Nach einer Zeit, die ihr wie Stunden erschien – Stunden, die sie in Qualen des Schmerzes und der Verzweiflung verbracht hatte –, hörte Aurian das scharrende Kratzen von Holz auf Stein, als die Tür ihres Gefängnisses aufgerissen wurde. Sie ignorierte das Geräusch. Was hätte sie sonst tun können? Anvar war verloren für sie, sie wußte nicht, wo man ihn hingebracht hatte, und Miathan hatte ihr Kind verflucht. Sie schauderte und kämpfte gegen eine Woge der Übelkeit. Welche Art von Ungeheuer mochte sie unter ihrem Herzen tragen? Gefangen in ihrem Elend, fürchtete sich ihr geschlagener Geist vor dem Eingeständnis ihrer bitteren Niederlage. Sollten sie doch eintreten, wer immer sie auch waren. Sollte Miathan doch mit ihr tun, was er wollte – denn er konnte ihr kaum Schlimmeres antun, als er bereits getan hatte. Wie hatte sie nur je hoffen können, ihn zu besiegen?
Plötzlich durchbrach ein furchtbarer Schrei Aurians Elend, und sie hörte einen Schwall undeutlicher Flüche, die sich gegen den Prinzen, sein Gefolge, seine Verwandten und Vorfahren richteten. Nereni! Es war Nereni, die Schimpfworte gebrauchte, bei denen die kleine Frau für gewöhnlich erbleichen und sich die Ohren zuhalten würde. Aurian spürte, wie ihre Lippen sich zu einem Lächeln verzogen, und schämte sich plötzlich. Wenn die schüchterne Nereni so viel Feuer und Kampfgeist aufbringen konnte, wie konnte sie, Aurian, eine Magusch und Kriegerin, es wagen, sich der Verzweiflung zu überlassen?
Aurian spürte kalten Stahl auf ihren Handgelenken, als Nereni die Lederriemen durchschnitt, mit denen sie gefesselt war, und unterdrückte einen Fluch, als das Blut wie eine glühendheiße Flut in ihre Hände zurückkehrte. Mit einiger Mühe gelang es ihr, ihre geschwollenen Augen zu öffnen. Nerenis Gesicht war vom langen Weinen entstellt, aber in ihren Augen brannte entrüstete Wut, als sie die Magusch in die Arme nahm. »Aurian! Was haben sie mit dir gemacht? Und das, obwohl du ein Kind erwartest?« Im Angesicht von Aurians Elend vergaß sie ihre eigene Not und wandte sich zornig an die Soldaten, die sie begleitet hatten. »Ihr da – holt etwas Wasser! Bringt auch Holz mit, um ein Feuer zu machen! Und holt jemanden her, der diese Falltür in Ordnung bringt! Wir mögen zwar Gefangene sein, aber wir brauchen nicht zu Tode zu erfrieren oder zu verhungern. Du da, du Sohn eines Schweines! Hol dieser armen Lady etwas zu essen!«
Einer der Soldaten lachte. »Wir nehmen keine Befehle von einem fetten, alten Weib entgegen!« höhnte er.
Nereni richtete sich zu ihrer vollen, bedeutungsvollen Größe auf. Zu Aurians gewaltigem Erstaunen ging sie drohend auf die Soldaten zu. »Aber ihr nehmt Befehle vom Prinzen entgegen, der euch gesagt hat, daß ihr euch um diese Lady kümmern sollt. Also, schwing jetzt endlich dein faules Hinterteil durch diese Tür und hol mir, was ich brauche, bevor ich seine Hoheit von deinem Ungehorsam in Kenntnis setze!«
Der Soldat wurde plötzlich weiß und eilte davon, um ihr zu gehorchen. »Und wenn du schon mal dabei bist«, bellte Nereni hinter ihm her, »bring auch gleich jemanden mit, der diesen Saustall saubermacht!«
Danach entwickelten sich die Dinge sehr schnell. Die Leichen der Geflügelten wurden weggebracht, und Soldaten kamen, um den abgewetzten Steinfußboden zu säubern. Irgend jemand brachte Holz herbei, und schon bald war die Luft von fröhlichem Knistern erfüllt, während die immer größer werdende Ramme im Kamin die Kälte aus dem Zimmer verscheuchte. Einer der Männer holte einen Sack mit Vorräten und anderen Dingen, die Nereni ihm sofort aus der Hand riß.
Als ihre Wachen gegangen waren, streifte Aurian mit einem Schauder des Ekels ihr zerrissenes Gewand ab und hüllte sich in die Decken, die man ihnen zurückgegeben hatte. Nereni reichte ihr ein mit kaltem Wasser getränktes Tuch, das sie sich gegen ihr geschundenes Gesicht halten konnte. Dann machte die alte Frau sich am Feuer zu schaffen.
Eingehüllt in die lärmende Fürsorge ihrer Freundin, spürte Aurian, wie die furchtbare Anspannung ihrer Verzweiflung langsam von ihr abfiel. Als das eisige Wasser den Schmerz ihrer Prellungen betäubte, suchte sie in sich nach den letzten Resten ihres Mutes und verwob sie miteinander zu einem Mantel aus stahlhartem Willen. Niemals wieder würde sie sich gestatten, aufzugeben. Wäre Nereni nicht gewesen …
Aurians Kinn fuhr mit der altvertrauten Geste der Sturheit in die Höhe. Sie würde sich nicht der Verzweiflung hingeben. Sie wollte einen klaren Verstand behalten, einen Verstand, der in der Lage war, jede Schwäche in Miathans Plänen zu entdecken. Es mußte eine Möglichkeit geben, wie sie sich selbst und Anvar retten konnte. Ach, ihr Götter – und ihr Kind! Als wolle er sie an seine Gegenwart und seine eigene Not erinnern, bewegte sich Forrals Sohn in ihrem Leib, und Aurian spürte, wie ihr Herz ihm mit einer Flut von Liebe und Kummer entgegenströmte. Nach allem, was er durchgemacht hatte … »Keine Angst«, flüsterte sie wild. »Ganz gleich, welche Gestalt Miathan dir gegeben hat, du bist mein Kind, und ich liebe dich. Ich werde diesem Bastard nicht gestatten, dich zu töten.«
Beim Klang ihrer Stimme wandte sich Nereni vom Feuer ab und reichte der Magusch eine dampfende Tasse Liafa. »Du siehst schon besser aus«, sagte sie sanft. »Aurian – hat er … Als ich dich dort liegen sah, dachte ich …« Sie biß sich auf die Lippe.
»Nein«, sagte Aurian schwach. »Mir geht es gut – soweit man das sagen kann. Er wird nicht das Risiko eingehen, daß das Baby zu früh kommt. Aber danach …« Sie nahm einen kleinen Schluck von dem belebenden Getränk und zuckte zusammen, weil die Hitze auf ihren geschwollenen Lippen brannte. Ihre Hände zitterten so sehr, daß sie beide brauchte, um die Tasse festzuhalten. Um sich von der Erinnerung an Miathans schmutzige Berührung abzulenken, erkundigte sie sich nach den anderen.
Nereni machte ein finsteres Gesicht. »Deine sogenannte Freundin, die Katze, hat sich ihren Weg ins Freie erkämpft, um wegzulaufen, und dieser Feigling Yazour hat die Gelegenheit genutzt, um ihr zu folgen.« Ihre Stimme war scharf vor Zorn.
»Mach Shia keine Vorwürfe – ich habe ihr gesagt, daß sie gehen soll«, erwiderte Aurian fest. »Der Stab der Erde ist unsere einzige Hoffnung, Miathan zu besiegen, und jemand mußte ihn in Sicherheit bringen. Und du darfst auch Yazour keine Vorwürfe machen, daß er die Chance zur Flucht ergriffen hat. Hoffnungslos unterlegen, wie wir waren, war es das einzige, was er tun konnte. Aber geht es Eliizar und Bohan gut?« Aurian wußte, daß dies der eigentliche Kern von Nerenis Zorn war, und wartete ängstlich auf ihre Antwort.
»Sie haben Eliizar in den Kerker gesperrt, zusammen mit Bohan«, sagte Nereni mit zitternder Stimme. »Er wurde verwundet, aber sie lassen mich nicht zu ihm.« Sie erbebte. »Sie haben mich zu Boden geworfen, weil sie mich vergewaltigen wollten, aber der Prinz hat sie davon abgehalten. Er wußte, daß ich mich aus Schande selbst töten würde, und er wollte mich lebendig haben, damit ich mich um dich kümmern kann. Das ist der Grund, warum die Wachen es nicht wagen, mir etwas anzutun. Einige der Geflügelten sind mit Anvar zusammen weggeflogen und …«
»Was hast du gesagt?« Die Tasse klirrte auf den Kamin, und Liafa spritzte in die zischenden Flammen. Aurian umklammerte Nerenis Arm, bis die alte Frau vor Schmerz aufschrie. »Geflügelte haben Anvar mitgenommen? Weiß du, wohin?«
»Aurian!« rief Nereni ärgerlich, aber die Magusch lockerte ihren Griff immer noch nicht.
»Wo haben sie ihn hingebracht, Nereni?«
»Ich bin mir nicht sicher«, wimmerte Nereni. »Sie haben in der Sprache der Himmelsleute gesprochen, aber ich hörte sie Aerillia erwähnen. Dann haben sie Anvar in ein Netz gewickelt und sind mit ihm davongeflogen. Aurian, du tust mir weh.« Sie brach in Tränen aus.
»Nereni, es tut mir leid!« Aurian nahm die weinende Frau in die Arme. »Du bist so tapfer gewesen – ich weiß nicht, was ich ohne dich angefangen hätte. Aber ich habe solche Angst um Anvar, und ich wußte nicht, wo sie ihn hingebracht haben.«
»Ich verstehe«, schluchzte Nereni. »Ich empfinde genauso, was Eliizar betrifft, verwundet und eingesperrt an diesem schrecklichen Ort. Wenn sie mich doch nur zu ihm lassen würden.«
»Keine Angst – wir werden nicht lockerlassen«, tröstete Aurian ihre Freundin. »Wenn Miathan Harihn manchmal allein lassen würde …« Sie hielt inne und überlegte, wie sie Nereni erklären sollte, daß der Prinz nicht mehr war, was er zu sein schien. »Verstehst du«, begann sie, »Harihn ist nicht …«
»Er selbst?« Nerenis Miene hellte sich ein wenig auf, als sie Aurians Erstaunen bemerkte. »Ich weiß«, fuhr sie fort. »Warum glaubst du, daß mein Volk solche Angst vor Hexerei hat? Berichte über Besessenheit sind in unseren Legenden keine Seltenheit. Als er mich vor seinen Männern gerettet hat, schien Harihn ganz normal zu sein, aber dann veränderte sich sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit, und eine andere, zutiefst böse Seele blickte ihm aus den Augen.« Das Zittern ihrer Stimme strafte ihre äußere Ruhe Lügen. »Hat der Prinz seine Seele einem Dämon verkauft?«
Aurian schüttelte den Kopf. »Ich habe dir doch vom Erzmagusch Miathan erzählt, der seine Mächte dem Bösen verschrieben hat. Nun, er hat sich mit Schwarzkralle verbündet, aber er benutzt auch den Körper den Prinzen. Miathan hätte eine solche Besessenheit nicht ohne Harihns Zustimmung erwirken können, daher vermute ich, daß er dem Prinzen den Thron seines Vaters angeboten hat. Ein Verbündeter im Süden würde für seine eigenen Eroberungspläne von großem Nutzen sein. Aber Harihn hat keine Ahnung, wie tief Miathans Falschheit sitzt. Er ist jetzt nur noch eine Marionette, die nach Miathans Pfeife tanzt. Ich habe kein Mitleid mit Harihn, aber dein Volk wird leiden, so wie wir alle leiden werden, wenn wir keinen Ausweg finden.«
»Aber wie sollen wir das schaffen?« rief Nereni. »Er hält Eliizar und Bohan gefangen, und er wird sie töten, wenn wir versuchen zu entkommen.«
»Ich weiß es auch nicht«, gab Aurian zu. »Das heißt, ich weiß es noch nicht. Er hält auch Anvar als Geisel, aber dank deiner Hilfe habe ich jetzt wenigstens eine Vorstellung davon, wo er sein könnte. Mach dir keine Sorgen, Nereni. Wenn wir nicht in Panik geraten, wird uns schon etwas einfallen.«
Während sie ihre Freundin tröstete, versuchte Aurian, so wie Forral es ihr beigebracht hatte, die Situation zu analysieren. Ihre Lage war verzweifelt. Sie war hilflos, bis mit der Geburt ihres Kindes ihre Kräfte zurückkehren würden – aber würde sie Zeit haben, zu handeln, bevor Miathan das Kind tötete? Und wenn es keine Möglichkeit gab, Anvar zu befreien, dort im fernen Aerillia, wie konnte sie da etwas gegen den Erzmagusch unternehmen? Aurians Kopf begann zu schmerzen. Sie war übel zugerichtet, zutiefst verschreckt und hilflos und bis in das tiefste Innerste ihres Wesens hinein verängstigt – und doch zwang sie sich, ruhig zu bleiben und nachzudenken. Es war lebenswichtig, daß sie sich irgendeinen Plan zurechtlegte.
»Aurian!« Die Stimme in den Gedanken der Magusch hatte einen Beiklang von Verzweiflung, so als hätte ihre Besitzerin schon seit einiger Zeit versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Freude durchschoß Aurian, eine Freude, die so heftig war, daß sie ihr fast die Kehle zuschnürte. »Shia! Dich hatte ich ganz vergessen!«
»Das habe ich gemerkt«, sagte Shia trocken. »Närrin! Ich versuche schon seit einer Ewigkeit, dieses Chaos zu durchdringen, das du deine Gedanken nennst.«
»Selber Närrin«, gab Aurian zurück. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst hier verschwinden.«
»Ich bin gut versteckt – und falls irgend jemand mich finden sollte, mögen ihm seine Götter beistehen.« Ihre Stimme wurde plötzlich sanft vor Sorge. »Aurian – wie könnte ich dich alleinlassen, ohne zu wissen, was mit dir geschehen ist?«
Mit knappen Worten erzählte die Magusch Shia, was vorgefallen war. Shia fauchte, als sie von Rabes Falschheit und Verrat erfuhr. »Dieses dumme Ding! Ich habe ihr nie vertraut. Nicht umsonst sind die Geflügelten seit Ewigkeiten unsere erbittertsten Feinde. Aber Aurian, wie kannst du mich bitten, dich in solcher Gefahr allein zu lassen? Kann ich nicht irgend etwas tun, um dir zu helfen?«
Einen Augenblick lang schöpfte Aurian Hoffnung. Dann erinnerte sie sich an Anvar, gefangen in Aerillia, und aller Optimismus schwand dahin. Selbst wenn Shia sie befreien konnte und sie dem Erzmagusch entkam, mußte Miathan doch irgendwie in Kontakt mit Schwarzkralle sein. Wenn sie entkam, wußte sie, daß Anvar sterben würde, lange bevor sie ihm zu Hilfe eilen konnte.
Aurian seufzte. Was sie auch unternehmen mochte, sie durfte auf keinen Fall Miathan vergessen. »Nein, Shia«, sagte sie zu der Katze. »Sie haben Anvar als Geisel, und wenn du mich befreist, wird er sterben. Alles, was du tun kannst, ist, den Erdenstab zu nehmen und … bei Ionor, dem Weisen! Warum habe ich nicht früher daran gedacht?« Aurian lachte laut auf, und ihr wurde schwindlig vor Erleichterung. Wie ein greller Blitz war ihr die Erleuchtung gekommen.
»Was?« Shias Ton war scharf vor Verzweiflung. Aurian bemühte sich, ihr Kichern zu unterdrücken, und brachte eilig Nerenis Protest zum Schweigen.
»Shia, hör gut zu. Wir glauben, daß Anvar in Aerillia gefangengehalten wird. Finde ihn, so schnell du kannst, und bring den Stab zu ihm. Er kann ihn benutzen, um zu entkommen!«
»Ist das alles?« Shias Stimme war eisig. »Ich lege einfach dreißig Wegstrecken durchs Gebirge zurück, ganz allein und mitten im Winter, und trage dieses verflixte magische Ding im Maul, das mich schon aus der Ferne ganz kribbelig macht. Dann dringe ich in die uneinnehmbare Zitadelle der Geflügelten ein, natürlich ohne den Stab zu verlieren, und gebe ihn Anvar – angenommen, er ist wirklich dort und ich kann ihn finden –, und dann hoffe ich, daß du ihm genug Magie beigebracht hast, um uns irgendwie wieder herauszubekommen. Habe ich etwas vergessen?«
»Ich glaube, du hast alles aufgezählt«, erwiderte Aurian mit einem Lächeln. »Wenn irgend jemand es schaffen kann, Shia, dann du.«
Shia seufzte. »Na schön, wenn es das ist, was du willst – aber wenn ich Anvar zu Hilfe eile, was wird dann aus dir?«
Die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation kehrte wie eine schwarze, erstickende Wolke in Aurians Bewußtsein zurück. »Shia, ich weiß es nicht. Es sieht schlimm aus, und es wird wahrscheinlich noch schlimmer.«
»Dann erlaube mir, dich da rauszuholen. Ich weiß, ich kann es schaffen.«
Oh, die Versuchung war so groß. Aurian dachte an Eliizar und Bohan, dort unten in dem kalten, feuchten Kerker. Sie dachte an Miathans Drohung, ihren Sohn zu töten, und an die widerwärtige Berührung seine Hände auf ihrem Körper. Dann dachte sie an Anvar. Wenn sie ihren Ängsten nachgab, würden sie ihn töten. »Nein!« beharrte sie. »Hol Anvar da raus, Shia. Dann hat Miathan mich nicht mehr in der Hand.
Er wird mir nichts tun, bis mein Kind geboren ist, und wenn das geschieht, bekomme ich meine Macht zurück.« Ihr Worte klangen selbst in ihren eigenen Ohren hohl, aber sie fuhr tapfer fort: »Komme, was kommen mag, ich kann alles ertragen, wenn nur Anvar gerettet wird.«
Shia seufzte. »Na gut, wir machen es so, wie du es willst. Aber mein Herz weint um dich, meine Freundin. Sei vorsichtig.«
»Das werde ich, das verspreche ich dir. Und sei du auch vorsichtig. Ich weiß nur allzugut, wie schwierig die Aufgabe ist, die ich dir gestellt habe.«
»Wenn ich meine Zähne in ein paar von diesen stinkenden Geflügelten schlagen kann, ist es die Sache wert. Leb wohl, Aurian. Ich werde Anvar retten, das schwöre ich, und wir werden beide zurückkommen, um dich zu holen.«
»Lebe wohl, meine Freundin«, wisperte Aurian. Aber die Katze war bereits gegangen.
In dem Wäldchen unterhalb des Turms war ein uralter Baum umgestürzt; das Gewicht seiner weißen Last hatte seine Wurzeln aus dem Boden gerissen. Shia kroch verstohlen aus der kleinen Höhle heraus, die sich zwischen seinen Wurzeln und dem felsigen Abhang eines Hügels gebildet hatte. Jeder ihrer Sinne war gespannt und hielt Ausschau nach einer Spur des Feindes. Sie spürte eine Woge grimmiger Belustigung, als sie vorwärts glitt, nur ein weiteres Stück Dunkelheit auf dem düster überschatteten Schnee. Wie klug, sich direkt unter den Nasen dieser törichten Männer zu verstecken. Aurian hatte darauf bestanden, daß Shia sie verließ, und das Herz der Katze brannte bei diesem Gedanken – aber bevor sie ging, hatte Shia noch eigene Pläne. Der Lattenzaun des Feindes, hinter dem die Soldaten ihre Pferde und Maultiere hielten, war nur ein kleines Stück von dem dichten Gewirr der Bäume entfernt. Shia kroch ganz nah heran, und der köstliche Duft ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Pferdefleisch war ihr Lieblingsessen, aber solange sie mit Aurian unterwegs gewesen war, hatte sie sich zurückhalten müssen. Ihr Schwanz fegte ruhelos hin und her. Das ist nicht der Grund, warum du hier bist! rief Shia sich ins Gedächtnis. Dann legte sie den Stab vorsichtig unter einen Busch, wo sie ihn leicht würde wiederfinden können, und spannte sich zum Sprung – und ließ sich mit einem gedämpften, zornigen Fauchen sofort wieder flach zu Boden fallen.
Zwei Soldaten näherten sich den Pferden, und der Wind trug das Geräusch ihrer murrenden Stimmen zu Shia herüber, so laut, daß sie jedes einzelne Wort verstehen konnte. Durch ihre Gespräche mit Aurian hatte sie ein wenig von der Menschensprache gelernt, und während sie in den Büschen lauerte und auf ihre Chance wartete, endlich zuschlagen zu können, hörte sie gespannt zu, denn sie hoffte, vielleicht ein paar nützliche Informationen aufzuschnappen.
»Beim Schnitter, das ist nicht fair!« jammerte einer der Männer. »Warum sollen wir uns hier draußen zu Tode frieren und bis an die Eier im Schnee stehen, während die anderen ihre Hinterteile an einem hübschen Feuerchen rösten?«
»Irgend jemand muß sich doch um die Tiere kümmern«, wandte der zweite Wachposten ein. »Außerdem bin ich lieber hier draußen. Dieser Priester der Himmelsleute ist mir unheimlich.«
»Alle Himmelsleute sind mir unheimlich«, pflichtete sein Freund ihm bei. »Warum hat sich der Prinz mit ihnen eingelassen? Und wenn er dieser nordländischen Hexe auflauern wollte, warum konnte er nicht einfach ein Schwert in sie hineinrammen, und die Sache war erledigt? Dann wären wir mittlerweile auf dem Gebiet der Xandim, statt uns in dieser verfluchten Wildnis zu Tode zu frieren. Wenn du mich fragst, hat Harihn den Verstand verloren. Er war nicht mehr derselbe, seit wir die Wüste verlassen haben.«
Sein Freund brachte ihn hastig zum Schweigen. »Paß auf, was du sagst, Dalzor! Wenn du bei solchen verräterischen Reden erwischt wirst, bist du ganz schnell deinen Kopf los. Außerdem sollten wir jetzt besser zusehen, daß wir die Tiere von ihren Lasten befreien und sie für die Nacht fertigmachen. Was ist, wenn der Hauptmann herkommt, und wir haben noch nicht einmal angefangen? Mir ist es jedenfalls verflucht noch mal zu kalt, um etwas von meiner Haut an die Peitsche zu verlieren.«
Er ging zu den in Reih und Glied stehenden Pferden und machte sich mit tauben Fingern daran, Schnallen zu lösen und die Lasten, die die Pferde getragen hatten, zu Boden zu werfen. Immer noch vor sich hinbrummelnd, nahm sein Freund die Arbeit am anderen Ende der Reihe auf, dort wo Shia stand. Die Tiere waren ruhelos und ihre Felle feucht von Angstschweiß, da sie die Katze in der Nähe witterten. »Was ist bloß in die Tiere gefahren?« murmelte Dalzor. Als er sich dem Pferd näherte, das ihm am nächsten stand, fuhr es herum, bäumte sich schnaubend auf und stieß ihn der Länge nach in den niedergetrampelten Schnee. Fluchend versuchte er, auf dem glatten Boden aufzustehen, aber es war zu spät.
Shia war wie der Blitz über ihm, und ihre Zähne bohrten sich in seine Kehle. Dann war sie plötzlich mitten unter den Pferden und Maultieren, fauchend und wild mit den Klauen um sich schlagend. Die verzweifelten Geschöpfe schrien und bäumten sich auf, und die Panik verlieh ihnen die Kraft, die Pflöcke, an denen sie festgebunden waren, aus dem Boden zu reißen. Sie liefen auseinander – einige zurück nach unten ins Tal, aber die meisten flohen, wie Shia bemerkte, direkt durch den Paß. Sie würde ihr Pferdefleisch also doch noch bekommen!
Der andere Wachposten stürzte um Hilfe schreiend davon. Der Traum wurde urplötzlich lebendig, und der Schnee auf dem Hügel überzog sich mit glänzend schmutzigem, gelbem Licht, als die Tür aufschwang. Bedauernd verabschiedete sich Shia von ihren Plänen für den zweiten Wachposten. Mit einem Satz war sie wieder an der Stelle, an der sie den Stab zurückgelassen hatte. Sie schloß ihr Maul um das verhaßte, magische Ding und schoß wie ein Pfeil den Paß hinunter. Sie gratulierte sich; sie hatte ihnen erlaubt, den größten Teil des Essens abzuladen, denn sie wollte nicht, daß ihre Freunde Hunger leiden mußten, aber ihr Angriff hatte den Feind wirksam im Turm festgesetzt. Wäre Shia ein Mensch gewesen, hätte sie von einem Ohr zum andern gegrinst. Der Prinz und seine Männer saßen an diesem trostlosen, feindlichen Ort fest – und wenn Shia mit Anvar zurückkehrte, würde sie genau wissen, wo sie zu finden waren.
Trotz seiner Entschlossenheit, aus der Nähe des Turms zu verschwinden, war Schiannath geblieben, unfähig, sich dieses Geheimnis entgehen zu lassen. Warum kämpften die Khazalim gegen ihre eigenen Leute? Und was, im Namen der Göttin, hatte das abscheuliche Volk der Geflügelten mit der ganzen Sache zu tun? Da es mittlerweile offensichtlich war, daß niemand den Flüchtenden verfolgen würde, lauerte der Gesetzlose immer noch hinter seinem Felsbrocken und ließ den Turm keinen Augenblick lang aus den Augen. Die Kampfgeräusche waren verklungen, und nach einer Weile sah er die Geflügelten aufbrechen; zwischen sich trugen sie ein Netz mit einem länglichen Bündel darin. Sie flogen nach Nordwesten, Richtung Aerillia. Aha – sie nahmen einen Gefangenen mit sich! Die Form des Bündels war nur allzu vertraut. Schiannath schüttelte den Kopf. Leute, die vor den Khazalim flohen? Und vor den Geflügelten? Was genau ging da eigentlich vor? »Vergiß es, Schiannath«, murmelte er. »Es gibt wichtigere Dinge, über die du nachdenken mußt. Wie zum Beispiel über die Frage des Überlebens und die Vorräte, die die Khazalim auf diesen Maultieren gelassen haben!«
Der Aufruhr unter den Pferden bedeutete eine Überraschung für Schiannath. Er hatte sich Zeit gelassen und gewartet, bis ein bedrückender Friede sich über den Turm senkte. Er war davon ausgegangen, daß die Khazalim – verflucht sei ihr Name – eine ganze Weile brauchen würden, um die Ordnung im Innern des Turms wiederherzustellen, bevor jemand sich daran erinnerte, die Pferde zu entladen. Er wollte sich gerade ans Werk machen, als die verflixten Wachen erschienen und in ihrer ungehobelten Sprache vor sich hinplapperten, während sie sich daranmachten, die Pferde zu entladen. Schiannath fluchte verbittert. Die Chance seines Lebens, und er hatte sie nicht genutzt. Was war nur los mit ihm? AU dieses Essen, und es hätte um ein Haar ihm gehört.
Dem Gesetzlosen lief das Wasser im Mund zusammen. Er wollte verdammt sein, wenn er sich diese Gelegenheit so einfach entgehen ließ. Die Wachen trennten sich, als sie sich ans Werk machten, und der eine von ihnen kam ganz nah an Schiannaths Versteck heran und an das kümmerliche Dickicht am Fuße des Hügels. Wenn er dort hinübergelangen und sich verstecken konnte, während die Männer von den Pferden abgelenkt waren, die sich seltsam unwohl zu fühlen schienen … Schiannath wartete auf seine Chance. Er ließ Iscalda zurück und schoß nach vorn, wobei er sich die ganze Zeit über gebückt hielt. Dann tauchte er in den Büschen unter.
Das Dickicht explodierte. Zweige schlugen ihm ins Gesicht, als eine riesige, schwarze Gestalt unter ihnen hervorbrach. Ein gewaltiges Fauchen mischte sich mit den Schreien der Pferde und schmerzte ihm in den Ohren. Der Gesetzlose sprang mit hämmerndem Herzen auf. Was immer dieses Ding war, es war verschwunden – dorthin, wo die Pferde standen. Schiannath griff fieberhaft nach seinem Bogen und stellte fest, daß er ihn im Schnee verloren hatte. Göttin! Wie sollte er ohne ihn in dieser Wildnis überleben? Aber in diesem Moment stand vor allem sein augenblickliches Überleben auf dem Spiel. Also zog er sein Schwert und kroch bis zum Rand des Dickichts vor – und hielt wie gelähmt vor Entsetzen inne.
Die Wache lag tot in einer sich ausbreitenden Lache aus Blut; die Kehle des Mannes und die eine Hälfte seines Gesichtes waren weggerissen. Und in diesem Augenblick wütete die flammenäugige Gestalt eines Dämons mit Zähnen und Klauen unter den Pferden. Schiannath sog scharf die Luft ein. Einer der furchtbaren schwarzen Geister aus den Nordbergen. Und er hatte seinen Bogen verloren!
Plötzlich sprang die große Katze mit einem mächtigen Satz auf ihn zu. Er warf sich zurück, doch er wußte, daß er bereits tot war; aber das Geschöpf ignorierte ihn, stürzte sich auf etwas, das ganz in seiner Nähe lag und floh auf den Paß zu. Schiannaths Blut erstarrte. Iscalda! Er raffte sich hastig auf und wagte kaum hinzusehen, aber die Stute war verschwunden. Unfähig, den Anblick. dieses Ungeheuers zu ertragen, war sie den Paß hinuntergeflohen – in genau dieselbe Richtung, in die die Katze nun lief. O Göttin, rette sie!
Jetzt, da das bedrohliche Tier verschwunden war, wagten sich die Männer auch wieder aus dem Turm heraus – aber würden sie es auch wagen, durch den Paß zu gehen, solange die große Katze noch dort sein konnte? Schiannath bezweifelte es. Ihm selbst gefiel diese Vorstellung auch nicht, aber er hatte keine andere Wahl. Einige der Pferde irrten, noch immer ziellos in der Umzäunung herum, halb wahnsinnig vor Angst, aber außerstande, sich zu befreien. Der Gesetzlose sprang auf die Tiere zu, die ihm am nächsten standen – ein Pferd und ein Maultier, die noch ihre Satteltaschen trugen. Er sprang rittlings auf das Pferd und durchtrennte mit einer einzigen Bewegung seines Messers seinen Haltestrick und den des Maultiers. Das Pferd bäumte sich wild auf, aber kein gewöhnliches Pferd konnte einen Xandim abwerfen. Während er mit dem Ende des Seils auf das Tier einschlug, das sich wie wahnsinnig gebärdete, jagte er es auf den Eingang des Passes zu und betete, daß er rechtzeitig kommen würde, um Iscalda vor dem Dämon zu retten.
Schiannath beugte sich tief über den Hals des Pferdes, und seine Augen wurden schmal bei dem Versuch, in dem niedergetrampelten Schnee Spuren zu entdecken. Der Himmel war schwer von klumpigen, grauen Wolken, und obwohl die Morgendämmerung den Himmel über ihm bereits ein wenig aufhellte, hielten die Felsen auf beiden Seiten das Licht des frühen Tages aus der Schlucht fern. Der Boden des Passes war noch immer in tiefe Dunkelheit gehüllt, und Schatten tanzten trügerisch vor seinen angespannten Augen. Der Gesetzlose bemühte sich nach Kräften, auf Geräusche der Verfolgung zu lauschen, was keine leichte Aufgabe war, da die Hufschläge der beiden Tiere mit ihren verwirrenden Echos von den sie umgebenden Steinen widerhallten. Aber es war nichts zu hören. Die Angst vor der Katze hatte die Khazalim davon abgehalten, ihm zu folgen – noch. Mit dem erschrockenen Maultier im Schlepptau, das nur widerwillig hinter ihnen herlief, kostete es Schiannath gewaltige Anstrengung, sein Pferd zu einem schnelleren Schritt zu drängen. Dennoch folgten sie den qualvoll engen Biegungen des steinernen Passes, bis er ein Geräusch hörte, bei dem es ihm kalt vor Entsetzen wurde. Irgendwo vor ihm, schrie ein Pferd, unkontrolliert und schrill, gequält von furchtbarer Angst.
Der Gesetzlose, der den würgenden, verzweifelten Geräuschen folgte, fand Iscalda in einem schmalen Hohlweg, der von dem Paß abzweigte. Die Schreie der Stute hallten zwischen den hohen Wänden wider, ihre Flanke waren durchnäßt vom Angstschweiß, und ihre Augen rollten wild, so daß die weißen Ränder sichtbar wurden, während sie sich auf die Hinterbeine stellte und vor dem fauchenden Schatten, der auf sie zustürzte, zurückwich.
Schiannath, der sein verängstigtes Reittier nur mit Mühe unter Kontrolle hielt, tastete nach seinem Bogen. Fort! Zu spät fiel ihm ein, daß er ihn verloren hatte, als die Pferde von der Katze aufgescheucht worden waren. Die Ohren der Katze zuckten zurück, sie hatte ihn bemerkt. Schiannath schlug auf sein Reittier ein und versuchte, es gegen dessen Willen weiterzuzwingen, während er sich auf das furchtbare Risiko vorbereitete, diese ehrfurchtgebietende Kreatur niederreiten zu wollen. Das Pferd bäumte sich auf und schrak zurück; es hatte Angst, sich der Katze zu nähern, aber Schiannaths Schläge machten es halb wahnsinnig. Das Maultier wurde hysterisch, bäumte sich auf und wirbelte am Ende seines Seils immer wieder herum, bis die beiden Tiere sich unentrinnbar ineinander verheddert hatten. Der Gesetzlose hatte kaum Zeit, seine Beine frei zu bekommen, bevor die Welt plötzlich kopfstand, als sein Pferd zu Boden ging. Rollend brachte er sich in Sicherheit und landete auf Händen und Knien – und sah direkt in die flammenden Augen der riesigen Katze.
»Verfluchter Mist!« Die Worte waren nur ein Wispern in seiner trockenen Kehle. Der Gesetzlose bewegte eine zitternde Hand auf sein Schwert zu, und die Katze stieß ein leises, warnendes Knurren aus. Mit einem entsetzten Aufstöhnen erstarrte Schiannath. Plötzlich begann das ehrfurchtgebietende Geschöpf, sich zurückzuziehen. Gütige Göttin – konnte sie etwa Angst vor ihm haben?
Die Katze knurrte abermals, ein wenig leiser diesmal, und machte sich mit den Pfoten an etwas zu schaffen, das auf dem Boden lag – eine schlaffe, dunkle Gestalt, die unbemerkt im Schatten eines Felsens gelegen hatte. Das Tier hatte also ein anderes Opfer. Bei der Erinnerung an den Krieger, der aus dem Turm geflohen war, durchflutete Schiannath eine beschämende Woge der Erleichterung. Wenn die Katze genug zu fressen hatte, würde sie ihn womöglich gehen lassen. Gab es vielleicht die Chance, daß er sein zu Boden gestürztes Khazalimpferd opfern und eine Möglichkeit finden konnte, Iscalda hier herauszubekommen? Die riesige Katze, die immer noch über dem gefallenen Krieger stand, stieß ein schrilles Heulen aus, das für Schiannaths angespannte Sinne beinahe wie Ungeduld wirkte. Der Dämon senkte seinen Kopf in den Schnee und hob mit den Kiefern etwas auf; einen Stock oder eine Art verdrehter Wurzel, die in einem schwindelerregenden, pulsierenden, smaragdfarbenen Licht erstrahlte. Wieder einmal bohrten sich die flammenden Augen in die seinen hinein. Smaragdgrün und Gold vereinten sich zu einem schwindelerregenden Wirbel, und Schiannath stürzte, stürzte in das Licht …
Der Gesetzlose öffnete die Augen. Auf einer Seite seines Gesichtes spürte er einen dumpfen, tauben Schmerz, dort wo er im Schnee gelegen hatte, und sein Körper wurde von Zittern geschüttelt. Sein Kopf hämmerte, als würde er gleich explodieren – aber die Katze war, der Göttin sei Dank, nirgendwo zu sehen. Die treue Iscalda stand über ihm, und ihre Nüstern flackerten, als sie den Geruch von Blut witterte. Das andere Pferd lag noch dort, wo es gefallen war, seine Beine verheddert mit dem Hanfseil des Maultiers, aber das Maultier selbst war verschwunden. Alles, was von ihm übrig geblieben war, war eine fleckige Blutspur, eine Rinne im Schnee, dort wo der Körper entlanggezogen worden war –, und der Kadaver des Tieres, der ganz in der Nähe auf dem Boden lag.
»Es ist ausgesprochen zäh. Der Pferd wäre mir viel lieber gewesen.«
Schiannath sprang auf die Füße und zog sein Schwert – aber die Stimme war aus seinem Kopf gekommen und nicht von außen!
»Selbst du hättest besser geschmeckt als ein mageres, altes Maultier – aber ich habe dich aus gutem Grund verschont. Paß gut auf den Fremden auf, Mensch, denn dein Leben hängt davon ab.«
Shia spuckte den Erdenstab mit einer Grimasse aus und riß noch einen Bissen aus dem blutwarmen Heisch des Maultiers, um den Geschmack des Stabs zu vertreiben. Die Entdeckung, daß sie das Artefakt benutzen konnte, um mit diesem dummen Menschen zu reden, war ein überaus glücklicher Umstand, der gerade noch zur rechten Zeit gekommen war – aber oh, die Magie dieses unglückseligen Dings verursachte ihr Zahnschmerzen. Der Gedanke, den Stab viele Tage hintereinander im Maul tragen zu müssen, ließ sie erzittern.
Die Katze spähte aus ihrem Versteck hervor – eine schmale Einbuchtung in dem Felsen, dort wo der Frost einen großen Brocken herausgerissen hatte. Der Stein war zu Boden gestürzt und zerschmettert; der Haufen Bruchsteine, der dabei entstanden war, war nur wenige Meter von der Grabenböschung entfernt und bildete auf diese Weise eine notdürftige Höhle. Was tat dieser Mensch jetzt? Na wunderbar, er sprach mit seinem Pferd! Shia streckte die Krallen aus und fauchte zornig. Hör endlich auf, deine Zeit mit diesem hirnlosen Tier zu verschwenden, und hilf Yazour, dachte sie. Sie machte sich bereit, den Stab wieder aufzunehmen und ihm ihre Meinung zu sagen, als er das Pferd endlich stehenließ und sich neben den auf dem Boden liegenden Krieger kniete. Ah, gut. Sobald sie gesehen hatte, daß er sich um Yazours Wunden kümmerte und ihn in eine Decke hüllte, wandte Shia ihre Aufmerksamkeit wieder dem Maultier zu, das nicht annähernd so zäh war, wie sie behauptet hatte. Sie würde die Kraft, die das Fleisch ihr gab, noch dringend brauchen. Da sie jetzt wußte, daß Yazour versorgt wurde, konnte sie sich auf ihre eigene Aufgabe konzentrieren.
Wild vor Zorn, hastete Harihn die Turmstufen hinauf. Er ignorierte die Wachen vor der oberen Kammer und riß die Tür so heftig auf, daß sie in ihren Angeln bebte. »Verfluchte Zauberin!« schrie er. »Was hast du mit meinen Pferden gemacht?«
Aurians in Decken gehüllte Gestalt erhob sich mit überraschender Anmut von der Feuerstelle. Hochgewachsen und mit königlicher Würde sah sie den Prinzen an. »Guten Tag, Harihn«, sagte sie freundlich. »Ich sehe, du bist wieder zurück.«
Er zuckte zusammen, als ihm die Bedeutung ihrer spitzen Worte bewußt wurde, ein Umstand, den sie mit einem Lächeln quittierte. »Können wir dir vielleicht etwas Liafa anbieten?«
»Biete mir lieber ein paar Antworten an!« rief Harihn und schlug den höhnisch grinsenden Wachen die Tür vor der Nase zu. »Warum hast du meine Pferde verhext?« Als er sah, daß sie sich bemühen mußte, ein Lächeln zu unterdrücken, wurde er plötzlich von Wut und Ärger überwältigt. Miathans Befehle vergessend, lief er zu Aurian hinüber und wollte ihr die Selbstgefälligkeit aus dem Gesicht schlagen. Zu spät erkannte er seinen Fehler. Im letzten Augenblick schoß ihre Hand hervor, ergriff sein Handgelenk und drehte es mit einem scharfen Ruck herum. Harihn spürte einen heißen Schmerz in seinem Arm und stürzte zu Boden, wobei er sich den Kopf an der Wand aufschlug.
»Ihr solltet vorsichtiger sein, Prinz. Miathan wird es überhaupt nicht gefallen, wenn Ihr seinen neuen Körper beschädigt.« Aurians kalte Stimme wirkte wie ein Schlag ins Gesicht. Der Prinz raffte sich mühsam auf und rieb sich mit zornverzerrtem Gesicht sein Handgelenk.
»Dafür wirst du leiden!« rief er.
»Das wird dein neuer Mitbewohner kaum zulassen«, gab Aurian zurück. »Ich kenne den Erzmagusch, ich weiß, wozu er fähig ist. Und ich warne dich, stell dich ihm nicht in den Weg, sonst wird er dafür sorgen, daß es dir leid tut – so leid, wie es mir tut.« Ihr Gesicht verzerrte sich mit bitterem Schmerz, und sie sah ihn fast mitleidig an. »Was hat er dir angeboten? Den Thron deines Vaters? Und du hast ihm geglaubt. Du hat ihn eingeladen, du armer Tor, und jetzt beherrscht er dich. Jetzt, da er in deinem Körper Fuß gefaßt hat, kann er mit ihm machen, was er will, und dich zwingen, ihm zu gehorchen. Ob du es weißt oder nicht, du bist genausosehr ein Gefangener wie ich.«
Harihn erstarrte bei ihren Worten. »Du irrst dich!« donnerte er. »Wir haben ein Abkommen. Du bist meine Gefangene, und die Tage deines Hochmuts sind vorbei. Beim Schnitter, du wirst lernen, wo dein Platz ist. Du wirst mir gehorchen, oder …«
»Aber natürlich, Harihn«, stimmte Aurian ihm mit süßer Stimme zu.
Der Prinz, von ihrer Kapitulation verwirrt, starrte sie aus schmalen Augen an. »Du lügst«, brauste er auf. »Erwartest du, daß ich dir diesen mitleiderregenden Versuch, meinen Verdacht zu beschwichtigen, abkaufe und dich gehen lasse?«
Aurian lachte ihm ins Gesicht. »Harihn, du bist ein größerer Idiot, als ich gedacht hatte. Der Erzmagusch hält Anvar als Geisel, und du hast Eliizar und Bohan. Glaubst du denn, daß ich zulassen würde, daß Anvar getötet wird? Würde Nereni Eliizar in Gefahr bringen, um mir zu helfen? Wenn ich meine Freunde opfern würde, wie weit würde ich denn ohne ein Pferd wohl kommen? Du mußt dich schon entscheiden. Hätte ich vor zu fliehen, hätte ich dann deine Tiere vertrieben?«
Harihn musterte sie mit einem finsteren Blick. Wie dieses unglückselige Weib immer seine Wort verdrehte! Aber wenn es ihn auch zutiefst erzürnte, er konnte nicht umhin, ihren Mut zu bewundern. Hätte er sich in ihrer Lage so gelassen verhalten können? Flüchtig bedauerte er die Zerstörung ihrer anfänglichen Freundschaft. Wenn er doch nur den Mut gehabt hätte, den Thron anzunehmen, den sie ihm angeboten hatte. Warum war er davor zurückgeschreckt, sich ihre Zauberei zunutze zu machen, nur um sie dann von einer anderen, grimmigeren Quelle anzunehmen? Endlich war Harihn in der Lage, sich die Wahrheit einzugestehen. Es hätte ihn gedemütigt, die Krone aus der Hand einer Frau entgegenzunehmen. Er blickte auf und sah, daß Aurian ihn mit ernstem und traurigem Gesicht beobachtete. »Was hast du denn dann vor?« erkundigte er sich mit sanfterer Stimme. Sie hielt ihm ihre leeren Hände entgegen – eine Geste, die mehr sagte als alle Worte. »Für den Augenblick gibt es nichts, was ich tun könnte.«
Ihre Worte legten sich wie eine eisige Kälte auf das Herz des Prinzen. »Was? Du willst dem Erzmagusch erlauben, dein Kind zu ermorden?«
»Ah«, sagte Aurian traurig. »Ich hatte mich schon gefragt, ob du, Prinz Harihn, überhaupt noch da bist, wenn Miathan von deinem Körper Besitz ergreift.« Sie schüttelte den Kopf. »Oh, Harihn, diese Situation betrübt mich zutiefst. Wir waren doch einmal Freunde, und ich habe nicht vergessen, wieviel ich dir verdanke. Warum ist nur alles so schrecklich schiefgegangen?«
Zu seinem Erstaunen bemerkte Harihn, daß ihr Kummer ihn rührte. Als sein Zorn sich legte, schämte er sich für das, was er getan hatte. Er streckte die Hand nach Aurian aus, und seine Lippen versuchten, eine Art Entschuldigung zu formen – und dann spürte er es. Ein raffiniertes, gräßliches Eindringen in seinen Schädel, wie eisige Klauen, die sich in seinen Geist senkten. Mit einem Ruck wurde sein Bewußtsein beiseite gestoßen, um zum Beobachter zu werden, gleichgültig und hilflos, und er versank spurlos in den Tiefen seiner Seele, während der Erzmagusch zurückkehrte, um seinen Körper für sich zu beanspruchen.
»Wie kannst du es wagen, meine Marionette ins Wanken zu bringen«, kam Miathans Stimme fauchend über die Lippen des Prinzen. Harihn, der im Inneren seines Körpers gefangen war, sah, wie Aurians Augen sich vor Entsetzen weiteten.
Die Höhle war wahrhaftig nichts Besonderes. Mit den zwei Pferden, Schiannath und dem Mann, den er gerettet hatte, war sie hoffnungslos überfüllt, aber zumindest verfügte sie in der von Rissen durchsetzten Decke über eine gute Entlüftung für den Rauch, und es gab einen großen Felsblock, der direkt vor dem Eingang lag und mit einiger Mühe zur Seite gerollt werden konnte, so daß die Öffnung zum Teil verschlossen wurde. Außerdem würde niemand, der noch ganz bei Verstand war, es wagen, den schmalen, halb zerfallenen Felsvorsprung zu betreten, der zu der Höhle hinführte. Die trittsichere Iscalda konnte den gefährlichen Pfad bewältigen, aber Schiannath hätte sich beinahe selbst umgebracht bei dem Versuch, den verwundeten Mann und das schwachsinnige Vieh, das die Khazalim ein Pferd nannten, in die Höhle hinaufzubekommen. Als er das endlich geschafft hatte, mußte er den ganzen Weg noch einmal hinunterlaufen, um ihre Spuren zu verwischen.
Der Gesetzlose kehrte, halb betäubt vor Müdigkeit, in die Höhle zurück und warf noch einen letzten Blick aus dem hoch oben im Felsen gelegenen Eingang ins Tal. Zu seiner Linken öffnete sich der Paß zu einem Berggrat, der zu einem weiten Tal abfiel. Jenseits des Tals erhoben sich die schneebedeckten Berge, ehrfurchtgebietend in ihrer einsamen Pracht. Dort im Norden, jenseits dieser zerklüfteten Barriere aus Stein, lag das Land der Xandim. Schiannath spuckte in den Schnee und wandte sich ab. Zu seiner Rechten erstreckte sich die dunkle Kehle des Passes – und noch während er sie betrachtete, drang das harte Geräusch von Stimmen zu ihm empor, die in der Sprache der Khazalim redeten und die vom Schnee umschlossene Stille durchbrachen. Er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft. Keuchend vor Anstrengung rollte der Gesetzlose den Stein vor den Eingang und sank dann völlig erschöpft auf die Knie.
Schiannath hatte sich vollkommen verausgabt, aber ihm blieb keine Zeit, um sich auszuruhen. In dem dämmrigen Licht, das an den Rändern des Felsens in die Höhle eindrang, tastete er sich mühsam seinen Weg in den hinteren Teil seines Verstecks. Es war gut ausgerüstet, alle seine Zufluchtsorte waren das. In den langen Monaten seiner Verbannung hatte Schiannath sich kaum mit etwas anderem als seinem Überleben beschäftigt. Die Berge waren mit Höhlen durchsetzt, und der Gesetzlose verfügte über eine Reihe verschiedener Verstecke, die vom Windschleier über die ganze Bergkette bis zum Turm reichten. Jedes dieser Verstecke war für Iscalda mit Heu und wilden Körnern ausgestattet, die er in einem lange vergangenen Sommer in den Tälern gesammelt hatte; Feuerholz, das er aus denselben Tälern hinaufgebracht hatte; Nüsse und getrocknete Beeren sowie geräuchertes Fleisch von wilden Bergschafen. Ihre weichen Felle sorgten für Wärme, zusammen mit den zotteligen Wolfspelzen von seinen Jagdausflügen.
Schiannath hatte während des Sommers und des Herbstes unermüdlich gearbeitet, um seine Zufluchtsorte auszustatten. Die Arbeit hatte ihm geholfen, seine Einsamkeit zu überwinden, und die Müdigkeit hatte seiner Verzweiflung die Spitze genommen. Jetzt, in diesem grausamen Winter, waren die Höhlen sein Schlüssel zum Überleben; aber erst heute hatte er den wahren Grund hinter seiner Beharrlichkeit in seiner scheinbar sinnlosen Arbeit gefunden. Es war der Wille der Göttin gewesen.
Der Gesetzlose konnte an nichts anderes denken, während er in dem Ring aus Steinen, der ihm hier als Kamin diente, Feuerholz aufstapelte und schließlich mit der Geschicklichkeit langer Übung ein Feuer entzündete. Er legte Heu für die Pferde auf den Boden und wandte sich dann dem bewußtlosen Krieger zu. Als er in das großknochige Khazalimgesicht blickte, ergriff ihn von neuem eine Woge des Staunens.
Die Göttin hat gesprochen. Sie hat mit mir gesprochen! Die Worte sangen in seinem Kopf, während Schiannath die Wunden des Fremden versorgte. Er streifte dem Mann die nassen Kleider vom Leib und hüllte ihn in trockene Schafsfelle; dann brach er das Ende des Armbrustpfeils ab und riß diesen schließlich ganz heraus. Aber als er die Wunde mit der glühenden Spitze seines Messers ausbrannte, schlug der Mann plötzlich die Augen auf und begann zu schreien. Der Gesetzlose legte ihm eine Hand über den Mund, und der Khazalim biß ihm vor Schmerz in die Finger, aber ungeachtet seines eigenen Schmerzes hielt Schiannath ihn fest, bis seine Schreie verklungen waren. Er bezweifelte, daß der Lärm außerhalb der Höhle zu hören war, aber er war doch erleichtert, als der Mann schließlich wieder bewußtlos wurde. Hastig ergriff er die Chance, seine Arbeit ungehindert fortsetzen zu können, und spülte die Wunde mit einem Gebräu aus heilenden Kräutern aus. Dann tat er dasselbe mit dem Schnitt, den der Krieger im Oberschenkel hatte. »Ein kleines Stück höher, mein Freund, und sie hätten dich kastriert«, murmelte er.
Als Schiannath die Wunden verband, kostete er den sauberen Duft der Kräuter aus, die den Übelkeit erregenden Gestank versengten Fleisches verscheuchten. Der Duft bescherte ihm jedoch auch eine Erinnerung an den Tag, an dem er aus dem Land der Xandim geflohen war. Mit nichts als seinen Waffen und den Kleidern auf seinem Rücken hatte er sich wie benommen an Iscaldas Hals geklammert, blutend und geschunden von den Steinen, die sie ihm nachgeworfen hatten. Als er auf dem Gipfel des Windschleiers an der Wegmarkierung vorbeigekommen war, die die Grenze seines Landes bezeichnete, hatte er plötzlich ein seltsames Schimmern in der Luft gesehen, und Chiamh, das verhaßte Windauge, war auf ihn zugetreten.
Iscalda, deren menschliche Erinnerungen noch immer unversehrt gewesen waren, hatte sich schreiend vor Zorn aufgebäumt. Schiannath hatte nach seinem Bogen gegriffen und einen Pfeil abgefeuert, aber dieser Pfeil ging mitten durch Chiamhs Körper hindurch und grub sich in den Schnee dahinter. »Ich bedauere meine Taten an diesem Tag aus ganzem Herzen«, flüsterte das Windauge mit beschämtem Gesicht. Dann zeichnete es einen Segen in die Luft und verschwand.
Obwohl der Seher nur eine Erscheinung gewesen war, war an dem Inhalt des Bündels, das Schiannath neben dem Stein gefunden hatte, nichts Übernatürliches gewesen. Kleider, Decken, Nahrung; und, was das beste von allem gewesen war, die Beutel mit Chiamhs heilenden Kräutern. Auf jedem dieser Beutel standen in den groben Xandim-Hieroglyphen Anweisungen. Einige der Kräuter waren gegen Fieber, andere gegen Infektionen oder zur Schmerzlinderung. Obwohl Schiannath es nicht vermochte, dem Windauge zu verzeihen, hatte er oft Grund gehabt, Chiamh für sein Geschenk dankbar zu sein.
Mit einem Ruck kehrte Schiannath in die Gegenwart zurück und legte dem Krieger ein in eisiges Wasser getauchtes Tuch auf die bläuliche Schwellung seiner Schläfe. Diese Verletzung mochte sich gefährlicher als die anderen Wunden erweisen, aber er konnte nichts tun, als seinen Patienten ruhigzuhalten und das Beste zu hoffen. Zum ersten Mal in seinem Leben war Schiannath zuversichtlich, daß seine Gebete erhört werden würden. War die Göttin nicht zu ihm gekommen in der tierischen Verkleidung eines schwarzen Geistes der Berge? Hatte sie ihn nicht auf die Probe gestellt? Und hatte sie nicht selbst zu ihm gesprochen und ihm befohlen, das Leben dieses Mannes zu retten, der eigentlich sein Feind war?
Plötzlich überkam Schiannath eine Woge religiöser Ehrfurcht. Vielleicht hatte es einen Grund für sein Exil gegeben und für das der armen Iscalda! O Göttin, hatte das alles womöglich doch einen Sinn?
Yazour öffnete seine verklebten Augen, nur um das Gesicht eines Feindes zu erblicken. Sein Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Die Xandim haben mich gefangengenommen! Während er nach seinem Schwert tastete, versuchte er, sich zu erheben, und schrie vor Schmerz laut auf. Er hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand eine flammende Fackel in die Schulter gerammt und noch eine in die Muskeln seines Oberschenkels. Der Pferderitter drückte ihn sanft und mit einem warnenden Kopfschütteln wieder auf sein Lager. »Nein. Nicht.«
Yazour erkannte die Worte; alle Krieger der Khazalim, die die Länder der Xandim überfielen, hatten die Grundlagen dieser Sprache gelernt. Er blinzelte in das flackernde Licht des Feuers, das die zerklüfteten Steine ein wenig erhellte – es war eindeutig das Dach einer Höhle. Eine Höhle, die nach Pferden stank. Wo bin ich? dachte er. Wer ist dieser Mann? Nach seiner Kleidung und seinen Waffen zu urteilen, war er eindeutig ein Xandim, und doch schien der Fremde sich von den anderen Mitgliedern seines Stammes zu unterscheiden, die Yazour früher zu Gesicht bekommen hatte. Seine Haut war hell unter der wettergegerbten Bräune, und er hatte wachsame, graue Augen mit Krähenfüßen in den Augenwinkeln; ein feines Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer geschwungenen, spitzen Nase und eine von silbernen Fäden durchzogene Mähne schwarzer Locken.
Yazours Retter lächelte und hielt ihm eine randvoll mit Wasser gefüllte Schale entgegen. Der Khazalim hatte bereits herausgefunden, daß ihm die Stelle, an der der Pfeil seine Schulter durchbohrt hatte, höllisch weh tat, wenn er den Arm hob. Yazour nahm die Schale mit seiner gesunden Hand entgegen und trank gierig, während der Fremde seinen Kopf mit sanften Händen stützte. Das Wasser war höchst willkommen. Als er fertig war, legte der junge Krieger sich zurück in das Nest warmer Pelze, die man um ihn herumgewickelt hatte. Auch wenn es ihm nicht gefiel, er mußte der schrecklichen Schwäche, die seine Wunden verursachten, nachgeben. Er wollte dem Mann tausend Fragen stellen, aber bevor er noch die erste über die Lippen bekommen konnte, glitt er abermals zurück in die Bewußtlosigkeit.
Als er wieder erwachte, kitzelte ein köstlicher Duft ihm in der Nase. Yazour lief das Wasser im Mund zusammen. Der Fremde mußte ihn beobachtet haben. Beinahe bevor er Zeit hatte, seine Augen zu öffnen, war der Xandim an seiner Seite und hielt ihm eine Schale mit Suppe hin. Abermals stützte er Yazours Kopf, während dieser trank. Er half ihm mit so sanfter Vorsicht, daß der Krieger an seine Mutter denken mußte, die ihn, wenn er als Kind krank gewesen war, mit der gleichen Zärtlichkeit versorgt hatte. Seine Mutter, die sich das Leben genommen hatte, als Yazour fünfzehn war, nachdem sein Vater, ein Krieger, in Xiangs Diensten getötet worden war – bei einem Überfall auf die Xandim, durch eine Lanze der Xandim.
Fluchend versuchte Yazour, sich von der verhaßten Hand zu befreien. Suppe ergoß sich über seine Brust, und ein scharfer Schmerz durchstach seine Schulter. Ein gedämpftes Wimmern des Schmerzes drang durch seine zusammengebissenen Zähne, bevor er erschöpft wieder zurückfiel. Er spürte, wie frisches Blut klebrig durch den Verband seiner Schulter sickerte. Verband? Yazour war vorher zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, um ihn zu bemerken. Auch sein Oberschenkel war verbunden, dort wo ein Schwert ihn bei seiner Flucht aus dem Turm erwischt hatte. Der Krieger runzelte die Stirn. Dieser Feind hatte ihn gerettet, hatte seine Wunden verarztet und versuchte jetzt, ihm zu essen zu geben.
Yazours Feind schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er fest. »Nicht …« Er sagte noch ein anderes Wort, das der junge Krieger nicht kannte, und machte dann mit ausladenden Gesten Yazours Bemühungen nach, sich zu befreien. »Nicht Gefangener, …«
Ah, Gefangener. Das war ein Wort der Xandim, das der Krieger verstand, aber das Wort, das ihm folgte, hatte er noch nie gehört. Der Xandim runzelte die Stirn, dachte nach und streckte dann eine Hand aus, um mit einem warmen Lächeln Yazours eigene Hand zu ergreifen.
Freund? Könnte er mein Freund sein? Yazour hatte nicht die Absicht, sich mit einem der verfluchten Xandim zu befreunden, die seinen Vater getötet hatten. Mit einem Fluch riß er seine Hand zurück. Dann erstarrte er und fragte sich zu spät, ob er vielleicht einen fatalen Fehler gemacht hatte. Aber sein Retter seufzte nur und hielt ihm noch einmal die Suppe hin. Diesmal siegte sein gesunder Menschenverstand. Wenn Yazour entkommen wollte, um seinen Freunden zu Hilfe zu eilen, mußte er wieder zu Kräften kommen. Er riß dem Fremden die Schale aus der Hand und funkelte ihn wütend an, als er versuchte, ihm wieder seine Hilfe anzubieten.
Dieser Mann mochte zwar ein Feind sein, aber beim Schnitter, er konnte kochen. Yazour war vollkommen ausgehungert. Er schlang die Suppe so hastig in sich hinein, daß er sich die Zunge verbrannte. So sehr es ihm auch widerstrebte, von einem Xandim einen Gefallen zu erbitten, streckte er doch die Schale aus, um noch mehr zu bekommen, aber der Fremde schüttelte den Kopf. »Bastard«, murmelte der junge Krieger. Dann wandte er sich ab, zog sich die Felle übers Gesicht und tat so, als würde er wieder einschlafen. In Wirklichkeit wollte er sich Zeit zum Nachdenken verschaffen.
Warum? Warum hatte dieser Xandim sich solche Mühe gegeben, einem Feind zu helfen? Yazour haßte die Rasse des Fremden aus ganzem Herzen, und doch hatte ihm dieser Sohn eines Schweines das Leben gerettet. Der Krieger wälzte sich ruhelos auf seinem Lager herum, verstört von der Richtung, die seine Gedanken einschlugen, und von der Wunde in seinem Oberschenkel, die schmerzhaft pochte. Einer seiner eigenen Leute hatte Yazour diese Wunde beigebracht, einer seiner früheren Kameraden und Freunde. Beim Barte des Schnitters, was für ein Durcheinander! Der Krieger fragte sich, ob das der Grund war, warum der Mann ihn gerettet hatte. Die Khazalim waren Feinde der Xandim, daher war Yazour ein Opfer der Feinde des Fremden … Aber nein, dachte er. Selbst wenn er mich zuerst nicht erkannt hätte, hätte er gewußt, daß ich ein Khazalim bin, sobald er mich hierhergebracht hatte – und trotzdem hat er sich um mich gekümmert. Im Namen des Schnitters, warum?
Yazour konnte es nicht mehr aushalten. Er wälzte sich auf die andere Seite, schob die Pelze weg und versuchte, seinem Wohltäter in die Augen zu sehen. »Warum?« fragte er in Xandim und wünschte sich, er beherrschte die Sprache besser. Er zeigte auf das Feuer, auf die Höhle, auf seine verbundenen Wunden. Der Mann lächelte und hielt ihm abermals die Hand hin. »Freund«, wiederholte er.
Yazour war in der Gewalt des Fremden, und außerdem hatte der Mann ihm das Leben gerettet. Er zwang sich zu einem Lächeln und ergriff die dargebotene Hand. »Freund«, pflichtete er ihm bei. Zumindest für den Augenblick, du Xandim-Bastard, dachte er.
Schiannaths Patient war schon bald wieder eingeschlafen, aber es schien ihm viel besser zu gehen, und der Gesetzlose beschloß, es zu wagen, sich nach den langen Stunden des Wachens endlich ebenfalls auszuruhen. Vorsichtig stand er auf – es gab nur eine Stelle in der Höhle, an der er das tun konnte, ohne sich den Kopf an der Decke zu stoßen – und räkelte sich die Steifheit aus seinen Gliedern. Dann fachte er das Feuer an, brühte aus einigen Blättern und Beeren, die er in freundlicheren Monaten gesammelt hatte, einen Tee auf und aß ein spärliches Mahl, das er sich aus seinen gehorteten Vorräten zubereitet hatte.
Iscalda wieherte von ihrem Platz in der Nähe des Höhleneingangs, und Schiannath ging zu ihr hinüber, um ihr über ihren seidigen Nacken zu streichen. »Nun?« fragte er sie. »Was hältst du von unserem neuen Kameraden?«
Es war unheimlich, daß die Stute gerade in diesem Augenblick schnaubte, so als antwortete sie ihm auf seine Frage. Der Gesetzlose mußte sich das Lachen verkneifen, um seinen Patienten nicht zu wecken. »Ich hätte es selbst nicht besser ausdrücken können«, sagte er zu ihr. »Ein Freund, wahrhaftig – dieser Khazalim-Abschaum!« Aber die Göttin hatte ihm befohlen, diesem Mann zu helfen, und daher würde Schiannath ihm helfen – jedenfalls für den Augenblick.