18 Der Geist des Berges

»So, jetzt weißt du alles«, beendete Anvar seinen Bericht. »Das ist die ganze Geschichte. Für den Augenblick.« Er nahm einen Schluck Wein, um sich die Kehle anzufeuchten.

Elster sah ihn mit leicht zur Seite geneigtem Kopf an, und ihre dunklen, leuchtenden Augen waren fest auf sein Gesicht gerichtet. Sie runzelte die Stirn. »Jetzt verstehe ich auch, warum es so lange gedauert hat, bis du dich mir anvertraut hast.«

Anvar nickte. »Zuerst einmal mußte ich davon überzeugt sein, daß ich dir auch vertrauen kann.«

»Und jetzt vertraust du mir?« Elsters Augen wurden schmal.

»Bei den Göttern, irgend jemandem muß ich ja vertrauen!« rief Anvar. »Elster, ich muß unbedingt hier raus!«

Die Ärztin seufzte. Seit sie und Cygnus begonnen hatten, sich um diesen Gefangenen zu kümmern, wuchs ihre Zuneigung zu ihm in geradezu beängstigendem Maße. Aber zu ihrer Schande brachte sie einfach nicht den Mut auf, um ihm bei irgendeinem seiner immer seltsamer werdenden Fluchtpläne zu helfen. »Es tut mir leid, Anvar, aber was könnte ich tun?« Ihre Flügel raschelten, als sie die Schultern hochzog, »Mein eigenes Leben hängt an einem seidenen Faden, und wären da nicht meine besonderen Fähigkeiten, hätte Schwarzkralle mich schon vor langer Zeit getötet. So, wie die Dinge liegen, braucht er mich noch, um Königin Rabe zu heilen …«

»Wie geht es ihr?« unterbrach Anvar sie.

Elster spreizte hilflos ihre Schwingen. »Sie lebt, aber sie weigert sich zu sprechen, und wir müssen sie zwingen, etwas zu sich zu nehmen. Sobald wir das Zimmer betreten, dreht sie ihr Gesicht zur Wand. Ich sehe, daß deine Augen sich verhärten, wenn ich von ihr spreche, und doch bin ich sicher, wenn du sie sehen könntest, würde sie dir leid tun. Obwohl es schwer zu sagen ist, da sie sich ja weigert, mit uns zu reden, bin ich davon überzeugt, daß sie sich dessen, was sie getan hat, zutiefst schämt.«

»Soweit es mich betrifft, hat sie sich ihr Leiden selbst zuzuschreiben.« Anvars Stimme war hart. »Bitte mich nicht, Mitleid mit ihr zu haben, Elster. Obwohl das, was man ihr angetan hat, selbst mir entsetzlich erscheint, kann ich ihr trotzdem niemals verzeihen, daß sie uns verraten hat.«

»Aber dennoch, wenn du das arme Kind sehen könntest, würde dein Herz vielleicht weicher werden.« Elster schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, welche Wirkung deine Neuigkeiten auf sie haben werden. Vielleicht würde ihr das Wissen, daß der Geist ihres Liebsten im Bann eures alten Feindes stand, mehr schaden als helfen.«

»Dann glaubst du mir also?« Anvar entspannte sich ein wenig. »Ich war mir nicht so sicher, ob du das tun würdest.«

Elster nahm ihm den vergessenen Kelch aus der Hand und leerte den Wein mit einem einzigen Schluck. »Oh, ich glaube dir durchaus, Anvar. Zuviel von deiner Geschichte klingt überzeugend.« Dann drehte sie sich um, griff nach der Flasche, die in einer dunklen Ecke jenseits des Feuers stand, und füllte den Kelch noch einmal, bevor sie ihn zurückgab. »Es fällt mir auch nicht schwer zu glauben, daß der Hohepriester sich mit einem bösen Zauberer verbündet hat«, fuhr sie fort. »Er ist verzweifelt darauf bedacht, die verlorene Magie des Himmelsvolks wiederherzustellen, ein Umstand, der vielleicht verständlich ist: Aber Schwarzkralles Geist ist zu hoch geflogen und abgestürzt – in die unendlichen Tiefen des Wahnsinns.« Sie zog eine Grimasse. »Jetzt ist er davon überzeugt, in Wahrheit der wiedergeborene Incondor zu sein.«

»Was?« Anvar riß vor Staunen die Augen auf. »Aurian hat mir von Incondor erzählt und davon, daß er für die Verheerung verantwortlich war.« Er schüttelte den Kopf. »Kein Wunder, daß Schwarzkralle und Miathan einander als Verbündete gewählt haben. Beide sind sie bei ihrem Streben nach Macht dem Wahnsinn verfallen.« Anvar beugte sich vor und umfaßte das Handgelenk der Ärztin. »Elster, du mußt mir helfen zu entkommen.«

»Anvar, das kann ich nicht«, unterbrach ihn Elster mit ausdrucksloser Stimme. »Noch nicht. Ich würde dir ja beistehen, genauso wie Cygnus, aber Schwarzkralle läßt uns keinen Augenblick aus den Augen. Außerdem, was könnten wir schon für dich tun? Die einzige Möglichkeit, hier herauszukommen, ist zu fliegen, und Cygnus und ich haben nicht die Kraft, dich gemeinsam so weit durch die Luft zu tragen, daß du den Kriegern entkommen könntest, die der Hohepriester hinter uns herschicken würde.«

»Was ist mit den anderen Geflügelten?« fragte Anvar. »Es muß doch gewiß einige Leute geben, die nicht hinter dem Hohenpriester stehen?«

»Das wagt niemand. Die Stadt ist gelähmt von Furcht und Mißtrauen, Anvar. Schwarzkralles Spione sind überall, und es ist unmöglich zu sagen, wer zu ihnen gehört und wer nicht. Du mußt verstehen, daß es viele von uns gibt, die sich wünschen, daß die alte Macht des Himmelsvolkes wiederhergestellt wird – was immer es auch kosten mag.« Elster seufzte. »Wenn es Leute gibt, die uns helfen würden, und ich bin überzeugt davon, daß es sie gibt, wagen sie es nicht, sich zu offenbaren. Anvar, ich wünschte wirklich, ich könnte dir helfen, aber du mußt geduldig sein. Die Zeit ist noch nicht reif, gegen Schwarzkralle aufzubegehren. Wenn Cygnus und ich in diesem Augenblick deine Flucht bewirken würden, wären wir nicht mehr in der Lage, die Leute zum Widerstand gegen ihn zusammenzuscharen, nicht ohne die Königin. Und er würde sofort wissen, wer für diese Tat verantwortlich ist. Wir würden unser Leben ganz umsonst verlieren.«

»Aber ihr könntet doch mit mir kommen«, unterbrach Anvar sie. »Die Götter allein wissen, wie sehr wir euch brauchen könnten.«

Elsters Federn zitterten. »Was? Unsere rechtmäßige Königin im Stich lassen? Ohne die ärztliche Kunst von Cygnus und mir würde Rabe gewiß sterben.« Als sie den Zorn in Anvars Augen aufblitzen sah, erhob sie sich rasch. »Dir mag es gleichgültig sein, ob die Königin überlebt oder nicht, Anvar, aber mir ist es das nicht. Das darf es nicht sein.« Als sie sah, daß er dagegen protestieren wollte, bereitete sie schnell ihren Abschied vor. »Ich werde zurückkehren, sobald ich kann«, versprach sie und schwang sich mit einer Hast aus dem Höhleneingang, der recht unziemlich war für eine Meisterin und Ärztin.

Es war immer noch dunkel, obwohl ein schwaches Glühen der Morgendämmerung bereits den bleigrauen Himmel jenseits der Berge erhellte. Elster schwebte empor, spürte den eisigen Wind durch ihre Federn pfeifen und flog eine weit ausholende Kurve, die sie ein gutes Stück von dem Felsen wegbrachte. Zu ihrer Erleichterung waren zwischen den Türmen der Stadt immer noch einige verstreute Lichter zu sehen, die es ihr ermöglichten, ihre Orientierung wiederzufinden und nach Hause zurückzukehren. Sie haßte es, des Nachts fliegen zu müssen – man konnte die Gefahren solchen Tuns gar nicht hoch genug einschätzen –, aber wenn sie Anvar unbemerkt besuchen wollte, war das die einzige Zeit, zu der sie es tun konnte, während die anderen Geflügelten sicher in ihren Betten lagen.

Elsters Heim lag in einem halb zerfallenen Türmchen, das seitlich an einem uralten Gebäude im unteren Teil von Aerillia emporragte. Zu Flammenschwinges Zeit waren die Unterkünfte der Ärztin großartiger gewesen und näher beim Palast, aber jetzt fühlte sie sich sicherer an einem verborgenen, einsameren Ort. Einige Löcher im Dach und etwas Zugluft waren durchaus zu ertragen, wenn sie auf diese Weise dem Hohenpriester nicht allzu oft begegnen mußte.

Nachdem sie vorsichtig auf ihrer verschneiten Veranda gelandet war, drückte Elster die Tür zu ihren Räumen auf und zögerte, eine Hand immer noch auf der Türklinke, als sie die Düsternis in dem Zimmer vor sich sah. Ich habe doch sicher eine Lampe brennen lassen? dachte sie stirnrunzelnd und zuckte dann mit den Schultern. Vielleicht war sie während ihrer langen Abwesenheit erloschen, oder ein Zug von einem der undichten Fenster hatte sie ausgeblasen.

Die Ärztin war keine drei Schritte in das Zimmer hineingegangen, als sie von hinten gepackt wurde.


»Warum hat man mich gefangengenommen?« Mit blauen Flecken übersät, gefesselt, bewacht und im Angesicht von Schwarzkralles harten, ausdruckslosen Augen, fiel es Elster schwer, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Er weiß es, dachte sie verzweifelt. O ihr Götter – er muß es wissen! Die Ärztin war noch nie zuvor in dem Turm des Hohenpriesters im Tempel von Yinze gewesen, und die Grabesschwärze der auf Hochglanz polierten Steinmauern ließ sie erzittern. Draußen wirbelte das kreischende Jammern von Incondors Klagelied um den Turm herum, sandte seine Schauer durch den Körper der Ärztin und machte es ihr unmöglich, ihre Gedanken auf irgendeine Möglichkeit der Verteidigung zu konzentrieren.

Schwarzkralle hob sarkastisch die Augenbrauen. »Hast du wirklich geglaubt, du wärst die einzige, die in der Dunkelheit zu fliegen bereit ist?«

Elster unterdrückte ein Stöhnen und bemühte sich, ihr Gesicht ausdruckslos zu halten. »Wie meinst du das, Hohenpriester? Eine Ärztin muß oft in der Dunkelheit fliegen, wenn es sich um einen Notfall handelt …«

Schwarzkralle brach in lautes, freudloses Gelächter aus – das unangenehmste Geräusch, das Elster je gehört hatte. »Elster, mein Spion hat sich direkt hinter dem Höhleneingang versteckt. Er hat alles mitangehört. Wenn du das nächste Mal unbedingt das Unschuldslamm spielen willst, würde ich doch vorschlagen, daß du gelegentlich mal nach draußen siehst, wenn du dich mit einem Gefangenen verbündest.« Seine Augen glitzerten böse. »Nicht, daß es für dich ein nächstes Mal geben würde. Ich habe immer noch Cygnus, um Rabe am Leben zu halten, obwohl deine unvorsichtigen Worte auch ihn in Verdammnis stürzen.« Er zuckte mit den Schultern. »Für den Augenblick werde ich ihm jedoch gestatten, sein Leben zu behalten, solange er noch gebraucht wird.« Da war es wieder, dieses freudlose Lächeln.

Die Woge des Zorns, mit der sie begriff, daß Schwarzkralle ihre Furcht genoß, war das einzige, was Elster davon abhielt, zusammenzubrechen – bis zu den nächsten Worten des Hohenpriesters: »Es ist mir zu Ohren gekommen, Elster, daß du ein wenig nachlässig in deinen religiösen Pflichten bist. Ich habe dich noch nie bei einem Opfer im Tempel gesehen.« Sein Gesicht wurde hart. »Heute abend bei Sonnenuntergang werden wir diese Unterlassung wiedergutmachen. Du wirst die nächste Zeremonie miterleben – in der Rolle des Opfers!«


Selbst für eine Unsterbliche war es eine lange Zeit gewesen. Ewigkeiten waren vergangen, seit die Moldan des Aerillia-Berges zum letztenmal wach gewesen war. Sie maß die dazwischenliegenden Jahrhunderte an den kleinen Veränderungen in der Gesellschaft der Geflügelten, die auf und in ihrem Körper wohnten: Die Neuerungen in der Kultur, in der Kleidung und vor allem in der Sprache. Die Moldan waren solche Wechsel gewohnt. Für sie war ein Jahrhundert nur wie ein Augenblinzeln. Heutzutage konnten nur noch Ereignisse von größter Wichtigkeit sie wecken – bedeutende Zeiten, Zeiten des Kampfes und des Wandels.

Was hatte sie diesmal geweckt? Die Moldan streckte ihre Sinne aus und ließ sie über die Domäne gleiten, die ihr Körper war, streifte über die Flanken des Berges, die ihr Fleisch und ihre Knochen waren und ihre Haut.

Ah, das war wichtig. In den oberen Regionen ihres Gipfels war der Tempel, dessen Fundament gelegt worden war, als sie sich gerade wieder einmal in den Nebeln des Schlafs verlor. Dieser Tempel war nun zu einem gewaltigen Gebäude geworden. Der gepeinigte Felsen in Gestalt einer mit Klauen besetzten, in den Himmel greifenden Hand sah wie geschmolzene, verzerrte Knochen aus, und die Moldan schauderte, als sie sich an den verwüsteten Leichnam ihres Bruders fern im Osten erinnerte. Welch kranker Geist hatte ein so gräßliches Bauwerk ersonnen?

Die Stadt unterhalb des Tempels war reicher und größer geworden. Hier war die zarte Schönheit, die ihr als typisch für die Architektur des Himmelsvolkes in Erinnerung geblieben war, zu vielen schönen und unglaublichen Bauten erblüht. In der Vergangenheit waren der Moldan diese dahinflitzenden Geflügelten gleichgültig gewesen, die sich nach dem Abschied der Dwelvenbevölkerung auf ihr niedergelassen hatten. Damals waren sie ihr als nichtige und sehr vergängliche Wesen erschienen. Jetzt verspürte sie zum ersten Mal ein Gefühl selbstgefälligen Stolzes angesichts ihrer Errungenschaften. Abgesehen von diesem gräßlichen Tempel auf ihrem Gipfel hatten die Werke der Geflügelten viel dazu beigetragen, ihrer eigenen, natürlichen Schönheit neuen Glanz zu verleihen.

Voller Bedauern wandte die Moldan ihre Aufmerksamkeit von der Betrachtung Aerillias ab. Und genau in diesem Augenblick spürte sie es – das langsame, unstete Näherkommen einer Quelle unglaublicher Macht.

Im oberen Teil der Stadt klapperten Teller und Tassen, und alle möglichen Dinge fielen von den Regalen herunter, als eine Mischung aus Entsetzen und Entzücken wie ein Schaudern durch die massige Gestalt der Moldan lief. Die gefangene Königin Rabe in ihrem einsamen Turm warf sich im Schlaf auf die andere Seite und schrie vor Schmerz auf. Im Tempel des Yinze blickte Schwarzkralle stirnrunzelnd von dem Opfer auf, das er gerade hatte töten wollen, als das bedrohlich wirkende, schwarze Bauwerk auf seinen gewaltigen Grundfesten erschauderte. In dem älteren Viertel der Stadt geriet ein bereits halb zerfallener Turm ins Wanken und stürzte in einer Wolke von Schnee auf das Gesicht des Berges.

Die Moldan schenkte den winzigen Wesen, die ihre Hänge heimsuchten, keine Beachtung. Ihre ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das Herannahen des Erdenstabs.


»Anvar? Anvar, kannst du mich hören? Zum letzten Mal, antworte mir endlich!« Mit gespannt erhobenem Kopf wartete Shia viele Atemzüge lang, aber es kam keine Erwiderung. Verzweifelt wandte die Katze sich wieder an ihre Kameraden. »Der Mensch muß eingeschlafen sein«, seufzte sie. »Ich bekomme ihn nicht wach.«

Khanu schüttelte seine Mähne. »Und was machen wir jetzt?« wollte er wissen.

Hreeza hob eine gewaltige Pfote und brachte ihn mit einem Hieb hinter die Ohren zum Schweigen. Er stürzte sich mit zornig blitzenden Augen auf sie, aber Shia gebot seiner Rachsucht mit scharfen Worten Einhalt. Sie wußte, daß die große Katze gewaltige Anstrengungen unternahm, um nicht den Mut zu verlieren, aber sie wußte auch, daß Hreeza, ebenso wie sie selbst, entsetzt über das war, was sie am Ende ihrer Reise vorgefunden hatten.

Wäre Shia ein Mensch gewesen, hätte sie vielleicht mit den Göttern über die Ungerechtigkeit des Ganzen gehadert. Der lange, beschwerliche Marsch über die steinernen Knie und die verschneite Brust des Aerilliaberges war schwer und aufreibend gewesen und hatte sie mehrere harte, hungrige Tage gekostet, in denen sie im Schutz der Dunkelheit gewandert waren, um den scharfen Augen ihrer gefiederten Feinde zu entgehen. Während sich die Katzen mühsam ihren Weg den Aerilliaberg hinauf bahnten, veränderte sich die Landschaft immer wieder. Die bebauten Hänge der Geflügelten hatten steilen, mit Fichten und Schierlingstannen bewaldeten Tälern Platz gemacht, die ihrerseits in ein karges, einsames Land übergegangen waren, in dem es nur hoch aufragende Felswände und schneebedeckte Hügel gab.

Shia und ihre Kameraden mußten feststellen, daß sie immer langsamer vorankamen, je tiefer der Schnee und je kälter die pfeifenden Winde wurden. Trotz ihrer dicken Felle litten die Katzen grausam unter Kälte und Hunger, denn alle Tiere waren schon vor langer Zeit von den unwirtlichen oberen Hängen des Gipfels geflüchtet. Grimmig kämpften sie sich immer weiter. Khanu und Hreeza wurden nur von Shias Drohungen aufrechtgehalten, die keinen Zweifel, daran ließen, daß Shia sie gnadenlos dort zurücklassen würde, wo sie gerade lagen, falls sie nicht mehr weiterlaufen könnten.

Als an diesem Tag die Dämmerung nahte, taumelten die Katzen im Gänsemarsch hintereinander durch eine schmale, von Schneemassen erstickte Schlucht. Als sie den Gipfel erreichten, fielen die gezackten Bergspitzen zu ihrer Rechten schräg ab, so daß die niedrigeren Berge der nördlichen Gebirgskette vor ihnen lagen. Die zerklüfteten, schneebedeckten Gipfel schienen wie Inseln in einem Meer aus blutroten Wolken zu treiben. Der glimmende Ball der gerade erst aufgestiegenen Sonne lauerte jenseits der zusammen-gekauerten Schultern der Berge und beleuchtete dichte, schwere Wolken, die am Himmel über ihnen aufzogen.

Die wetterfühlige Hreeza stieß ein tiefes, kehliges Knurren aus. »Was ich da sehe, gefällt mir überhaupt nicht«, murmelte sie.

»Wenn dir das schon nicht gefällt, würde ich vorschlagen, du schaust einmal in die andere Richtung.« Shias Gedankenstimme klang erstickt. Die alte Katze wandte sich von dem unheilvollen Sonnenaufgang ab, und der Atem stockte ihr in der Kehle. Sie blickte hinauf, und hinauf und hinauf auf steil in die Höhe ragende Felswände …


»Und was machen wir jetzt?« fragte Khanu noch einmal, wobei er genau aufpaßte, daß er Hreeza nicht zu nahe kam. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie wir dort hinaufklettern sollen.«

»Ich weiß es nicht.« Shia funkelte den Erdenstab wütend an, der auf dem verschneiten Boden lag, und sie mußte gegen den aus Wut und schierer Verzweiflung geborenen Drang ankämpfen, das verflixte, erbärmliche Ding so zu zerkauen, daß nur noch Splitter davon übrigblieben. Ihr Atem wehte wie eine kristallene Wolke vor ihrem Maul, als sie einen tiefen Seufzer ausstieß. »Ich nehme an, wir werden warten müssen, bis Anvar aufwacht, vielleicht kennt er ja einen Weg nach oben.«

Hreeza blickte abermals auf die glatten, steilen Felswände, die jäh in die Höhe schossen und hoch oben in den Wolken verschwanden. Shia spürte einen seltsamen Widerwillen in den Gedanken ihrer alten Freundin und fragte sich, was nun kommen mochte. »Also?« fragte sie endlich. »Wirst du den Rest des Tages an diesem Gedanken herumkauen wie an einem alten Knochen, oder wirst du ihn ausspucken und mit uns teilen?«

Die alte Katze wich ihrem Blick aus. »Bist du dir wirklich sicher«, fragte sie langsam, »daß dieser Mensch nur schläft? Was ist, wenn er tot ist?«

Flammen schossen aus den Tiefen von Shias Augen. »Damit werde ich mich nicht abfinden.« In ihrer Stimme schwang deutlich eine stille Drohung mit. »Aurians Feinde brauchen Anvar als Geisel. Warum sollten sie ihn töten?«

»Und doch spüre ich deine Zweifel«, beharrte Hreeza. »Es kann alles mögliche dort oben geschehen sein. Ein Unfall – eine Änderung ihrer Pläne … Hier oben zu bleiben, wo wir dem Wetter und unseren Feinden hilflos ausgesetzt sind, ist reiner Wahnsinn.«

»Anvar ist nicht tot!« Shia bleckte die Zähne und ging drohend auf die alte Katze zu.

»Warum warten wir nicht einfach eine Weile ab und sehen, was passiert?« vermittelte Khanu zwischen den beiden zornigen Weibchen. »Schließlich«, fügte er hinzu, »sind wir nicht den ganzen Weg hier heraufgekommen, um so schnell aufzugeben. Und während wir darauf warten, daß Shias Mensch aufwacht, könnten wir doch die Ausläufer dieses Felsens erkunden. Vielleicht gibt es weiter hinten eine Stelle, von der aus wir leichter hinaufklettern können.«

Shia sah ihn dankbar an. Khanu entwickelte langsam sowohl die schärferen Sinne eines jagenden Weibchens als auch die sturmerprobte Weisheit eines älteren, erfahreneren Tieres. Gerade in diesem Augenblick war sie ihm für seine Einmischung besonders dankbar. Es war von größter Wichtigkeit, daß Anvar nicht mehr in der Macht des Erzmagusch war, wenn Aurians Kind geboren wurde, so daß die Magusch frei war, alles zu tun, um das Leben ihres Jungen zu retten. Der langsame und schwierige Marsch hatte in der großen Katze ein Fieber ängstlicher Ungeduld geweckt, aber das war keine Entschuldigung für ihren unvernünftigen Ärger über Hreezas Einmischung. Mit unverbrüchlicher Treue war ihr die alte Katze den ganzen Weg über gefolgt, nur um sich am Ende durch dieses letzte, unbesiegbare Hindernis bezwungen zu sehen. Selbst wenn Khanu und ich eine Möglichkeit finden können, diesen Felsen hinaufzuklettern, dachte Shia, wird es Hreeza nicht möglich sein, und das weiß sie. Das ist der wahre Grund für ihre Verstocktheit; sie kann die Demütigung, zurückgelassen zu werden, nicht ertragen.

»Glaubst du, es gibt vielleicht einen einfacheren Weg dort hinauf?« wollte Hreeza von Khanu wissen. Oh, ich danke dir dafür, dachte Shia, daß du meiner alten Freundin, wenn auch nur für kurze Zeit, neue Hoffnung gibst.

Khanu ließ seine Schnurrbarthaare zu einem Katzengrinsen nach vorn zucken. »Warum nicht?« sagte er munter. »Ich hoffe jedenfalls, daß es einen besseren Weg gibt, denn du magst ja in der Lage sein, dich da hinaufzuquälen, aber was mich betrifft, geht die Sache doch deutlich über meine Kräfte.«

»Na, dann laß uns endlich anfangen, Jungchen, und versuchen, einen Weg zu finden, der dich nicht überfordert!« Hreezas Augen strahlten wieder. Bevor Shia den abscheulichen Stab wieder ins Maul nahm, berührte sie kurz und mit einer von Herzen kommenden Geste des Dankes die Nase des jungen Männchens mit ihrer eigenen.


»Shia? Bist du das wirklich?« Anvars Gedankenstimme zitterte vor Freude und Erleichterung, obwohl die Katze sicher war, daß niemand auf der Welt größere Erleichterung als sie darüber verspürte, daß es ihr endlich gelungen war, Kontakt zu dem Magusch aufzunehmen. Als sie ihm erzählte, daß Aurian sie mit dem Stab der Erde zu ihm geschickt hatte, spürte sie, wie seine Hoffnung wieder aufflammte; allein das war die qualvolle Reise wert. »Ich habe dich gesehen!« rief er. »In einem Traum, als du die Berge überquert hast, aber ich dachte, es sei nur eine Fieberphantasie.« Anvar war jedoch so begierig darauf, von Aurian zu hören, daß er sich auf nichts anderes konzentrieren konnte, ehe Shia ihm das Wenige, das sie wußte, mitgeteilt hatte. Wegen ihrer stärkeren Verbindung mit der Magusch hoffte sie, den geistigen Kontakt zu Aurian wiederherstellen zu können, sobald ihre Kräfte wieder zurückgekehrt waren, eine Hoffnung, die Anvar mit ihr teilte. Ob dies über eine so große Entfernung möglich sein würde, konnte sich nur mit der Zeit erweisen.

Unglücklicherweise konnte Anvar der Katze bei ihren augenblicklichen Schwierigkeiten jedoch nicht helfen. »Der Felsen ist, soweit ich das von hier oben beurteilen kann, eine einzige steile Wand«, sagte er zu ihr. »Zu meiner Linken gibt es einen Wasserfall, etwa einen Bogenschuß von der Höhle entfernt, aber dieser Wasserfall wird dir kaum von Nutzen sein, die Strömung ist sehr schnell, und es sieht nicht so aus, als könnte man dahinter gelangen.«

»Zumindest werden wir auf diese Weise herausbekommen, wo der Mensch zu finden ist«, bemerkte Khanu zu Shia. Obwohl er Anvar »hören« konnte, hatte er bisher noch nicht den Mut gefunden, dieses fremdartige Wesen direkt anzusprechen.

»Dein Freund hat ganz recht«, sagte Anvar, als Shia die Bemerkung des jungen Katers an ihn weitergab.

»Ganz bestimmt sogar«, pflichtete sie ihm bei. »Wir suchen jetzt schon seit Sonnenaufgang und haben nicht die Spur eines Weges gefunden, auf dem wir zu dir hinauf gelangen könnten. Ich habe auf einen Tunnel gehofft, aber …«

»Nein, es wird nicht so leicht sein wie in Dhiammara. Ich habe diese Höhle gründlich untersucht, und es gibt keinen anderen Ausgang hier. Bei den Göttern, Shia«, Anvars Gedanken bebten vor Enttäuschung, »bist du sicher, daß du den Felsen nicht erklimmen kannst?«

»Keine Angst, wir werden weitersuchen«, sagte Shia zu dem Magusch. »Diese niedrigen Wolken werden uns gegen mögliche Beobachter von oben abschirmen.«

»Diese niedrigen Wolken werden überdies gleich neue Schneemassen auf eure Köpfe niedergehen lassen«, bemerkte Hreeza spitz, aber niemand kümmerte sich um sie. Mit einem verdrossenen Kopfschütteln humpelte die alte Katze steif hinter den anderen her, die sich nun von neuem auf die Suche machten.

Eine Stunde später wünschte Shia, sie hätte Hreezas Warnungen Beachtung geschenkt. Die Katzen waren am Fuß des Felsens entlanggegangen, bis sie den gewaltigen Wasserfall entdeckten, und gerade als sie den aufgewühlten, grünen Teich am Fuß der herabstürzenden Wassermassen erkundeten, begann es wieder zu schneien.

Dicke, schwere Flocken wirbelten um sie herum. Der anschwellende Wind peitschte sie ihnen ins Gesicht und häufte am Fuß des Felsens gewaltige Schneewehen auf, die es ihnen unmöglich machten, dort Zuflucht zu suchen. Wahrhaftig, die einzige geschützte Stelle auf diesem windgepeitschten Plateau lag weit hinter ihnen – die Schlucht, durch die sie auf den Gipfel gelangt waren.

»Nun, es hat keinen Sinn zu versuchen, jetzt noch dorthin zurückzukehren«, meinte Hreeza. »Lange bevor wir dort ankämen, wären wir schon tot.« Trotz ihres dicken, zotteligen Fells zitterte sie heftig, und ihr schwarzer Pelz war bereits mit einer dichten, eisigen Schneeschicht überzogen. »Wir können genausogut weitergehen und versuchen, irgendwo anders am Fuß des Felsens Schutz zu finden.«

Shia warf einen zweifelnden Blick auf die immer größer werdenden Schneewehen. »Einmal angenommen, es gäbe – einen solchen Platz. Wie sollen wir ihn unter diesen Bedingungen finden?« Sie schloß ihr Maul noch fester um den Erdenstab. »Es gibt nur eins, was ich tun kann. Ich muß sofort zu Anvar hinaufklettern, bevor diese Kälte mir noch den letzten Rest meiner Kraft nimmt.«

»Shia, das kannst du nicht tun! Niemand könnte hoffen, diesen Felsen zu bezwingen«, protestierte Hreeza. »Willst du denn für nichts und wieder nichts sterben?«

»Ganz im Gegenteil.« Shia hielt dem Blick der alten Katze ohne zu schwanken stand. »Hreeza, diese Angelegenheit ist wichtiger als unser aller Leben. Anvar muß den Stab bekommen, sonst sind nicht nur meine Kameraden verloren, sondern die ganze Welt.«

Shias stille Entschlossenheit machte Hreeza sprachlos. Sie wandte den Blick ab. »Na schön«, murmelte sie, und ihre Bekümmerung ließ ihre Gedankenstimme gedämpft klingen. »Du mußt tun, was du tun mußt, meine Freundin. Aber, Shia, sei vorsichtig. Wenn du bei diesem Versuch dein Leben verlierst, muß ich dich rächen, und diese neuen Feinde, die du dir da geschaffen hast, sind eindeutig zuviel für eine alte Katze wie mich.«

»Shia, ich komme mit dir«, erbot sich Khanu eifrig.

Die große Katze funkelte das jüngere Männchen wütend an. »Das wirst du nicht tun!«

»Warum nicht?« widersprach Khanu. »Wenn du es kannst, kann ich es auch, und du wirst mich brauchen, wenn wir den Gipfel erreichen. Auf diesem Berg da gibt es viele Feinde für uns und für Anvar.«

Sie seufzte. »Du hast vielleicht recht. Aber hör mich erst an. Ich habe einen guten Grund dafür, warum ich will, daß du zurückbleibst, denn falls ich versage und abstürzen sollte, mußt du an meine Stelle treten und an meiner Statt mit dem Stab hinaufklettern.«

Khanu riß die Augen weit auf, sagte aber nichts. Shia betrachtete sein Schweigen als Einwilligung, wandte sich mit leisen Abschiedsworten von ihren Freunden ab und begann zu klettern.


Anvar, der hoch oben in seiner Höhle vor dem Schneesturm sicher war, war vollkommen verzweifelt. Er fluchte und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. Während seiner Krankheit hatte der Magusch jegliches Zeitgefühl verloren und wußte nicht mehr, wie lange er in diesem verfluchten Loch zugebracht hatte, aber er war sicher, daß die Geburt von Aurians Kind unmittelbar bevorstehen mußte. Lediglich die ungeheure Maguschsturheit, die ihm wie allen anderen seiner Rasse innewohnte, hatte ihn während der vergangenen Tage davon abgehalten, die Hoffnung aufzugeben, und Shias plötzliches Auftauchen mit dem Stab war ihm als das reinste Wunder erschienen. Jetzt jedoch sah es so aus, als hätten ihm die launischen Götter einen Kelch der Hoffnung dargeboten, nur um ihn ihm abermals zu entreißen.

Shias Gedanken waren immer schwächer geworden, als die Katzen sich durch das grausame Unwetter quälten und gegen den unerbittlichen Ansturm des Windes kämpften, der den Schnee auf ihrem Weg zu immer höheren Hindernissen auftürmte. Anvar, der auf dem steinernen Boden seiner Höhle hin- und herlief, haderte mit seiner Hilflosigkeit. Bei den Göttern, wenn ich ihnen doch nur helfen könnte, dachte er. Es mußte doch etwas geben, was er tun konnte. Dann zuckte die rauhe, alte Stimme einer fremden Katze durch seine Gedanken, und als wolle sie noch zu seinen Qualen beitragen, überbrachte sie ihm eine Botschaft, die ihm das Blut in den Adern erstarren ließ.

»Mensch, wir können keinen anderen Weg nach oben finden. Shia hat beschlossen, zu dir hinaufzuklettern, also wäre es nur vernünftig, wenn du eine Weile lang nicht versuchen würdest, mit ihr zu sprechen. Sie wird ihre ganze Konzentration brauchen, wenn sie überleben soll.«

»Halte sie auf! Das darf sie nicht tun«, rief Anvar. »Es ist unmöglich, diesen Felsen zu erklimmen!« In Gedanken hörte er das trockene, freudlose Kichern der Katze.

»Es ist zu spät, um sie aufzuhalten. Sie ist bereits aufgebrochen. Aber vergiß nicht, daß etwas, was für einen Menschen unmöglich ist, für eine Katze nicht unbedingt auch unmöglich sein muß. Ihre Klauen können auch die winzigsten Risse im Felsen finden, und sie kann ihre Glieder weiter strecken, als es einem kleinen Menschen möglich wäre.« Dann hörte Anvar, wie sich ein Unterton des Zweifels in die Stimme der alten Katze hineinstahl. »Das heißt, wenn ihre Kraft dazu reicht.« Hreezas Worte verklangen in bekümmertem Schweigen.

Anvar eilte zum Höhleneingang und beugte sich gefährlich weit hinaus. Er versuchte, durch die dicken Wolkenschichten und die wirbelnden Schneeschleier hindurch nach unten zu spähen. Es war hoffnungslos. Der Sturm raubte ihm vollkommen die Sicht. Nachdem er eingesehen hatte, daß Shia eine ganze Weile brauchen würde, um bis zu seiner Höhle zu gelangen, und daß es auch keinen Sinn haben würde, wenn er hier draußen blieb und erfror, kehrte Anvar zu seinem Feuer zurück. Taub vor Entsetzen, setzte er sich nieder, starrte blicklos in die flackernden, frostblauen Flammen und begann zu beten.


Am Fuße des Felsens beendete die alte Katze ihre Unterhaltung mit dem verzweifelten Menschen und fand sich plötzlich allein. Über ihrem Kopf sah sie noch die zuckende Bewegung von Khanus Schwanz, kurz bevor er in dem Schneesturm verschwand. Hreezas eigener Schwanz peitschte vor Wut über den Boden. »Komm zurück, du junger Narr!« brüllte sie. »Shia hat dir befohlen, hier unten zu bleiben!«

Von weiter oben klang Khanus Stimme zu ihr herunter, gepreßt und heiser, während er versuchte, auf dem schroffen Felsen Halt zu finden. »Shia hat sich geirrt«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. »Ich zweifle nicht daran, daß sie die Höhle erreichen wird, und wenn sie sie erreicht, wird sie meine Hilfe brauchen.« Plötzlich bekam seine Stimme etwas Hinterlistiges. »Wenn du ihr natürlich erzählst, was ich vorhabe, könnte sich das als eine fatale Ablenkung erweisen, aber das mußt du mit deinem Gewissen ausmachen, Alte. Und jetzt laß mich in Ruhe – diese Kletterpartie ist härter, als sie aussieht.«

Hreeza wandte sich vor Wut schnaubend von dem schrecklichen Felsen ab. Sie hatte keine Götter, an die sie sich hätte wenden können, und verfügte auch nicht über die den Menschen gegebene Erleichterung des Fluchens. Ihre Kameraden, die sie als zu alt, zu erschöpft und zu schwach für den letzten Rest des Weges betrachtet hatten, hatten nicht einmal daran gedacht, sie in ihre Pläne miteinzubeziehen. Angetrieben von der Dringlichkeit ihrer Aufgabe, hatten sie sie zurückgelassen, so daß sie nun in diesem schrecklichen Schneesturm ganz auf sich allein gestellt war. Zorn und Ärger schossen in Hreeza auf und durchfluteten ihre Glieder, die bereits steif und taub wurden, mit einer Woge heißen Bluts. Sie würden sie also hier im Schnee einfach umkommen lassen, wie? Nun, das würde man ja sehen. Da war immer noch ein Funken Leben in der alten Katze, und dieses Leben würde sie teuer verkaufen – und zu ihren eigenen Bedingungen.


Wie lange war sie geklettert? Shia konnte sich nicht daran erinnern. Die Zeit hatte sich zu einer Ewigkeit dahingezogen, einer Ewigkeit, die diesen ganzen eisigen Felsen umfaßte, an dem sie sich mit der Kraft schierer Verzweiflung festklammerte; die Grenzen ihrer Welt waren enger geworden, hatten sich zusammengezogen auf die Steine, die direkt vor ihr lagen, auf den nächsten Riß oder die nächste Spalte im Felsen, die ihren zerschundenen, aufgerissenen Klauen einen wenn auch noch so geringen Halt geben konnten.

Der Berg verschwamm vor Shias Augen, so erschöpft war sie, und der Stab, den sie mit ihren Kiefern umklammerte, behinderte sie beim Atmen und versperrte ihr die Sicht. Ihre Gliedmaßen, die sie unnatürlich von sich gestreckt hatte, um sich auf dem Felsen festzuhalten, fühlten sich an, als würden sie nur noch von Bändern aus glühendem Feuer zusammengehalten. Während ihr ganzes Gewicht an ihren Klauen hing, wagte Shia nicht, an den endlosen Sturz in die Tiefe zu denken, der sie erwartete, falls sie auch nur für einen Augenblick schwächer wurde. Sorgfältig vermied sie jeden Gedanken an die Tatsache, daß ihre selbstgestellte Aufgabe beinahe unlösbar war. Statt dessen ging sie einfach weiter und weigerte sich aufzugeben; sie kämpfte eine endlose Reihe kleiner Kriege um jeden einzelnen, brennenden Atemzug. Zoll um Zoll mühte sie sich mit winzigsten Bewegungen den Berg hinauf und sah aus wie eine kleine, schwarze Fliege auf dem Gesicht dieser gewaltigen, unnachgiebigen Wand aus Stein.

»Shia?« Anvars vorsichtige Stimme durchbrach ihre Konzentration wie ein Peitschenschlag. Ruckartig wurde sie aus ihrer Trance des Leidens und Erduldens herausgerissen und verlor plötzlich jeden Willen zum Weitergehen. Ihr Gewicht schien sich zu verdoppeln, und ihre Klauen rutschten verzweifelt über die glatte, steinerne Oberfläche, während sie ein ganzes Stück haltlos über den Felsen glitt und um ein Haar den Stab fallengelassen hätte. Ihr Herz schlug in ihrer Kehle, und ihre Klauen gruben verzweifelt tiefe Furchen in den halb verfallenen Stein, bis sie endlich wieder Halt fand.

Anvars Entsetzensschrei hallte noch immer in ihrem Schädel wider. Als sich das Hämmern des Blutes in ihren Ohren endlich gelegt hatte, hörte sie ihn sich selbst verfluchen, mit einer Stimme, die mehr als nur ein wenig zitterte. Die große Katze lehnte ihren Kopf müde gegen den eisigen Stein und wartete, bis ihr Atem wieder ruhiger ging und ihre Gliedmaßen aufhörten zu zittern. In der Zwischenzeit lenkte sie sich von ihrer gerade, erst ausgestandenen Angst ab, indem sie Anvar ganz genau sagte, was sie von ihm hielt. Das dauerte eine ganze Weile, und als sie endlich damit fertig war, fühlte Shia sich wieder kräftig genug, um weiterzugehen.

Jetzt, da sie sich ihrer Umgebung bewußt wurde, bemerkte die Katze, daß der Schneesturm langsam nachließ, und sie sah auch, warum Anvar gezwungen gewesen war, das Risiko einzugehen, sie abzulenken.

»Du mußt dich jetzt ein wenig nach links bewegen, Shia«, sagte er zu ihr. »Um ein Haar hättest du die Höhle verpaßt.«

Shia verzieh ihm auf der Stelle. Über ihr erstreckte sich der Felsen bis hinauf in die Wolken, vorbei an jenem dunklen Flecken, wo der Höhleneingang lag, und Shia schauderte bei dem Gedanken, endlos weiterzuklettern, bis ihre Kräfte versagten und sie abstürzte …

»Hör auf damit!« Anvars Stimme schnitt wie ein Messer durch ihre verzweifelten Gedanken. »Na, komm schon, Shia«, versuchte er sie zu überreden, »du schaffst es. Du bist doch schon beinahe hier.«

Seine Worte gaben der erschöpften Katze neuen Mut. Anvar hatte natürlich recht. Im Vergleich zu der Entfernung, die sie bereits zurückgelegt hatte, war dieses kleine Stück so gut wie gar nichts! »Bei solchen Gelegenheiten verstehe ich, warum Aurian dich so gern hat«, sagte sie dankbar zu dem Magusch. Gestärkt durch die Wärme ihrer Freundschaft zu diesem Menschen, sammelte Shia die letzten Reste ihrer dahinschwindenden Kraft und setzte ihren Klettermarsch fort.

Mit einem letzten, erschöpften Kraftakt zog die große Katze sich auf den Felsvorsprung vor dem Höhleneingang, wobei Anvar ihr mit starken Händen unter ihre vorderen Gliedmaßen griff. Nach so langer Zeit konnte sie sich nun endlich ihrer kostbaren Last entledigen, und mit einem heißen Gefühl des Triumphes ließ sie den Erdenstab Anvar vor die Füße fallen, bevor sie auf dem Boden zusammenbrach, als wären ihre Knochen aus Gummi.

Shias Brust hob und senkte sich in hektischen Stößen, und ihr Blick war verschwommen vor Erschöpfung, während Anvars Hände sanft den Schmerz aus ihren verkrampften, zitternden Gliedern massierten. Seine Berührung sandte eine kribbelnde Wärme durch ihre überdehnten, müden Muskeln, und anschließend spürte Shia eine Woge des Wohlbehagens und erneuerter Energien. Als ihr Blick wieder klar wurde, sah sie einen schimmernden blauen Dunst um seine Hände und begriff, daß Anvar Magie benutzte, so wie Aurian es in der Wüste getan hatte, um ihr ein gewisses Maß an Kraft zurückzugeben. Nach einigen Minuten streckte Shia sich genüßlich und setzte sich auf. Anvar ließ in seinen Bemühungen nach und legte ihr sanft eine Hand auf ihren glänzenden, breiten Kopf. »Das war eine mächtige Kletterpartie, meine tapfere Freundin«, sagte er leise und mit stockender Stimme. »Shia, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«

»Nun, da solltest du dir aber besser etwas ausdenken«, gab Shia spitz zurück, »und übrigens habe ich nicht die Absicht, das noch einmal zu tun.«

Anvar, der vor lauter Erleichterung in Gelächter ausbrach, schlang seine Arme um die große Katze und drückte sie fest an sich. Shia ihrerseits ließ sich wie ein verspieltes Kätzchen auf den Rücken rollen, umfing ihn mit ihren großen Pfoten und rieb ihren Kopf an seiner Schulter, bis die Höhle unter dem dröhnenden Grollen ihres Schnurrens vibrierte.

»Helft mir! …« Wäre da nicht dieser ängstliche Gedankenruf gewesen, hätte Anvar das schwache, mitleiderregende Wimmern, das ihn begleitete, überhaupt nicht bemerkt. Das kaum hörbare Geräusch wäre unbeachtet in seinem freudigen, ausgelassenen Wiedersehen mit Shia untergegangen.

»Wer, zum Kuckuck, ist das denn?« fragte der Magusch, während er sich aus der Umarmung der großen Katze löste.

»Um seinetwillen hoffe ich, daß es nicht derjenige ist, von dem ich vermute, daß er es ist«, murmelte Shia zornig, während sie und Anvar zum Höhleneingang eilten, um hinauszuspähen.

»Die Götter mögen uns beistehen!« rief Anvar. »Noch eine Katze!«

Shia lugte an dem Magusch vorbei. »Es ist Khanu«, sagte sie. Die junge Katze, die direkt unter dem Felsvorsprung der Höhle hing, hatte nur noch mit den Vorderpfoten Halt gefunden und war offensichtlich am Ende ihrer Kraft. Schon jetzt konnte sie sich kaum noch festhalten. »Anvar, kannst du ihn zu fassen bekommen?« rief Shia.

Der Magusch lag bereits der Länge nach auf dem Bauch und beugte sich über den Abgrund. »Verflucht noch mal, ich schaffe es nicht – nicht ganz … Aber warte, ich habe eine Idee!« Mühsam raffte er sich wieder auf, schoß zurück in die Höhle und kehrte mit dem Stab der Erde zurück. Während er selbst sich am oberen Ende festklammerte, dort wo der Kristall eingelassen war, ließ er das andere Ende zu der verängstigten jungen Katze hinunter.

»Nimm das und halt es ganz fest!« rief Anvar. Als Khanu den Stab mit seinen Kiefern umschloß, verband der Magusch seinen Willen mit den gewaltigen Kräften des Stabes und zog, als wolle er einen Fisch aus dem Fluß herausziehen. Khanu, der den Stab fest zwischen den Zähnen hielt, flog den letzten Meter den Felsen hinauf durch die Luft, angetrieben von Anvars Kraft, die durch die Verbindung mit der Macht des Artefakts gewaltige Ausmaße angenommen hatte.

Unglücklicherweise hatte der Magusch den Kraftaufwand, den er benötigen würde, überschätzt. Nachdem Khanu den Stab losgelassen hatte, wirbelte er an Anvar und Shia vorbei in die Höhle hinein, rollte nur um Haaresbreite am Feuer vorbei, um hart gegen die Wand dahinter zu prallen, wo er erschrocken, atemlos und mit zerschundenen Gliedern liegenblieb, während die anderen auf ihn zugelaufen kamen.

»Du Dummkopf! Du idiotischer, junger Narr!« machte Shia ihrem Ärger fauchend Luft. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst unten bleiben?«

Khanu, der im Augenblick noch nicht in der Lage war, sich zu verteidigen, machte einen jämmerlichen Eindruck. Während Anvar noch spürte, wie ein Hauch Mitleid für die junge Katze in ihm aufstieg, bemerkte er aus den Augenwinkeln den Hauch eines Schattens über dem hellen Höhleneingang. Verdammt! Himmelsleute! Anvar dachte schnell nach und griff nach dem Stapel Katzenhäute, der neben seinem Bett lag und warf die Felle über Shia und Khanu in ihrer dunklen Ecke. »Rührt euch nicht von der Stelle! Und seid ganz still!« warnte er die Katzen, während ihm noch gerade rechtzeitig einfiel, daß er auch den Stab verstecken mußte.

Das Schlagen von Flügeln, mit dem die Himmelsleute die Höhle betraten, brachte Shias schockierte, wütende Proteste zum Schweigen. Jetzt, da der Schneesturm sich gelegt hatte, brachten Anvars Wachen ihm seine tägliche Nahrungsration, und der Magusch verfluchte sich dafür, daß er das vergessen hatte. Dank sei den Göttern, daß sie nicht früher gekommen sind, dachte er.

Sobald die Geflügelten wieder weg waren, tauchten Shia und Khanu unter den Pelzen auf, als hätten sie sich verbrannt. Beide schüttelten sich vor Zorn und Widerwillen, und Anvar machte ihnen keinen Vorwurf. Er wußte, wie er sich fühlen würde, wenn er gezwungen gewesen wäre, unter einem Stapel menschlicher Leichen Zuflucht zu suchen. Er fiel auf die Knie, legte einen Arm um jede der großen Katzen und sagte: »Es tut mir leid, aber es war die einzige Möglichkeit, euch zu verstecken.«

Khanu schlich sich in eine Ecke und begann zu würgen, aber Shia starrte nur haßerfüllt auf die Felle. »Was meinst du, wie viele das sind?« fragte sie Anvar. Ihre Stimme hatte die Schärfe von Eis und Stahl.

»Zehn – vielleicht ein Dutzend«, antwortete Anvar. »Um ehrlich zu sein, ich brauchte sie, um zu überleben, aber sie haben mich mit solchem Entsetzen erfüllt, daß ich nicht den Wunsch hatte, sie genauer zu untersuchen. Ich kann nicht einmal ihren Anblick ertragen.« Er schauderte.

Die große Katze sah ihn ernst an. »Du bist ein Freund der Katzen, Anvar. Die, die diese Pelze einst trugen, würden es uns nicht verübeln, wenn wir sie jetzt benutzen. Aber was diese meuchelnden Himmelsleute betrifft – « ihr Blick flackerte wie kaltes Feuer. »Du hast jetzt den Stab, Anvar. Wann fangen wir an? Ich möchte heute noch jemanden töten. Die Himmelsleute werden mir für diese Grausamkeit mit ihrem eigenen Blut zahlen.«

Anvar hatte nichts gegen Shias Pläne einzuwenden. Er hatte bereits genug Zeit in diesem verdammten Loch verschwendet, und auch er hatte einige Schulden zu begleichen. »Zuerst müßt ihr beide, du und Khanu, etwas essen und euch ein wenig ausruhen«, sagte er zu ihr. »Wenn ich erst einmal anfange, möchte ich meine Sache auch gründlich machen.«

Während Shia und ihr Kamerad das Fleisch, das die Geflügelten gebracht hatten, miteinander teilten, griff Anvar nach dem Stab der Erde und setzte sich mit dem schlanken, schlangenförmigen Artefakt in den Händen neben das Feuer. Bei der Berührung des Magusch begann der funkelnde Kristall, den die Schlange mit ihrem Kiefer umklammerte, in einem anschwellenden, smaragdgrünen Leuchten zu erblühen, und das magisch aufgeladene Holz summte und vibrierte mit solcher Wucht, daß Anvar seinen ganzen Willen brauchte, um die Energie zurückzuhalten, bis er sie endlich auf ein Ziel richten durfte. Der Stab war Aurians Geschenk und der Schlüssel zu seiner Freiheit, der durch Shias heroisches Wagnis gegen alle Hoffnung in seine Hände gelangt war. Ermutigt durch den Gedanken an seine Liebste, begann Anvar, Pläne für seine Flucht und seine Rache zu schmieden.

Elster war, obwohl sie es nicht wagte, ihm offen zu helfen, recht verschwenderisch mit ihren Informationen gewesen. Anvar hatte das Gebäude nur aus der Ferne gesehen, aber er wußte, daß der bedrohlich wirkende Bau, der den Aerilliaberg krönte, das Zentrum und der Sitz von Schwarzkralles Macht war und ebenso der Ort, an dem er wahrscheinlich zu finden war. Mit der ehrfurchtgebietenden Macht des Erdenstabs würde Anvar in der Lage sein, den Tempel direkt anzugreifen – mitten durch das Herz des Berges hindurch.

Für einen Augenblick verzogen sich die Lippen des Magusch zu einem grimmigen Lächeln. Zu lange waren er und Aurian hilflose Gefangene gewesen. Jetzt war es an der Zeit, den Spieß umzudrehen. Bei den Göttern, sie würden es ihren Feinden schon zeigen!

Загрузка...