Er hatte geträumt, die Berge würden lebendig. Anvar stöhnte und öffnete die Augen in einer Dunkelheit, die so vollkommen war, daß er sie nicht einmal mit seiner Maguschsicht durchdringen konnte. Was war nur geschehen? überlegte er verwirrt. In der einen Minute war er auf die Tür des Turms zugestürmt, in der nächsten löste sich alles um ihn herum auf … Die Erinnerung kehrte zurück, und mit einem Stöhnen setzte der Magusch sich plötzlich auf – oder versuchte es jedenfalls. Er konnte sich nicht rühren. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, auf einer rauhen, unebenen Oberfläche, die sich unter ihm neigte, so daß sein Kopf tiefer lag als seine Füße. Sein linker Arm, der unter seinem Körper eingeklemmt war, war vollkommen taub. Anvar hoffte, daß der Mangel an Gefühl auf den eingeschränkten Blutkreislauf zurückzuführen war. Den rechten Arm hatte er ausgestreckt, und seine Hand umklammerte den Stab der Erde nach wie vor.
Der Magusch faßte neuen Mut, als er bemerkte, daß er das kostbare Artefakt nicht verloren hatte. Also konzentrierte er seinen ganzen Willen und rief die Kräfte des Stabs, bis ein schwaches, grünes Schimmern seine Umgebung beleuchtete. Anvar stockte der Atem. Einen Augenblick lang glaubte er, vor Entsetzen den Verstand verlieren zu müssen. Er war ringsum von undurchdringlichen Felsmassen umgeben.
Schließlich jedoch besiegte die Vernunft seine Panik, und es kam ihm in den Sinn, daß er ja überhaupt nicht zerquetscht wurde, sondern im Gegenteil, daß er nicht einmal den geringsten Druck spürte. Dann fiel es ihm wieder ein. Das Turmzimmer. Das Messer des Hohenpriesters, das auf ihn zuschoß … Und sein Schild. In seiner Hast, seinen Feind zu bezwingen, hatte er vergessen, seinen Schild zu senken.
Eine Woge schwindelerregender Erleichterung umfaßte den Magusch. Er stieß ein beinahe hysterisches Lachen aus und schauderte bei dem Gedanken daran, wie knapp er dem Tode entronnen war. Wenn Schwarzkralle das Messer nicht geworfen hätte … Dann jedoch wurde Anvar klar, daß seine Erleichterung verfrüht war. Der Schild hatte ihn zwar davor bewahrt, von den Felsmassen zerschmettert zu werden, aber er war immer noch gefangen unter den Ruinen des Turms, gefangen unter gewaltigen Felsbrocken. Außerdem würde sein Luftvorrat auch bald verbraucht sein.
Nur mit größter Mühe gelang es Anvar, ruhig zu bleiben. Es wäre lächerlich gewesen, in Panik zu geraten. Mit dem Erdenstab konnte er sich leicht aus dieser Zwangslage herausbringen. Nun, je eher, desto besser. Ohne weiteres Zögern atmete er tief die abgestandene, schale Luft ein und konzentrierte seinen Willen …
»Zauberer – warte!«
Anvar blinzelte und schüttelte den Kopf. Hörte er schon Stimmen? Vielleicht verbrauchte sich die Luft schneller, als er geahnt hatte. Ich sollte mich besser beeilen, dachte er. Also sammelte er seine unruhigen Gedanken, versuchte es noch einmal, und diesmal erstrahlte dann auch wirklich wie gewohnt das grüne Leuchten, mit dem die Macht durch den Stab zu pulsieren pflegte.
»Warte! Es gibt eine bessere Möglichkeit.«
Der Magusch zuckte heftig zusammen. Gedankenrede war das letzte, was er erwartet hätte, aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Der hohe Klang der Stimme, wenn auch eindeutig nicht menschlich, gehörte offensichtlich einem weiblichen Wesen. »Wer ist da?« fragte er scharf.
»Es war kein Traum, Zauberer. Verstehst du – die Berge erwachen wirklich!«
Die Stimme schien, obwohl sie nur in seinem Kopf zu hören war, irgendwie in den Felsen um ihn herum wiederzuhallen. Anvar spürte, wie sein Herz zu jagen begann. »Wer bist du?« fragte er. »Was bist du?«
»Ich bin der Elementargeist dieses Berges.«
Als die Moldan dem Zauberer ihre Natur erklärte, spürte sie sein wachsendes Erstaunen, und es fiel ihr schwer, ihren Zorn darüber zu unterdrücken, daß sein Volk die einst so stolze und mächtige Rasse so schnell vergessen konnte. Ihre Entschlossenheit, ihm den Stab abzujagen, erhärtete sich.
»Verzeih mir«, unterbrach Anvar sie. »Ich würde ja gern den Rest deiner Geschichte hören, aber zuerst muß ich hier heraus. Menschen brauchen Luft …«
»Natürlich.« Die Moldan grinste hämisch. Der Narr spielte ihr direkt in die Hände. »Vielleicht kann ich dir dabei helfen.« Mit Hilfe der Alten Magie konnte sie ihn aus der irdischen Welt herauslocken, in der sie keine andere Gestalt besaß als festen, einengenden Stein. Und ebenfalls mit Hilfe der Alten Magie würde sie ihn dann in eine andere Dimension führen, in die Anderwelt so elementarer Wesen, wie es die Moldan und die Phaerie waren. Dort war ihre Gestalt beweglich und ihre Kräfte von ihren Fesseln befreit.
Anvars Augen weiteten sich vor Erstaunen, als ein trübes, fahles Licht die Umrisse seines Körpers nachzeichnete. Die Felsen um ihn herum verblaßten, traten langsam zurück in das kalte, graue Glitzern, bis sie schließlich ganz verschwunden waren und der Magusch nichts um sich herum sehen konnte als einen formlosen, silbrigen Nebel.
»Du darfst jetzt aufstehen.«
Aufstehen? Worauf denn? dachte Anvar und blickte mit einem Schaudern hinunter. Da war nichts unter ihm außer dieser grauen Leere. Mit Mühe gelang es ihm, sich zusammenzureißen. Auf irgend etwas mußte er ja liegen …
»Jawohl, es wird dich tragen.« Die Moldan klang belustigt. Anvar erhob sich ungläubig auf die Füße, wobei ihn die Tatsache, daß sie trotz seines Schildes in der Lage gewesen war, seine Gedanken zu lesen, ziemlich beunruhigte. Einen qualvollen Augenblick lang war er damit beschäftigt, den Blutkreislauf in seinen steifen Gliedmaßen wieder in Gang zu bringen. Dann wandte er sich an die Moldan: »Wo sind wir? Was ist das für ein Ort?«
»In der Anderwelt«, antwortete die Moldan leise und mit einer kalten, gepreßten Stimme, die Anvar eine Gänsehaut verursachte. »Wir sind nicht mehr in der Welt, die du kennst.«
Anvar spannte jeden Muskel an, als ihm plötzlich die Drohung bewußt wurde, die hinter den Worten des Elementarwesens lag. »Warum hast du mich hierhergebracht?« Er versuchte, seine Gedankenstimme möglichst ruhig zu halten. Es wäre ein ernster Fehler gewesen, dieses Geschöpf wissen zu lassen, daß er sich fürchtete.
»Kannst du das nicht erraten?« Der eisige Ton der Moldan war plötzlich zu einem drohenden Zischen geworden. »In dieser Welt besitze ich eine andere Gestalt, frei von den Fesseln des Steins. Hier kann ich mich bewegen, und hier kann ich dich töten und dir den Stab der Erde wegnehmen!«
Die graue Leere verschwand. Anvar fand sich auf einem Abhang wieder, der mit langem, lohfarbenem Gras bewachsen war, einem Gras, das schimmerte und sich wie vom Wind zerzaustes Korn wiegte – nur, daß da kein Wind war. Stille. Eine unheimliche, bedrückende Abwesenheit jeglichen Geräusches lag wie ein Leichentuch über der Landschaft – und keine Spur von der Moldan. Der Magusch war vollkommen allein. Anvar, der sich innerlich für einen Kampf wappnete, der noch nicht begonnen hatte, wußte nicht, was er tun sollte. Wo war die Moldan? Welche Gestalt würde sie annehmen? Aus welcher Richtung würde sie kommen? Wild fluchend sah er sich um.
Er stand auf einer leicht gewellten Bergwiese und blickte hinunter auf einen Fluß, dessen Wasser eine seltsam grünliche, milchige Färbung aufwies. Der Fluß strömte durch das Tal hindurch und verschwand über einen Felsvorsprung am Eingang des Tales zu seiner Linken. Zu seiner Rechten endete die Wiese vor einem großen, dunklen Pinienwald, und über den Bäumen thronte eine zerklüftete Felswand. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tals erhob sich ein mit Heide überwucherter Hügel, der zu seinem hohen Gipfel hin steil anstieg.
Das Licht hatte etwas beunruhigend Fremdartiges an sich. Anvar blinzelte, spähte hinauf zum Himmel und dann wieder hinab ins Tal. Der wolkenlose Himmel zeigte sich in einer seltsamem Goldtönung und überflutete die Landschaft mit einem bernsteinfarbenen Licht, als blicke der Magusch durch Rauchglas. Eine Sonne gab es nicht – auch keine Schatten, die der Landschaft Tiefe gegeben hätten. Statt dessen war die Erde mit einem schwachen, aber unübersehbaren Glühen überhaucht. Jeder Stein, jeder Grashalm stach klar hervor und schimmerte in seinem eigenen, inneren Licht – nur der Pinienwald nicht. Die zusammengekauerten Bäume hockten in einer pulsierenden, rauchigen Düsternis. Anvar schauderte – und doch war von allen Bestandteilen dieser unheimlichen Landschaft dieser Wald mit seinen dahinterliegenden, zerklüfteten Felsen der einzige Platz, an dem er Schutz finden konnte, wenn die Moldan beschloß, nicht mehr länger mit ihm herumzuspielen, sondern anzugreifen.
Dieser Gedanke zerbrach den traumhaften Zauber dieses unheimlichen Landes und ließ den Magusch schlagartig aktiv werden. Er sollte sich besser einen Plan zurechtlegen, und zwar schnell. Anvar straffte die Schultern und machte sich, den Stab mit festem Griff umklammernd, auf den Weg zum Wald. Er hatte noch kein halbes Dutzend Schritte zurückgelegt, als …
BUMM! Das Geräusch dröhnte durch das ganze Tal und zerschmetterte die Stille wie ein Sturmbock. Die Erde erbebte unter Anvars Füßen, und eine Lawine kleiner Steine rasselte von den Felsen über ihm herunter.
BUMM! Anvar stockte der Atem. Er fuhr wild herum und versuchte herauszufinden, woher das entsetzliche Geräusch kam.
BUMM! Aus dem Pinienwald ertönte das Krachen splitternder Äste. Baumwipfel wogten wild zur Seite, als wären sie zum Spielball eines gewaltigen Sturmes geworden.
BUMM! Da trat etwas aus dem Wald hervor, das entwurzelte Pinien beiseite schleuderte, als wären sie Zündhölzer … Der Magusch blickte auf, hoch und höher, und ein Entsetzensschrei blieb ihm in der Kehle stecken.
Aufrechtstehend auf zwei schweren, muskulösen Beinen, wirkte die Kreatur gigantisch. Sie war eingehüllt in graugrünes Fell und größer als der Maguschturm in Nexis. Zwei große Pfoten, die eine beängstigende Ähnlichkeit mit menschlichen Händen hatten, saßen an stumpfartigen Vorderbeinen direkt vor der Brust des Wesens. Es hatte einen langen, dicken Schwanz, den es dicht über dem Boden hielt, und einen flachen, massigen Kopf, der größer war als Anvars Körper und über gewaltige Kiefer verfügte, die mit scharfen, weißen Fangzähnen besetzt waren. Zwei bösartig glitzernde Augen, in denen ein Übermaß geheimnisvoller Intelligenz stand, suchten das Tal ab und erspähten schließlich auch den Magusch.
»Ich sehe dich, kleiner Zauberer!« Er hörte wieder die mittlerweile vertraute, hämische Stimme, aber nicht aus diesen grauenhaften Kiefern, sondern aus seinem eigenen Kopf. Es war die Stimme der Moldan.
Es hätte keinen Sinn gehabt, wegzulaufen – es gab nichts, wohin er seine Schritte hätte lenken können. Unentschlossen stand Anvar eine Sekunde lang wie angewurzelt da, bis ihm der Stab der Erde wieder einfiel. Schneller als er es je zuvor getan hatte, konzentrierte er seine Gedanken und rief die Kraft des Stabs, um einen Energiestoß auf das Ungeheuer loszulassen …
Doch nichts geschah. Der Stab lag dunkel und tot in seinen Händen. Ungläubig und wie betäubt versuchte der Magusch es noch einmal. Wieder nichts. Er hätte genausogut einen einfachen Holzstock benutzen können. Und was war aus seinen eigenen Kräften geworden?
Die riesigen Kiefer des Ungeheuers öffneten sich zu einer breit grinsenden Schlucht. In Gedanken hörte Anvar das gräßliche, spöttische Lachen der Moldan. »Möchtest du es nicht noch einmal versuchen?« höhnte das Elementarwesen. »Der Stab der Erde ist von deiner Welt, Zauberer. Wie deine eigene Magie hat er hier keine Macht, hier, wo die Kräfte der Alten Magie noch Bestand haben.«
BUMM! Ein großes Bein schwang nach vorn, und die Erde sank unter dem gewaltigen, mit Klauen besetzten Fuß des Geschöpfes tief ein. Anvar drehte sich um und floh. Mit tödlicher Geschwindigkeit eilte das Ungeheuer hinter ihm her. Anvar konnte den mißtönenden Donner seiner Schritte, die den Boden beben ließen, hinter sich hören; die großen Beine der Kreatur schleuderten riesige Brocken aus der Erde, während sich der Abstand zu Anvar mehr und mehr verringerte.
Die Angst verlieh seinen zitternden Gliedern neue Kraft, und Anvar stürmte den Hügel hinunter auf den Fluß zu, obwohl er die ganze Zeit über wußte, daß er verloren war. Nirgendwo gab es eine Möglichkeit, sich zu verstecken, und der monströsen Moldan weglaufen zu wollen war sinnlos. Vor ihm lag nur dieser fremde, grüne Fluß – und ein Sprung ins Nichts am Ende des Tals, dort wo die schäumenden, grünen Wasser in einer Wolke aus Gischt verschwanden. Lieber ein schneller Tod, zerschmettert auf den Felsen am unteren Ende des Wasserfalls, als die langsame Qual zwischen den Kiefern des Ungeheuers! Zumindest würde die Moldan auf diese Weise nicht in den Besitz des Stabs der Erde gelangen …
Als Anvar sich dem Flußufer näherte, konnte er hören, wie das Ungeheuer näher und näher kam. Sein heißer Atem umgab ihn wie eine widerlich stinkende Wolke … Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung erreichte Anvar das Ufer und sprang. Die zischende, grüne Flut ergriff ihn, riß ihn direkt aus den zuschnappenden Kiefern der Kreatur. Ihr zorniges Knurren hallte noch durch das Tal, als der Magusch bereits von den Wassern davongewirbelt wurde.
O ihr Götter – wie konnte dieses Wasser ohne Eis so kalt sein? Selbst wenn Anvar gut hätte schwimmen können, hätte er in dieser schnellen, eisigen Strömung keine Chance gehabt. Spuckend und keuchend wirbelte er durch die Flut, erhaschte ab und zu einen Atemzug, wenn sein Kopf die Oberfläche durchbrach, und versuchte verzweifelt, den Atem anzuhalten, wenn er wieder hinabgezogen wurde. Glücklicherweise war das Wasser tief, und in diesem Teil des Flusses gab es nur wenige Felsbrocken. Allmählich wurden Anvars Glieder schmerzhaft taub. Einen Augenblick lang durchbrach sein Kopf noch einmal das Wasser, und zu seinem unaussprechlichen Entsetzen sah er die massige Gestalt der Moldan vor sich, die am Ufer entlanglief und mit ihm Schritt hielt; ihre glitzernden Augen brannten wie zwei Stecknadeln des Zorns in ihrem ausdruckslosen, gepanzerten Gesicht. Aber das war die geringste von Anvars Sorgen. Er verlor seinen Kampf in dem kalten Wasser …
Aurian! Voller Sehnsucht dachte er an seine Gefährtin, als das eisige Wasser in seine Lungen strömte. Dann herrschte für einen düsteren Augenblick Verwirrung und schließlich … Anvar stellte fest, daß er nicht ertrunken war, sondern wieder atmete! Zu spät erinnerte er sich daran, was Aurian ihm über ihre Rettung als Schiffbrüchige erzählt hatte: daß nämlich ihre Lungen sich an das Wasser angepaßt hatten. Da er damals nicht über seine eigenen Kräfte verfügt hatte, war er nicht in der Lage gewesen, diese Veränderung zu vollziehen, diesmal jedoch war es glücklicherweise anders.
Doch zu spät. Die Strömung wurde immer schneller, während der Fluß sich zwischen den steinernen Ufern zusammenzog. Vor sich hörte er ein donnerndes, dröhnendes Tosen. Der Wasserfall! Der Magusch hatte gerade noch Zeit für einen kurzen Blick in die endlose Tiefe unter sich und auf den See, der dort unten lag und aus Anvars Perspektive aussah wie ein kleines, grünes Auge. Dann stürzte er hinab …
Eine Pfote wie eine große, mit Schuppen besetzte Hand fing ihn auf, preßte ihm das Wasser aus den Lungen und riß ihn direkt von dem Abgrund weg. Einen Augenblick lang empfand er nur Schmerz und nahm Dunkelheit wahr. Dann bemerkte Anvar, der wieder Luft zu atmen begonnen hatte, daß er hochgehoben wurde, höher und höher, bis er sich direkt vor der grausam bezahnten Höhle der Kiefer des Ungeheuers wiederfand. Kalte Augen glitzerten unmenschlich und erbarmungslos auf ihn herab, und abermals hörte Anvar die Stimme der Moldan:
»So, kleiner Zauberer – endlich habe ich dich!«
In dem unirdischen Reich der Phaerie saß die Erdmagusch Eilin im Schloß des Waldfürsten und blickte durch das Fenster, das ihr zeigte, was in der Welt der Menschen vor sich ging. Sie sah den tiefen, dunklen Wald, das undurchdringliche Dickicht, das ihr einst so wohlbehütetes Tal überwucherte. Ihr Blick fiel auf die Brücke, die ihren See überquerte, und folgte dem schlanken Holzbogen über das schimmernde Wasser hinweg zu ihrer eigenen, geliebten Insel. Aber sie lag jetzt einsam und verlassen da; ihr Turm war verschwunden, und an seine Stelle war der gewaltige Kristall getreten, den die Magie wie einen gewöhnlichen Felsen erscheinen ließ und der nichts Geringeres in sich verbarg als das Schwert der Flamme.
Traurig richtete Eilin ihren Blick auf die andere Seite des Sees und sah durch die Magie des Fensters das wunderschöne Einhorn, das ganz aus Licht bestand und unsichtbar war für andere Augen. Seufzend dachte sie an die tapfere Kriegerin Maya, die für eine kurze, glückliche Zeit bei ihr gelebt hatte, bevor sie in dieses atemberaubende Geschöpf verwandelt worden war, das dazu bestimmt war, das Schwert zu bewachen.
Eilins Blick flog weiter durch den Wald, dorthin, wo der junge Magusch D’arvan, Mayas Geliebter und der Sohn des Waldfürsten, unsichtbar über das kleine Lager der Rebellen wachte, die im Wald Zuflucht gesucht hatten. Weiter flog ihr suchender Blick hinüber in die Stadt Nexis, in das Heim der Magusch, dort, wo Aurian einst gelebt hatte.
Plötzlich fuhr Eilin zusammen, keuchte und spähte noch einmal und aufmerksamer in das Fenster hinein. Was tat der Erzmagusch da in Nexis? Überall um die uralten Mauern herum arbeiteten die Männer aus der Stadt, die von grausamen Soldaten mit Schwertern und Peitschen vorwärtsgetrieben wurden. Riesige vergitterte Schleusentore, die man heben und senken konnte, waren zu beiden Seiten von Nexis über den Fluß gebaut worden.
Die Erdmagusch stieß einen Fluch aus, der ihre Tochter in Erstaunen versetzt hätte, wenn sie ihn gehört hätte. Miathan baute die Stadtmauern wieder auf! Was führte dieses Ungeheuer im Schilde? Hastig lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Akademie …
»Eilin! Komm schnell!« Mit einem donnernden Geräusch stand plötzlich Hellorin, der Fürst der Phaerie, vor ihr. Eilin wirbelte herum; es sah dem Phaerie gar nicht ähnlich, auf diese Art seine guten Manieren zu vergessen, und noch mehr erstaunte es sie, den Waldfürsten so erregt zu sehen.
»Schnell!« wiederholte er und griff nach ihrer Hand. »Du mußt mit mir kommen. Es ist etwas höchst Ungehöriges geschehen.«
»Was?« Stirnrunzelnd versuchte Eilin, sich seinem Griff zu entziehen, aber sie konnte seiner Kraft nicht standhalten. Er zog sie von dem Fenster weg in die Mitte des Raumes.
»Ich fühle die Gegenwart Hoher Magie.« Seine Stimme zitterte vor Aufregung. »Irgendwie hat ein Magusch in unsere Welt gefunden!«
»Aurian?« rief Eilin. Wie eine Flamme loderte plötzlich Hoffnung in ihr auf. Hellorin drückte ihre Hand. »Wir werden sofort hingehen und nachsehen«, sagte er zu ihr.
Schneller als ein Blitz war die Große Halle der Phaerie verschwunden, in der die Erdmagusch sich befunden hatte. Dann flog sie mit Hellorin zusammen über den ausdruckslosen, bernsteinfarbenen Himmel, und die Landschaft war nichts als ein schwindelerregender Wirbel weit unter ihnen. Eilins Herz schlug schneller. Ihre Finger, mit denen sie die Hand des Waldfürsten umklammerte, schlossen sich krampfhaft, und sie schluckte noch einmal, bevor sie ihre Augen fest schloß. Das half. »Ist – ist es noch weit?« stotterte sie. Die Geschwindigkeit ihres Fluges riß ihr die Worte von den Lippen, sobald sie sie ausgesprochen hatte, daher versuchte sie es mit Gedankenübertragung und wiederholte ihre Frage.
»Weit, nahe …« Sie spürte sein Achselzucken. »Lady, in dieser Welt gelten die Regeln menschlicher Entfernung nicht. Ich suche nach Spuren fremder Magie, und sobald ich sie gefunden habe, werden wir dort sein.«
Für Eilin schien eine ganze Ewigkeit zu vergehen, bevor der Waldfürst sie so sanft wie ein vom Baum fallendes Blatt auf dem Boden absetzte. Im gleichen Augenblick, in dem ihre Füße die Erde berührten, kehrten auch die Geräusche zurück – das Dröhnen gewaltiger Füße, gefolgt von einem gräßlichen Mißklang grauenerregenden Fauchens. Mit einem erschrockenen Aufschrei öffnete die Erdmagusch die Augen – und erblickte ein Ungeheuer, eine monströse, furchteinflößende, mit riesigen Fangzähnen ausgestattete Kreatur, die auf ihren Hinterbeinen stand, so groß wie ein Berg … In ihren massigen Vorderpfoten hielt sie eine winzige, menschliche Gestalt, deren Gesicht aus dieser Entfernung nicht zu erkennen war. Eilins Mund wurde trocken. War es Aurian?
»Nein!« schrie sie und stürzte auf das Ungeheuer zu, obwohl sie nicht wußte, was sie tun würde, wenn sie bei ihm ankäme. Aber das eine wußte sie, daß sie nicht tatenlos zusehen konnte.
Eine Hand hielt sie fest und riß sie roh zurück. »Bleib hier, Eilin! Ich werde mich darum kümmern.« Hellorins Augen blitzten gefährlich auf. Dann verschwand er, um gleich darauf am Flußufer wieder aufzutauchen, wo er sich dem Ungeheuer in den Weg stellte – aber jetzt hatte er seine klägliche Menschengestalt abgeschüttelt. Hoch ragte er auf, bis in den Himmel, viel höher noch als das Ungeheuer; sein Mantel waren Wolken und Schatten, und die Sterne glitzerten wie Juwelen in den Zweigen seiner großen Hirschkrone. Eilin stockte vor Ehrfurcht der Atem. Das war das erste Mal, daß sie den Waldfürsten in seiner ganzen Größe und Majestät erblickte. Lichtblitze zuckten aus seinen wütenden Augen, und seine gewaltige Stimme donnerte durch das Tal. »Moldan – wirst du es wagen?«
Das Ungeheuer schrak zurück. Seine großen Fangzähne blitzten weiß auf, als es ihm seine Wut entgegenschleuderte. Obwohl es nur seine Gedanken benutzte, um mit dem Waldfürsten zu sprechen, waren diese Gedanken doch so mächtig, daß Eilin sie deutlich hören konnte. »Halte dich aus meinen Angelegenheiten heraus, Waldfürst! Sollen sich die Phaerie doch anderswo ihre Beute suchen! Dieser Zauberer gehört mir!«
»Das glaube ich nicht«, sagte Hellorin gelassen. Eilin trat unwillkürlich einen Schritt zurück, und ihr Herz zog sich zusammen angesichts der Drohung, die in diesen wenigen, leisen Worten lag. »Willst du deine Kräfte messen mit der Macht der Phaerie?« fuhr der Waldfürst fort. »Gib mir den Zauberer, Moldan, und verschwinde wieder in deinen Berg – oder ich schleudere dich so weit von allem fort, das lebt, daß du niemals mehr zurückkehren wirst!«
»Diese Beute gehört mir!« Eilin bemerkte einen plötzlichen Beiklang des Zweifels in der Stimme der Kreatur.
Hellorin lächelte. »Dann setz den Zauberer ab, Moldan, und kämpfe mit mir um ihn.«
»Niemals!« Das Wort war ein einziges Fauchen. Das Ungeheuer hob die winzige Gestalt an sein Maul und öffnete seine schauerlichen Kiefer. In diesem Augenblick löste sich aus Hellorins Hand ein gewaltiger Strahl blauweißen Feuers, der die Moldan zischend genau zwischen den Augen traf. Mit einem schrillen Schrei ließ das Ungeheuer seine Beute fallen. Eilin hielt entsetzt den Atem an, aber die große Hand des Waldfürsten fing die fallende Gestalt auf und legte sie sanft ins Gras, wo ihr nichts passieren konnte.
Das Ungeheuer schien inzwischen zusammenzuschrumpfen; rauchend-bläuliche Flammen rannen ihm aus den Augen, und seine Kiefer öffneten sich zu einem endlosen Schrei, während sein großer Schwanz gequält um sich schlug. Lebendige Blitze krochen in einem tödlichen Netzwerk über seinen Leib, versengten ihn an jeder Stelle, an der sie ihn berührten. Mit einem letzten schrillen Aufschrei brach die Moldan zusammen und fiel in den tosenden Fluß, wo die kalten, grünen Wasser sie gierig verschlangen und sie über den Rand des Wasserfalls stürzten.
Als sei ein Bann gebrochen, lief Eilin los und warf sich neben der zusammengekrümmten Gestalt des Magusch zu Boden. Einen Augenblick lang brannte die Hoffnung hell in ihren Augen … Aber die Gestalt war nicht Aurian. Die Erdmagusch runzelte verwirrt die Stirn, betrachtete das dunkelblonde Haar, die blauen Augen, die sich in diesem Augenblick mit einem Blick öffneten, der von tiefem Entsetzen gezeichnet war. »Ich kenne dich nicht«, sagte sie anklagend.
Anvar war am ganzen Leib zerschunden und bis auf die Knochen durchgefroren von seinem Bad im Fluß. Sein gequälter Körper wollte nicht aufhören zu zittern, und die Nachwirkungen des Schreckens stürzten seine Gedanken in einen Strudel der Verwirrung. Sein Verstand weigerte sich zu begreifen, was in Wirklichkeit geschehen war. Die gewaltige Schattengestalt, die riesige Hand, die ihn aufgefangen und in Sicherheit gebracht hatte … Es mußte ein Traum gewesen sein – eine Art Halluzination, die auf extreme Angst zurückzuführen war. Die Worte dieser fremden Frau schienen so sinnlos, so – so normal nach seinem letzten verrückten und beängstigenden Abenteuer, daß Anvar in hysterisches Gelächter ausbrach. Ihr wütendes Stirnrunzeln und ihre ungeduldigen Worte trugen nur dazu bei, daß er nun vollends die Fassung verlor. Während er den Stab, den er selbst in der Umklammerung des Ungeheuers verzweifelt festgehalten hatte, an seine Brust preßte, lachte Anvar, bis ihm die Tränen übers Gesicht rannen, bis seine Rippen schmerzten, bis er keine Luft mehr bekam und nur noch hilflos keuchen konnte.
Ein Schatten senkte sich über seinen von Tränen verschwommenen Blick, als eine andere Gestalt neben die Frau trat. Anvar wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, blickte auf und erkannte den Riesen, der die Moldan besiegt hatte und der jetzt auf beinahe menschliche Größe geschrumpft war. Das Lachen erstarb ihm in der Kehle. »Es war also Wirklichkeit …« ächzte er. Über dem Kopf des Fremden schwebte wie ein unwirklicher Schatten das Bild einer weit verzweigten, mit einem Geweih geschmückten Krone. Dann fiel der Blick des Magusch auf diese Hand, die jetzt nicht größer war als seine eigene. Die Hand, die groß genug gewesen war, um seinen Körper aufzufangen … Langsam hob er den Blick von der Hand zu diesen unergründlichen, nicht menschlichen Augen. »Wer bist du?« flüsterte er.
Der Mann antwortete ihm nicht, sondern sah statt dessen die Frau an. »Es tut mir leid, Lady«, sagte er. »Ich hatte so für dich gehofft, daß … Aber da dies nicht Aurian ist, möchte ich doch wissen, wer …«
»Aurian?« Anvars Furcht war vergessen. »Was wißt ihr von Aurian?«
Die Hand der Frau schoß hervor, um seinen Arm zu umklammern, und ihre Finger gruben sich wie Klauen in seine Haut. »Was weißt du von ihr?« stieß sie hervor. In ihren Augen loderte heiße Sehnsucht. »Hellorin sagte, du seiest ein Magusch, aber ich kenne alle Magusch. Du bist keiner von ihnen. Was hast du mit meiner Tochter zu tun?«
»Du bist Eilin?« ächzte Anvar. »Aurians Mutter? Aber wo, zum Kuckuck, bin ich denn jetzt?«
»In meinem Reich«, erwiderte die tiefe Stimme des Mannes. Er blickte noch einmal zu Eilin hinüber. »Ich glaube, wir sollten ihn besser nach Hause bringen.« Mit diesen Worten legte er Anvar eine Hand auf die Stirn, und dann verlor der Magusch das Bewußtsein.
Als Anvar erwachte, lag er zusammengerollt in einem tiefen, weichen Sessel neben einem hell lodernden Feuer. Jemand hatte ihn in eine Decke aus einem merkwürdigen Stoff eingehüllt, der leicht und doch warm war, und er trug ein Hemd aus dem gleichen Stoff, dessen Farbe ein schimmerndes, wechselhaftes Graugrün war. Außerdem bemerkte er, daß er ein Lederwams anhatte. Für einen Augenblick erfaßte ihn panische Angst, und er suchte verzweifelt nach dem Stab der Erde, aber zu seiner Erleichterung lehnte er neben ihm am Sessel. Erst jetzt bemerkte er den niedrigen Tisch vor dem Feuer, auf dem Essen und Trinken standen. Und erst jetzt sah er, daß ihm seine beiden Retter gegenübersaßen. Als er sich in dem Raum umsah, weiteten sich seine Augen vor Überraschung. »Also wirklich, das ist ja genauso wie die Große Halle in der Akademie«, stieß er hervor.
Der Mann ließ von seinem Platz auf der anderen Seite des Kamins ein Kichern hören. »Genau D’arvans Worte! Bezweifelst du immer noch, Eilin, daß er ein Magusch ist?«
»D’arvan?« unterbrach Anvar ihn verblüfft. »D’arvan ist hier?« Von Minute zu Minute wurde ihm klarer, daß es sich um einen Traum handeln mußte.
»Du kennst meinen Sohn?«
»Was ist mit Aurian?«
Die beiden Fremden hatten gleichzeitig zu sprechen begonnen. Anvar sah von einem Gesicht zum anderen. »Ich glaube nicht, daß ich im Augenblick überhaupt noch etwas weiß«, seufzte er.
Ein Ausdruck, der stark an Mitleid erinnerte, ließ das strenge, fein gemeißelte Gesicht von Anvars Retter plötzlich weicher erscheinen. »Hier.« Er reichte dem Magusch einen randvoll mit Wein gefüllten Kristallkelch. »Trink, iß und erhol dich erst einmal! Du hast den Schock über den Angriff der Moldan noch immer nicht ganz überwunden Ich werde dir sagen, was du wissen willst, und dann …« Sein Gesichtsausdruck wurde wieder hart. »Dann wirst du unsere Fragen beantworten, Magusch. Ich bin ganz besonders begierig darauf zu erfahren, wie eines der Artefakte der Macht in deinen Besitz gekommen ist.«
»Und wo meine Tochter ist«, fügte Eilin grimmig hinzu.
Die Erklärungen dauerten einige Zeit. Anvar, der sich verzweifelt wünschte, möglichst schnell zu Aurian zurückkehren zu können, war gezwungen, sich mit den Versicherungen des Waldfürsten zu trösten, daß Zeit in dieser »Anderwelt«, die das Reich der Phaerie war, keine Bedeutung hatte – und um die Wahrheit zu sagen, wollte er auch selbst wissen, was der Erzmagusch während seiner und Aurians Abwesenheit in Nexis getrieben hatte.
Der Bericht über Davorshans Tod und über das, was anschließend D’arvan und Maya widerfahren war, brachte den Magusch aus der Fassung, noch mehr schockierte es ihn jedoch zu hören, daß Eliseth immer noch lebte. »Bist du sicher?« fragte er Eilin, die ihm diese Neuigkeit überbracht hatte. »Aurian und ich waren sicher, daß wir sie getötet hätten.«
Eilin nickte. »Ich habe sie in Hellorins Fenster gesehen, von dem aus man die Welt betrachten kann. Was ihr gespürt habt, muß der Tod Bragars gewesen sein. Ich habe gesehen, wie der Erzmagusch seine Verbrennung vollzogen hat.« Sie beugte sich ängstlich vor. »Aber wieso habt ihr denn geglaubt, ihr hättet Eliseth ermordet? Erzähl mir jetzt von dir selbst und von Aurian.«
Die Erdmagusch schrie vor Überraschung leise auf, als Anvar ihr erzählte, daß er Miathans Sohn war, ein Halbblutmagusch und ehemaliger Diener von Aurian, bis er, nachdem er mit seiner Herrin ins Südland geflohen war, seine Kräfte wiedererlangt hatte. Anvar wünschte jedoch, er hätte rechtzeitig daran gedacht, daß Eilin nichts von Aurians Schwangerschaft wußte – und schon gar nichts von Miathans Verfluchung des Kindes. Er hatte keinen Augenblick daran gedacht, sie schonend vorzubereiten, sondern sprudelte die Neuigkeiten einfach heraus. Als er das Entsetzen und die Sorge sah, die er verursacht hatte, verfluchte er sich für seine Ungeschicklichkeit.
Der Waldfürst flößte Eilin Wein ein und tröstete sie, und als sie sich soweit erholt hatte, daß Anvar fortfahren konnte, erzählte der Magusch ihnen auch noch den Rest – von seinem Sieg über Schwarzkralle in Aerillia und von der Falle, die die Moldan ihm gestellt hatte. »Und jetzt«, beendete er seine Erzählungen und blickte flehentlich den Fürsten der Phaerie an, »wenn du so freundlich sein würdest, mich in meine eigene Welt zurückzuschicken, ich muß wieder zu Aurian. Das Kind müßte mittlerweile auf der Welt sein und sie …« Der Ausdruck auf Hellorins Gesicht brachte ihn mitten im Satz zum Schweigen. Plötzlich schien das Zimmer um Anvar herum sehr kalt zu werden. »Du kannst mich nicht zurückbringen, nicht wahr?«
Hellorin seufzte. »Es tut mir sehr leid, aber ich kann dich tatsächlich nicht in deine eigene Welt zurückschicken. Das liegt nicht in meiner Macht. Aber …« Ein Strahlen erhellte seine unergründlichen, dunklen Augen. »Ich kann dich darüber hinaus schicken, über die dunkelste Straße Zwischen den Welten, zur Herrin der Nebel. Ich warne dich, der Weg ist voller Gefahr, aber sie hat die Macht, dich zurückzubringen, wenn sie es wünscht, und bei ihr ist auch die Windharfe, eines der verlorenen Artefakte, die du suchst.«
Die Erregung ließ Anvars Herz schneller schlagen. Die Harfe! Noch ein Artefakt. Schon jetzt wußte er, daß er das Risiko auf sich nehmen und über diese dunkelste Straße gehen würde, aber als er auf Hellorins fragenden Blick hin zustimmend nickte, war es nicht die Harfe, die seine Gedanken beherrschte. Es war der Wunsch, so schnell wie möglich zu Aurian zurückzukehren.
Könnte ich doch nur weinen! Aber als Aurian mir die Augen aus dem Gesicht gebrannt hat, hat sie damit auch alle Hoffnung auf heilende Tränen zerstört. Miathan saß müde und in sich zusammengesunken vor seinem Feuer. Plötzlich spürte er jedes Jahr der zwei Jahrhunderte, die er durchlebt hatte. Bis zu ihrer letzten Begegnung hatte der Erzmagusch es fertiggebracht, sich selbst zu täuschen, was das Ausmaß von Aurians Haß betraf. Aber das war jetzt nicht mehr möglich, der Blick ihrer Augen hatte ihn durchbohrt, als hätte sie einen Speer in sein Herz gestoßen. Wie konnte er sie angesichts solch tiefer, tödlicher Abscheu je zurückgewinnen?
Jetzt, da er gezwungen worden war, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, entsetzte ihn das Ausmaß seiner Irrtümer. Ich hätte Forral niemals töten dürfen, dachte er. Das war mein erster und größter Fehler – und mein erster Schritt auf dem Weg, der uns zu diesem furchtbaren Tag geführt hat. Der Kommandant war ein Sterblicher gewesen – so sehr es mich geärgert hat, ich hätte doch nur zu warten brauchen … Und wäre Anvar nicht mit Aurian geflohen, hätte auch er niemals seine Kräfte wiedererlangt. Er wäre hiergeblieben, ein niedriger Diener unter meiner Kontrolle. Und das Kind – wäre es mit Aurians Kräften geboren worden, hätte es vielleicht ein großer Magusch werden können, ein Gewinn für unsere so klein gewordene Gemeinschaft … aber an dieser Stelle gebot Miathan seinen Gefühlen Einhalt. Er hätte es einfach nicht ertragen können, wenn Aurians Halbblutmischling der erhabenen Gesellschaft der Magusch beigetreten wäre, ebensowenig wie er den Gedanken daran ertragen konnte, daß Anvar …
Und doch – Miathan biß die Zähne zusammen und zwang sich, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen –, Aurian und Anvar waren praktisch die einzigen Magusch, die ihm noch geblieben waren. Dank seiner Dummheit in der Nacht der Todesgeister waren Finbarr und Meiriel nicht mehr da. Und D’arvan – nun der war ohnehin nicht von großem Nutzen gewesen, aber auch er war nun auf jeden Fall verloren. Davorshan war tot und Eilin von der Bildfläche verschwunden. Die einzige Magusch, die Miathan jetzt noch hatte, war Eliseth, und der konnte er nicht trauen.
Aurian war nun seine einzige Hoffnung, die einzige Vollblutmagusch, auf die er vielleicht noch Einfluß ausüben konnte. Und außerdem war sie Aurian, und er hatte sie von Anfang an begehrt. Ich muß sie zurückgewinnen, dachte Miathan verzweifelt. Ich muß – aber wie? Nicht, indem er Anvar tötete, soviel stand fest. Selbst wenn es ihm überhaupt gelingen sollte, den Magusch zu finden. Wenn er das tat, würde er seine Chancen damit vollkommen zunichte machen. Nein, so widerwärtig der Gedanke auch sein mochte, Anvar mußte verschont werden – zumindest für den Augenblick. Das sollte ihm eigentlich Aurians Dankbarkeit eintragen, und später konnte er sich ja immer noch eine Möglichkeit ausdenken, sich zwischen die beiden zu stellen.
Und das Kind? Miathan schauderte, riß sich dann jedoch zusammen. Er warf einen verstohlenen Blick zu dem verborgenen Versteck hinter der Wand, wo die glanzlosen, verfluchten Überreste des Kessels verborgen lagen. Gab es eine Möglichkeit, den Fluch wieder rückgängig zu machen? Und würde er sie rechtzeitig entdecken können?
»Tausendmal verdammt sollst du sein! Wie konntest du sie entkommen lassen!« Die Tür prallte heftig gegen die Wand und vibrierte in ihren Angeln. Mit zornesbleichem Gesicht stand Eliseth vor ihm. »Ich verfluche dich!« fauchte sie. »Ich hätte es die ganze Zeit über wissen müssen, daß du vorhattest, mich zu betrügen und zu hintergehen!«
Die Jahre fielen von Miathans Schultern ab wie ein Mantel. Mit einem Ruck sprang er auf die Füße und schleuderte ihr einen Machtstrahl entgegen, der wie ein Peitschenschlag über ihr Gesicht fuhr, wo er einen häßlichen, dunkelroten Striemen hinterließ. »Schweig still! Trotz all deiner Machenschaften bin ich immer noch der Erzmagusch!«
Eliseth taumelte, drehte sich halb herum und schlug sich die Arme über das Gesicht. Als sie sie senkte, standen Tränen des Schmerzes in ihren Augen, aber sie faßte sich schnell wieder und sah ihm direkt in die Augen. Heißer Zorn verzerrte ihre lieblichen Züge. »Erzmagusch von was?« höhnte sie. »Hast du in letzter Zeit mal aus deinem Fenster gesehen, Miathan? Hast du bei all deinen endlosen Geistreisen je daran gedacht, hinabzublicken und zu sehen, was mit deiner Stadt geschieht? Was in dem Land geschieht, das du jetzt beherrschst? Du bist Erzmagusch über eine Handvoll ignoranter, gemeiner Sterblicher – halb verhungert, mürrisch und vom Haß verbittert. Ist das die Macht, die du so begierig und zu einem so hohen Preis gesucht hat?« Sie stieß ein schrilles Lachen aus. »Während du deine Zeit damit verschwendest, wie ein sabbernder, geistloser Greis dieser Hündin hinterherzujammern, bricht dein neugewonnenes Reich um dich herum in Stücke!«
Innerlich schrak Miathan vor der Gehässigkeit in ihrer Stimme zurück. Er war jedoch zu vorsichtig, um auch nur die geringste Spur von Betroffenheit auf seinem Gesicht zu zeigen. Der Zorn, der normalerweise eine heiße Explosion war, baute sich nun wie eine träge, rote Hut in ihm auf, machte seinen Willen hart wie Stahl und ließ seine Kräfte anschwellen. Einen Augenblick hielt er inne und kostete das Gefühl rückhaltlos aus.
Die Wettermagusch, die eindeutig seine gewohnte, heftige Reaktion auf seinen solchen Affront erwartet hatte, schien verblüfft zu sein. Dieser winzige Augenblick des Zögerns und des Zweifelns war ihr Verderben. Miathan durchbohrte sie mit seinem glitzernden Schlangenblick und hielt sie reglos und entsetzt in seinem Bann, während er mit einem flüsternden Singsang die Worte eines Zaubers zu sprechen begann.
»Nein!« Trotz seiner Kontrolle über ihren Willen entrann sich Eliseths Kehle dieses eine Wort, das nicht mehr als ein Wimmern war. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, ihre schlanken, weißen Finger krümmten und streckten sich abwechselnd. Während Miathan mit kaltem Lächeln zusah, begann ihr Gesicht sich zu verändern; die klaren, vollkommenen Linien verwischten sich und sanken in sich zusammen – bis Miathan den Zauber jäh unterbrach.
Eliseth, die nun plötzlich von den Fesseln seines Willens befreit war, taumelte und mußte sich an der Tür festhalten, um aufrecht zu stehen. Als sie dann endlich ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, flogen ihre Hände augenblicklich zu ihren Wangen, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Stöhnend stürzte sie durch das Zimmer zum nächsten Spiegel und starrte das Bild, das ihr entgegensah, fassungslos an.
Miathan kicherte. »Zehn Jahre, Eliseth. Zehn kleine Jahre. Ein Tröpfchen in dem endlosen Ozean unserer Unsterblichkeit. Aber welchen Unterschied zehn Jahre doch für dieses makellose Gesicht ausmachen! Ist dein Körper vielleicht etwas weniger straff? Ein kleines bißchen weniger aufrecht und schlank?« er grinste höhnisch. »Es ist fast noch schlimmer, als ein altes Weib zu sein, nicht wahr, diese unerbittlichen Anzeichen des Verfalls und die Narben mitansehen zu müssen.«
Eliseth drehte sich sprachlos und zitternd zu ihm um, und Miathan wußte, daß er sie besiegt hatte. »Das letzte Mal, als ich dich altern ließ und du mir getrotzt hast, konntest du das tun, weil du nichts mehr zu verlieren hattest. Aber ich habe aus meinem Fehler gelernt, meine Liebe. Diesmal wird es anders sein.« Seine Stimme war plötzlich hart wie Stein. »Jedesmal, wenn du dich mir widersetzt, werde ich deinem Alter zehn weitere Jahre hinzufügen. Ich würde dir vorschlagen, sehr sorgfältig über die Konsequenzen nachzudenken, bevor du es noch einmal wagst, dich mir in den Weg zu stellen. Und Eliseth – laß Aurian in Ruhe! Wenn du auch nur den kleinen Finger gegen sie erhebst, werde ich dich nicht sterben lassen, sondern dafür sorgen, daß du dir tausendmal wünschst, ich hätte es getan.«
Als Eliseth sich niedergeschlagen umdrehte, um davonzuschleichen, warf er ihr mit vorsätzlicher und bösartiger Schläue noch einen Brocken hin. »Übrigens habe ich dich nicht zugunsten von Aurian verstoßen, was immer du auch glauben magst. Denn trotz dieser zehn zusätzlichen Jahre bist du immer noch wunderschön.« Er durchquerte den Raum und nahm ihr Gesicht in seine Hände. Eliseth starrte ihn zornig an, aber er sah, daß ein kleiner Funke des Zweifels die stählerne Wand des Hasses hinter ihren Augen für einen Augenblick durchbrach.
Der Erzmagusch lächelte innerlich. »Ja«, murmelte er, »du bist wirklich schön. Ich mag Aurian wollen, um unsere im Aussterben begriffene Rasse vor dem Untergang zu bewahren, und ich mag ihre Kräfte brauchen, um meine Pläne voranzutreiben, aber sie wird immer launisch und eigensinnig bleiben. Ich könnte ihr nie vertrauen, Eliseth, und daher muß sie meine Gefangene bleiben, während du die Freiheit hast, aus eigenem Willen an meiner Seite zu arbeiten.« Dann gestattete er sich ein Lächeln. »Du wärest eine überaus passende Gefährtin für einen Erzmagusch, wenn du beweist, daß ich dir vertrauen kann.« Mit diesen Worten entließ er sie.
»Lügner«, hauchte Eliseth, aber hinter ihren Augen leuchtete ein neues Licht auf.
Der Erzmagusch zuckte mit den Schultern. »Das wird die Zeit erweisen«, sagte er. »Für uns beide.«
Als er hörte, wie sich die Tür leise hinter ihr schloß, kicherte Miathan. Hatte sie den Köder geschluckt? Nun, tatsächlich: die Zeit würde es erweisen.
Als die kleine Magd hörte, wie die Wettermagusch die Treppe hinuntergestürmt kam, floh sie auf lautlosen Füßen treppab. Dann stürzte sie durch Eliseths offene Tür, griff nach ihrem Putzlumpen und begann, eifrig den Tisch zu polieren, während sie tief durchatmete und ihren Gesichtszügen die gewohnt ausdruckslose Maske aufzwang. Unterdessen schäumte in ihrem Herzen jedoch der Jubel. Sie war wie gewöhnlich hergekommen, um Eliseths Gemächer zu säubern, aber als sie dann Stimmen von oben gehört hatte, hatte sie sich so nahe wie möglich herangeschlichen, um zu lauschen. Und bei den Göttern, das Risiko war es wert gewesen!
Eliseth kam ins Zimmer gestampft und hielt sich eine Hand ans Gesicht. »Inella!« Sie erschrak beim Anblick der vergessenen Magd, faßte sich dann jedoch schnell wieder. »Ist das alles, was du getan hast, du faule Schlampe?« Sie setzte zum Schlag an, aber das Mädchen wich ihrer Hand geschickt aus. Eliseth runzelte die Stirn, schien jedoch nicht geneigt zu sein, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. »Hol mir etwas Wein«, fuhr sie ihre Dienerin an und verschwand in ihrem Schlaf gemach.
»Jawohl, Herrin.« Das Mädchen knickste Eliseths davonrauschendem Rücken noch einmal zu und machte sich dann daran, schnellstens ihre Bitte zu erfüllen. Obwohl ihr Gesicht nach wie vor ausdruckslos war, jubilierte sie innerlich. Die Lady Aurian war entkommen. Bei den Göttern, eine solche Neuigkeit war das Risiko ihrer Anwesenheit hier tausendmal wert!