16 Ein Schatten auf dem Dach

Während Yazour sich langsam von seinen Verletzungen erholte, ging sein Unterricht in der Sprache der Xandim weiter. Es war nicht so schwierig, wie er erwartet hatte, denn er hatte ja früher schon ein wenig Xandim gelernt. Wie allen Offizieren des Xiang hatte man ihm die Grundlagen dieser Sprache beigebracht, damit er für die Überfälle auf die Xandimställe gerüstet war. Die beiden Sprachen hatten außerdem einige gemeinsame Wurzeln, was das Lernen bei weitem erleichterte. Und schließlich hatten die beiden Männer nur einander zur Gesellschaft und kaum etwas anderes zu tun als zu reden – und jeder von ihnen platzte beinahe vor Neugier und wollte herausbekommen, was der andere in dieser trostlosen, einsamen Gegend zu suchen hatte.

Yazour brauchte mehrere anstrengende Tage, um in stockendem Xandim über sein Schicksal zu berichten. Immer wieder mußte er jedoch bei wilden Gesten und Bildern Zuflucht suchen, die er mit einem verkohlten Stock aus dem Feuer auf den glatten Steinfußboden der Höhle zeichnete. Auf diese Weise erklärte er seinem Retter, daß er und seine Kameraden auf der Flucht vor dem Zorn des Königs der Khazalim waren und daß der Mann, der die anderen im Turm gefangenhielt, Xiangs Sohn war. Als Schiannath diese Neuigkeit hörte, ergoß sich eine Flut zorniger Xandimworte über Yazour, von denen er so gut wie nichts verstand. Nach vielen Wiederholungen und ungezählten Versuchen, seinen seltsamen Kameraden dazu zu bringen, etwas langsamer zu sprechen, verstand der Krieger endlich, daß Schiannath ebenfalls ein Gesetzloser war, den sein eigenes Volk verbannt hatte, obwohl die Art des Verbrechens, das er begangen hatte, unklar blieb.

Yazour vermutete, daß Schiannath sich in diesem Punkt absichtlich vage ausdrückte, und er mußte gegen ein ungutes Gefühl ankämpfen, bis er sich daran erinnerte, daß dieser Mann ihn gerettet, ihm zu essen gegeben und seine Wunden versorgt hatte. Schließlich, so überlegte Yazour, habe ich ihm auch nicht erzählt, warum wir gezwungen waren, vor dem Khisu zu fliehen. Vielleicht kommt Schiannath mein eigenes Verhalten genauso verdächtig vor – und trotzdem kümmert er sich um mich.

Nachdem der Gesetzlose herausgefunden hatte, daß Yazour ein Verbannter war wie er selbst, taute er ihm gegenüber deutlich auf, und trotz seiner ursprünglichen Feindseligkeit bemerkte der junge Krieger, daß es ihm ähnlich erging. Obwohl der Geist seines ermordeten Vaters gelegentlich in seinen Gedanken Gestalt annahm und ihm zürnte, weil er sich mit einem Feind befreundet hatte, konnte der vernünftige Yazour doch nicht umhin, einzusehen, daß sein früherer Feind sich als besserer Freund erwiesen hatte als Harihns Soldaten, seine ehemaligen Kameraden. Yazours Genesung war keine einfache Sache. Manchmal, wenn seine Wunden ihn erneut in Fieberkrämpfe stürzten, machte Schiannath ihm lindernde Breiumschläge und kühlte sein brennendes Gesicht mit Eiswasser; wenn die Beule auf seiner Stirn pochte, gab der Xandim ihm Kräutergetränke, die den Schmerz linderten. Und bei jeder dieser Gelegenheiten war Yazours Verwirrung so groß, daß er das Gefühl hatte, sein Kopf würde zerspringen – oder vielleicht auch sein Herz.

Die schlimmste Qualen litt Yazour jedoch nicht um sich selbst, sondern um die Kameraden, die er im Turm zurückgelassen hatte, als er geflohen war. Was war aus Aurian und Anvar geworden? Was aus Bohan, Eliizar und Nereni? Was war aus Shia geworden, die ganz allein durch diese winterliche Einöde wanderte? Und das schlimmste von allem war die Frage, warum er hier auf dem Rücken lag, hilflos wie eine umgedrehte Schildkröte, wo er doch eigentlich da draußen sein sollte, um den anderen zu helfen?

Während die Tage dahingingen, gärten bohrende Zweifel in dem Krieger. Seine äußeren Wunden heilten langsam, aber die Wunden in seinem Geist verschlimmerten sich. Yazour wurde mürrisch und gereizt, und es fehlten ihm die Worte wie auch die Bereitschaft, Schiannath zu erklären, daß sein Zorn sich gegen sich selbst richtete. Das zarte Band des Vertrauens, das zwischen ihm und dem Xandim gewachsen war, wurde auf eine harte Zerreißprobe gestellt, und Yazour ärgerte sich sogar über Schiannaths verletzten und verwirrten Gesichtsausdruck, wenn dieser versuchte, die unausgesprochenen Wünsche seines Kameraden zu erfüllen, und dabei stets aufs neue zurückgewiesen wurde.

Schließlich spitzten sich die Dinge zwischen den beiden Männern zu. Es war ein wilder, bitterkalter Abend, und der letzte in einer langen Folge von furchtbaren Schneestürmen ließ seine Wut an den Bergen um sie herum aus. Schiannath lag schlafend neben seiner geliebten Stute, aber Yazour warf sich in den Fängen einer grimmigen und hartnäckigen Schlaflosigkeit auf seinem Lager herum und fand keine Ruhe. In Gedanken war er bei den Freunden, die er verloren hatte, und grauenerregende Visionen stiegen vor seinem inneren Auge auf, Visionen, in denen seine Kameraden gefoltert und gedemütigt wurden, Visionen von Aurian, die von dem Prinzen mißbraucht und mißhandelt wurde.

Plötzlich wurde es ihm zuviel. Der schon seit langem von schrecklichen Schuldgefühlen geplagte junge Krieger ertrug es nicht länger. »Schnitter, nimm mich zu dir. Ich kann hier einfach nicht mehr länger herumliegen!« murmelte er. »Ich muß diese Schwäche überwinden und stark genug sein, um endlich aufzustehen.« Der Zeitpunkt war ideal. Schiannath lag schlafend neben seiner Stute. Wenn Yazour still war, konnte er aufstehen und fort sein, bevor der Xandim bemerkte, was er tat, und ihn aufhalten konnte.

Yazour setzte sich auf und mußte zuerst einmal kräftig durchatmen, um den scharfen Schmerz in seiner verwundeten Schulter zu überwinden. Aber es war schon viel besser, beruhigte er sich. Vor nur wenigen Tagen hätte er diesen Arm überhaupt nicht bewegen können. Während er darauf wartete, daß der Schmerz langsam nachließ und zu einem leisen Pochen verblaßte, sah Yazour sich in der Höhle um. Er mußte etwas finden, worauf er sich stützen konnte, denn sein verletztes Bein war immer noch nicht zu gebrauchen. Ursprünglich hatte er dabei an sein Schwert gedacht, aber Schiannath hatte vorsorglich alle Waffen so versteckt, daß Yazour nicht an sie herankonnte. Sein Plan schien zum Scheitern verurteilt zu sein, aber der junge Krieger hatte nicht die Absicht, so leicht aufzugeben. Die Mauer der Höhle bot Halt, um sich daran entlangzuziehen. Yazour streckte seinen gesunden Arm aus, hielt sich an einem stabil aussehenden kleinen Vorsprung in den Felsen fest und begann, sich langsam hochzuziehen.

Der Schnitter sei mir gnädig! Ich hatte ja keine Ahnung, wie weh das tun würde! Yazour klammerte sich an dem Stein fest, aber die Höhlenwand wirbelte schwindelerregend um ihn herum. Schweiß floß ihm übers Gesicht und tropfte brennend in seine Augen. Die geschwächten Muskeln seines verwundeten Oberschenkels bereiteten ihm höllische Schmerzen. »Du verfluchter, winselnder Schwächling!« haderte er mit sich selbst. »Und du nennst dich einen Krieger? Du, die einzige Hoffnung für deine armen Freunde?« Mit diesen Worten biß er die Zähne zusammen, ließ den Stein los, an dem er sich festgehalten hatte, und versuchte, taumelnd zum Höhleneingang zu kommen.

Ein Schritt … zwei … Das verwundete Bein gab unter ihm nach, als hätten seine Knochen sich plötzlich in Wasser verwandelt. Die Welt schien abzukippen, auf den Kopf gestellt, noch bevor Yazour das Gleichgewicht wiederfinden konnte. Plötzlich lag er der Länge nach auf dem Boden der Höhle, eine Hand in den durcheinandergewirbelten, glühenden Kohlen des Feuers. Mit einem Aufschrei des Entsetzens und des Schmerzes riß er sie zurück, aber seine Kleider brannten bereits an mehreren Stellen. Die Pferde schrien in Panik auf und versuchten, sich zu befreien. Dann war Schiannath plötzlich da. Zornig und mit wilden Augen stieß er Flüche in der Sprache der Xandim aus. Hastig zog er den Krieger aus der Gefahrenzone heraus und ergoß den Inhalt seines Wasserschlauches über Yazour und dessen glimmendes Bettzeug. Das Feuer erstickte in einer Wolke aus Rauch und Asche, und Dunkelheit verschlang die Höhle.

Der Krieger hörte das Klicken eines Feuersteins auf Eisen. Eine winzige Flamme flackerte wie eine Blume am Ende einer Fackel auf und erglühte so weit, daß sie schließlich Schiannaths schmutziges und wächsernes Gesicht beleuchtete. Der Xandim klemmte die Fackel in einen Riß im Felsen und taumelte zu Yazour hinüber, wobei er auf dem schlammigen Boden beinahe ausrutschte.

»Du Narr! Du warst noch nicht soweit.« Schiannath half dem zitternden Krieger, sich aufzurichten. »Bist du schlimm verletzt?«

Yazour wandte den Kopf von dem Xandim ab und schluchzte, als wolle ihm das Herz brechen.

Schiannath brauchte eine ganze Weile, um die Ordnung in der verwüsteten Höhle wiederherzustellen. Yazour, eingehüllt in trockene Wolfsfelle, nippte an einem der Schmerzlinderungstränke des Xandim und konnte nichts tun, um ihm zu helfen. Der junge Krieger verging fast vor Demütigung und fühlte sich so elend wie noch nie zuvor in seinem Leben. Welchen Nutzen hatte er denn noch, verkrüppelt wie er war? Er war sogar für den Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, nur eine Last und Plage. Da er nicht wußte, was er sagen sollte, wich er Schiannaths Blick aus.

Schließlich spürte er eine sanfte Berührung auf seiner Schulter. Als er sich umsah, bemerkte Yazour, daß der Boden wieder gesäubert war und daß das neu errichtete Feuer munter brannte. In der Nähe schmolz eine neue Schale Schnee, daneben blubberte in einem Topf etwas Suppe, die von ihrer letzten Mahlzeit übriggeblieben war. Schiannath saß abgekämpft und müde neben ihm und hielt ihm eine Tasse mit der kräftigenden, dampfenden Flüssigkeit hin. »Komm«, sagte der Xandim sanft. »Reden. Was ist so wichtig, daß du zu früh aufstehen mußt?«

Yazour holte tief Luft. »Meine Freunde im Turm«, sagte er. »Sie sind vielleicht verletzt oder sogar tot. Ich muß es wissen.«

Schiannath nickte ernst. »Ich verstehe deine Qualen. Ich hätte früher daran denken sollen. Aber warum hast du denn nichts gesagt? Beruhige dich, Yazour. Ich werde selbst hingehen, morgen abend, und dir Neuigkeiten von deinen Freunden bringen.«


»Na, na, laß mich das tragen«, sagte Jharav. Erleichtert übergab Nereni ihm den schweren Korb, den sie aus Weiden geflochten hatte, die eben derselbe Mann am Rande des kleines Wäldchens für sie gesammelt hatte.

Von allen Soldaten Harihns war Jharav, der mittlerweile zum Hauptmann der Truppe aufgestiegen war, der freundlichste und hilfsbereiteste. Er sorgte dafür, daß sie und Aurian immer genug Feuerholz hatten, und er war es auch, der eine Schale Schnee nach der anderen schmolz, damit sie baden konnten. Nereni war mittlerweile sicher, daß sein Gewissen ihm schwer zu schaffen machte. Zuerst hatte sie Jharav genauso verachtet wie den Rest von Harihns Männern, aber während die Tage ihrer Gefangenschaft vergingen, hatte sich ihr Widerwille gegen den stämmigen, ergrauten Soldaten langsam aufgelöst, bis sie ihn nicht mehr in demselben Licht sah wie die übrigen Soldaten des Prinzen. Jharav war ein anständiger Mann, und Nereni vermutete, daß er sich mit aller Kraft hinter Aurian gestellt hatte, als diese beharrlich verlangte, daß man Nereni erlaubte, sich um Eliizar und Bohan zu kümmern. Vor vier Tagen hatte Harihn dann endlich nachgegeben, und die tägliche Begegnung mit ihrem Mann war ein kleiner Trost für Nereni. Sie hatte das Gefühl, daß sie Jharav Dank schuldete.

Jharav hob den Korb hoch, als lägen nur Federn darin, und betrachtete ihr Werk voller Wohlwollen. »Das ist ein schönes Stück Arbeit«, sagte er zu ihr. »Dein Mann weiß deine vielen Fähigkeiten bestimmt zu schätzen.«

»Mein Mann wird es noch mehr zu schätzen wissen, wenn er diesen Eintopf nicht kalt essen muß!« schimpfte Nereni. Freundlichkeit war eine Sache, aber dies hier grenzte schon an Tändelei. Die kleine Frau war atemlos vor Empörung. Also wirklich, dieser Mann hatte eine Ehefrau zu Hause!

Jharav kicherte. »Betrachte mich als geschlagen, Herrin.« Er klang jedoch keineswegs niedergeschlagen, und er beeilte sich, ihren Ellbogen zu nehmen und ihr zu helfen, die schlüpfrigen, schmalen Stufen hinunterzuklettern, die zu dem Tor des Turms führten.

Die eisenbeschlagene Tür öffnet sich langsam mit einem Quietschen, und eine bleiche, zerlumpte Gestalt erhob sich von einem Haufen Pelze in der Ecke – wie eine Ratte, die aus ihrem Loch auftaucht. »Eliizar!« Nereni flog über den schmutzigen Fußboden, um ihren Mann in die Arme zu nehmen. Wieder einmal drehte sich ihr das Herz im Leibe herum, als sie die scharfen Kanten seiner Rippen unter seinem zerlumpten Hemd spürte. »Aber er erholt sich langsam«, sagte sie sich fest. »Mit jedem Tag, seit ich ihn besuchen darf, ist es mit seinen Wunden ein wenig besser geworden.«

»Nereni, geht es dir gut?« Eliizar hielt sie um Armeslänge von sich und spähte ihr ängstlich ins Gesicht. Obwohl sie am liebsten ihren Kopf an seiner Schulter geborgen und geweint hätte, zwang Nereni sich um seinetwillen, tapfer zu sein.

»Mir geht es gut, mein Liebster.« Irgendwo tief in sich verborgen fand sie ein Lächeln. »Und Aurian geht es auch gut, und sie wird von Tag zu Tag dicker!«

Sie wußte, was er als nächstes fragen würde, und fürchtete die Frage. Warum mußte er sich so sehr quälen?

»Gibt es etwas Neues von Yazour?« wollte der Schwertmeister mit leiser Stimme wissen. Nereni schüttelte den Kopf, denn beim Anblick des Schmerzes auf seinem Gesicht konnte sie ihrer Stimme nicht trauen. Er hatte Yazour wie einen Sohn geliebt. Beim Schnitter, es zerriß Nereni das Herz, ihn in so tiefem Kummer zu sehen.

»Komm«, sagte sie entschlossen. Dann griff sie nach seinem Arm und führte ihn zu seinem Nest aus Pelzen. »Komm, Eliizar, iß etwas Eintopf.«

Während Nereni sich Eliizars Wunde ansah – einen langen, schmalen Schnitt quer über die Muskeln seines Bauchs – und Salbe auftrug und frische Verbände anlegte, dankte sie dem Schnitter für die Felle. Dann holte sie Teller, Löffel und die zugedeckte Schale mit Eintopf aus dem Korb und dachte darüber nach, daß diese Pelze den beiden Männern in dem feuchten, eiskalten Kerker wahrscheinlich das Leben gerettet hatten. Die Geflügelten harten die Felle zwei oder drei Tage nach ihrer Gefangennahme hierhergebracht, nachdem Nereni sich bei dem Prinzen darüber beklagt hatte, daß das Turmzimmer zu kalt für Aurian war. Aber als die dunklen, herrlichen Pelze angekommen waren, war Nerenis Blut zu Eis erstarrt, und sie wünschte, sie hätte nie gesprochen. Das hier waren die Felle von großen Katzen, so wie Shia eine war! Sie hatte zu verhindert versucht, daß die junge Magusch sie zu Gesicht bekam, aber es war bereits zu spät gewesen.

Aurian hatte einen so furchtbaren Wutanfall gehabt, daß Nereni schon fürchtete, die Wehen würden auf der Stelle einsetzen. Obwohl Aurian mit nichts als ihren bloßen Händen bewaffnet war, hatte sie sich mit solcher Gewalt auf Harihn gestürzt, daß mehrere von seinen Wachen nötig waren, um sie festzuhalten – und auch das gelang erst, nachdem sie ihnen einige unübersehbare Verletzungen zugefügt hatte.

Beim Anblick dieser verfluchten Pelze war etwas in Aurian zerbrochen. Seit jener ersten, furchtbaren Nacht ihrer Gefangenschaft war sie so kühl und fest geblieben wie eine steinerne Bastion, und ihr Mut hatte Nereni neue Kraft gegeben. Aber nachdem die Felle gekommen waren, lag die kleine Frau nun Nacht für Nacht wach, denn bei Aurians bitterem, herzzerreißenden Schluchzen war an Schlaf nicht zu denken.

Nereni gab sich selbst die Schuld daran. Sie hatte augenblicklich jeden einzelnen Pelz zu Eliizar und Bohan hinuntergebracht und außerdem nie wieder ein Wort darüber verloren. Am folgenden Tag war Aurians Gesicht bleich, aber so gefaßt wie stets zuvor gewesen; trotzdem bemerkte Nereni jetzt, wenn sie sie ansah, einen zusätzlichen Schatten des Schmerzes um die Augen der Magusch und wußte, daß sie selbst dafür verantwortlich war.

Sobald sie sich davon überzeugt hatte, daß Eliizar seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte und aß, füllte sie noch eine weitere Schale mit Eintopf und brachte sie zu dem Eunuchen, der jämmerlich zusammengekauert unter seinem eigenen Stapel von Pelzen lag. Er selbst hätte nicht zu ihr kommen können. Seine Wächter, die seine gewaltige Stärke fürchteten, hatten ihn mit langen, schweren Ketten an einen Ring in der Wand gefesselt. Er war unversehrt aus dem Kampf hervorgegangen, wenn man einmal von den Schrammen absah, die die Soldaten ihm bei dem letzten Gefecht zugefügt hatten, aber seine Handgelenke – dick wie Nerenis Oberarme – waren von den schweren Fesseln aufgescheuert worden, denn er hatte mehrmals verzweifelt versucht, sich zu befreien. Wegen der Feuchtigkeit und des Schmutzes im Kerker waren seine Handgelenke jetzt nichts als eine vor sich hin faulende Masse eiternder Wunden.

Bohans dunkles Gesicht war mittlerweile ganz grau und hohlwangig. Obwohl er immer noch ein gewaltiger Koloß war, hatte er doch so viel Gewicht verloren, daß ihm sein schlaffes Heisch von den Knochen herabzuhängen schien wie einem Bettler seine Lumpen. Obgleich die Verletzungen des Eunuchen ursprünglich weit weniger ernst gewesen waren als die Eliizars, befand er sich offensichtlich in einem weit schlechteren Zustand. Nereni wußte auch, warum; sie hatte dasselbe schon bei Gefangenen in der Arena beobachtet. Gefesselt und hilflos, mit dem Gefühl, daß er seine geliebte Aurian im Stich gelassen hatte, hatte Bohan einfach den Willen zum Leben verloren.

Während sie dem Schnitter dafür dankte, daß es der Magusch erspart blieb, ihren Freund in diesem schrecklichen Zustand zu sehen, fütterte Nereni ihn zuerst mit seinem Eintopf. Während er aß, tröstete sie ihn mit Nachrichten und Botschaften von Aurian, die ihn ein klein wenig aufzuheitern schienen. Schließlich biß sie die Zähne zusammen und beugte sich über ihn, um seine Wunden zu säubern, was mittlerweile eine widerwärtige Aufgabe geworden war.

Sie mußte ihm furchtbar weh tun. Nereni erkannte an der Starre seines Gesichts und dem Rollen seiner Augen, welche Schmerzen er ausstand. Er saß jedoch einfach da und ertrug geduldig sein Leiden. Kein einziges Mal zuckte er auch nur, bis sie fertig war. Wie war es wohl, fragte Nereni sich, wenn man solche Schmerzen ausstehen mußte und einem selbst die kleine Erleichterung, laut aufzuschreien, verwehrt blieb? Dennoch zwang sie sich, ihr Werk zu beenden. Als es endlich soweit war und sie ihm seine schrecklich zugerichteten Handgelenke verbunden hatte, so gut sie das unter den Fesseln vermochte, zitterten sowohl sie als auch Bohan am ganzen Leib.

Nereni blickte kalt zu Jharav hinüber, der die ganze Zeit über an der Tür Wache gestanden und sie beobachtet hatte, ohne ein Wort zu sagen. »Es ist grausam von euch, ihn so zu fesseln«, fuhr sie ihn an. »Wie sollen seine Wunden jemals heilen mit diesen Eisenbändern, die seine Verletzungen aufscheuern und eitern lassen?«

Harihns Hauptmann ertrug es nicht, ihrem Blick zu begegnen. »Herrin, wende dich mit deinem Zorn an den Prinzen, denn das hier war nicht mein Werk«, sagte er schroff. Dann biß er sich auf die Lippen und warf Eliizar einen beklommenen Blick zu. »Was mich betrifft, so stimme ich dir zu«, murmelte er. »Aber wenn mir mein Leben lieb ist, kann ich nichts tun, und ihr dürft das auch nicht von mir verlangen.«

»Na, komm schon, Nereni, er hat recht«, wandte Eliizar scharf ein. »Du kannst dem Mann keinen Vorwurf daraus machen, daß er Befehle befolgt; wenn du es doch tust, mußt du auch mich für all die Grausamkeiten in der Arena verantwortlich machen, die den armen Kerlen, die unserer Fürsorge unterstanden, dort widerfahren sind.«

Nereni erbebte und wandte sich ab.


Während Nereni ihren Mann und Bohan unten in den engen Kerkern besuchte, die in die Grundfesten des Turms hineingehauen waren, nutzte Aurian ihre Abwesenheit, um auf dem Dach endlich ein wenig frische Luft zu schnappen. Für gewöhnlich reichten die ängstlichen Klagen der kleinen Frau über den Zustand der Leiter, um die Magusch davon abzuhalten, hier heraufzuklettern, aber sie war mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem sie es einfach nicht ertrug, auch nur einen weiteren Tag lang pausenlos die Wände dieser düsteren, engen Kammer anzustarren. Sie hatte das Gefühl, daß sie wenigstens für kurzes Zeit ins Freie mußte, weil sie sonst endgültig dem Wahnsinn anheimfallen würde.

Aurian saß, eingehüllt in ihren Umhang und eine Decke, neben der Brüstung des Turms, so daß die halb zerfallene Mauer sie vor dem schlimmsten Ansturm des Windes schützte. Ab und zu, wenn sie ihrer Gedanken müde war, spähte sie durch einen Riß in den Zinnen hinunter auf die trostlose Landschaft. Durch die schweren Wolken konnte man den Sonnenuntergang nicht beobachten, doch das Licht schwand rapide dahin und ließ die weiten Hänge und die überschatteten Felsspalten immer flacher werden, bis es so aussah, als hätte sich ein gewaltiges, schmutziggraues Leinentuch über die Welt gelegt.

Seit ihrer Gefangennahme waren nun schon viele Tage ins Land gegangen; fünfzehn, sechzehn oder mehr noch, dachte sie – sie war sich nicht mehr sicher. Noch nie zuvor hatte sie sich so verzweifelt und hilflos gefühlt – nicht einmal, als sie sich von den Wunden, die man ihr in der Arena zugefügt hatte, erholte und es ihr unmöglich gewesen war, nach Anvar zu suchen. Damals hatte sie wenigstens gewußt, daß Harihn an ihrer Stelle nach ihm suchte.

Der Gedanke an den Prinzen fachte Aurians Zorn noch weiter an. Dieser verräterische Bastard, dachte sie. Dieser ungeheure Narr! Ich hätte ihm doch ein Messer in den Rücken bohren sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte! Die Magusch kämpfte eine überwältigende Woge der Verzweiflung nieder. Warum hat er das getan? fragte sie sich. Warum hat er uns betrogen? Ich habe ihm das Leben gerettet, als sein Vater ihn hätte töten können. Was habe ich getan, daß er sich so gegen mich gestellt hat?

Es gab jedoch in Aurians Herzen, tief verborgen unter ihrem stürmischen Zorn, einen letzten Rest von Mitleid für Harihn. Er hatte seine Wahl getroffen – war Miathans Schmeicheleien erlegen –, und jetzt war er, wie sie es ihm gesagt hatte, genausosehr ein Gefangener wie sie. Wäre ihre eigene Situation nicht so verzweifelt gewesen und wäre da nicht die Sorge um Anvar und ihr Kind, hätte Aurian ihm vielleicht sogar verzeihen können. Wie die Dinge lagen, hätte sie ihm jedoch am liebsten mit bloßen Händen das Herz aus dem Leib gerissen und es ihm anschließend in den Rachen geschoben.

Die Magusch wünschte nur, sie wüßte, was aus ihren Kameraden geworden war, die nicht mehr bei ihr waren: Was war aus Shia geworden auf ihrer langen und einsamen Reise – o ihr Götter, wie sehr es ihr doch das Herz zerrissen hatte, als sie diese verfluchten Pelze gesehen hatte! Der Gedanke, daß eins dieser Felle vielleicht ihrer Freundin gehört haben mochte … Aber das war Unsinn, sagte sie sich entschlossen. Wenn Shia getötet worden wäre, hätte Harihn der Versuchung niemals widerstehen können, damit zu prahlen. Dann dachte sie an Yazour; lebte er überhaupt noch? Und Anvar, der in der Zitadelle von Aerillia gefangen war … Die Magusch preßte sich die Fäuste auf den Mund und biß sich auf die Fingerknöchel, um die Tränen niederzukämpfen. O Anvar, dachte sie, wie sehr ich dich vermisse! Und um die Dinge noch schlimmer zu machen, hatte sie bisher noch nicht einmal den Funken eines Plans, wie sie Anvar, ihr Kind oder sich selbst retten könnte, und das obwohl sie sich in jeder dieser langen, schlaflosen Nächte das Gehirn zermartert hatte.

Die Magusch erstarrte, als sie plötzlich die Gefühle ihres Kindes in ihren Gedanken spürte. Nach all dieser Zeit überraschte es sie immer noch, und sie war erschrocken darüber, feststellen zu müssen, daß ihre Verzweiflung ihrem Sohn Kummer bereitete. Aurian seufzte. »Mir geht es gut, mein Liebes …« Sie sandte Impulse der Liebe und des Trostes aus, aber gleichzeitig überschlugen sich ihre Gedanken. Während die Zeit für seine Geburt immer näher rückte, wurden die Gedanken ihres Sohnes immer stärker und deutlicher, und unglücklicherweise wuchs auch seine Empfänglichkeit für den Aufruhr in ihren eigenen Gefühlen.

Aurian runzelte die Stirn. Was konnte sie ihm sagen? Wie konnte sie ihm mit Worten, die er verstehen würde, erklären, warum in diesen Tagen so viel Schmerz von ihr ausging? Da sie wußte, daß er Zugang zu ihren Gefühlen hatte, hatte sie immer versucht, ihre intimsten Gedanken vor dem Kind abzuschirmen. Hatte der kleine Bursche etwa gelauscht? Ich werde in Zukunft wohl vorsichtiger sein müssen, beschloß sie.

Aurian fragte sich, ob diese enge geistige Verbindung wohl auch noch nach der Geburt ihres Sohnes bestehen würde. Weniger als einen Mond noch, dachte sie, und ich werde in der Lage sein, ihn in den Armen zu halten. Ich, eine Mutter! O ihr Götter, ich glaube nicht, daß ich mich jemals an diesen Gedanken gewöhnen werde.

Weniger als ein Mond noch, und du wirst nicht die Gelegenheit haben, ihn in den Armen zu halten, rief sie sich ins Gedächtnis, jedenfalls nicht, wenn du nicht aufhörst, herumzuträumen, und dir nicht endlich einen Plan zurechtlegst, um ihn zu retten.

Was war das? Aurian schrak zusammen, als sie ein neues Geräusch hörte. Es kam ganz aus der Nähe und übertönte das leise Wimmern des Windes; ein Scharren und ein Kratzen, das nur von Lederstiefeln auf Steinen herrühren konnte, gefolgt von dem Klappern loser Kieselsteine und einem gedämpften Fluch. Die Magusch sog scharf die Luft ein. Irgend jemand versuchte, draußen am Turm hochzuklettern.

Die Dämmerung senkte sich jetzt sehr schnell über das Land. In dem letzten noch verbliebenen Licht sah Aurian eine Wolke dampfenden Atems über der Brüstung erscheinen. Hastig sprang sie auf die Füße und wich zur Falltür zurück. Dann verfluchte sie ihre eigene Dummheit. Wer auch immer da versuchte, sich in den Turm hineinzuschleichen, war wohl kaum ein Freund von Harihn oder dem Erzmagusch. Einen Augenblick lang zog Aurians Herz sich in einer absurden und verzweifelten Hoffnung zusammen. Anvar! Konnte er irgendwie entkommen sein? »Mach dich nicht lächerlich«, sagte ihr der gesunden Menschenverstand. »Anvar ist eine zu kostbare Geisel, als daß es ihm ohne Hilfe gelingen könnte zu entkommen, und Shia kann unmöglich schon bei ihm sein.« Aurian runzelte die Stirn. Konnte es Yazour sein? Ihr Herz machte einen kleinen Satz bei dem Gedanken. Dennoch würde sie gut daran tun, ein wenig argwöhnisch zu sein. Die Magusch hatte keine Waffe zur Hand, und da sie ihr Kind beschützen mußte, kam ein Handgemenge ohnehin nicht in Frage.

Still wie ein Geist schlich sie hinter den halb verfallenen Schornstein, in dem die Rauchabzüge des Turms zusammenliefen. Dankbar für die tröstliche Wärme der groben Steine unter ihren eiskalten Händen, spähte sie hinter dem Schornstein hervor, so daß sie sehen konnte, was sich vor der Brüstung abspielte.

Aurian dankte den Göttern, daß ihre Nachtsichtigkeit ebenso wie ihr Verständnis für fremde Sprachen die einzigen Kräfte waren, die sie während ihrer Schwangerschaft nicht verlassen hatten. Das Dach war mittlerweile in tiefe Nachtschatten gehüllt. Plötzlich löste sich ein noch dunklerer Schatten aus der Düsternis und ließ sich leichtfüßig von der Brüstung heruntergleiten. Aurian versteifte sich. Ein einziger Blick auf die geschmeidigen, fließenden Bewegungen des Mannes sagten ihr, daß er nicht zu Harihns Leuten gehören konnte. Er war groß, wenn auch nicht ganz so groß wie sie selbst, hatte einen anmutigen, drahtigen Körper und dunkles, von silbernen Strähnen durchzogenes Haar, das ihm in Locken um die Schultern fiel. Trotz der Dunkelheit spiegelte es den schwachen Glanz des Schnees wider, dieser weißen Schneeverwehungen, die sich viele Meilen lang um den Turm herumzogen und verhinderten, daß es nachts vollkommen dunkel wurde.

Die Magusch beobachtete ihn mit wachsender Neugier und wagte es kaum zu atmen. Er schlich zur Falltür hin und kniete dort nieder, um in die Kammer hineinzuspähen, die ihr Gefängnis war. Aurian wußte, daß er sie dunkel und verlassen finden würde, denn sie hatte vergessen, Licht zu machen, bevor sie hier heraufkam, und Nereni war noch immer unten bei Eliizar. Der Mann hielt mit zur Seite geneigtem Kopf kurz inne und lauschte auf den Klang möglicher Stimmen. »Lady Aurian?« rief er leise. »Aurian, bist du da unten? Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich komme von deinem Freund Yazour.«

Schnell und schweigend schlüpfte die Magusch aus ihrem Versteck und trat von hinten an ihn heran. »Ich bin Aurian. Wer bist du?« flüsterte sie.

Der Mann sprang mit einem erschrockenen Fluch auf, und Aurian brachte ihn hastig wieder zum Schweigen. Bevor er nach seinem Schwert greifen konnte, hatte sie ihn am Ellbogen gepackt und in den Windschatten des Schornsteins gezerrt. Während sie seinen Arm immer noch umklammert hielt, benutzte sie ihre Nachtsichtigkeit, um sich sein Gesicht genau anzusehen. Es war kein Gesicht, das bei einem Fremden besonderes Vertrauen weckte. Es war eckig, knochig und unrasiert, mit einer vorspringenden Nase und unzähligen Krähenfüßen in den Winkeln der überschatteten, hellgrauen Augen, die er jetzt vor Entsetzen weit aufgerissen hatte, während er immer noch versuchte, sie in der für ihn undurchdringlichen Dunkelheit zu sehen.

Absurderweise bemerkte Aurian, daß ihr Mund sich zu dem ersten Lächeln seit vielen Tagen verzog. Ach du lieber Himmel, dachte sie. Kein Wunder, daß er so aussieht, als hätte er einen Geist erblickt. Wenn sich jemand so an mich herangeschlichen hätte … »Es tut mir leid«, sagte sie zu ihm und war überrascht, zu hören, wie ihr schon wieder eine andere Sprache über die Lippen kam. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Aurian.«

»Die Göttin sei gepriesen«, hauchte der Mann. »Mein Name …« Einen Augenblick lang zögerte er. »Mein Name ist Schiannath. Yazour hat mich geschickt, damit ich dir helfe, wenn ich kann.«

»Yazour geht es gut?« Aurians Sorgenlast wurde plötzlich ein wenig leichter.

»Er ist verwundet, aber er erholt sich langsam wieder«, erzählte Schiannath ihr mit ernster Stimme. »Die Göttin selbst hat mir befohlen, ihm zu helfen. Ich habe ihn im Paß gefunden. Eine große Katze hatte ihn angegriffen – und …«

Aurian kam plötzlich ein überaus köstlicher Gedanke. »Klang die Göttin, nun ja … ein wenig jähzorniger, als du es dir vielleicht vorgestellt hättest?« unterbrach sie ihn.

Der Mann runzelte die Stirn. »Ja, tatsächlich! Aber woher weißt du das? Spricht sie manchmal auch mit dir, Lady?«

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Aurian trocken. Sie mußte ein Kichern herunterschlucken. Ich frage mich, wie Shia das geschafft hat, dachte sie.

Sehr zum Erstaunen der Magusch fiel Schiannath plötzlich auf die Knie. »Herrin, du bist tatsächlich gesegnet«, sagte er. »In meinem Land verehren wir die Frauen, die ein Kind unter dem Herzen tragen, als die Erwählten der Göttin Iscalda. Ich schwöre, daß ich dich beschützen werde, denn das muß es sein, was die Göttin von mir wollte, als sie von mir verlangte, Yazour zu retten.« Er zögerte. »Aber wie kann ich dir helfen, Herrin? Ich kann kaum einen ganzen Turm voller Wachen bekämpfen, aber vielleicht, wenn du in der Lage wärst, hinunterzuklettern …« Er warf einen zweifelnden Blick auf Aurians gerundete Gestalt.

»Nein, das kann ich nicht«, sagte die Magusch schnell.

»Einer meiner Kameraden wird anderswo als Geisel festgehalten, und wenn ich entfliehe, wird er gewiß sterben. Aber es gibt doch etwas, was du für mich tun könntest, Schiannath, etwas, womit du mir ungeheuer helfen würdest. Hast du eine Waffe, die du mir leihen kannst. Ein Messer vielleicht? Etwas, das ich leicht verstecken könnte?«

»Natürlich.« Schiannath zog einen langen, schlanken Dolch aus seinem Gürtel. Als sie ihn entgegennahm, durchzuckte sie eine Woge der Erregung. Endlich war sie nicht mehr unbewaffnet und hilflos! Wenn ihr Kind geboren wurde, konnte sie es beschützen!

»Schiannath«, sagte sie ernst. »Ich kann dir nicht genug danken für deine Hilfe. Aber wo ist Yazour? Ist er so schlimm verletzt, daß er nicht klettern kann? Kannst du ihm eine Botschaft von mir überbringen?«

»Das kann ich auf jeden Fall machen«, sagte Schiannath eifrig. »Er wollte unbedingt zu dir. So wichtig war es ihm, daß er sogar seine Genesung gefährdet hat. Daher habe ich mich erboten, an seiner Stelle herzukommen und ihm, wenn möglich, Nachrichten von dir zu bringen.«

O ihr Götter! dachte Aurian. Ich wüßte ja zu gern, wie gut Yazours Xandim ist! Ich schätze, dieser arme Mann hier hat nicht die geringste Vorstellung davon, was ihm bevorsteht.

Der Xandim hätte ebensogut ihre Gedanken lesen können. »Es erscheint mir immer noch wie ein Wunder«, sagte er. »Yazour hat mir versprochen, daß du meine Sprache sprechen würdest, aber ihm fehlten die Worte, um das genauer zu erklären, und ich muß zugeben, daß ich ihm nicht geglaubt habe. Herrin, ich bin sicher, daß du niemals bei den Xandim warst – das wenigstens weiß ich. Wie kommt es, daß du unsere Sprache so gut beherrschst?«

Die Magusch biß sich auf die Lippen, denn sie hatte das Mißtrauen der Khazalim gegenüber Zauberern noch nicht vergessen. Waren die Xandim genauso? Wenn sie ihm die Wahrheit sagte, würde sie ihren so unerwartet aufgetauchten Freund dadurch vertreiben? »Sag die Wahrheit«, drängte sie ein innerer Instinkt. »Wenn du lügst, wird er es bestimmt merken – und das wird sein Mißtrauen gegen dich genauso bestärken wie die Wahrheit.«

Aurian holte tief Luft. »Schiannath … erinnerst du dich daran, daß du geschworen hast, mich zu beschützen? Wirst du dich an diesen Eid halten, ganz gleich, was ich dir erzähle?«

Der dunkelhaarige Mann runzelte die Stirn. »Herrin, du verlangst eine ganze Menge von mir. Wie kann ich dir auf etwas antworten, das ich noch nicht einmal gehört habe?« Er zögerte. »Aber ich habe einen Eid geleistet – und gleichgültig, was ein paar andere Leute sagen mögen, habe ich doch noch einen Funken Ehre im Leib. Außerdem hat die Göttin zu mir gesprochen. Ich weiß, daß es ihr Wille war, daß ich dir helfe, dir, einer ihrer Erwählten. Sprich also ohne Furcht. Welch schreckliches Geheimnis kann es sein, das dich so zögern läßt?«

Aurian sah ihm in die Augen. »Ich spreche deine Sprache, weil ich eine Zauberin bin.« Sie hielt abrupt inne und runzelte die Stirn. Das Wort, das über ihre Lippen gekommen war, hatte wenig Ähnlichkeit mit dem Khazalimwort für Zauberer, und seine Bedeutung war auch ein klein wenig anders. Es hatte sich angehört wie etwas, das sie nur mit ›Windauge‹ übersetzen konnte. Was, zum Kuckuck, hieß das? Schiannaths Gesicht hellte sich in plötzlichem Verstehen auf – ein erstickter Laut drang aus der Tiefe seiner Kehle, und Aurian sah zu ihrer Bestürzung, daß sein Gesicht vor Freunde aufleuchtete. »Ein Windauge! Gesegnete Göttin! Jetzt verstehe ich deinen Plan. Oh, vielen Dank. Vielen Dank!«

Aurian erschien seine Freude stark übertrieben, und plötzlich verließ sie der Mut. O nein, dachte sie. Ihr Götter, bitte laßt nicht zu, daß es wieder jemand wie Rabe ist, der nur meine Kräfte für seine eigenen Ziele mißbrauchen will. Das wäre einfach zu grausam.

»Warte«, sagte sie leise zu ihm. »Wieviel von unserer Geschichte hat Yazour dir erzählt?«

Schiannath schüttelte den Kopf. »Sehr wenig, um die Wahrheit zu sagen. Er lernt zwar meine Sprache, aber im Augenblick fehlen ihm noch so viele Worte. Ich habe gehofft, du könntest mir ein paar Dinge erklären, Herrin.«

»Ja«, seufzte Aurian, »ich glaube, das kann ich. Du hast ein Recht, zu wissen, worauf du dich da einläßt.« Mit diesen Worten setzte sie sich hin, lehnte sich gegen die warmen Steine des Schornsteins und zog sich ihre zerlumpte Decke fester um die Schultern. »Also«, begann sie geduldig, »so hat alles angefangen …«


Obwohl die Stunden, die bis zu Schiannaths Rückkehr vergingen, die längsten zu sein schienen, die Yazour je erlebt hatte, waren die Neuigkeiten, die der Xandim ihm überbrachte, mehr als eine Entschädigung für das Warten. Aurian war unverletzt, im Augenblick jedenfalls, und es war offensichtlich, daß Schiannath dem Zauber der Magusch verfallen war, dachte Yazour trocken. Der Krieger hatte seinen Retter noch nie so erregt gesehen. Obwohl es ihn über alle Maßen freute, zu hören, daß es Aurian soweit gutging, erfüllte der Rest von Schiannaths Erzählungen Yazour mit Betroffenheit. Shia war verschwunden, Rabe eine Verräterin, Eliizar und Bohan verletzt und eingekerkert. Anvar ein Gefangener der Geflügelten. Bevor der Xandim mit seinem Bericht zum Ende kam, versuchte Yazour bereits, wieder aufzustehen, und verlangte lautstark nach seinem Schwert.

»Nein.« Schiannath schüttelte den Kopf und hielt ihn mit sanfter Beharrlichkeit fest. »Aurian sagt, wir warten.«

»Warten?« Yazour war angewidert. »Wie kann ich warten, während meine Freunde leiden? Sie brauchen Hilfe. Verdammter Narr, du hast sie falsch verstanden!« Erst als er den ausdruckslosen Blick auf Schiannaths Gesicht sah, wurde dem Krieger bewußt, daß er in seiner eigenen Sprache gesprochen hatte.

Schiannaths Augen glitzerten. »Sie sagt, wir warten. Wenn das Kind kommt – dann kämpfen wir!« Seine Stimme klang plötzlich so hart wie Stein, und seine Finger gruben sich mit verletzender Kraft in Yazours Schulter. »Bevor du kämpfst, du mußt gesund werden«, fügte er scharf hinzu.

Widerwillig gab Yazour nach. »Woher sollen wir wissen, wann das Kind zur Welt kommt?« fragte er mürrisch.

»Jeden Tag halte ich Ausschau. Sie gibt ein Signal – eine Flamme im Fenster. Dann, dann kommen wir!« Seine Augen leuchteten vor Aufregung.

Yazour seufzte. Noch mehr Warterei! Aber Aurian hatte recht. Sie waren hoffnungslos in der Minderzahl, aber wenn sie wartete, bis ihre Kräfte zurückkehrten, würde sie auch wieder kämpfen können. In der Zwischenzeit, so schien es, mußte er sich in Geduld fassen – und versuchen, so schnell wie nur möglich wieder auf die Beine zu kommen.

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