Gerüchte im Keim zu ersticken, wurde doch überall in der Zitadelle geflüstert. Die Geschichte von dem gefangenen Zauberer und von seiner Gefährtin, die in Incondors Turm festgehalten wurde, mußte ihren Ursprung bei jenen haben, die bei ihrer Gefangennahme mitgewirkt hatten. Dennoch war Cygnus bis zur Sprachlosigkeit erschrocken gewesen, als Meisterin Elster in großer Eile in seinem Gemach erschienen war, um ihm zu sagen, daß er sich um den Gefangenen kümmern müsse. »Ich würde selbst gehen«, fügte die alte Ärztin kalt hinzu, »aber der Hohepriester hat es verboten.« Ihre gescheckten Hügel mit ihren raffinierten Fächermustern aus hellem Weiß und schimmerndem Blau, Grün und Schwarz waren vor Zorn halb entfaltet, als sie dem jungen Mann unter ihren zottigen, weißgesträhnten Brauen einen bedeutungsvollen Blick zuwarf. »Aber wie dem auch sei, tu, was du kannst.« Noch ein spitzer Blick – dem jungen Mann stockte der Atem. Elsters Mißbilligung war greifbar, und es tat ihm immer noch weh, wenn er daran dachte, daß er ihr die Treue gebrochen hatte.

Nun, Cygnus hatte sein Bestes für seine alte Lehrerin getan. Während er sich unter der Last seiner Schuld krümmte, hatte er Schwarzkralle berichtet, daß die Krankheit des Gefangenen über seine eigenen, erbärmlichen Kräfte hinausgehe und daß Elster dort gebraucht würde. Es war das beste, was er tun konnte, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, denn seit dem Tod der Königin hatte er sich über Elsters Schicksal Sorgen gemacht. Wer konnte vorhersehen, was mit ihr geschehen würde, wenn sie begann, Fragen über Flammenschwinges Dahinscheiden zu stellen?

Cygnus zuckte zusammen, als die Tür zu seiner Zelle aufkrachte und eine Tempelwache mit aschfahlem Gesicht erschien. »Komm schnell!« rief der Mann und zerrte den Arzt von seinem Hocker herunter. »Die Prinzessin! … Meisterin Elster braucht dringend deine Hilfe!«


Cygnus hätte weinen mögen, als er Rabe da liegen sah, klein, zerbrechlich und verlassen in dieser mit getrocknetem Blut überzogenen Kammer. Ihre Haut war von grausamer Blässe, und auf ihrem linken Unterarm zeigte sich ein gezackter, klaffender Schnitt; und ihre Flügel – o Vater des Himmels – waren eine verzerrte, zerschmetterte Masse blutiger Federn und zersplitterter Knochen! Cygnus überwältigte ein mörderischer Drang, den Hohenpriester zu fassen zu bekommen und ihm seinen mageren, faltigen Hals umzudrehen.

»Reiß dich zusammen! Ich kann diese Aderpresse nicht mehr lange halten.« Elsters scharfe Worte waren wie ein Guß eiskalten Wassers. »Hilf mir, sie hochzuheben! Wir müssen zusehen, daß wir möglichst viel schaffen, solange sie noch bewußtlos ist.« Die Stimme der Ärztin war ganz gefaßte Geschäftsmäßigkeit, aber ein Blick auf ihr starres, gräuliches Gesicht sagte Cygnus, daß Elster in Wirklichkeit am liebsten auf der Stelle ans Fenster getreten wäre, um sich zu übergeben.

Sehr zur Erleichterung des jungen Arztes gab das Mädchen keinen Laut von sich, als sie sie zu ihrem Bett trugen. »Deck sie zu, so gut du kannst«, murmelte Elster und betrachtete stirnrunzelnd den verletzten Arm. »Schock und Blutverlust sind unsere Hauptfeinde; wir müssen sie unbedingt warmhalten.« Mit diesen Worten zeigte sie auf den kleinen Messingtopf, den sie benutzte, um Wasser für ihre Nadeln und Klingen zu kochen. »Schür das Feuer. Es wird nicht viel Wärme spenden, aber …« Sie betastete Rabes gezackte Wunde. »Normalerweise würde ich dir diese Sache überlassen, aber sie hat diese Adern hier furchtbar zugerichtet, und Zeit ist von größter Bedeutung.«

Cygnus, der gerade Holz in den winzigen Ofen gepackt hatte, richtete sich auf, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Die Prinzessin hat versucht, sich das Leben zu nehmen?«

»Was denkst du denn?« Elster spülte gerade die Wunde mit einer reinigenden Lösung aus. »Sieh doch nur, was diese Mistkerle mit ihren Flügeln gemacht haben.« Ihre Hände waren immer die ruhigen Hände einer Meisterin und einer Chirurgin gewesen. Cygnus hatte sie niemals zuvor zittern sehen. Elster holte tief Luft. »Außerdem ist sie nicht die Prinzessin, sondern die Königin – und wir tun gut daran, das immer im Kopf zu behalten, während wir arbeiten«, fügte sie giftig hinzu. Wie eine wahre Meisterin hatte Elster sich bereits wieder unter Kontrolle. Cygnus wünschte, er hätte von sich dasselbe behaupten können.

»Jetzt …« murmelte Elster, als sie sich tief über Rabes Arm beugte. »Cygnus, würdest du bitte so freundlich sein, diese Flügel zu säubern, bevor das arme Mädchen aufwacht? Und bemühe dich, alles was noch übrig ist, wieder zusammenzufügen. Die Königin mag vielleicht nie wieder fliegen können, aber ich stürze mich eher vom Dach des Yinze-Tempels, als daß ich ihr die Flügel amputiere! Das arme Kind ist schon verstümmelt genug.«

Cygnus konnte es nicht mehr ertragen. Der Gedanke daran, daß ein Geflügelter – und ausgerechnet die Königin – zwei verkümmerte Stumpen statt prachtvoller Schwingen haben sollte, war genug, um ihm den Rest zu geben. Er schaffte es gerade noch bis ans Fenster, bevor er sich übergeben mußte.

»Na, komm schon, Junge! Bist du nun Arzt oder nicht?« keifte Elster ihn an. Cygnus unternahm übermenschliche Anstrengungen, um sich zusammenzureißen. Dann trank er einen langen Schluck aus dem Wasserschlauch der Meisterin, goß ein wenig von der Reinigungslösung in eine Schale, um seine Hände zu waschen, und beugte sich grimmig über die grauenvolle, mühsame Arbeit, Rabes zerschmetterte Flügel wieder zusammenzusetzen.


»Gut gemacht, Junge! Ich hätte es selbst nicht besser gekonnt.« Cygnus blinzelte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und blickte auf – oder versuchte es jedenfalls. Sein Nacken und sein Rücken schienen in ihrer Position festgefroren zu sein. Jemand hatte seine Augen mit kochendem Sand gefüllt, und seine schmerzenden Finger waren steif und verkrampft. Eine Reihe von Kerzen und kleinen Öllampen brannte um ihn herum, und ihre zuckenden Flammen tanzten in der Finsternis eines mittlerweile vollkommen dunkel gewordenen Zimmers. Der Himmel zeigte bereits das reiche, tiefe Blau der Abenddämmerung. Dann wurde ihm plötzlich mit einem Ruck des Erschreckens bewußt, daß es nicht dunkel, sondern wieder hell wurde!

Als er sich ausstreckte, knackten seine Knochen wie kleine Äste im Feuer. Elster, rotäugig und mit eingefallenem Gesicht, strahlte auf ihn hinunter und zeigte mit der Hand auf den Hügel, der vor ihm ausgestreckt war. Cygnus betrachtete ihn und schüttelte ungläubig den Kopf. Plötzlich war seine Müdigkeit vergessen, und eine Woge des Stolzes und der Zufriedenheit überflutete ihn. Vater des Himmels, staunte er. Habe ich das wirklich geschafft? Das, was zuvor eine verklebte Masse blutiger Federn und Knochen gewesen war, sah wieder aus wie ein Flügel, das Hauptknochengerüst war fest geschient, die zerbrechlichen Knochen, die das Gefüge der Hügelspitzen unterstützten, hatte er wie ein Mosaik zusammengesetzt und mit einem raffinierten System feiner Holzstückchen – die leichtesten, die er finden konnte – in ihrer Position festgehalten. Beschädigte Muskeln und zerrissene Haut waren jetzt wieder an Ort und Stelle und mit Hunderten winzigster Stiche gesichert.

Der Flügel sah wieder aus wie ein Flügel – beinahe. Als er noch einmal über sein Werk nachdachte, erinnerte Cygnus sich an Knochen, die so zersplittert waren, daß man sie nicht mehr reparieren konnte, an einzelne Stücke, die fehlten und unauffindbar blieben. Schlüpfrige Sehnenfäden, die nicht wieder miteinander verbunden werden konnten, und Muskeln, die für alle Zeit schwach bleiben würden, wenn sie überhaupt noch funktionierten. Ob es ihm gelungen war, die zerstörten Gefäße soweit wiederherzustellen, daß das Blut in den Flügeln wieder zirkulieren konnte? Auch das würde nur die Zeit zeigen. All seine gewissenhafte Arbeit konnte durchaus umsonst gewesen sein. Cygnus spürte, wie das Glühen der Befriedigung in ihm zu Asche erstarb, und wandte sich fluchend ab. »Welchen Unterschied macht es schon?« fragte er verbittert. »Sie wird so oder so nie wieder fliegen.«

Elster, die am anderen Flügel ein ähnliches Wunder der Wiederherstellung bewirkt hatte, seufzte. »Das stimmt«, sagte sie milde. »Wir hätten uns die Zeit genausogut sparen und ihr die nutzlosen Dinger von Anfang an abhacken können. Die Königin ist bereits verkrüppelt. Welchen Unterschied würde es für sie schon machen, wenn sie auch noch furchtbar entstellt wäre?«

Cygnus spürte, wie sein Gesicht heiß vor Scham wurde. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, gestand er.

Elster hob eine Augenbraue. »Ja, und das ist der Grund, warum ich Meisterin bin und du nicht. Es gibt zwei Dinge, die einem wahren Arzt niemals fehlen dürfen. Er muß Talent haben und Mitleid. Immer auch Mitleid.«

Cygnus nickte und akzeptierte die Weisheit ihrer Worte. »Aber Meisterin«, fuhr er erschöpft fort, »was wird geschehen, wenn sie aufwacht und die Wahrheit entdeckt?«

Elster fuhr sich unglücklich mit der Hand durch ihr schwarzweiß gesträhntes Haar und zeigte ausdruckslos auf den Verband an Rabes Arm. »Du glaubst, sie weiß es nicht schon?«

Cygnus nickte. »Etwas in der Art habe ich mir schon gedacht. Die ganze Zeit, während ich an diesem Flügel gearbeitet habe, habe ich gedacht: Was wäre, wenn mir das zugestoßen wäre? Und da wußte ich, daß ich – mit dem Wissen, daß mir der Himmel für immer verweigert sein würde – auch nicht den Wunsch gehabt hätte, weiterzuleben. Und ich dachte, wenn ich ihr Leben retten wollte, dann müßte ich diesen Flügel so reparieren, daß sie ihn wieder benutzen könnte, sonst wäre alles vergeblich gewesen.«

Die Meisterin legte ihm einen Arm um die Schultern. »Ich weiß«, sagte sie sanft. »Ich habe dich beobachtet, während ich arbeitete. Auf deinem Gesicht stand eine solche Entschlossenheit, während du an diesen winzigen Teilen gearbeitet hast, und ich habe innerlich geblutet wegen der Traurigkeit, die du ertragen mußtest. Aber alle Ärzte kommen früher oder später an diesen Punkt, wo das Beste, was sie tun können, nicht gut genug ist. Mein Junge, nur Yinze allein könnte ihr helfen, jemals wieder zu fliegen. Es wäre bei weitem gütiger gewesen, sie einfach dort sterben zu lassen, wo sie lag, wie sie es gewiß gewünscht hätte. Aber sie darf nicht sterben.« Ihre Stimme wurde hart. »Jetzt, da Flammenschwinge tot ist, ist dieses zerbrechliche, verkrüppelte junge Mädchen die Königin, und sie wird gebraucht werden, wenn …« Hastig rief sie sich wieder zur Ordnung. »Wenn unser Volk einen Herrscher haben soll. Unglücklicherweise muß irgend jemand sie dazu bringen, das einzusehen; und diese Aufgabe wird uns zufallen.«

Cygnus öffnete den Mund, aber nach dem Mord an Flammenschwinge und der Verstümmelung ihrer Tochter fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können. Obwohl er auf Schwarzkralles Befehl gehandelt hatte, klebte Flammenschwinges Blut auch an seinen Händen. Er allein trug mit seinem Verhalten die Verantwortung dafür, daß Rabe nun so leben mußte: mutterlos, verkrüppelt – und als Königin.

Plötzlich verschwand der Anblick von Rabes verstümmeltem Körper hinter einem Vorhang aus Tränen. Cygnus verbarg sein Gesicht in zitternden Händen. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »O ihr Götter, es tut mir so leid!«

»Das sollte es auch, aber das ist noch nicht genug.« Elster sah ihn streng an. »Nur Yinze weiß, was in dich gefahren ist, Cygnus. Du, ein Heiler, mein talentiertester Schüler, wie konntest du dich nur auf etwas so unendlich Böses einlassen? Warum hast du dich trotz der großen Fähigkeiten, die dir zur Verfügung stehen, dem Zerstören zugewandt statt dem Heilen?«

Als öffneten sich gewaltige Schleusentore, sprudelte nun alles aus Cygnus heraus – seine Zweifel, seine Hoffnungslosigkeit, seine Gefühle der Unzulänglichkeit, als der grausame Winter über sein Volk hereinbrach. »Du sagst, ich hätte Talent«, rief er verbittert, »aber wäre ich nur von geringstem Nutzen gewesen, hätte ich sie alle retten können. Ich habe sie im Stich gelassen, Elster, ich habe mein Volk im Stich gelassen, als es mich brauchte! Und wenn mein Weg – der Weg, den du mir gewiesen hast – nichts taugte, was blieb dann noch übrig? Ich war so verzweifelt, wollte so dringend irgend etwas tun, und Schwarzkralle schien unsere einzigen Hoffnung zu sein.«

Cygnus sah Elster in die Augen und bemerkte Tränen darin, die in dem trüben Licht der Morgendämmerung einen schwachen Glanz verbreiteten. »O du armer Tor«, flüsterte sie. »Armer, blinder, junger Tor. Warum hast du nicht mit mir gesprochen und deine Zweifel mit mir geteilt? Mein lieber Junge, es gibt keinen Heiler in der ganzen Geschichte, der nicht immer wieder einmal solch düstere Gedanken gehabt hätte.« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt Krankheiten und Grausamkeiten in dieser Welt, die wir nicht heilen können, wie sehr wir es uns auch wünschen mögen; aber das ist noch lange kein Grund, sich diese … Dinge zu eigen zu machen.«

Es war, als hätte sich der Boden unter den Füßen des jungen Arztes geöffnet – als könnte nichts in seiner Welt jemals wieder fest und sicher sein. »Das wußte ich nicht«, flüsterte Cygnus. »Meisterin, ich habe meine Zweifel nicht mit dir geteilt. Du hast mich anfangs nur so widerwillig akzeptiert. Ich wußte nicht, daß du mich verstehen würdest.«

Cygnus fiel ihr zu Füßen auf die Knie und hielt ihr mit zitternden Händen seinen Dolch hin. »Meisterin, ich war ein furchtbarer Narr und Schlimmeres als das.« Seine Stimme klang gebrochen und war selbst in seinen eigenen Ohren nur wie aus weiter Ferne wahrnehmbar. »Nimm mein Leben, ich bitte dich, denn nichts Geringeres kann als Wiedergutmachung für meine Fehler dienen oder den Schmutz des Bösen aus meinem Geist fortwaschen.« Er schloß die Augen und holte tief Luft, während er darauf wartete, daß seine weise alte Lehrerin den Dolch nahm und seiner erbärmlichen Existenz ein Ende bereitete.

»O nein, mein Junge, das ist ja überaus dramatisch, aber es ist immer noch nicht gut genug!« Beim Klang von Elsters freudlosem Lachen riß der junge Heiler erschrocken die Augen auf. Elster nahm den Dolch aus seiner schlaffen Hand und warf ihn mit einer ruckartigen Drehung ihres Handgelenks aus dem Fenster. »Der Tod ist ein zu einfacher Ausweg; du kannst verdammt gut weiterleben und leiden und die Verantwortung für deine Taten übernehmen, so wie wir alle.«

Kopfschüttelnd blickte Elster auf ihren sprachlosen Schüler herab. »Ein ganzes Leben wird nicht lang genug für dich sein, um diesem armen Mädchen Wiedergutmachung zu leisten, also solltest du besser gleich damit anfangen.« Sie zog den widerstrebenden Cygnus auf die Füße und sah ihm tief in die Augen. »Das heißt, falls du das, was du getan hast, tatsächlich wiedergutmachen willst.« Ihr Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Cygnus, wenn du dem Hohenpriester gegenüber nach seinen jüngsten Taten noch immer auch nur einen Funken von Loyalität empfindest, dann solltest du dich in Zukunft von der Königin fernhalten – so fern wie nur möglich. Ich erkenne Gift, wenn ich welches sehe, mein Junge. Ich weiß, daß du für Königin Flammenschwinges Tod verantwortlich bist, und ich finde den Gedanken, daß das arme Mädchen von dem Mörder ihrer Mutter versorgt wird, unerträglich. Davon einmal abgesehen: Wenn du Schwarzkralle nach all dem, was er getan hat, immer noch unterstützt, dann hast du es nicht verdient, daß sich überhaupt irgendein anständiger Mensch mit dir abgibt, ganz zu schweigen von der Königin der Geflügelten.« In Elsters Augen brannte ein wildes Feuer.

Der junge Arzt, der sich vor Scham krümmte, konnte dem Blick seiner Lehrerin nicht standhalten. »Ich bin fertig mit Schwarzkralle«, schwor er. »Ich werde alles tun, was du für nötig hältst, um dich davon zu überzeugen.«

Elster sah ihn ernst an. »Tapfere Worte, mein Junge, aber kannst du sie auch wahrmachen?« Ihre Augen glitzerten. »Ich möchte, daß du dich um Königin Rabe kümmerst. Sei ihr steter Begleiter, ihr Trost, ihre Stütze. Sie wird nicht leben wollen, Cygnus – und so wird es an dir sein, ihr neuen Lebensmut zu schenken.«

Cygnus keuchte. »Das kann ich nicht! Elster, bitte, verlang etwas anderes von mir. Was könnte ich denn zu ihr sagen? Ich kann ihr nicht ins Gesicht sehen, nicht mit dem Blut ihrer Mutter an meinen Händen.«

»Das ist dein Problem.« Elster war unerbittlich. »Je schwieriger du es findest, um so größer ist deine Chance, dein Vergehen wirklich zu sühnen. Und Cygnus, falls dir dein Leben jemals zu groß erscheinen sollte, versuch dich an ihre Stelle zu versetzen.«

Ihre brutalen Worte raubten Cygnus den Atem. Der niedergeschlagene junge Arzt senkte den Kopf. »Ich werde es versuchen, Elster«, flüsterte er.

»Du solltest es nicht versuchen; du sollst es tun!« sagte Elster brutal. »Das Leben dieses Mädchens liegt in deinen Händen, Cygnus, verpfusch mir die Sache nicht! Du hast schon genug Schaden angerichtet.« Sie schwächte ihre Worte mit einem Anflug von einem Lächeln ab. »Falls es dir ein Trost ist, mein Junge, ich vertraue dir.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, womit ich das verdient habe.« Cygnus blickte noch einmal zu Rabe hinüber. Dann holte er tief Luft und straffte die Schultern. »Aber ich verspreche, Meisterin, daß ich mich deines Vertrauens würdig erweisen werde.«

»Dank sei Yinze, ich habe meinen Schüler wieder.« Elster umarmte den jungen Arzt. Obwohl sein Unglück sie zutiefst betroffen hatte, war seine Gewissenskrise für sie doch eine große Beruhigung. Seine Hinwendung zu Schwarzkralles bizarren Plänen hatte sie schon lange entsetzt, und sie war angeekelt gewesen, als ihr klar wurde, welche Rolle er bei dem Mord an der Königin gespielt hatte. Ich sollte ihn eigentlich hassen, dachte die Meisterin, aber sie kannte die Natur der Himmelsleute und die Schwäche ihres Charakters und wußte daher, daß die Dinge nicht so einfach waren, wie sie aussahen. Sie war davon überzeugt, daß Cygnus dem Bösen noch nicht unwiderruflich verfallen war, und daher war es ihre Pflicht, ihn zu retten, wenn das in ihren Kräften stand, und ihn wieder auf den Weg von Moral und Menschlichkeit zu leiten. Der Gedanke an all das Gute, das er mit seinen Fähigkeiten in Zukunft würde tun können, war genug, um den Versuch zu rechtfertigen; und außerdem hatte sie ihn sehr gern, obwohl sie eher gestorben wäre, als es zuzugeben.

Elster löste die Umarmung und hielt ihren Schüler um Armeslänge von sich weg. »Und jetzt geh und iß etwas«, sagte sie zu ihm. »Laß auch etwas für mich heraufbringen. Und halte dich um jeden Preis von Schwarzkralle fern, bis du wieder soweit bist, daß sich deine Gefühle nicht auf deinem Gesicht widerspiegeln. Du hast heute abend gute Arbeit geleistet, aber leider gibt es für einen Arzt keine Ruhepause. Dein anderer Patient wartet immer noch auf dich, unten in der Höhle.«

Cygnus stöhnte. »Den Zauberer habe ich ganz vergessen!«

»Pst, Junge«, brachte Elster ihn hastig zum Schweigen. »Nicht so laut.«

»Aber Meisterin, ich habe ganz vergessen, dir davon zu erzählen.« Vorsichtig senkte er die Stimme. »Ich habe Schwarzkralle gesagt, seine Krankheit übersteige meine Fähigkeiten, damit der Hohepriester nicht auf die Idee kommen könnte, dich zu töten, nachdem du doch gesehen hattest, was Königin Flammenschwinge zugestoßen war.«

Elster holte tief Luft. »Du hast an mich gedacht?« Sie war erstaunt darüber, daß ihr diese Tatsache so viel bedeutete.

Sentimentale, alte Närrin, schalt sie sich. Dann riß sie sich zusammen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Schüler zu. »Und stimmt das?«

»Ob was stimmt?« Cygnus macht ein verwirrtes Gesicht.

»Daß seine Erkrankung deine nicht unbeträchtlichen Fähigkeiten übersteigt, natürlich.«

»Nein, obwohl ich einen Augenblick lang tatsächlich dachte, es wäre so! Es war ein Fieber, zweifellos durch Kälte und Entbehrungen verursacht; außerdem haben ihn die Tempelwachen ziemlich mißhandelt. Eine Zeitlang wähnte ich sein Leben schon verloren, aber jetzt ist er außer Gefahr.« Zum ersten Mal in dieser langen, harten Nacht gestattete Cygnus sich ein Grinsen.

Elster erwiderte sein Lächeln. »Also, dann geh und kümmere dich um deinen Patienten. Anschließend ruhst du dich etwas aus, und dann kommst du wieder hierher, um bei der Königin zu wachen. Ich werde währenddessen unserem mysteriösen Gast einen Besuch abstatten.« Sie hob die Augenbrauen. »Da ich noch nie einen Menschen gesehen habe, ganz zu schweigen von einem Zauberer, muß ich gestehen, daß ich ein wenig neugierig bin. Ein Zauberer aus einem weit entfernten Land, mit Mächten, wie wir sie uns in unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen können …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ach, mach dir nichts draus. Denk einfach daran, was er ist, und kümmere dich, so gut du kannst, um ihn. Und um Yinze willen, Junge«, fügte sie im Flüsterton hinzu, »sieh zu, daß du ihn für unsere Seite gewinnst.«

Cygnus nickte. Dann zögerte er kurz und schaute noch einmal zur Königin hin. Trauer und Zorn zerrissen seine Eingeweide wie ein Messer. »Meisterin, wird sie wieder gesund werden?«

In diesem Augenblick schien Elster plötzlich so sehr zu altern, daß es dem jungen Arzt schon leid tat, daß er überhaupt gefragt hatte. »Ihr Körper? Ja, der wird es überstehen. Ihr Geist? Yinze allein weiß, was damit geschehen wird.«

Загрузка...