26 Ein neuer Tag bricht an

Aurian lehnte sich gegen die eisige Steinbalustrade der Landeplattform und sah zu, wie der Himmel im Osten langsam hell wurde. In dem matten Zwielicht der Morgendämmerung sah die Stadt Aerillia fremdartig und geheimnisvoll aus mit ihren hohen Strebepfeilern und den sowohl schönen als auch grotesken Schnitzereien, mit den geschwungene Bögen, die den Stein aufs Geratewohl durchbrachen, mit den Türmen und Türmchen und dem absoluten Fehlen von Straßen oder irgendwelchen Gebäuden, die normal und eingeschossig waren und dem menschlichen Auge das Gefühl von Vertrautheit vermittelt hätten.

Die Magusch schob die Kapuze ihres Umhangs zurück und zitterte, während der eisige Morgenwind die Spinnweben der Müdigkeit aus ihrem Kopf vertrieb. Sie versuchte verzweifelt, sich auf eine Möglichkeit zu besinnen, wie sie Anvar rechtzeitig zu Hilfe kommen konnte – wenn es nicht schon zu spät war. Er befand sich bereits jenseits der Grenzen der irdischen Welt, und wenn er dort starb, würde sie es nicht spüren. Unglücklich ließ Aurian den Kopf auf ihre ausgestreckten Arme sinken. »Du verflixter Kerl, Anvar«, seufzte sie. »Warum mußtest du das tun, gerade als ich mir endlich eingestanden habe, daß ich dich liebe?«

Aurian fühlte sich hilflos und niedergeschlagen. Chiamhs Worte hatten sie mit Entsetzen und Angst erfüllt, denn ohne den Stab der Erde konnte sie nicht in das Reich der Hohen Magie eindringen und Anvar zu Hilfe kommen. Zu der furchtbaren Angst, die sie um ihren Geliebten hatte, gesellte sich noch eine andere, noch tiefere Sorge. Wenn sie den Stab der Erde verloren hatte, besaß sie nichts mehr, womit sie kämpfen konnte. Dann gab es nichts mehr, was sie tun konnte, um Miathan aufzuhalten.

Die Magusch blinzelte in das heller werdende Licht und versuchte, sich weiszumachen, daß ihr verschwommener Blick von Müdigkeit und nicht von Tränen herrührte. Plötzlich erstarrte Aurian und blickte mit schmal gewordenen Augen in das verwirrende Morgenlicht. Das war nicht das Licht der Sonne, es war heller, farbenreicher. Gewaltige Strahlen eines juwelenartigen Lichts schossen gen Himmel wie eine Göttin der Morgenröte. Das Licht kam aus der falschen Richtung: nicht von Osten, sondern von Nordosten – von den Ruinen des Tempels!

Mit einem unterdrückten Fluch wirbelte Aurian herum und rief nach den Himmelsleuten, die Elster den flügellosen Besuchern in ihrem luftigen, unzugänglichen Turm zur Seite gestellt hatte. »Beeilt euch!« rief sie, als die Männer mit verschlafenen Augen aus ihrem Zimmer traten. »Holt eure Netze! Ich muß sofort zum Tempel!«


Das Innere des gewaltigen Baums der Cailleach war so dunkel, daß nicht einmal ein nachtsichtiger Magusch es durchdringen konnte. Anvar tastete in Panik nach der Tür, um ein wenig Licht in den Raum hineinzulassen, aber so sehr er auch versuchte, sich durch die undurchdringliche Dunkelheit zu kämpfen, seine Hände trafen doch nur auf leere Luft. Mit einem gemurmelten Fluch ließ der Magusch seine Kräfte in den Stab der Erde fließen. Das Juwel zwischen den Kiefern der Schlange flackerte auf und vertrieb mit seinen smaragdgrünen Blitzen die Dunkelheit. Aber seine Magie war fremd in dieser zeitlosen Welt. Ein anderer Wille setzte sich ihr entgegen: eine Macht, die viel älter war als der Stab und viel, viel stärker. Das große Juwel flackerte, und sein Leuchten schmolz zu einem winzigen, kläglichen, leuchtkäfergroßen Glühen. Bevor Anvar Zeit fand, seine Umgebung näher zu betrachten, schloß sich die Dunkelheit von neuem um ihn herum – bis auf einen bleichen Lichtstreifen, den er nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte.

Der Magusch drehte sich stirnrunzelnd um. Was war das? Als sein Blick darauf fiel, leuchtete das Phantom auf und wurde größer, und der schmale Lichtbalken weitete sich wie ein Fenster, das sich langsam öffnet – ein Fenster in eine andere Welt. Anvar versteifte sich. War das wieder einer der Tricks, mit denen die Herrin der Nebel ihn verwirrte? Die dünne Linie des Lichts zitterte, wölbte sich und wurde flüssig, bis sie schließlich eine Folge vertrauter Gestalten annahm: ein Schwan, eine Krone, eine Rose, ein springender Lachs. Und dann endlich – eine Harfe.

Das Licht flackerte zu durchscheinender Helligkeit auf und wurde schließlich zu einem dicken, schillernden Strahl, der sich auf den Magusch richtete wie ein drohender Zeigefinger. Anvar stieß einen wortlosen Entzückensschrei aus. Der unirdische Gesang der Sternenmusik durchflutete seinen Geist, als die Macht der Gramarye durch seinen Körper lief und ihn verzehrte, bis sein jagendes Blut zu geschmolzenem Feuer verwandelt war. Nicht einmal mit dem Stab der Erde in Händen hatte ihn solcher Jubel erfüllt! Ein Gefühl der Rechtmäßigkeit und des Besitzes überflutete ihn aus irgendeiner äußeren Quelle und hallte in seinem Herzen wider, als er die Macht der Harfe annahm und das Artefakt damit für sich beanspruchte.

Als das Licht jäh erlosch, war es, als zerrisse ein Peitschenschlag seine Seele. Es war, als risse ihm jemand das Herz aus der Brust. Anvar, der von den Nachwirkungen einer solch gewaltigen Macht noch wie betäubt war, kam mit einem Ruck wieder zu Verstand. Die Harfe selbst gehörte ihm immer noch nicht. Obwohl er sie für sich beansprucht hatte, war sie noch nicht sein Besitz. Und wo war während dieser langen Zeit seine Feindin gewesen? Hatte er sie mit dem Stab zerstört? Anvar bezweifelte es. Sie war gewiß ganz in der Nähe, um ihre Kräfte zu sammeln – und wenn sie zurückkehrte, sollte er besser gut vorbereitet sein.

»Ich werde dir die Augen öffnen«, wisperte die Sternenstimme der Harfe. Die unruhigen Nachbilder des Lichtstrahls wichen von Anvars Augen. Blinzelnd sah er eine riesige, kreisförmige Kammer, die sich durch den ganzen Baumstamm zog. Jetzt nahm er die Wände mit anderen Augen wahr. Sie bestanden nicht mehr aus einer silbrigen Verschmelzung von Wald und Stein, sondern waren durchscheinend wie Sonnenlicht. Im Inneren des Stammes sah er den Puls des Baumes, der in feinen, perlmuttartigen Strömen durch Kanäle im Holz pochte. Und dort, direkt ihm gegenüber, erblickte er die silbernen Umrisse einer Harfe. Sie glitzerte nur schwach, als schwimme sie in dem Holz wie ein Lachs unter der Oberfläche eines Flusses. Anvars Herz machte einen Sprung. Er stürzte quer durch den Raum, steckte sich den Stab in den Gürtel und preßte seine Hände gegen die Wand, in der er die Umrisse der Harfe spüren konnte. Zu seiner vollkommenen Verblüffung sanken seine Finger in das Holz ein, als wäre es so durchlässig wie Wasser. Der Gesang der Harfe erreichte in Anvars Gedanken seinen Höhepunkt. »Befrei mich«, sang sie. »Du mußt mich befreien …«

Der Magusch holte tief Luft und drückte seine Finger tief in den Baum hinein, seine Hände schlossen sich um eine ungleichmäßige Gestalt, und seine Finger spürten die glatten, geschwungenen Umrisse von Schnitzereien. Ein jubilierender, glückseliger Sternengesang durchflutete Anvars Gedanken, als er die Harfe aus ihrem Gefängnis befreite und triumphierend hochhielt.

Der Magusch konnte seine Augen nicht von dem Artefakt abwenden. Er war wie gebannt von seiner unglaublichen Schönheit. Die Harfe bestand nicht aus Holz, sondern aus einem seltsamen, durchscheinenden, kristallinen Stoff, der im Feuer seines eigenen, inneren Lichts wie ein Diamant schimmerte. Die Schnitzereien an seinem Rahmen stellten eine endlose Folge geflügelter Gestalten dar: Vögel vieler verschiedener Gattungen, angefangen von einfachen Zaunkönigen und Spatzen bis hin zu den großen, majestätischen Adlern und Schwänen. Als Anvar die Harfe in seinen Händen hin- und herdrehte, sah er Eulen, Fledermäuse, glitzernde Nachtfalter und schillernde Libellen. Seine Finger strichen nicht ohne ein Schaudern über die winzige Gestalt einer geflügelten Frau. Alle Geschöpfe der Luft zierten die Harfe der Winde, deren Rahmen aus flüssigen Silberschwaden bestand, die eine Verkörperung des Windes selbst zu sein schienen. In seinem ganzen Leben hatte Anvar noch nie etwas so Vollkommenes gesehen. Nur eines störte ihn: Der glitzernde Rahmen umspannte nichts als Leere.

»O ihr Götter, wo sind die Saiten?« In seinem Entsetzen bemerkte Anvar nicht, daß er die Worte laut ausgesprochen hatte. Ein gackerndes Lachen erklang hinter ihm, und der Magusch wirbelte erschrocken herum. Dort stand sie, die Herrin der Nebel, ihr Gesicht jung und makellos und ihr Haar weiß wie Frost vor der Schwärze ihres Federumhangs.

»Hast du wirklich geglaubt, es würde so einfach sein, Zauberer«, verhöhnte sie ihn. »Daß du einfach nur in den Baum hineinzugreifen und die Harfe zu nehmen brauchst? Also wirklich, das hätte jeder Idiot gekonnt!«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Anvar kalt. »Nicht ohne die Einwilligung der Harfe.« Er bemerkte ein zustimmendes Glitzern in den Augen der Cailleach.

»Wie ich schon früher festgestellt habe, du bist sehr scharfsichtig, Zauberer«, erwiderte die Herrin der Nebel, »und ein würdiger Gegner. Ich möchte, daß du weißt, daß ich nicht aus freiem Entschluß gegen dich kämpfe – aber ich bin beauftragt, die Harfe zu beschützen, und das muß ich auch tun. Nur einer, der es wirklich wert ist, darf sie gewinnen, denn wenn sie in die irdische Welt zurückkehrt, wird sie dort eine echte Gefahr sein.«

»Na und?« Anvars Antwort war eine Herausforderung.

Die Cailleach lächelte. »Die ersten beiden Tests hast du bestanden. Du hast den Sukkubus überwunden und dann die Zustimmung der Harfe gewonnen, so daß du sie befreien konntest. Glaub mir, Anvar, hätte die Harfe es nicht anders gewollt, wärest du in dem Augenblick, in dem du deine Hand in den Baum geschoben hast, unter qualvollen Schmerzen gestorben. Nun mußt du die Windharfe wiedererschaffen, so wie seinerzeit der Stab der Erde wiedererschaffen wurde. Du hältst den Rahmen in deinen Händen, Zauberer – womit wirst du dieses Artefakt der Hohen Magie nun besaiten?«

Die Harfe war keine Hilfe. In den Tiefen seiner Gedanken sang sie: »Du mußt mich vervollständigen – mach mich wieder ganz!«

»Wie?« fragte Anvar.

Ein schimmerndes Seufzen kam von der Harfe. »Das darf ich nicht sagen.«

Anvar blickte entsetzt zu der Cailleach hinauf. In seinem Herzen wußte er, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Er hatte es die ganze Zeit über gewußt, aber wie sollte er seine Aufgabe lösen und die Harfe gewinnen? Da fiel ihm wieder Aurians Bericht über den Drachen ein, und er fragte: »Darf ich Fragen stellen?«

»Nein«, antwortete die Herrin der Nebel. »Das darfst du nicht.«

»Dann gib mir Zeit zum Nachdenken.« Aber wie sehr er auch in seinem rastlosen Geist nach einer Lösung suchte, Anvar fiel nichts ein. Das Ganze ist einfach lächerlich, dachte er. Als Aurian ihm ihre Erlebnisse in Dhiammara beschrieben hatte, hatte sich die ganze Sache viel leichter angehört.

»Warum gibst du es nicht einfach auf?« unterbrach die Cailleach seinen Gedankengang. »Bleib statt dessen lieber hier und werde mein Geliebter. Ich kann jede Frau sein – alle Frauen …«

Vor Anvars Augen begann sie sich zu verändern; ihre makellosen Züge nahmen eine andere Gestalt an, ihr Haar wechselte die Farbe, ein ums andere Mal. Als er plötzlich Sara erblickte, war es, als hätte man eine alte Wunde aufgerissen. Dann sah er Eliseths kalte und vollkommene Schönheit und schließlich seine Mutter, so wie Ria in ihrer Jugend ausgesehen haben mußte … Die Folge von Frauen ging weiter und weiter, und eine jede war schöner als die vorherige. Zornig wandte Anvar sich ab. »Hör damit auf!« fuhr er die Cailleach an. »So schön du auch sein magst, Herrin, ich habe kein Interesse daran, hier bei dir zu bleiben. Ich habe mein Herz bereits verschenkt – einer anderen.«

»Ach wirklich?« erkundigte die Cailleach sich mit seidenweicher Stimme. »Nach dem, was ich in deinen Gedanken gelesen habe, als du dich dem Zeitlosen See genähert hast, ist das Herz deiner Liebsten ebenfalls vergeben – und zwar nicht an dich.«

»Das ist eine Lüge!« rief Anvar. »Sie braucht nur Zeit, das ist alles!«

»Wieviel Zeit? Einen Monat? Ein Jahr? Für immer? Deine Lady ist unlenkbar, Anvar, und ihre Trauer hat sie fast um den Verstand gebracht. Kannst du sicher sein, daß sie das Andenken ihres toten Liebsten betrügen wird? Und das ausgerechnet mit demjenigen, der indirekt für seinen Tod verantwortlich war?« Die Macht der Stimme, mit der die Cailleach nun sprach, hatte etwas zutiefst Hinterhältiges. Ihre Mondsteinaugen hielten den Blick des Magusch fest, hypnotisch und glitzernd wie Schlangenaugen. Anvar wollte protestieren – wollte leugnen, was sie sagte, aber er fand keine Worte, denn sie hatte mit grausamer Zielsicherheit jenen dunklen Punkt des Zweifels im tiefsten Kern seiner Seele berührt.

»Warum willst du das Risiko eingehen? Warum, wenn ich doch alles sein kann, was Aurian ist – und mehr!« Als die Cailleach wieder zu sprechen begann, veränderte sie sich von neuem – und der Magusch sah sich plötzlich seiner Geliebten gegenüber. Aurian, so wie sie vor langer Zeit in Nexis gewesen war, bevor die Entbehrungen sie hart gemacht hatten und Trauer und Rachsucht ihrem Blick etwas Stählernes gegeben hatten. Statt dessen erlebte Anvar nun atemlos, wie sie ihn ansah – ihn – mit einem Ausdruck in den Augen, der bisher immer für Forral reserviert gewesen war.

Anvar krampfte seine Finger um den Rahmen der Harfe, damit seine Hände zu zittern aufhörten. Aurian machte einen Schritt nach vorn und streckte die Arme aus, um ihn an sich zu ziehen. »Mein Geliebter …« hauchte sie.

»… so lange ich dich habe, habe ich auch Hoffnung.« Als diese letzten Worte, die die wahre Aurian zu ihm gesprochen hatte, durch seine Gedanken hallten, war der Bann der Cailleach plötzlich gebrochen.

»Laß mich in Frieden!« fauchte der Magusch. »Was soll ich mit einem schalen Ersatz, wenn ich doch die wirkliche Liebe meiner Auserwählten haben kann?«

Mit einem blendenden Lichtblitz verschwand die Vision von Aurian. Die Cailleach stand wieder in der Gestalt einer alten Frau vor ihm – und zu Anvars Erstaunen lächelte sie. Sie war nicht länger die Verführerin, nicht länger eine gewaltige Gestalt voller Majestät, sondern sah jetzt aus wie eine weise und freundliche Großmutter. »Zauberer, du hast den Test bestanden«, sagte sie sanft. »Du bist der Harfe wahrhaft würdig – denn nur einem Geschöpf mit einem wirklich liebenden und treuen Herzen kann ich so sehr vertrauen, daß ich ihm eine so gewaltige Macht mit in die Welt gebe.«

Mit diesen Worten nahm die Herrin der Nebel ein silbernes Messer aus ihrem Gürtel und schnitt sich eine Locke aus ihrem langen Haar. Dann streckte sie die Hand nach der Harfe aus, die der erschrockene Magusch noch immer fest umklammerte, und ließ ihre Finger über das glitzernde Artefakt gleiten. Die schneeweiße Locke verschwand, verwandelte sich in einen Wasserfall silberner Saiten, die nun den Rahmen der Windharfe zierten. Ungeheure Macht schäumte in Anvar auf, und glückseliger Sternengesang durchflutete ihn. Der Stab der Erde, der in seinem Gürtel steckte, flammte in einem wunderbaren grünen Licht auf, um sich dem silbernen Funkeln der Harfe anzuschließen. Die Herrin der Nebel hob noch zum Abschied die Hand …

… und Anvar fand sich auf einem verschneiten Berggipfel wieder und blickte in die Sonne, die sich über Aerillia erhob. Eine letzte Botschaft der Cailleach hallte durch seine Gedanken, und in seinen Händen lag die Harfe der Winde.


Die Träger der Himmelsleute waren über das anschwellende Leuchten, das aus den Ruinen des Tempels kam, zutiefst erschrocken. Nur die Tatsache, daß sie vor Aurian noch mehr Angst hatten, brachte sie dazu, die Magusch überhaupt dorthin zu fliegen. An Ort und Stelle angekommen, ließen sie sie jedoch mitsamt ihrem Netz mitten auf die Trümmer des Gebäudes fallen und flohen, als gelte es ihr Leben.

Die Magusch befreite sich aus den Maschen des Netzes und bahnte sich ihren Weg über Schotter und Trümmer direkt auf die Quelle des unirdischen Lichtes zu. Ihr Schwert – ihr lieber, vertrauter Coronach, den sie aus Incondors Turm hatte retten können – lag fest in ihrer Hand, aber sie bemerkte doch, daß ihr die beruhigende Macht des Erdenstabes fehlte. Sie hatte keine Ahnung, was sich hinter dem flackernden Regenbogenleuchten verbarg – aber soviel stand fest: Es lag mit Sicherheit jenseits der Reichweite jeder menschlichen Waffe. Trotz der Furcht, die ihr Herz rasen ließ, ging Aurian mitten hinein in das Herz des Leuchtens, das sie so unwiderstehlich anzog wie eine Kerze die Motte.

Als die Magusch sich noch einen Schritt weiter wagte, begann das funkensprühende Leuchten zusammenzufallen und zu schmelzen, um eine menschliche Gestalt zu formen, die ganz in blendendes Licht eingehüllt war. Eine schlaksige, geschmeidige, herzzerreißend vertraute Gestalt …

»Anvar!« rief Aurian. Dann stürzte sie nach vorn und achtete dabei nicht auf die Steine, die unter ihren Füßen gefährlich ins Rutschen gerieten. Ihr Herz flog ihr voraus. Dann umarmten sie einander und lachten und weinten und redeten gleichzeitig.

»Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen!«

»Dank den Göttern, daß du in Sicherheit bist!«

»Geht es dem Kind gut?«

»Wo bist du gewesen

Während ihre Worte sich überschlugen, begannen sie beide wieder zu lachen und klammerten sich mit einer leicht hysterischen Heiterkeit aneinander, die reiner Erleichterung entsprang. Aurian wischte sich die Tränen des Glücks vom Gesicht und sah Anvar an. Seine blauen Augen verbanden sich in einem Aufblitzen von Licht mit den ihren, und Aurian erzitterte, verblüfft über ihr eigenes Verlangen. »Mein Geliebter …« hauchte sie.

Anvar zog sie an sich, und als seine Lippen die ihren berührten, spürte sie das feurige Aufflammen der Leidenschaft – dieselbe explosive, machtvolle Woge der Liebe und Sehnsucht, die sie vor so langer Zeit unwissentlich benutzt hatte, um Anvar in den Sklavenlagern der Khazalim aus den Fängen des Todes zu befreien. Und genauso wie damals schienen ihre Seelen sich zu berühren – schienen sich zu begegnen und miteinander zu verschmelzen, als Aurian die Glückseligkeit Anvars spürte, die sich mit ihrer eigenen mischte und sie beide auf die höchsten Gipfel trug …

Aurian keuchte. Niemand hatte ihr je gesagt, wie die Liebe zwischen zwei Magusch sein konnte! Da sie früher einen sterblichen Geliebten hatte, hatte sie diese tiefe, intensive Verbindung der Herzen und der Gemüter nie erfahren. Die Magusch spürte Anvars verblüffte Freude in ihren Gedanken, die zu ihrem eigenen, schwindelerregenden Glück paßte und es noch vergrößerte. Sein Mund legte sich gierig auf den ihren, und seine Hand erkundete ihr Gesicht und ihren Körper und fachte die Lust an, die sie so lange hatte vermissen müssen. Sie bemerkten beide nicht, wie scharf die Steine waren, als sie zu Boden sanken. Und dort, auf den Überresten des Yinze-Tempels, in den Ruinen eines Traumes, den ein böser Priester geträumt hatte, erfüllten Anvar und Aurian endlich eine Liebe, die mit Not und Elend begonnen und sie um die halbe Welt geführt hatte, um zuerst Freundschaft und schließlich Leidenschaft zu werden.


Als sie endlich in der Lage waren, irgend etwas anderes als einander wahrzunehmen, stand die Sonne bereits hoch genug, um über die zerschmetterten Wände in den zerstörten Tempel hineinzuspähen. Anvar seufzte zufrieden und streckte die Hand aus, um Aurian eine widerspenstige Locke von ihrer glühenden Wange zu streichen. »Du warst es wahrhaftig wert, daß ich auf dich gewartet habe«, flüsterte er ihr sanft ins Ohr.

Aurian grinste schelmisch. »Plötzlich verstehe ich gar nicht mehr, warum ich dich so lange habe warten lassen!«

»Du warst noch nicht bereit, meine Liebste«, antwortete Anvar ihr ernst – dann erwiderte er ihr Lächeln. »Abgesehen davon, daß du natürlich das abscheulichste, sturste und widerspenstigste Weib warst …«

»Na, wenn das keine Frechheit ist«, polterte Aurian, aber Anvar brachte ihren Protest mit einem Kuß zum Schweigen.

»Was ist mit dem Kind passiert?« fragte er sie, als sie beide wieder atmen konnten. Einen Augenblick lang bewölkte sich Aurians Miene – dann hob sie entschlossen das Kinn.

»Es ist wunderschön«, sagte sie mit fester Stimme. »Und es wird wieder in Ordnung kommen, das weiß ich. Wir müssen nur eine Möglichkeit finden, Miathans Fluch aufzuheben.«

Anvar hörte mit wachsender Traurigkeit und Sorge zu, als Aurian ihm von Wolf erzählte. Er wollte gerade etwas sagen, als er jäh unterbrochen wurde.

»Willkommen daheim, Anvar!« Die Stimme in seinen Gedanken kam natürlich von Shia, und Aurians schiefes Lächeln verriet ihm, daß auch sie die Katze gehört hatte. »Aurian – ich sollte dich vielleicht warnen, daß die Leute hier angefangen haben, nach dir zu suchen«, fuhr die große Katze fort, und ihre Stimme nahm plötzlich einen spöttischen Klang an. »Ansonsten hätte ich es natürlich nie gewagt, euch zu stören …«

»Du hast gelauscht?« Anvar spürte, wie sein Gesicht heiß wurde, und als er zu Aurian hinüberblickte, sah er, daß auch sie errötet war.

»Es ließ sich ja kaum vermeiden, euch zu hören«, schnaubte Shia. »Ich würde sagen, daß eure Gefühle im ganzen Land der Xandim deutlich zu vernehmen waren!« Ihre Gedankenstimme wurde plötzlich leiser, und sie hörte auf, sie zu necken. »Ich freue mich ja so für euch beide. Unglücklicherweise wird die Welt jedoch nicht auf euch warten. Rabe hat euch etwas zu sagen …«

»Na schön, wir kommen ja schon«, seufzte Aurian resigniert. »Das heißt, sobald wir ein paar Geflügelte vom Himmel herunterwinken können, damit sie uns zu euch tragen.«

Sie rollte sich zur Seite und fluchte. »Autsch! Worauf liege ich denn da bloß?«

»O ihr Götter«, rief Anvar entsetzt. »Das habe ich ja vollkommen vergessen! Die Harfe, Aurian! Ich habe die Windharfe!«

»Was?« rief Aurian. »Warum hast du mir das denn nicht vorher gesagt, verflixt noch mal?«

Anvar grinste. »Nun ja, ich war vorher gewissermaßen etwas abgelenkt … Hier, wir sollten uns lieber wieder anziehen, bevor wir erfrieren, und dann werde ich sie dir zeigen. Aber immer eins nach dem anderen.« Anvar gab Aurian den Stab der Erde mit einer Verbeugung zurück. »Ich glaube, das gehört dir, Lady.«

Die Freude und Erleichterung, die sich in Aurians Gesicht widerspiegelte, als sie den Stab entgegennahm, ließ Anvar lächeln. Dann hielt er ihr die Harfe hin, und ihre Augen weiteten sich vor Staunen, als sie der schimmernden Schönheit des Artefakts gewahr wurde.

»O Anvar …« Aurian wollte die Windharfe ergreifen, aber als sie die Hand danach ausstreckte, durchflutete Anvar plötzlich ein seltsamer und mächtiger Widerwille, das Artefakt einem anderen zu überlassen. Die Harfe schien einem Wechsel ihres Beschützers mit ähnlicher Mißbilligung entgegenzusehen. Schrille Vibrationen durchzuckten Anvars Körper, als sie mißtönend zu schwirren begann. »Nein …« sang sie ihm zu. »Nein!« Beinahe aus eigenem Willen schien sie vor Aurians ausgestreckten Händen zurückzuzucken, und Anvar wurde steif vor Bestürzung, als er ihr Stirnrunzeln sah. Ein Schatten schien sich zwischen sie zu senken. Dann entspannte Aurian sich und schüttelte mit einer etwas gequälten Grimasse den Kopf. Da wagte Anvar es endlich, wieder zu atmen.

»Nun, die Harfe weiß jedenfalls genau, was sie will – und das scheine nicht ich zu sein«, sagte Aurian ein wenig kläglich. »Wie dumm von mir – ich hätte es wissen müssen. Alles paßt zusammen, Anvar. Du hast die Harfe gewonnen, so wie ich den Stab gewonnen habe – und um ehrlich zu sein, du bist schließlich der Musiker, nicht ich.« Sie holte tief Luft. »Es hätte einfach nicht vollkommener sein können.«

Anvar war überwältigt und gedemütigt von solcher Großzügigkeit. »Aber du solltest doch eigentlich die Artefakte finden«, protestierte er.

Aurian schüttelte den Kopf. »Das hat nie jemand behauptet, weder der Drache noch der Leviathan. Sie haben nur gesagt, daß alle drei notwendig wären. Der Drache sagte, daß das Schwert mir gehören würde, aber was die anderen Artefakte betrifft … Anvar, ich bin wirklich froh, daß du die Harfe hast. Nach dem, was wir gerade miteinander geteilt haben, könnte ich es nicht ertragen, wenn die Artefakte sich zwischen uns stellen würden.«

Anvar umarmte sie – bei den Göttern, es sah so aus, als könnte er einfach nicht genug von ihr bekommen. »Du wirst die Harfe auch benutzen können, wenn es sein muß«, versprach er ihr. »Ich werde ihr schon Manieren beibringen – aber im Augenblick ist sie noch so neu für mich.«

Aurian nickte ernsthaft. »Ich weiß genau, was du meinst. Wenn ich daran denke, welche Kämpfe es mich gekostet hat, bevor ich den Stab zu beherrschen gelernt habe …« Sie seufzte. »Und da wir schon vom Kämpfen sprechen, es wird langsam Zeit, daß wir hier verschwinden. Wir haben noch einiges mit Rabe zu besprechen, und dann muß ich unbedingt zurück zu Wolf. Und wenn wir die Xandim dazu bringen können, uns zu helfen …« Sie zögerte, und ihre grünen Augen schienen in weite Fernen zu blicken.

»Was dann?« drängte Anvar sie weiter.

Aurians Gesichtsausdruck wurde hart. »Dann gehen wir zurück nach Norden, nach Nexis, um Miathan zu besiegen – und Eliseth.« Sie schauderte. »O ihr Götter, ich bin diesen endlosen Winter, den sie geschaffen hat, aus ganzem Herzen leid.«

Plötzlich wußte Anvar, was er tun mußte. Er war so voller Staunen und Freude darüber, daß Aurian ihrer beider Liebe endlich akzeptiert hatte, daß er ihr etwas schenken wollte – etwas Großes und Wunderbares, ein ganz besonderes Geschenk … Er drehte sich zu der Magusch um und grinste. »Dein Wunsch«, sagte er fröhlich, »ist mir Befehl.« Mit diesen Worten hob er die Windharfe hoch und begann zu spielen.

Der wilde, unirdische Sternengesang der Harfe erhob sich in den Himmel, als die Macht der Hohen Magie durch Anvar hindurchpulsierte und in die Welt hinausströmte. Hoch oben auf dem Dach der Welt begann der Schnee von Eliseths Winter zu schmelzen, und das Tauwetter breitete sich aus bis hinein in das Territorium der Katzen und in das Land der Xandim. In der Juwelenwüste verloren die tödlichen Sandstürme ihre Kraft, und Edelsteinstaub fiel zu Boden wie prasselnder Regen. Warme Winde, in denen eine schimmernde Musik lebte, überquerten den Ozean, und endlich kam auf Anvars Geheiß der Frühling in die Länder des Nordens.

Als Aurian klar wurde, was Anvar tat, breitete sich ein leises Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Einen Augenblick lang erinnerte sie sich an den schmutzigen, geprügelten, zu Tode erschrockenen Diener, den sie vor so langer Zeit gerettet hatte, und sie glaubte, ihr Herz müsse bersten vor lauter Stolz und Liebe. Auch sie wollte ihm ein Zeichen ihrer Liebe geben.

Aurian legte Anvar eine Hand auf die Schulter, während er weiterspielte. Dann rief sie die Macht des Erdenstabs und richtete seine Spitze auf den Boden. Als das smaragdgrüne Leuchten des kostbaren Artefakts erstrahlte, begannen die Berge und Täler um sie herum zu ergrünen. Bäume ließen Blätter und Blüten sprießen, und unter ihnen wuchsen Blumen aus dem Boden und überzogen die Erde mit kraftvollen Farben, während die Ketten des qualvollen Winters endgültig fielen und das Land wiedergeboren wurde, wie Aurians Herz wiedergeboren worden war.

Aurians Gedanken pulsierten voller Jubel– Sie lächelte bei dem Gedanken an den Zorn des Erzmagusch. Obwohl noch viel zu tun blieb, hatten Anvar und sie Miathan endlich, endlich einen ersten schweren Schlag versetzt.


Und weit im Norden, in einem hohen Turm der Stadt Nexis, stand Eliseth und zitterte.

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