5 Eine Seele aus Stein

Man konnte nicht leugnen, daß Nerenis Festessen wirklich gelungen war. Wie gewöhnlich hatte sie mit dem, was ihr zur Verfügung stand, Wunder gewirkt. Das saftige Wildbret war mit Kräutern gewürzt. Dann gab es noch einen Fleischtopf mit köstlichem Aroma, der sich zum Erstaunen aller als ein Gericht von Wildziege erwies, die Nereni mit Moosen und den Knollen einer bestimmten Pflanze gekocht hatte. Bohan, der die Gegend auf der Suche nach Nahrung durchstreift hatte, kehrte mit bläulich angelaufenen Stichen in seinem geschwollenen, runden Gesicht und einem in Blätter eingewickelten Päckchen Honigwaben zurück. Außerdem förderte er mehrere beeindruckend große Forellen zutage, ein Umstand, der Yazour einen strengen Blick von Eliizars Frau eintrug. »Sie wollten also nicht anbeißen, wie?« beschimpfte sie den töricht dreinblickenden jungen Krieger.

Zu Yazours Glück kehrte genau in diesem Augenblick Rabe zurück, und ihre Schwingen wirbelten Rauchwolken und Asche aus dem Feuer auf, bevor sie schließlich in einer Woge aus Staub und Piniennadeln auf dem Boden landete. Nereni, die im ersten Augenblick lauthals schimpfen wollte, weil der Schmutz das gute Essen zu ruinieren drohte, stockte, als sie sah, in welchen Zustand das geflügelte Mädchen, ihr ganz besonderer Liebling, zurückgekehrt war. »Rabe! Der Schnitter steh uns bei! Was ist mit dir passiert?« Sie eilte auf die Prinzessin zu, die sie sanft beiseite schob und sich statt dessen lächelnd an die beiden Magusch wandte. »Bei Yinze, ich bin wirklich froh, euch zu sehen«, sagte sie einfach.

»Rabe, was ist passiert? Bist du gegen einen Baum geflogen?«

Rabe stellte sich dem durchdringenden Blick der Magusch und ermahnte sich, ja auf der Hut zu sein. Auf dem Rückweg hatte sie sich, so gut sie konnte, in einem Waldflüßchen gewaschen, aber sie hatte natürlich gewußt, daß ihr zerschundenes und zerfetztes Aussehen Bestürzung hervorrufen würde. Glücklicherweise hatte Aurian ihr genau das Stichwort gegeben, das sie brauchte.

»Wie scharfsichtig du bist«, erwiderte sie mit einem kläglichen Grinsen. »Als Nereni mich davor gewarnt hat, nach Einbruch der Dunkelheit noch herumzufliegen, hätte ich besser auf sie hören sollen. Ich habe auch nicht viel gefangen …« Sie hielt den schon ein wenig mitgenommenen Fasan in die Höhe. »Ich habe die Schnelligkeit, mit der hier die Abenddämmerung einbricht, unterschätzt und bin, wie du ganz richtig vermutet hast, gegen einen Baum geflogen!«

Wie Rabe gehofft hatte, wurden alle weiteren Erklärungen von Nereni unmöglich gemacht, die ihr mit heißem Wasser, Salben und frischen Kleidern zusetzte. Das geflügelte Mädchen lächelte innerlich über ihre eigene List. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich mich über deine Rückkehr freue, Aurian, dachte sie inmitten des fröhlichen Geplappers von Begrüßungen, denn jetzt kann ich meine eigenen Pläne in Gang setzen.

Während die Kameraden aßen, wandte sich das Gespräch unweigerlich der Zukunft zu, und Eliizar begann, lang und breit über seinen Plan zu sprechen, ein besseres Lager an einem geeigneteren Platz zu erbauen, den Yazour bereits entdeckt hatte. Aurian hörte aufmerksam zu. Anvar wußte, daß der ruhelose Geist der Magusch jetzt, da sie sich ausgeruht und gegessen hatte, bereits bei dem nächsten Schritt ihrer Reise weilte.

»Du hast da ein paar gute Ideen«, sagte Aurian zu Eliizar. »Obwohl ich die Verzögerung hasse, müssen wir Vorbereitungen treffen, bevor wir ins Gebirge aufbrechen. Zum einen müssen die Pferde sich ausruhen – wir haben nicht mehr genug Reittiere, da Anvar und ich die unseren in dem Sandsturm verloren haben – und außerdem müssen wir eine Möglichkeit finden, wärmere Kleider anzufertigen, müssen ein Lager mit Nahrungsmitteln anlegen …«

»Aber da besteht doch keine Eile, Aurian«, unterbrach sie Nereni. »Wie können wir denn weiterziehen, bevor dein Kind geboren ist?«

»Was?« Aurian starrte sie entsetzt an. Anvar, der sie beobachtete, hielt den Atem an.

»Hast du das denn nicht bedacht?« Nereni wirkte schockiert. »Aurian, wie kannst du in deinem Zustand gleich wieder aufbrechen? Möchtest du etwa, daß das arme, kleine Ding mitten in einer Schneewehe zur Welt kommt?« Sie senkte ihre Stimme zu einem einschmeichelnden Flüstern. »Es sind jetzt keine drei Monate mehr – die kannst du doch sicher abwarten, um des Kindes willen?«

Aurian wurde sehr bleich, und Anvar, der sie wie immer beobachtete, spürte, wie ihr sein Herz entgegenflog. Nerenis Worte über das Risiko für ihr Kind hatten sie tief getroffen. Bei den Göttern, gerade erst hatten sie die Wüste überlebt, und jetzt das hier. Müssen wir denn immer in solcher Eile sein? dachte er. Er verstand Aurians dringendes Bedürfnis, den Kampf mit dem Erzmagusch aufzunehmen, aber das Kind war ihre letzte Verbindung zu Forral. Anvar sah sich in dem vom Feuer erleuchteten Kreis um. Yazour und Eliizar nickten zu Nerenis Worten. Nur Bohan, der wie immer auf der Seite seiner geliebten Aurian stand, sah unglücklich und zerrissen aus. Nur Bohan – und er selbst, Anvar. Aurian richtete, als hätte sie seine Gedanken gelesen, einen gequälten Blick auf ihn. »Miathan weiß, wo wir sind«, sagte sie. Er hörte die Unsicherheit aus ihrer Stimme heraus. »Er könnte uns hier angreifen.«

»Das könnte er tatsächlich.« Bei der Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit dem Erzmagusch fiel es Anvar schwer, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Aber wir sind bisher zurechtgekommen, und es ist eine Frage des Risikos. Wenn du jetzt in die Berge gehst, wirst du mit Sicherheit das Kind gefährden.« Er biß sich auf die Lippe und wandte, mit seinem eigenen Gewissen ringend, den Blick ab. »Ich würde dir raten, abzuwarten, aber mit jedem Tag, der vergeht, wächst Miathans Vorteil. Ich werde dir helfen, wo ich nur kann, Aurian, aber am Ende ist es deine Entscheidung. Du weißt, ich werde dir immer helfen, ganz gleich, wie du dich entscheidest.«


Von seinem Aussichtspunkt jenseits des Brunnens der Seelen knirschte Forral frustriert mit den Zähnen. Dieser törichte Junge ging die Sache vollkommen falsch an. »Warum hilfst du ihr nicht?« murmelte er. »Wenn ich nur dort wäre, dann hätte ich …« Forral zögerte. Was genau hätte er denn zu Aurian gesagt? Das arme Mädchen – wie zerrissen sie sein mußte zwischen der Notwendigkeit, ihr Kind zu beschützen, und dem Drang, nach Norden zu eilen, um Miathan Einhalt zu gebieten.

Als Soldat wußte Forral alles über Pflicht. Aber etwas, womit er nicht gerechnet hatte, war die wilde, beschützende Liebe eines Vaters zu seinem Kind – selbst wenn es noch nicht einmal geboren war. Plötzlich war der Schwertkämpfer geradezu beschämend froh darüber, daß die Entscheidung nicht in seinen Händen lag. Aber wozu würde Aurian sich entscheiden? Er spähte noch einmal in den Brunnen und suchte den Wald ängstlich nach einem Bild seiner Liebsten ab.


Aurian zögerte. Sie sah unglücklich und unentschlossen aus. Rabe, die spürte, daß ihr der Augenblick zu entschlüpfen drohte, wußte, daß sie schnell handeln mußte. »Aurian.« Sie beugte sich vor und berührte die Magusch am Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Es wäre sicherer, so bald wie möglich aufzubrechen.«

»Was meinst du damit?« Aurian fuhr stirnrunzelnd herum. Rabe holte tief Luft. Sie war mit Harihn übereingekommen, diese Information nur dann zu benutzen, wenn alles andere scheiterte, aber anscheinend hatte sie keine andere Wahl.

»Ich habe heute während der Jagd etwas entdeckt«, sagte sie. »Harihn und seine Leute haben ebenfalls ihr Lager hier aufgeschlagen – am Nordrand des Waldes.«

»Was?« rief Aurian entsetzt. »Harihn ist hier? Wie kannst du dir da so sicher sein? Du hast ihn doch nie gesehen.«

»Es muß der Prinz sein«, erwiderte das geflügelte Mädchen hastig. »Sie tragen ähnliche Kleider wie ihr – und wer könnte es sonst sein?«

Anvar fluchte. »Rabe, du Idiotin. Warum, verdammt noch mal, hast du vorher nichts davon gesagt? Wenn Harihn uns findet …«

»Aber das wird er vielleicht nicht«, warf Nereni hoffnungsvoll ein.

Anvar zog eine Grimasse. »Darauf würde ich mich nicht verlassen. Bei den Göttern, was für ein Durcheinander! Aurian und ihr Kind werden in den Bergen in Gefahr sein, aber wenn wir hierbleiben, steht unser aller Leben auf dem Spiel.«

Das war Rabes großer Augenblick. »Anvar«, sagte sie einschmeichelnd, »es ist vielleicht nicht so schlimm, wie du denkst. In den Bergen gibt es einen Ort, einen Wachturm, den mein Volk vor langer Zeit gebaut hat und der die weit entlegenen Grenzen unseres Königreiches markiert. Von hier sind es etwa …« Sie zuckte mit den Schultern. »Etwa fünfzehn oder zwanzig Tage, wenn man zu Fuß gehen muß, würde ich sagen. Das Gebäude ist so sicher wie eine Festung. Wir wäre sowohl vor irgendwelchen Angriffen wie auch vor den Elementen sicher, und in der Nähe gibt es ein Wäldchen, wo wir Feuerholz finden könnten. Wenn wir so weit kommen könnten, wäre es für Aurian bestimmt ein geeigneter Ort, um ihr Kind zur Welt zu bringen.«

Als Rabe die Hoffnung in Aurians Augen aufleuchten sah, hätten ihre Schuldgefühle sie um ein Haar erstickt. Denk an Harihn, sagte sie sich immer wieder. Denk an dein Volk! Aber den beiden Magusch ins Auge sehen zu müssen und gelassen ihre Fragen zu beantworten und dabei zu wissen, daß sie sie hinterging, war das Schwerste, was die Prinzessin je getan hatte.

»Woher bekommen wir etwas zu essen?« fragte Aurian sie. Das geflügelte Mädchen zuckte mit den Schultern, froh darüber, daß sie und Harihn über diese Probleme bereits nachgedacht hatten.

»In den Bergen müssen immer noch Tiere leben – Schneehasen, Ziegen, Winterhasen und so weiter. Aber für die Reise und für die ersten Tage dort müssen wir so viel mitnehmen, wie es nur geht. Wir können hier im Wald irgendwo ein geheimes Proviantlager anlegen, und wenn es uns dort an irgend etwas mangeln sollte oder es doch keine Tiere zum Jagen gibt, kann ich leicht zurückfliegen und uns etwas aus dem Lager holen.«

»Und denk nur«, fügte Nereni hinzu, »wie gut es für Aurian wäre, eine schützende Mauer um sich herum zu haben, wenn sie ihr Kind zur Welt bringt.«

Aurian nickte. »Ich widerspreche ja auch gar nicht. Das Problem ist nur, woher bekommen wir neue Pferde? Anvar und ich habe unsere in der Wüste verloren, und wenn wir wirklich genug zu essen mitnehmen wollen, brauchen wir zusätzlich noch ein oder zwei Packpferde.«

Alle sahen einander an. Gerade als Rabe sich fragte, ob sie denn wirklich alles selbst vorschlagen mußte, kam Yazour ihr zu Hilfe. »Wir könnten doch«, sagte er mit einem hinterlistigen Zwinkern in den Augen, »welche von Harihn stehlen. Nicht sofort«, fügte er hinzu, um ihren Protesten zuvorzukommen. »Das letzte, was wir wollen, ist, daß der Prinz den Wald nach verschwundenen Pferden durchkämmt. Aber könnten wir es nicht tun, kurz bevor wir aufbrechen – mit Rabe und Shia als Kundschaftern?«

Aurian grinste. »Gute Idee, Yazour!« Sie drehte sich zu dem geflügelten Mädchen um. »Rabe, ich bin dir aus ganzem Herzen dankbar.«


Es war schon spät, als sie zu Bett gingen. Wegen Harihn hatten sie beschlossen, Wachen aufzustellen, obwohl Eliizar darauf bestand, daß Yazour, Bohan und er selbst diese Aufgabe allein übernehmen würden, um Aurian und Anvar nach den Anstrengungen in der Wüste die Möglichkeit zu geben, endlich wieder einmal richtig zu schlafen. Vom nächsten Tag an sollten Shia und Rabe die Khazalim bewachen, um sicherzustellen, daß sie dem Lager der Kameraden fernblieben.

Aurian war zutiefst erleichtert, als sie sich endlich in einer von Eliizars grob gefertigten Hütten neben Anvar zusammenrollen konnte. Aber noch während sie das tat, schossen ihr weitere Pläne durch den Kopf, und es fiel ihr schwer, einzuschlafen. »Was glaubst du, wie bald wir in der Lage sein werden, von hier aufzubrechen?« fragte sie Anvar.

Er zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Unsere Freunde haben sehr hart gearbeitet, seit wir angekommen sind, aber es ist trotzdem noch viel zu tun.«

»Und in der Zwischenzeit müssen wir immer jemanden von der Arbeit freistellen, damit er ein Auge auf Harihn und seine Leute hat, um sicherzugehen, daß sie sich nicht plötzlich in unsere Richtung verirren«, stimmte Aurian ihm zu.

Anvar nickte. »Es ist anscheinend ein großer Wald, und Rabe sagt, sie hätten ihr Lager am Nordrand aufgeschlagen. Wahrscheinlich haben sie die Absicht, nach Norden weiterzureisen, so daß sie nicht hierher zurückkommen werden.«

Stirnrunzelnd hielt er inne. »Irgend etwas gefällt mir an dieser Sache nicht. Warum sind sie überhaupt noch hier? Sie waren ein gutes Stück vor uns, und sie haben alles mitgenommen, was in Dhiammara gelagert war, daher müssen sie für die Überquerung der Berge doch bereits ausgerüstet sein. Warum diese Verzögerung?«

Aurian spürte ein unangenehmes Prickeln zwischen den Schulterblättern. »Anvar, ist es möglich, daß sie auf uns warten? Ich meine, Yazour hat doch Pferde mitgenommen, als er vor Harihn geflohen ist. Sie müssen also gewußt haben, daß wir noch aus Dhiammara entwischt sind …«

Anvar schüttelte den Kopf. »Aber wenn das ein Hinterhalt sein soll, hätten sie doch sicher Späher im Wald aufgestellt. Und welcher Augenblick wäre besser für einen Angriff geeignet als der, in dem wir aus der Wüste kamen? Die anderen waren durch unsere Ankunft abgelenkt, und wir waren ganz bestimmt nicht in einem Zustand, in dem wir uns hätten verteidigen können.«

»Um ehrlich zu sein, bin ich jetzt immer noch nicht in einem viel besseren Zustand.« Aurian gähnte. »Ich bin so müde, daß ich nicht einmal mehr geradeaus denken kann.«

»Du armes, altes Ding«, neckte Anvar sie.

»Armes, altes Ding, wahrhaftig«, knurrte Aurian, aber sie kicherte dabei und legte sich endlich neben ihn, um zu schlafen.


Forral, der sie beobachtete, seufzte. Obwohl er wußte, daß es töricht von ihm war, und obwohl er versuchte, im Geiste seiner verlorenen Liebe gegenüber großzügig zu sein, gab es doch Zeiten, da schien ihm ihre wachsende Vertrautheit mit Anvar wie ein bitterer Betrug. Die Sehnsucht im Herz des Schwertkämpfers war ein alles umfassender Schmerz. »Ich hätte derjenige sein sollen …« Seine Hand bewegte sich vorsichtig auf die Oberfläche des Teichs zu …

»Genug!« Forral erbebte, als der kühle, körperlose Griff des Todes auf seiner Schulter zu spüren war und ihn von dem Brunnen wegzog. »Du hast genug gesehen«, sagte die Erscheinung. »Habe ich dich nicht gewarnt, daß es schmerzlich für dich sein würde? Komm jetzt. Du weißt, daß Aurian eine Zeitlang im Wald in Sicherheit sein wird. Gib dich damit zufrieden und überlaß die Lebenden ihren eigenen Problemen.«

Heiße Worte des Protestes formten sich auf Forrals Lippen, bis er sich an das letzte Bild von Aurian erinnerte, wie sie sieh an Anvar schmiegte. Er hatte sich vorher selbst gesagt, daß es ihm nur um ihre Sicherheit ging, aber der Tod hatte recht. Er wußte, daß sie jetzt in Sicherheit war, und wenn er sie weiter beobachtete, war es fast so, als spionierte er ihr nach, und das würde keinem von ihnen guttun. Forral, der um die Jahre trauerte, die er und Aurian verloren hatten, ließ sich schließlich wegführen.

Aurian, der es immer schwerer gefallen war, die Augen offenzuhalten, schlief endlich ein. Vielleicht war es die Nachwirkung des Kampfes in der Wüste oder die natürliche Folge eines gefühlsmäßig so aufwühlenden Tages. Vielleicht war es auch die relative Kühle des Waldes oder Nerenis stark gewürzter Eintopf, der dazu führte, daß die Magusch in dieser Nacht von Eliseth träumte. Vielleicht war es aber auch mehr als das.

Aurian träumte, daß die Wettermagusch hoch oben auf dem Maguschturm in Nexis stand; die Arme dem mitternächtlichen Himmel entgegengestreckt, rief sie aus den brodelnden Wolken, die sich über der Stadt angesammelt hatten, erneut den Sturm herab. In einer Hand trug sie einen langen, glitzernden Speer aus Eis. Schnee wirbelte um sie herum und vermischte sich mit den im Wind tanzenden Strähnen ihres silbernen Haares, während sie sich auf die niedrige Brüstung stellte, die um die Spitze des Turms herumlief. Die kalte Vollkommenheit ihres Gesichtes leuchtete triumphierend auf. Dann sprang sie mit einem wilden, schrillen Schrei plötzlich in die Höhe – in die Höhe und fort von dem Turm. Die Eisschwingen des Sturms trugen sie empor. Und sie kam nach Süden. Nach Süden über den Ozean, nach Süden über das Land der Xandim hinweg ritt sie auf den Flügeln des Winters auf die Berge zu …

Aurian wachte plötzlich zitternd auf, und ihr Herz jagte. »Wie dumm!« sagte sie energisch zu sich selbst. »Es war nur ein Traum. Nichts als ein Traum. Eliseth ist tot …, oder?«


Chiamh, der – außerhalb seines Körpers – verloren in den Tiefen der Festung herumirrte, geriet in Panik und floh blind durch die Risse des Labyrinths, die das Gebäude belüfteten. Was würde aus seinem Körper werden, wenn er nicht mehr zurückfand? Würde er sterben? Was wäre, wenn sie ihn fanden und dachten, er wäre tot und …

»Komm schon! So ein Gedanke ist absolut lächerlich

Als er diese geheimnisvolle Stimme zum ersten Mal gehört hatte, hätte er vor Angst um ein Haar den Verstand verloren, aber diesmal war es etwas anderes. Chiamh war noch nie in seinem Leben so froh gewesen, ein anderes, lebendiges Geschöpf zu hören. »Wer bist du? Wo bist du? Kannst du mir hier heraushelfen?« flehte er.

»Hättest du dich besser konzentriert, bräuchtest du jetzt nicht meine Hilfe«, schalt ihn die Stimme. »Aber wie dem auch sei, da du das einzige Mitglied deiner kümmerlichen Rasse bist, das mich hören kann, muß ich dir wohl helfen – aber laß dir das eine Lehre sein und sei in Zukunft vorsichtiger. Beobachte die Luft, kleines Windauge – und folge meinem Licht

Ernüchtert versuchte Chiamh, sich zu fassen und sich auf die silbrigen Bänder tanzender Luft zu konzentrieren. Er folgte ihnen bis zu einer Stelle, an der sich zwei Wege kreuzten – und keuchte, als eines der Bänder sich von den anderen löste. Das abtrünnige Band, das in einem warmen, goldenen Licht erglühte, schoß mit einer scharfen Kurve in einen Spalt auf der rechten Seite. Das Windauge folgte ihm, wie es sich durch das Netzwerk der Risse bald hierhin und bald dorthin wandte, bis Chiamhs umherstreifender Geist endlich mit einer letzten Krümmung und einem plötzlichen Satz in das vertraute, staubige Gewirr seiner eigenen Gemächer hineinstolperte.

Schwach vor Erleichterung kehrte das Windauge in die vollkommene Sicherheit seines Körpers zurück. Während er sich mit zitternden Händen seine kalten, verspannten Glieder rieb, wurde ihm klar, daß er sich bei seinem mysteriösen Wohltäter noch nicht bedankt hatte. »Bist du noch da?« erkundigte er sich zaghaft, denn es war ihm doch etwas peinlich, sich laut mit leerer Luft zu unterhalten.

»Ich bin überall in diesen Mauern – und du brauchst nicht laut zu sprechen. Benutze deine Gedanken, wie du es gerade eben noch getan hast

»Ich – ich möchte dir dafür danken, daß du mich gerettet hast«, stammelte Chiamh. »Ich weiß nicht, weshalb du den Weg kanntest, aber …«

»Wieso sollte ich den Weg denn nicht kennen?« erwiderte die Stimme. »Obwohl – wenn lauter Sterbliche in meinem Körper herumkrabbeln …«

»In deinem was?« ächzte Chiamh. Die Stimme brach in lautes Gelächter aus.

»Hat denn dein Volk alle Lehren und Legenden verloren, daß sie nicht wissen, was sie da bewohnen? Hat die Welt die Moldan so schnell vergessen? Ich bin Basileus, kleines Windauge – die lebendige Seele dieser Festung


Die Zeit verging langsam für die Moldan; die Zeit verflog schnell. Zeit in dem Sinne, wie die Sterblichen sie verstanden, existierte überhaupt nicht für diese uralten Geschöpfe aus lebendigem Stein. Ein Tag war wie das Blinzeln eines Auges für sie, aber die Tage gingen auch in unveränderlicher Allewigkeit ineinander über. Die Wurzeln der Moldan ragten tief in das Herz der Erde hinein; ihre Häupter, die Hauben aus blendend weißem Schnee trugen und hinter Schleiern aus Wolkenbändern lagen, schmückten sich mit einer Krone aus Sternen. Die Ältesten der Alten waren die Moldan, die Erstgeborenen, so alt wie die Knochen der Welt selbst. In den Geburtswehen der Welt wurden sie zum Leben erweckt und sind nie gestorben – bis auf die Teile ihrer Körper, die ihnen von geringeren, unachtsamen Geschöpfen abgehackt worden waren.


»Ich kann es kaum glauben!« Chiamh wünschte nur, er hätte irgendeinen bestimmten Punkt, zu dem er hinschauen konnte, wenn er mit dieser seltsamen Wesenheit sprach. »Nicht einmal in meinen wildesten Träumen hätte ich mir jemals vorstellen können, daß ich mich eines Tages mit einem Gebäude unterhalten würde.«

»Ich bin kein Gebäude. Gebäude, wie du sie nennst, entstehen aus den abgehackten, ermordeten Teilen unseres Fleisches, die von den Menschen aufeinandergestapelt werden. Meine Brüder und ich, wir sind lebendige Wesen – und wir nehmen unsere Gestalt aus freien Stücken an.« Der Zorn des Basileus war ehrfurchtgebietend. Die Wände von Chiamhs Gemach zitterten, und die Fackeln flackerten in einer plötzlichen, wilden Zugluft. Feiner Staub rieselte von der Decke. Chiamh beeilte sich, sich zu entschuldigen – er hatte bereits herausgefunden, daß sein neuer Gefährte zur Reizbarkeit neigte.

Es war wahrlich ein Tag der Überraschungen. Zuerst hatte seine Vision ihn zu der Entdeckung der hellen Mächte geführt, dann die Ankunft der Fremden – und jetzt dies hier! Chiamhs Gedanken überschlugen sich. Bei seiner Rückkehr aus den Kerkern hatte er sich zu den Küchengewölben hingetastet, um sich etwas zu essen zu holen, denn er hatte seit dem vergangenen Abend nichts mehr zu sich genommen und war in den dazwischenliegenden Stunden schnell und weit gereist, sowohl körperlich als auch mit seiner Andersicht. Zurück in seinen Gemächern, hatte er erschöpft eine Weile geschlafen, aber als er wieder aufwachte, hatte er keine Zeit verloren, sein überaus merkwürdiges Gespräch mit Basileus wiederaufzunehmen.

Einen Vorteil hatte die Gedankenübertragung auf jeden Fall – man konnte gleichzeitig essen und sich unterhalten! Chiamh stopfte sich Brot und Käse in den Mund. »Du hast von Brüdern gesprochen – gibt es noch mehr von euch?«

»Natürlich. Alle Berge um uns herum sind Moldan. Dein Mangel an Wissen erstaunt mich – vor allem, da du dich doch häufig in einem anderen Teil meines Körpers aufhältst

Die Vision seines eigenen Turms, in dessen Spitze die Kammer der Winde lag, kam Chiamh in den Sinn. Das Windauge runzelte die Stirn. »Aber wie kannst du das sein, wenn du dies hier auch bist?« Er zeigte auf den Raum, in dem er sich befand. »Wir kannst du an zwei Orten gleichzeitig sein?«

Basileus seufzte. »Heb deine Hand«, befahl er. »Ist diese Hand ein Teil von dir

»Aber natürlich ist sie das?«

»Gut. Jetzt hebe die andere Hand. Siehst du, du hast zwei Hände, die beide eindeutig voneinander getrennt sind – aber trotzdem sind doch alle beide ein Teil von dir. Mein Bewußtsein residiert im gesamten Windschleierberg, und die Wurzeln eines Berges – und eines Moldan – können sich sehr weit erstrecken! Es funktioniert nach demselben Prinzip wie bei dir und deinen Händen. Sowohl dieser Ort als auch der Turm sind ein Teil von mir – so wie übrigens auch all die kleineren Unterkünfte auf den Berghängen

»Wirklich?« Jetzt war das Interesse des Windauges endgültig geweckt. Er hatte sich schon lange über diese seltsamen Gebilde Gedanken gemacht. »Warum hast du sie gebaut?« erkundigte er sich eifrig. »Sind es wirklich Unterkünfte, so wie es aussieht? Für wen waren sie gedacht?«

Die Antwort des Moldan ließ ihn seine Neugier bedauern. Chiamh schrie auf und preßte sich die Hände an den Kopf, als eine Woge des Schmerzes über ihn hinwegspülte; ein Kummer, der so tief war, daß eine sterbliche Seele ihn nicht ertragen konnte. »Hör auf«, rief er, und Tränen strömten ihm übers Gesicht. »Ich bitte dich – hör damit auf!«

»Es muß erzählt werden«, knirschte der Moldan. »Nur wenn wir es erzählen, haben wir eine Chance, ihm ein Ende zu setzen.« Mit einer Stimme, die schwer von Kummer war, sprach er von den Dwelven, dem Zwergenvolk, den Kameraden, ohne die die Moldan grausam verstümmelt waren. »Sie waren unsere Brüder«, seufzte er, »und für sie haben wir aus unseren Knochen Unterkünfte gemacht. Wir haben sie ernährt; wir, die wir stark und weise, aber auch fest verwurzelt und starr waren. Sie haben sich um uns gekümmert, haben unser Land gehegt und gepflegt und uns vor menschlichen Steinhauern bewahrt. Wenn die Dwelven ins Mannesalter eintraten, bereisten sie die Welt und kehrten, wenn sie wiederkamen, mit Geschenken zurück und mit Erzählungen über große Taten und Neuigkeiten von weit entfernten Orten.« Der Moldan hielt inne. »Das Zusammenspiel hat über viele, viele Jahrhunderte hinweg gut funktioniert, bis die Zauberer – die, die du die Mächte nennst – sich eingemischt haben!« Chiamh hörte noch genauer zu. Schon wieder diese Mächte? Das konnte doch kein Zufall sein, oder?

»In ihrer Arroganz«, fuhr Basileus fort, »schufen die Zauberer den Stab der Erde. Die Kühnheit dieser armseligen Geschöpfe – in unserem Element mit der Hohen Magie herumzuspielen!« Der Zorn des Moldan ließ das Gebäude erschauern, und Chiamh zitterte.

»Was habt ihr getan?« fragte er.

»Was konnten wir tun? Vergeblich schickten wir Abgesandte der Dwelven aus, um zu protestieren – die Zauberer sagten nur, wir sollten uns um unsere eigenen Angelegenheiten kümmern. Dann …« Ein Beben durchlief die Steine der Festung. »Dann kam der schwärzeste Tag in unserer Geschichte. Die Zauberer experimentierten mit dem Stab, und Ghabal, der mächtigste von uns, fand einen Weg, sich dessen Macht zunutze zu machen. Er benutzte sie dann, um die Schranken seines steinernen Leibes hinter sich zu lassen. Als Riese trat er in die Welt – in menschlicher Gestalt, aber von der Größe eines Berges

Basileus seufzte. »Aber die Macht des Erdenstabs war zuviel für ihn. Er wurde wahnsinnig und gewalttätig. Er wollte, so sagte er, eine Schranke zwischen die Moldan und die Zauberer legen. In diesen Tagen waren der Norden und der Süden noch eine einzige Landmasse, ohne ein Meer dazwischen – bis Ghabal die Knochen der Erde brach und eine Meerestiefe zwischen den beiden Ländern schuf, dort wo einst ein schönes und fruchtbares Königtum lag.« Die Stimme des Moldan war von Bedauern gedämpft. »Das Leben Tausender war verloren, als das Meer einströmte, und ich glaube, daß Ghabal den Tod eines jeden von ihnen selbst spürte. Sie haben ihn natürlich bestraft. Nachdem sie all ihre Kräfte zusammengetan hatten, brachten die Zauberer den Stab der Erde wieder unter ihre Kontrolle und benutzten ihn, um Ghabal zu unterwerfen. Und sie besaßen das perfekte Gefängnis. Sie hatten in ihrer Stadt einen großen, künstlichen Steinhügel geschaffen, auf dessen Spitze sie ihre Zitadelle erbaut hatten, und dort schlossen sie Ghabals gequälten Geist ein, versiegelten ihn in leblosem Stein. Und dann kamen sie hierher, um seinen Körper so zu zerstören, daß er keine Hoffnung mehr haben konnte, jemals zurückzukehren

»Stahlklaue!« stieß Chiamh hervor und dachte an den Gejagten Berg, der hinter dem Windschleier lag. Kein Xandim setzte jemals einen Fuß auf diesen Berg – die Legende besagte, daß jeder, der eine Nacht auf Stahlklaue verbrachte, dem Wahnsinn anheimgefallen war, falls er überhaupt jemals zurückkehrte. Der Berg reichte aus, um selbst die kühnste oder verwegenste Seele in Angst und Schrecken zu versetzen – Chiamh hatte immer gewußt, daß ihn irgendwann einmal ein unvorstellbares Unheil befallen haben mußte. Der Felsen war zerrissen und verzerrt, gequält und geschmolzen, beinahe bis zu seinen Wurzeln hinab. Nur drei gezackte Stumpen waren übriggeblieben, die wie Klauen in den Himmel ragten. Der bloße Anblick dieses Berges ließ das Windauge an Schmerz denken.

»Ja, in der Tat, Stahlklaue«, antwortete Basileus. »Die Überreste von Ghabal, der einst der größte und schönste von uns allen war. Hätten die Zauberer die Angelegenheit darauf beruhen lassen … Aber in ihrem Zorn haben sie uns alle bestraft. Sie nahmen uns die Dwelven – unsere Augen und Ohren und die einzigen, die uns außer den Zauberern hören konnten. Sie brachten sie auf die andere Seite des Meeres, von wo sie nicht zurückkehren konnten. Die Zauberer schickten sie unter die Erde und belegten sie dann mit einem Zauber: Wenn sie jemals ans Licht zurückkehrten, sollten sie sterben. Ohne die Dwelven lebten wir in Einsamkeit, gefangen in einem Wachtraum. Aber jetzt können wir es wagen, neue Hoffnung zu schöpfen, denn die Welt verändert sich. Vor nicht allzu langer Zeit begann mein Verstand zu erwachen und wieder umherzustreifen – um dich zu finden, obwohl du nicht der Grund dafür warst. Der Stab der Erde ist wieder da. Ich spüre, daß er immer näher kommt.« Der Ton des Moldan verriet seine Erregung. »Diese Zauberer haben irgend etwas vor, oder ich will ein Kieselstein sein! Kleines Windauge, weißt du irgend etwas von diesen Dingen

Chiamh runzelte die Stirn. »Vielleicht«, sagte er. »Letzte Nacht hatte ich eine Vision, und jetzt sind Fremdländer in unserem Land aufgetaucht …« Hastig erzählte er Basileus, was geschehen war.

»In der Tat«, stimmte der Moldan ihm zu, nachdem er seine Erzählung beendet hatte. »Diese Dinge müssen miteinander zusammenhängen. Und du glaubst, deine Anführer werden diese Fremden hinrichten

»Bestimmt. So will es unser Gesetz.«

»In diesem Fall müssen wir schnell handeln, um sie zu retten

»Kannst du mir helfen, sie herauszubringen?« fragte Chiamh eifrig. »Könntest du vielleicht einen Weg schaffen, der aus den Kerkern herausführt?«

»Leider nicht«, seufzte Basileus. »Es würde viel zu lange dauern, einen solchen Gang zu schaffen – und es wäre ohnehin sinnlos. Man hat die Gefangenen an einen anderen Ort gebracht

»Was?« schrie Chiamh auf. »Aber ihre Hinrichtung ist doch erst morgen!«

»Du weißt nicht, wie viele Stunden vergangen sind, kleines Windauge. Du warst sehr lange in meinem Körper, um den Kerker zu finden, und noch länger hat es gedauert, bis du wieder zurückkommen konntest. Als du dann endlich wieder in deinen Gemächern warst, hast du noch geschlafen, bevor wir unser Gespräch wiederaufnehmen konnten. Nach euren Lichtern zu urteilen, ist es bereits Morgen. Um die Gefangenen zu retten, mußt du jetzt sehr schnell handeln – wenn es nicht bereits zu spät ist

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