21 Die Nacht des Wolfs

Während der Mond zu und wieder abnahm, fand Schiannath es unmöglich, sich von Aurian fernzuhalten – sehr zu Yazours Unwillen. Obwohl der Gesetzlose den Turm eigentlich nur aus sicherer Entfernung beobachten sollte, schlich er sich mitten in der Nacht oft näher heran und erklomm die halb zerfallenen Mauern, um noch einmal mit der Magusch zu reden. Zwar leugnete Schiannath diese Besuche stets, doch wußte Yazour immer, wann ein solcher stattgefunden hatte. Der Gesetzlose kehrte dann erregt und mit strahlenden Augen in die Höhle zurück und lag wach auf seinem Lager, wenn er sich eigentlich für seine bevorstehende Wache ausruhen sollte.

Was für eine Torheit! Yazour fiel es schwer, angesichts solcher Dummheit die Ruhe zu bewahren. Schiannath brachte sich selbst, die Magusch und ihren ganzen Plan in Gefahr. Und doch konnte der Krieger, bevor er wieder auf den Beinen war, nichts dagegen tun. Was ihn am meisten bestürzte, war die Tatsache, daß Schiannath ihm, was diese Besuche betraf, nicht die Wahrheit sagte. Soweit Yazour wußte, bedeutete solche Heimlichkeit niemals etwas Gutes. Sein eigenes Geheimnis zu bewahren war das einzige, was er tun konnte. Wann immer der Gesetzlose fortging, erprobte Yazour die Muskeln an seinem verletzten Bein, unermüdlich und immer bis an die Grenze unerträglicher Schmerzen. Er hatte sich aus einem gegabelten, kräftigen Ast aus dem Feuerholzstapel eine behelfsmäßige Krücke geschnitzt und war bereits in der Lage, langsam durch die Höhle zu schlurfen. Aber der lange Weg durch den Paß bis zum Turm ging zu seiner wachsenden Verzweiflung nach wie vor über seine Kräfte – bis er endlich in einer ungewöhnlich stillen, mondhellen Nacht die Lösung fand, als der Schnee wie ein diamantener Schleier über das Land fiel und die einsamen Schreie der jagenden Wölfe durch die funkelnden Gipfel hallten.

Schiannath ging wieder einmal zum Turm. Obwohl er es wie immer geleugnet hatte und sein Gesicht den unschuldigsten Ausdruck zeigte, hatte Yazour seine verborgene Erregung gespürt, als er aufbrach, und der Krieger mußte sich beherrschen, um nicht gewalttätig zu werden. Oh, der Narr! Dieser unglaubliche Narr! Es war eine Sache, den Turm unter der schwarzen Decke eines bewölkten Himmels zu erklimmen – aber doch nicht heute nacht! Alles, was sich vor diesem hellen Hintergrund bewegte, würde meilenweit sichtbar sein.

Was war es eigentlich, was Schiannath so sehr an Aurian fesselte? Der Gesetzlose weigerte sich, darüber zu sprechen, aber Yazour konnte einfach nicht glauben, daß die Magusch ihn zu einer so gewaltigen Dummheit ermutigen würde. Unglücklicherweise konnte sie Schiannath, ohne ihn zu verraten, nicht am Kommen hindern. Yazour verfluchte den Gesetzlosen mit heißen Worten. Irgendwie mußte Schiannath aufgehalten werden. Also drehte er sich um und tastete unter seinen Decken nach seiner Krücke.


Heute nacht war Iscalda ungewöhnlich reizbar und besorgt. Schiannath ließ sie immer allein, wenn er sich aufmachte, um den Turm zu beobachten. Statt dessen nahm er das zusätzliche Reittier und – o Demütigung – band Iscalda in der Höhle fest, damit sie ihm nicht folgen konnte. Er hatte Angst, daß ihr etwas zustoßen könnte, das wußte sie. Die Zahl der Wölfe, die jetzt in der näheren Umgebung ihr Unwesen trieben, nahm immer mehr zu, denn der Duft des Fleisches für die Garnison im Turm zog sie in diesen verzweifelt hungrigen Zeiten unaufhaltsam an. Schiannath hatte außerdem Angst, daß der Schwarze Geist noch immer irgendwo in der Gegend war, obwohl Iscalda ihm, hätte sie sprechen können, gesagt hätte, daß die große Katze schon lange nicht mehr da war.

Männer und ihre närrischen Ideen! Die weiße Stute schnaubte. Und was hatte er mit dieser Frau im Turm vor, mit dieser Frau, die behauptete, eine Art Windauge zu sein? Iscalda hatte diesbezüglich ihre Zweifel. Es klang zu gut, um wahr zu sein. Sie wagte es nicht zu hoffen, daß sie eines Tages vielleicht in ihre menschliche Gestalt zurückverwandelt werden könnte, und doch schien Schiannath offensichtlich daran zu glauben, und im selben Maße, wie seine Erregung in den vergangenen Tagen gestiegen war, war Iscaldas Beunruhigung gewachsen. Fühlte er sich wirklich nur deshalb zu diesem Windauge hingezogen, weil sie über ungewöhnliche Macht verfügte? Oder hatte es etwas mit der Frau selbst zu tun? War sie wirklich ein Windauge? Hatte sie ihn verzaubert? Warum sonst würde dieser Idiot es riskieren, heute nacht zu ihr zu gehen, obwohl es heute keine Dunkelheit gab, die ihn verbergen würde?

Um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken, richtete Iscalda ihre Aufmerksamkeit auf Yazour. Die Xandim irrten sich in ihrer Auffassung, daß Mitglieder ihrer Rasse, die in ihrer Pferdegestalt gefangengehalten wurden, zu unvernünftigen^ Tieren wurden. Das wußte sie jetzt. Es stimmte, die tierischen Instinkte übernahmen das Kommando, wenn Gefahr drohte, wie zum Beispiel bei dem Angriff der großen Katze. Das einzige, was sie damals im Sinn gehabt hatte, war die Flucht gewesen. Aber im großen und ganzen waren Iscaldas Gedanken nach wie vor ihre eigenen. Es war nur so, daß sie in dieser Gestalt keine Möglichkeit hatte, sich irgend jemandem mitzuteilen, und außerdem war es für den armen Schiannath leichter, zu glauben, sie sei ein Tier. Er hatte schon genug Sorgen, ohne sich auch noch wegen ihres Kummers zu quälen.

Iscalda wünschte, sie könnte Schiannath ihr Vertrauen zu dem jungen Khazalimkrieger übermitteln, den er gerettet hatte. Dies war eine der Gelegenheiten, bei denen sich ihre tierischen Instinkte als Segen erwiesen hatten. Pferde konnten einen guten Mann von einem schlechten unterscheiden, einen Freund von einem Feind, und dieser Mann hier, das wußte sie mit absoluter Sicherheit, verfügte über große Herzensgüte – und das trotz der Tatsache, daß er als Khazalim ein Erzfeind der Xandim war. Iscalda hatte ihn genau beobachtet. Er interessierte sie mehr und mehr. Daher hatte sie wohlwollend registriert, wie er sich Stück um Stück seine Genesung erkämpfte, denn sie wußte, daß auch er sich wegen Schiannaths Verhalten Gedanken machte – und daß er entsetzt darüber gewesen war, daß der Gesetzlose ausgerechnet in dieser mondhellen Nacht den Turm erklimmen wollte.

Die weiße Stute sah aufmerksam zu, wie der junge Krieger, der sich immer noch auf seine Krücke stützen mußte, durch die Höhle taumelte. Das Bein konnte ihn langsam wieder tragen, aber an dem verzerrten Ausdruck seines Gesichts und an dem Schweiß, der sich wie ein leuchtender Film über seine Haut gelegt hatte, konnte sie erkennen, daß er immer noch große Schmerzen hatte. Wenn er Schiannath folgen wollte, würde er kaum eine Chance haben, auch nur aus der Höhle herauszukommen, ganz zu schweigen davon, daß er den mühsamen Weg durch den Paß bewältigen könnte.

In diesem Augenblick hatte Iscalda eine Idee. Warum nicht? Sie wollte Schiannath ebenfalls folgen, und Yazour sollte ihr Halfter aufknüpfen. Sie konnten einander helfen. Dennoch schauderte die weiße Stute, als ihr plötzlich klar wurde, was sie vorhatte. Es war sehr selten, daß ein Xandim in Menschengestalt einen anderen Xandim ritt, der Pferdegestalt angenommen hatte. Das war eine Angelegenheit von höchster Vertrautheit und geschah nur in Notfällen, wie zum Beispiel dann, wenn es einen Verletzten zu bergen galt oder wenn die Betroffenen in engster Beziehung zueinander standen. Einem Fremden – noch dazu einem Menschen – zu erlauben, sie zu besteigen! Das war undenkbar.

Aber war Yazour denn wirklich ein Fremder, nach all dieser Zeit, die sie zusammengepfercht in der Höhle miteinander verbracht hatten? Mußte sie nicht zugeben, daß sie den jungen Krieger liebgewonnen hatte? Und war dies nicht ein Notfall ersten Ranges? Iscalda holte tief Luft. Ich kann es tun, dachte sie. Ich kann es für Schiannath tun. Yazour taumelte auf sie zu und hatte offensichtlich vor, die Höhle zu verlassen. Iscalda wieherte, um die Aufmerksamkeit des jungen Kriegers auf sich zu lenken. Dann beugte sie die Knie, so daß er aufsteigen konnte.

Sie hörte Yazours überraschten Ausruf und fragte sich, was er wohl gesagt haben mochte, denn er hatte in seiner eigenen Sprache gesprochen. Wahrscheinlich hatte er Schiannath lauthals der Lüge bezichtigt, denn der Xandim hatte ihm immer wieder gesagt, daß sie ein Pferd sei, das sich von keinem einzigem Mann reiten ließ. Wieder und wieder hatte er ihn gewarnt, sich ihr nur ja nicht zu nähern. Dann spürte sie seine Hand auf ihrem Hals und schauderte; sie mußte gegen den überwältigenden Instinkt ankämpfen, sich zu wehren oder zu fliehen. Yazour sprach mit leisen, drängenden Worten auf sie ein, und obwohl sie ihn nicht verstehen konnte, konzentrierte Iscalda sich mit aller Macht auf seine beruhigende Stimme.

Als sie jedoch das Gewicht des Kriegers auf ihrem Rücken spürte, hielt nur ihr Halfter sie zurück. Iscalda scheute heftig, aber das schmerzhafte Zerren des Seils brachte sie mit einem heftigen Ruck zur Besinnung. Die Krücke, die Yazour bei sich getragen hatte, schlug gegen ihre Flanken, und sie spürte, wie sein Gewicht sich verlagerte, als er sich duckte, um dem niedrigen Dach der Höhle auszuweichen. Sie hörte ihn heftig fluchen. Dann sprach er wieder auf sie ein, leise und freundlich. Seine Hand glitt beruhigend über die feuchte Wölbung ihres muskulösen Halses. Zitternd unterwarf sich die weiße Stute dem fremden Willen.

Nach einer Weile spürte sie, wie Yazour sich entspannte und ihr endlich genug vertraute, um ihr Halfter aufzubinden. Dann jedoch durchschoß ein heißer Zorn Iscalda, als er das Seil über sie warf und es durch ihren Nasenriemen zog, um auf diese Weise eine Art Zügel zu erhalten. Vertraute er ihr denn nicht? Allerdings hatte sie die Pferde der Khazalim beim Turm gesehen, und dann fiel ihr auch wieder ein, daß diese Menschen alle möglichen Polster, Riemen und Schnallen auf ihren armen Reittieren zu befestigen pflegten. Na schön, Yazour, dachte Iscalda. Behalt dein verflixtes Seil, wenn du dich dann besser fühlst – aber wenn du anfängst, an meiner Nase herumzuzerren, wirst du, eh du dich versiehst, auf deiner eigenen landen. Mit diesem Gedanken machte sie einen zögernden Schritt nach vorn und versuchte, sich an das unvertraute Gewicht auf ihrem Rücken zu gewöhnen. Yazour schien genauso nervös zu sein wie sie, und sie würde sehr vorsichtig sein müssen, das wußte sie, den er konnte sein verletztes Bein nicht zum Reiten gebrauchen. Blinzelnd trat die weiße Stute mit ihrem neuen Reiter in das blendende Mondlicht hinaus und machte sich wie geplant auf den Weg zum Turm.


Aurian war endlich in einen unruhigen Schlummer gefallen. Das Schlafen fiel ihr in diesen Tagen immer schwerer. Ihr Kind, das sich wohl auf seine nahende Geburt vorbereitete, war von wachsender Ruhelosigkeit erfüllt. Das Baby hatte sich mittlerweile gedreht, und seit ein oder zwei Tagen wurde Aurian von heftigen Rückenschmerzen und immer wiederkehrenden Krämpfen gequält. Bedeutete das, daß das Kind endlich kommen würde? Da Aurian keine Erfahrungen auf diesem Gebiet hatte, wußte sie es nicht. Aus Sturheit weigerte sie sich jedoch, sich Nereni anzuvertrauen, denn sie hatte keine Geduld mehr mit dem endlosen Theater, das die kleine Frau in der letzten Zeit gemacht hatte. Die Magusch wußte, daß das hauptsächlich an ihren Sorgen um Eliizar und Bohan lag, aber das nützte ihr wenig. Aurian hatte selbst genug eigene Sorgen, denn sie wußte, daß mit dem Herannahen der Geburt die Situation für sie alle, für sie selbst, für Anvar und vor allem für ihren Sohn immer gefährlicher wurde.

Überhaupt war die Magusch in den letzten Tagen zunehmend ungeduldiger geworden: Sie haderte mit ihrer Schwangerschaft, haderte mit ihrer Unfähigkeit, sich einen nützlichen Plan auszudenken, haderte mit Nereni – und mit diesem Idioten Schiannath, der darauf bestand, sie immer wieder zu besuchen, um des Nachts mit ihr zu reden, obwohl sie jedesmal die Gefahr seines Tuns betont und ihm verboten hatte, sie weiter zu besuchen.

Heute abend allerdings, als sie von der Brüstung des Turms aus in die funkelnde Mondlandschaft geschaut hatte, war Aurian sicher gewesen, daß er nicht kommen würde. Vielleicht war sie deshalb, weil sie endlich einmal keine Störung zu fürchten hatte, schließlich eingeschlafen. Sie konnte es einfach nicht glauben, als ein vertrautes Scharren an der Falltür sie weckte. Mit einem Ruch drehte die Magusch sich unbeholfen auf ihrem Lager um und erhob sich mühsam. »Hat er jetzt vollkommen den Verstand verloren?« fragte sie.

»Mach nicht auf!« zischte Nereni aus ihrer Ecke. »Soll er doch sehen, wo er bleibt, wenn sie ihn entdecken!« Sie mochte Schiannath nicht und vertraute ihm noch weniger – ein Xandim war er, ein Feind. Die Magusch wußte, daß Nereni Angst hatte, Aurian würde leiden müssen, wenn man ihn bei ihr erwischte, und sie lebte in der ständigen Angst, der Erzmagusch könnte seine Wut irgendwann an Eliizar auslassen.

»Ach, sei doch nicht dumm«, sagte Aurian müde. »Schiannath ist unsere Verbindung zu Yazour und unsere einzige Chance, Hilfe von außen zu bekommen. Es wird uns nichts nützen, wenn sie ihn gefangennehmen. Ich wünschte nur, ich könnte ihm etwas Vernunft in seinen Schädel prügeln. Tu mir einen Gefallen, Nereni, und horch für mich an der Tür, während ich versuche, ihn loszuwerden.«

Mit großer Mühe gelang es ihr, sich die knarrende Leiter hinaufzuziehen, bevor sie mit unbeholfenen Fingern das Schloß der Falltür öffnete. Dann spürte sie Schiannaths festen Griff um ihre Handgelenke, und er half ihr hinauf aufs Dach.

Bei so klarem Himmel war es draußen bitterkalt, und die grauen Steine des Turms waren mit einer glitzernden Schicht Rauhreif überhaucht. Die Magusch konnte die unheimlichen Schreie des Wolfsrudels hören, das nun immer näher kam.

»Was, zum Kuckuck, hast du hier zu suchen?« fuhr Aurian Schiannath mit einem zornigen Flüstern an und zog ihn in den Schatten des Schornsteinkastens. »Ausgerechnet heute nacht! Wenn die Geflügelten kommen, wird man dich meilenweit sehen können.«

»Aber Herrin, die Geflügelten fliegen doch nur tagsüber. Das hast du mir selbst gesagt.« Ein entwaffnendes Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Ich habe dir gesagt, sie fliegen nicht in der Dunkelheit, du Esel! Heute nacht ist es taghell, und ich weiß, daß Harihn langsam die Vorräte ausgehen. Was, in Namen aller Götter, ist nur in dich gefahren, Schiannath?« Aurian hätte ihn am liebsten mit bloßen Händen erwürgt. Schon jetzt wußte sie, wie seine Antwort lauten würde, und sie hatte sich nicht geirrt.

»Herrin, du bist meine einzige Hoffnung, meine Schwester Iscalda zurückzuverwandeln!« Seine Finger schlangen sich hart um ihr Handgelenk. »Deine Zeit ist jetzt so nah. Wie kann ich dir fernbleiben, ohne zu wissen, ob du auch in Sicherheit bist …«

»Ich wäre erheblich sicherer, wenn du aufhören würdest, mich zu plagen, und statt dessen aus der Entfernung auf mein Signal warten würdest«, erwiderte die Magusch durch ihre zusammengebissenen Zähne. »Schiannath, mach, daß du hier wegkommst und kehr nicht zurück, bis es …«

»Aurian, da kommt jemand!« Nerenis Stimme war ein drängendes Flüstern. Aurian fluchte und riß ihre Hände aus der Umklammerung des Xandim.

»Verhalte dich ganz ruhig, bis sie wieder gegangen sind«, zischte sie Schiannath zu und stolperte zur Leiter. In ihrer Hast war sie so unbeholfen, daß sie auf einer abgetretenen Stufe ausglitt und sich nur mit Mühe davor bewahren konnte, Hals über Kopf die Leiter hinunterzustürzen. Mit einem heftigen Aufprall kam sie auf dem Boden zu stehen. Irgendwo in ihrem Leib spürte sie einen stechenden Schmerz, aber dieser Eindruck ging in einer Woge des Entsetzens unter, die sie vollkommen verschlang, als sie sich der Tür zuwandte. Miathan kam! Sie erkannte den Klang dieser drohenden Schritte auf den Stufen, und obwohl sie ihre Kräfte verloren hatte, konnte sie selbst durch die geschlossenen Türen den Puls seiner Gedanken spüren, in denen ein tödlicher Zorn kochte. Draußen sammelten sich die Wölfe, und ihre schrillen, einsamen Klagen hallten überall um den Turm herum wider, während die Schritte immer näher kamen.

Die Tür flog auf. Auf der Schwelle stand der Erzmagusch in Harihns Körper, den er wie einen schlecht sitzenden Mantel trug.

Harihns hübsche Züge waren zu einer grimmigen Fratze verzogen. In seinen dunklen Augen lag ein wildes, unbeherrschtes Glitzern. »Hinaus!« Nur dieses eine Wort fauchte er Nereni zu. Die kleine Frau warf noch einen verängstigten Blick auf Aurian, dann verschwand sie mit totenbleichem Gesicht aus dem Zimmer. Miathan schloß mit einem Tritt die Tür und drehte sich dann langsam zu der Magusch um.

»Wie war es Anvar möglich zu entkommen?« In seiner Stimme schwang ein so tiefer, tödlicher Zorn mit, daß Aurian erbebte, obwohl ihr Herz einen Freudensprung machte. Anvar war frei! Ihr Plan mußte funktioniert haben. Sie holte tief Luft und versuchte, Ordnung in ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zu bringen, aber sie schaffte es einfach nicht, die Freude zu verbergen, die sie in diesem Augenblick empfand.

Rotes Feuer loderte hinter Miathans Augen auf. »Verfluchtes Weib! Du wußtest davon.« Sein unvermittelter Angriff schleuderte sie quer durch das Zimmer. So außer sich war er vor Zorn, daß er nicht an ihren Zustand dachte, als er sie gegen die Wand schleuderte und dort festhielt; seine Finger spannten sich wie Klauen und bohrten sich wie Stahl in ihre Schultern. Abermals spürte Aurian diesen dolchscharfen Schmerz in ihrem Körper und ächzte.

»Wie ist Anvar entkommen?« Miathans Hand schoß vor und schlug ihr den Kopf zur Seite. »Sag es mir! Wie ist es möglich, daß er den Tempel von Incondor in Schutt und Asche legen konnte? Was habt ihr auf euren Reisen gefunden, das ihm solche Macht verleiht

Seine Augen bohrten sich in die ihren, und eingegraben in ihren sengenden Tiefen sah Aurian einen leisen Funken des Zweifels aufflackern, einen Schatten von Angst. Miathan schlug sie noch einmal, schlang sich einen Teil ihrer Haare um die Hand und riß ihr mit einem grausamen Ruck den Kopf in den Nacken. Aurian biß die Zähne zusammen. Obwohl ihr Tränen des Schmerzes in die Augen traten, weigerte sie sich zu schreien. Statt dessen lachte sie hart und schrill, denn sie brauchte irgendeine Möglichkeit, die Spannung zu lösen, und als sie ihren Kopf wieder drehen konnte, spuckte sie dem Erzmagusch ins Gesicht.

»Ist das vielleicht Angst; was ich da sehe?« verhöhnte sie ihn. »Der große Erzmagusch Miathan fürchtet sich vor einem niedrigen Diener, einem Halbblut? Dein großer Fehler war es, Anvar zu unterschätzen. Was mich überrascht, da du selbst sein Vater bist.« Sie schleuderte Miathan ihr Wissen ins Gesicht und sah, wie er erbleichte.

»Lügnerin!« heulte er auf. »Ich kenne das Ausmaß von Anvars Kräften! Ich habe sie selbst lange genug besessen. Was habt ihr auf euren Reisen gefunden, das der Macht des Kessels gleicht?«

Aurian fühlte sich in die Enge getrieben und verzweifelte schier angesichts der Notwendigkeit, das Geheimnis des Erdenstabs zu bewahren. »Nichts!« kreischte sie. »Anvar braucht nichts, nur seinen Haß auf dich. Und das ist alles, was du jemals von mir bekommen wirst, Erzmagusch, nichts als Haß und unsterbliche Verachtung!«

Miathan schien vor ihren Augen zu verfallen. Es war schwer, die Feinheiten seines Gesichtsausdrucks zu deuten, aber die Magusch war erstaunt zu sehen, daß sich in seinen Zügen plötzlich so etwas wie Qual widerspiegelte. »Das tut weh«, sagte er sanft. »Du hast ja keine Ahnung, wie weh es tut, wenn du dich von mir abwendest und bei meiner Berührung schauderst.«

Sein Geständnis verwirrte die Magusch. »Gut«, fuhr sie ihn an. »Jetzt weißt du wenigstens, wie das ist. Du hast nie darüber nachgedacht, wie weh du mir getan hast, als du Forral ermordet hast. Es kümmert dich nicht, daß du mir jetzt weh tust mit dem, was du meinen Freunden und Anvar angetan hast. Und mit dem, was du meinem Kind androhst. Ist es dir nie in den Sinn gekommen, daß ich dich für deine Grausamkeit hassen würde? Ist dein Verstand wirklich schon so sehr getrübt?«

Aurian atmete tief durch und wartete darauf, daß der Sturm seines Zorns sich über sie ergießen würde. Aber nichts geschah. Miathan schüttelte nur traurig den Kopf. »Du hast mich früher geliebt, als du noch jünger warst. Vergiß das nicht. Und ungeachtet all dessen, was ich getan habe, Aurian, habe ich nie aufgehört, dich zu lieben.«

Aurians Gedanken überschlugen sich, denn sie weigerte sich zu akzeptieren, daß Miathan sie auf seine eigene, kranke, verdrehte Weise immer noch gern hatte. Unzählige Bilder von ihrer Jugend blitzten vor ihrem inneren Auge auf, aus einer Zeit, als der Erzmagusch ein Vater für sie gewesen war, ihr geliebter Lehrer, bevor Forral zurückgekehrt war und sich zwischen sie gestellt hatte. War das der Zeitpunkt, an dem das Gute in Miathan zu verfallen begonnen hatte? Oder war die Krankheit schon lange vor dieser Zeit ausgebrochen? Der Magusch tat es von ganzem Herzen leid um jene ersten, guten Jahre, aber das konnte ihre jetzigen Gefühle nicht ändern. Der Gedanke an ihr Kind und die Erinnerung an Forrals totes Gesicht löschten alles Mitleid für Miathan aus. »Und ich habe nie aufgehört, dich zu hassen«, zischte sie. »Nicht seit jenem Tag, an dem du Forral ermordet hast. Ich werde dich verachten bis zu dem Tag, an dem ich sterbe.«

Miathans Gesichtsausdruck wurde wieder hart. »Nun, das werden wir ja sehen!« Plötzlich schoß seine Hand wieder empor und legte sich wie ein Schraubstock um ihre Kehle. »Du brauchst nur einen Muskel zu bewegen, und ich würge dir den letzten Atemzug aus dem Leib«, zischte er. Mit einer grauenhaften Sicherheit, die wie ein Stein in ihrer Brust lag, wußte Aurian, daß sie ihn zu weit getrieben hatte.

Mit seiner freien Hand griff Miathan in den Ausschnitt ihres losen Gewandes und riß es ihr vom Leib. Dann bog er ihr den Arm grausam nach hinten, zog sie von der Wand weg und warf sie auf die schmale Pritsche, die ihr als Bett diente. Wieder durchschoß sie dieser Schmerz – und diesmal schlimmer noch als zuvor, so heftig, daß sie laut aufschrie. In diesem Augenblick der Hilflosigkeit stürzte Miathan sich auf sie, kniete sich über sie, und während seine Hand nach wie vor ihre Kehle umklammerte, bedrängte er sie mit der ganzen Kraft von Harihns durchtrainiertem, jugendlichem Körper.

Aurian suchte würgend und mit wild hämmerndem Herzen unter den Decken, auf denen sie lag. Ihre Hand schloß sich um das kalte Metall von Schiannaths Dolch, und sie zielte auf Miathans Kehle, aber in diesem Augenblick raubte ein neuer Anfall krampfartiger Schmerzen ihr die Kraft, so daß sie sich unter seinen Händen nur noch wand und krümmte.

Die Klinge ging weit daneben, der Dolch kratzte über Miathans Schlüsselbein und bohrte sich in seine Schulter. Der Erzmagusch schrie vor Schmerz laut auf, und seine Hand um ihre Kehle wurde schlaff, aber Aurian war nicht in der Verfassung, aus seiner mißlichen Lage Vorteile zu ziehen. Zusammengekrümmt und keuchend spürte sie, wie warme Feuchtigkeit unter ihr über die Decken lief.

Miathan sprang mit einem schrecklichen Ruch auf, riß sich das Messer aus der Schulter und blickte mit harten, erbarmungslosen Augen auf sie herab. »Jetzt endlich ist der Augenblick da«, knurrte er. »Glaub mir, Aurian, meine Rache ist nur aufgeschoben – und nur für kurze Zeit!« Er stürzte zur Tür, schleuderte sie auf und brüllte die Treppe hinunter: »Frau, her mit dir! Das Kind kommt!«


Yazour hätte nie gedacht, daß es so lange dauern würde, den gewundenen Bergpaß zu durchqueren. Vor Ungeduld zitternd, versuchte er, die weiße Stute zu drängen, aber Iscalda wollte nichts davon wissen. Wäre der Gedanke nicht so absurd gewesen, hätte man meinen können, sie nehme Rücksicht auf seine Verletzungen, als sie langsam durch den verschneiten Hohlweg trabte. Yazour, der in der ungewohnten Kälte – weit weg von dem warmen Feuer der Höhle – schrecklich fror, verbarg seine Hände in den Lumpen seines auf vielen Reisen abgetragenen Mantels und fragte sich, was er eigentlich tun würde, wenn er beim Turm ankäme. Wie sehr er sich auch wünschen mochte, Aurian wiederzusehen, so bestand doch nicht die geringste Chance, daß er mit seinem verwundeten Bein die halb zerfallenen, äußeren Mauern würde erklimmen können. Angenommen, Schiannath war noch immer dort oben. Wie konnte er dann den Gesetzlosen vom Dach herunterlocken? »Ich bin ein Narr, daß ich überhaupt hier hergekommen bin«, mußte der junge Khazalim sich eingestehen. Trotzdem unternahm er keinen Versuch, in die Höhle zurückzukehren. Yazour hatte das unklare, aber starke Gefühl, daß er in dieser Nacht beim Turm gebraucht werden würde.

Als der Krieger den Streifen mondhellen Hügellandes jenseits der dunklen Wände des Passes erblickte, beschleunigte Iscalda sofort ihren Schritt. Schon bald konnte Yazour die von Bäumen überwachsene Anhöhe erkennen, die ihm so vertraut und wegen seiner langen Abwesenheit doch so fremd erschien. Er konnte die steile Spitze des Turms sehen, die sich hoch über das zerzauste Waldland erhob, aber er konnte aus der Ferne keine Einzelheiten erkennen. Dann stellte Iscalda mit einem Ruck, der ihn beinahe von ihrem Rücken geschleudert hätte, die Ohren auf und galoppierte los. Flink und schweigend wie ein Schatten stürmte die Stute über den Schnee, und sie legte die Entfernung bis zu dem schützenden Wäldchen, das den Hügel umgab, auf dem der Turm stand, wie im Fluge zurück.

Oh, wie herrlich dieser wilde Ritt unter dem Vollmond doch war! Als er vorüber war, kehrte Yazour nur langsam aus dem Taumel der Geschwindigkeit zurück. Während seine Finger die Mähne der weißen Stute noch immer krampfhaft festhielten, spähte er durch das weißgraue Dickicht hindurch zu dem Hügel und betrachtete vor allem den niedergetrampelten Boden vor der fest verschlossenen Tür des Turms. Aurian war dort – und Eliizar, Bohan und Nereni. Yazour vergrub seine Finger noch tiefer in Iscaldas Mähne. Das war alles, was er, der kampferprobte Krieger, tun konnte, um nicht die Beherrschung zu verlieren und sein Schwert zu ziehen, denn nur ein Narr, der es nicht besser wußte, würde den wohlbewachten Turm stürmen.

Aber die Turmwachen waren nicht Yazours einziges Problem. Wieder einmal durchbrach das grimmige Heulen des Wolfsrudels die mondhelle Stille und ließ Iscalda vor Angst erbeben. Yazour unterdrückte einen Fluch. Die Wölfe waren viel zu nah – und wo, im Namen des Schnitters, steckte Schiannath?

Das Lied der Wölfe schien plötzlich in einem Wirbel von Schwingen unterzugehen. Bevor Yazour begriff, was vor sich ging, schoben sich in der Dunkelheit große, geflügelte Gestalten zwischen ihn und den Mond. »Schnitter, steh uns bei!« Die Worte kamen ihm in einem Schwall eiskalter Luft über die Lippen, und Iscalda bäumte sich noch einmal kurz auf, bevor sie sich hastig und gerade noch rechtzeitig in den Schutz des Dickichts zurückzog. Yazour, dem es nur mit Mühe gelang, auf dem auf- und niedergehenden Rücken der Stute sitzenzubleiben, wurde Zeuge, wie einer der beiden Geflügelten laut aufschrie und auf das Dach des Turms zeigte. Er mußte Schiannath gesehen haben! Der Krieger stieß einen neuerlichen Fluch aus. Dieser Idiot mußte da oben sein, wo ihn jeder Feind in der mondhellen Nacht deutlich erkennen konnte!

Einer der Himmelsleute ließ das Bündel los, das die beiden zusammen getragen hatten, und flog in einem scharfen Winkel auf den Turm zu. Sein Begleiter mühte sich noch einen Augenblick allein ab, dann wurde er in die Tiefe gezogen und ließ mit einem unglücklichen Blick auf das Dach seine Last fallen, die auf dem harten Schnee der Lichtung aufschlug, so daß Hirschkeulen und etliche Früchte des Waldes in alle Richtungen flogen. Als der geflügelte Krieger seinem Kameraden auf dem Dach zu Hilfe eilte, konnte Yazour nur hilflos und starr vor Entsetzen zusehen. Wie konnte er Schiannath jetzt noch helfen?


Seit Aurian ihn verlassen hatte, hockte Schiannath ängstlich neben der Falltür und lauschte aufmerksam, damit er den Moment nicht verpaßte, in dem er Aurian zu Hilfe eilen mußte. Starr vor Entsetzen, hörte er Stimmen in einer unbekannten Sprache sprechen und den Lärm eines heftigen Kampfes. Da er seine ganze Aufmerksamkeit auf den Raum unter sich konzentriert hatte, überhörte er vollkommen das Geräusch sich nähernder Schwingen. Der Gesetzlose streckte gerade die Hand nach der Falltür aus, als ein Schwall eiskalter Luft um ihn herumwirbelte und etwas Hartes und Schweres von hinten auf seinen Kopf schlug, so daß er zu Boden stürzte. Drahtige Arme umklammerten ihn, und aus den Augenwinkeln konnte er das kalte Glitzern einer Klinge sehen.

Als sich eine mit Krallen besetzte Hand um seinen Hals legte, rollte sich Schiannath zur Seite, um seinen Feind abzuschütteln. Dann streckte er einen Arm weit von sich und schlug dem Angreifer die andere Hand weg, mit der er ihn offensichtlich erdolchen wollte. Während er instinktiv versuchte, sich aus dem Würgegriff des Himmelsmannes zu befreien, griff er über seine Schulter hinweg nach hinten und stieß seine Finger in die Augen des Feindes. Mit einem lauten Aufschrei lockerte der geflügelte Krieger seinen Griff, und Schiannath fuhr herum, um zum Angriff überzugehen, aber sein Fuß glitt auf dem vereisten Dach aus, und sein geplanter Schlag ging ins Leere. Der Himmelsmann krümmte sich jedoch und preßte sich die Hand auf die Augen, während der Dolch, der ihm entglitten war, im Mondlicht funkelte. Schiannath fand sein Gleichgewicht wieder, griff nach dem Messer und setzte zum Sprung an. Mit einem weiteren schrecklichen Schrei taumelte der geflügelte Mann zurück und verschwand über der niedrigen Brüstung. Nur ein schwarzer Blutfleck blieb auf den vereisten Steinen zurück. Schiannath stürzte vor, um über den Rand zu spähen – und erkannte seinen Fehler erst zu spät, als ein dunkler Schatten sich über ihn senkte und die Strahlen des Mondes verschlang. Der Himmelsmann war nicht allein gewesen!


Aurian kannte nur Schmerz, ein tiefrotes Meer, in dem sie sich wand und krümmte und verzweifelt versuchte, nicht unterzugehen. Eine Woge der Qual ergriff sie, hob sie schreiend empor und warf sie schließlich keuchend ans Ufer – nur damit eine neuerliche Schmerzenswelle sie wieder ergreifen und in neue Pein stürzen konnte. Ihre einzige Verbindung zur Wirklichkeit, so schien es, war der hauchdünne Faden von Nerenis ruhiger Stimme, die sie besänftigte und ihr Ratschläge zumurmelte – und der brennende Blick des Erzmagusch, dessen Gegenwart wie eine schwarze, drohende Gewitterwolke über dem tiefroten Meer hing. Während einer kurzen Schmerzenspause fiel Aurians vernebelter Blick auf den funkelnden Stahl eines Dolchs, der nur darauf wartete, daß ihr Kind geboren wurde.

Aber für die Maguschfrauen war die Geburt nie eine leichte Sache gewesen, und dieses Baby wollte einfach nicht kommen. Der Geist des Kindes hatte Aurians Entsetzen gespürt, und mit der ganzen Sturheit seines Magusch-Erbes kämpfte er gegen sein Schicksal an.

»Aurian, um des Schnitters willen, du mußt pressen!« Eine neue, hohe Woge des Schmerzes packte Aurian, und Nerenis Stimme ging in der Flut unter. Harte Schläge, die in ihrem Gesicht brannten, holten sie in die Wirklichkeit zurück, und sie erhaschte einen Blick auf eine bleiche, verzweifelte Nereni mit vollkommen zerzaustem Haar. »Aurian, du mußt ihm helfen! Hilf ihm, zur Welt zu kommen, sonst werdet ihr beide sterben!«

»Nein!« Aurian wandte ihr Gesicht von Nereni ab. »Nicht dafür. Nicht für Miathan. Nein, das werde ich nicht tun.« Der Verstand der Magusch floh aus ihrem Körper, floh aus dem Meer der Schmerzen, floh durch eine endlose, graue Wüste, um Forral zu suchen. Er hatte ihr immer geholfen und sie getröstet. »Forral!« rief sie verzweifelt. »Forral! …«

Irgendwo in weiter Ferne schien sie das Echo einer Antwort zu hören. Aurian mühte sich verzweifelt, etwas zu verstehen, aber plötzlich stand ihr ein riesiger, schwarzer Schatten im Weg.

»Du darfst ihn hier nicht suchen. Das ist verboten.« Mit einem Frösteln erkannte sie die ausdruckslose, schnarrende Stimme des Todes.

»Laß mich zu ihm«, rief Aurian und kämpfte vergebens gegen die eisige, schwarze Wolke, die sie zurückhielt.

»Aurian, kehr zurück!« Die Stimme des Todes war unerbittlich, aber nicht unfreundlich. »Deine Zeit ist noch nicht gekommen, ebensowenig wie die des Babys, das du trägst. Geh zurück, Tapfere! Geh zurück und bring dein Kind zur Welt.«

Mit diesen Worten stieß er sie mühelos von sich, und Aurian stürzte hinab in endlose Schwärze.


Yazour biß sich auf die Lippen und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, Schiannath vor den Geflügelten zu retten.

Wie sollte er mit seinen Verwundungen das Dach des Turms erreichen? Dann zerschnitt ein schriller, klagender Schrei vom Dach her die Nacht, und eine dunkle, zusammengekrümmte Gestalt flog durch die Luft und hinunter in den Schnee. Der junge Krieger, dessen Herz für einen Augenblick zu schlagen aufgehört hatte, brach über Iscaldas Hals zusammen, schwach vor Erleichterung, als er die dunklen Federn sah, die den Körper umgaben, der da auf dem Boden aufschlug – und dann versteifte sich Yazour, als das Geheul sich fortsetzte. Das Rudel der Wölfe brach durch das Gehölz hinaus auf die Lichtung, angezogen und zum Wahnsinn getrieben durch den Geruch von Blut.

In seiner Panik galt der erste Gedanke des Kriegers der Stute, aber die halb verhungerten Wölfe hatten für den Augenblick genug. Der Strom zotteliger Leiber teilte sich; einige hielten inne, um über den blutigen Leichnam des Himmelsmannes herzufallen, andere stürzten sich auf den Inhalt des Bündels, das den Geflügelten entglitten war – die Hirschkeulen, die überall im Schnee verstreut lagen. Yazour sah einen dünnen Faden Licht, als die Tür des Turms sich einen Spaltbreit öffnete und dann hastig wieder geschlossen wurde. Der Krieger grinste. Aha, den Wachen stand also nicht der Sinn danach, sich mit einem Wolfsrudel anzulegen? Nun, das brachte ihn auf …

Yazours Grinsen war wie ausgelöscht, als ein Schrei aus dem Turm ertönte. Aurian! Ohne einen weiteren Gedanken an Schiannath stieß Yazour der weißen Stute seine Absätze in die Seiten und zwang sie, aus dem dürren Unterholz heraus über die Lichtung zu galoppieren, wobei er einige der Wölfe, die ihnen im Weg standen, niederritt. Mit dem halb wahnsinnigen Rudel dicht auf den Fersen ritt Yazour das Pferd schnell wie der Wind in die Tür des Turms hinein. Die morschen, alten Balken splitterten unter Iscaldas Gewicht, und sie sprang hinein und setzte leichtfüßig über die zerbrochenen Bretter hinweg, während Yazour sich tief über ihren Hals beugte, damit er sich nicht an dem Türrahmen den Kopf stieß. Hinter ihnen stürmten die Wölfe in den Turm hinein und griffen jeden Menschen an, den sie erblickten. Der Krieger zog sein Schwert, ließ sich von Iscaldas Rücken heruntergleiten und marschierte humpelnd auf die zu Tode erschrockenen Wachen zu, um sich seinen Weg zur Treppe zu bahnen. Die Wölfe jedoch waren mehr als beweglich. Yazour, der um sein Leben kämpfte, sah aus den Augenwinkeln, wie große, graue Gestalten die Treppe hinaufstürzten, und unterdrückte einen Fluch. Die Wölfe würden noch vor ihm bei Aurian sein!


Tiefer und tiefer stürzte Aurian, sie schrie und fiel zurück in das Meer aus Schmerzen. Schließlich brachten laute, verängstigte Schreie von unten sie wieder zu sich, Schreie, die untergingen in dem Fauchen und Heulen von Wölfen. In diesem Augenblick erreichten ihre Qualen den Gipfel – sie ertrank auf dem Kamm der blutroten Welle. Plötzlich zog sich das große Meer zurück und ließ sie allein, völlig erschöpft und nach Luft ringend; das einzige Rot war jetzt das Blut, das hinter ihren geschlossenen Augenlidern pulsierte. Wie aus weiter Ferne vernahm sie Nerenis Stimme: »Ein Junge!« Dann hörte Aurian die entsetzten Schreie der Frau und Miathans Flüche.

Die Magusch riß die Augen auf und sah, wie ein Strom magerer, grauer Gestalten durch die Tür schoß. Die Welt schien für einen Augenblick in einem blendenden Blitz dunkler und heller Mächte auseinanderzufallen. Die ängstlichen Wölfe blieben zögernd in der Tür stehen. Nereni schrie noch einmal auf und ließ das Kind in die Pelze fallen, als hätte es sie verbrannt. Miathan, den die Tiere einen Augenblick lang abgelenkt hatten, drehte sich wieder zu dem unglücklichen Baby um, das in seinen vielen Decken nicht mehr zu erkennen war, und als er den Dolch hob …

Aurian begriff, daß sie endlich frei war. Ohne einen Augenblick zu verlieren, griff sie nach ihren Mächten, die so lange verloren gewesen waren, und rief das Wolfsrudel. Ihre gerade erst von ihren Fesseln befreite Magie flammte in ihr auf wie eine Fontäne herrlichen Feuers. Auf ihre Bitte hin schoß die große, graue Gestalt des vordersten Wolfs nach vorn, stürzte sich auf Harihns besessenen Körper und schleuderte ihn zu Boden. Der Dolch flog ihm in einem hohen, glitzernden Bogen aus der Hand, bevor die Wölfe sich um ihn herum drängten. Aurian hatte noch Zeit für einen letzten Blick auf Harihns Gesicht; sie sah das maßlose Entsetzen in seinen Augen und bemerkte, daß seine Seele wieder seine eigene war. Mit einem wütenden Knurren floh Miathans körperlose Gestalt aus dem Raum, während die Wölfe in einer Fontäne aus Blut Harihns Kehle durchbissen. Von unten konnte Aurian die leiser werdenden Schreie der Wachen hören, als die übrigen Tiere des Wolfsrudels über sie herfielen. Nereni kauerte schluchzend in einer Ecke und verbarg ihr Gesicht.

Aurian zitterte am ganzen Leib, denn das grausame Blutvergießen erschütterte sie bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele. Dann jedoch zog sie sich hoch, getrieben von einer letzten, verzweifelten Notwendigkeit – um herauszufinden, ob Forrals Kind seine furchtbare Geburt überlebt hatte. Sie wagte kaum zu atmen, als sie die Pelze sanft beiseite schob – und was sie erblickte, entriß ihrer Seele einen Schrei qualvollster Verzweiflung.

Aurians Verstand weigerte sich, zu akzeptieren, was sie sah. Das Zimmer verschwamm vor ihren Augen, und sie stürzte in tiefe Dunkelheit, während sie auf ihrem Bett zusammenbrach und ihr Geist von Grauen gepeinigt ins Vergessen floh.

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