12 Der Betrunkene Hund

Der Betrunkene Hund, eine typische Hafentaverne, war die schmutzigste Bierschänke in Nexis. Die Fenster, die bei zahllosen Schlägereien wieder und wieder zu Bruch gegangen waren, waren nun mit einem unbeholfenen Sammelsurium von Brettern vernagelt, und die Schankstube stank nach Qualm, Fett und ungewaschenen Leibern. Der Boden war glitschig, ein widerlicher Morast aus Sägespänen, verschütteten Getränken und in der Regel auch Blut. Wenn der Fluß niedrig war, war die Luft hier angefüllt mit dem ekelhaften Gestank nach toten Fischen und Abwässern. Der Zustand der Taverne, die unten zwischen den Lagerhäusern des nördlichen Flußufers lag, hätte ausgereicht, um einen starken Mann zum Erbleichen zu bringen und einen weisen dazu, sich hastig abzuwenden. Selbst in dieser Gegend, einer der rauhesten in der Stadt, hatte der ›Hund‹ einen schlechten Ruf – und war stolz darauf.

Nur die Verzweifelten wagten sich in das schattige, stinkende Innere des Betrunkenen Hundes, wo die Stadtwache kaum jemals zu sehen war; nur die Niedrigsten der Niedrigen verkehrten hier, die Banden, deren Revier die dunklen Gassen waren, zu deren Geschäft der schnelle Dolchstoß in den Rücken gehörte und das Glitzern des Goldes in einem gestohlenen Geldbeutel. Nur die heimatlosen, stinkenden, rotäugigen Wracks, deren Liebe zum Bier zur Sucht geworden war. Nur die traurigen, ausgebrannten Huren, von Krankheiten geplagt, pockennarbig und zu alt, um sich mit einer besseren Kundenklasse einen ehrlichen Lebensunterhalt zu verdienen. Nur die, die schon so tief gesunken waren, daß sie nichts mehr zu verlieren hatten – und Jarvas.

Jarvas saß in seiner Ecke neben dem von Asche halb erstickten Kamin; er saß mit dem Rücken zur Wand und war sich der Tatsache bewußt, daß der Raum zwischen seinem Platz und der Hintertür frei war und ihm die Möglichkeit ließ, jederzeit zu fliehen. Es war der beste Platz in der Schankstube, von der Durchreiche aus leicht zu beobachten, so daß man jederzeit mehr von dem abscheulich sauren Bier bestellen konnte, und gleichzeitig hatte man einen guten Blick über die ganze Schänke. Es war Jarvas’ Stammplatz, und niemand hatte Lust, ihn ihm streitig zu machen.

Jarvas nahm einen Schluck aus dem fettbeschmierten Becher und zog eine Grimasse, als das widerlich schmeckende, flockige Gebräu ihm die Kehle hinunterlief. Das war genau das richtige, überlegte er, um den Körper unweigerlich krank zu machen; aber dieser Gedanke konnte ihn nicht davon abhalten, es zu trinken – ihn ebensowenig wie jeden anderen hier. Er war für gewöhnlich kein Mann, der seine Zeit damit verschwendete, darüber nachzudenken, warum er hierherkam, obwohl er es eigentlich nicht mußte – er kannte sein eigenes Herz und hielt nicht viel davon, in seiner Seele herumzukramen. In diesen Tagen jedoch, nachdem das Leben in der Stadt, das früher schon schlimm genug gewesen war, noch ein gutes Stück schlimmer geworden war, wurde seine Laune immer düsterer und nachdenklicher, vor allem seit dem noch nicht lange zurückliegenden Verlust seines Bruders. Er kam aus verschiedenen Gründen hierher; einmal, weil es sicher war – die Söldner, die in den Diensten der widerlichen Magusch standen, hatten nur einmal versucht, hier hereinzukommen, und sie harten es später bitter bereut. Er kam, weil er es sich leisten konnte; er war ein sehr großer Mann, und obwohl er keinen Streit suchte, mußte doch jeder, der unklug genug war, sich ihm in den Weg zu stellen, früher oder später dafür bezahlen. Die Leute hier respektierten ihn zumeist, und es war bekannt, daß Jarvas einen guten Freund und einen gnadenlosen Feind abgab. Schließlich und endlich – und es sprach sehr für ihn, daß er in der Lage war, sich diese Tatsache einzugestehen –, kam Jarvas hierher, weil er einsam war.

Es machte einem das Leben sehr schwer, wenn man häßlich war und zudem noch ungewöhnlich groß. Jarvas ging jedem Spiegel aus dem Weg. Es schien, als seien die Götter bei seiner Erschaffung in Eile gewesen und hätten einfach nur irgendwelche Gesichtszüge, die gerade bei der Hand waren, zusammengesucht – ohne über das Ergebnis nachzudenken. Sein Körper war eine baumelnde, zusammenhanglose Ansammlung verschiedener Teile – Teile, die alle nicht zusammenpassen wollten. Seine Hände und Füße waren zu groß für seine Gestalt, und das wollte wahrlich etwas heißen. Seine Brust war zu schmal für seine breiten Schultern und seine langen Beine, und was sein Gesicht betraf … Es war ein Alptraum. Seine Nase war zu lang, und seine Ohren standen ihm vom Kopf ab. Sein spitzes Kinn schien nicht richtig in der Mitte zu sitzen und war außerdem zu schmal für seine breite Stirn und die schweren Brauen. Seine Augen waren von einem schlammigen Graugrün, und trotz all seiner Bemühungen sah sein dunkles, strähniges Haar immer ungekämmt aus. Um es kurz zu machen, er war eine Katastrophe. Die Männer betrachteten ihn grundsätzlich als Bedrohung, und was die Frauen betraf – das konnte man erst recht vergessen. Keine von ihnen würde ihm jemals einen zweiten Blick gönnen. Bei seinem Aussehen fiel es Jarvas schwer, sich Freunde zu machen, aber er hatte Freunde, und das lag an der Größe seines Herzens.

Jarvas hatte sein eigenes Heim in der Nähe der Kaimauern. Es bestand aus zwei baufälligen Lagerhäusern und einer unbenutzten Walkmühle, die auf einem brachliegenden Grundstück nebeneinander standen. Früher hatte sich an dieser Stelle ein Armenviertel befunden, das jedoch auf Befehl des Erzmagusch niedergebrannt worden war, weil es in der Großen Dürre vor drei Jahren einen Seuchenherd dargestellt hatte, und gerade damals hatte Jarvas den Besitz geerbt, zusammen mit seinem Bruder Harkas.

Er war sehr überrascht über das Vermächtnis gewesen; seine Familie hatte mit Hilfe eines alten, lecken Bootes ein kümmerliches Auskommen bestritten. Er persönlich hatte den Erzählungen von einem Großonkel, der sich in einem Streit von der Familie entfremdet hatte und ein Grundstück am Flußufer besaß, nie Glauben geschenkt. In der Annahme, daß der Wunsch der Vater des Gedankens war, hatte er den Erzählungen seiner Eltern keine Aufmerksamkeit geschenkt. Welchen Sinn hätte das auch gehabt? Niemand wollte einen Besitz an der Nordseite des Flusses haben. In der Vergangenheit vielleicht, als die Hafenviertel reich und gut gepflegt waren, bevor die Wehre erbaut worden waren und die Schiffe den ganzen Weg flußaufwärts von Norberth heraufkommen konnten; damals war es vielleicht etwas anderes gewesen, aber jetzt?

Jarvas war Ende Zwanzig gewesen, als sein Onkel starb. Er hatte das Fährgeschäft bereits aufgegeben und verdiente sich seit mehr als einem Jahrzehnt in der Stadt seinen Lebensunterhalt, indem er jede Arbeit annahm, die ihm angeboten wurde. Während er sich als Vorarbeiter in einem Lagerhaus des Anführers der Händlergilde verdingt hatte, war es ihm gelungen, sich ein wenig Bildung zuzulegen. Vannor glaubte an Gelehrsamkeit und sorgte dafür, daß diejenigen seiner Leute, die das ebenfalls taten, Zugang dazu fanden.

Vannor war ein freundlicher Mann trotz seines respektgebietenden Rufes, und da er selbst einmal arm gewesen war, war er immer darauf bedacht gewesen, seinen Leuten zu helfen, damit sie es in der Welt zu etwas bringen konnten. Er war mit Jarvas und Harkas zusammen losgezogen, um ihr Erbe zu inspizieren, und das war ihr Glück gewesen. Als Jarvas die verlassenen Gebäude auf dem verkohlten Land betrachtete, die rußgeschwärzten Wände, die geflickten Dächer, durch die der Regen tropfte, und die glaslosen Fenster, die wie die leeren Augen einer Leiche aussahen, da hatte sein Herz sich zusammengezogen. Sein Onkel war nicht reich gewesen, soviel stand fest, diese heruntergekommenen Mauern waren wertlos. Harkas hatte bitter geflucht, aber Vannor hatte zu alledem geschwiegen, war einfach zur Mühle hinübergegangen und hatte hineingesehen, hatte sich seinen Weg durch Schutt und abgebrochene Balken gebahnt und nachdenklich die Stirn gefurcht.

Jarvas lächelte bei der Erinnerung an den großen Kaufmann, der damals die Worte gesprochen hatte, die das Leben zweier junger Männer so sehr veränderten. »Gute, solide Steinmetzarbeit, diese Mauern werden so schnell nicht zusammenfallen. Neue Balken müssen her, ihr habt da den Holzwurm drin, aber was für ein Gebäude! Seht nur, wie dick diese Wände sind und wie massiv die ganze Anlage ist; und mit den Lagerhäusern ist es genauso, da bin ich mir sicher. Jungs, es mag zwar im Augenblick noch nicht nach viel aussehen, aber ich würde sagen, ihr habt es gut getroffen.« Dann hatte er Jarvas angegrinst, dessen Augen rund vor Erstaunen geworden waren.

Harkas, der ältere der Brüder, war dagegen unbeeindruckt. »Wie meinst du das, Herr? Wie könnten diese alten Steinhaufen irgend jemandem von Nutzen sein?«

Das Zwinkern verschwand aus Vannors Augen, und er sah Harkas direkt an. »Denk doch einmal nach, Harkas. Ich mag zwar im Rat der Drei sitzen, aber ich verrate keine Geheimnisse, wenn ich sage, daß die Dinge in der Stadt immer schlimmer werden. Die Dürre, der Hunger und die darauf folgenden Aufstände sollten uns eigentlich allen eine Lehre sein. Mit diesen Häusern hier« – er klopfte auf den mit Ruß verschmierten Stein – »seid ihr vor allem sicher. Jungs, mit ein wenig harter Arbeit könntet ihr diese Gebäude in eine Festung verwandeln. Und das beste, was mit diesem Stück Land geschehen konnte, war das Feuer. Seht nur! Es fängt bereits an, fruchtbar zu werden.« Er zeigte auf die zarten Gräser und Unkrautflecken, deren Wachstum sich durch die letzten sturzbachartigen Regengüsse noch beschleunigt hatte.

»Ihr könnt das Land einzäunen und eine Palisade herumbauen. Die Götter wissen, daß hier genug Steine von den abgebrannten Hütten liegen, und in den Lagerhäusern gibt es reichlich Holz; diese Balken müssen sowieso ersetzt werden, also könnt ihr das Holz ebensogut nutzen. Die Mühle hat einen Wasservorrat, der direkt vom Fluß hierhergepumpt wird, und mit ein wenig Arbeit könntet ihr diese alten Färbetröge zu Schweineställen umfunktionieren. Außerdem könntet ihr Gemüse anbauen und ein paar Hühner halten …«

»Einen Augenblick mal, Herr«, unterbrach ihn Harkas. »Du willst, daß wir Bauern werden? Mitten in dieser verdammten Stadt?«

»Warum nicht?« Vannors Augen leuchteten. »Wißt ihr, wie ich mein Vermögen gemacht habe? Mit Visionen. Ich habe es gewagt, in eine andere Richtung zu denken als meine Kameraden; Dinge zu tun, die mir von meiner Familie und meinen Freunden den Vorwurf eingetragen haben, ich sei verrückt – aber bei allen Göttern, es hat funktioniert. Visionen, das ist es, was ihr braucht, Jungs. Phantasie.«

»Und Geld«, schnaubte Harkas, noch bevor Jarvas ihn zurückhalten konnte.

Vannor hatte nur gegrinst. »Mach dir mal keine Gedanken wegen des Geldes, Harkas; ich werde schon dafür sorgen, daß ihr genug habt, um einen Anfang zu machen.«

Der Kaufmann drehte sich zu Jarvas um und schlug ihm auf die Schulter. »Du hast mich beeindruckt, mein Junge, während du für mich gearbeitet hast, und obwohl es mich schmerzt, einen guten Vorarbeiter zu verlieren, verdienst du es, etwas aus deinem Leben zu machen. Außerdem faszinieren mich die Möglichkeiten dieses Ortes. Betrachte es als unbegrenztes Darlehen …« Sein Gesicht wurde plötzlich nachdenklich. »Mit einer Bedingung. Diese Häuser sind zu groß für euch, selbst mit euren Familien – mach nicht so ein Gesicht, Jarvas, auch du wirst eines Tages jemanden finden. Und die Gebäude wieder in Ordnung zu bringen ist auch mehr, als ihr allein schaffen könntet.«

Vannor sah den beiden Brüdern abwechselnd ins Gesicht. »Habt ihr gesehen, wie die Armen in dieser Stadt leiden? Und ihre einzige Zuflucht, wenn sie zu tief sinken, ist die Leibeigenschaft.« Er runzelte die Stirn. »Es scheint, als sei ich nicht in der Lage, dem ein Ende zu setzen; aber vielleicht gibt es noch eine andere Möglichkeit. Wenn die Armen irgendeinen Ort hätten, an den sie flüchten könnten, wo sie in Sicherheit wären und Hilfe bekämen, bis sie sich eine neue Zukunft aufbauen könnten …«

Jarvas stürzte sich sofort auf die Idee. »Ja, bei allen Göttern! Sie könnten uns helfen, Gemüse und Korn und ähnliches anzubauen, und sie könnten uns auch dabei helfen, diese Häuser in Ordnung zu bringen; und sie könnten alle möglichen Arbeiten in der Stadt annehmen, damit wir die Dinge kaufen können, die wir nicht anbauen können. In diesen Lagerhäusern ist Platz für Dutzende von Familien. Vannor, das ist genial.«

Der praktischer veranlagte Harkas war nicht so leicht zu überreden gewesen, aber schließlich hatte Vannors Traum Gestalt angenommen. Das scheinbar nutzlose Erbe der beiden Brüder hatte sich in eine Festung verwandelt; sicher, unverletzlich – eine in sich abgeschlossene, kleine Farm mitten in den Mauern der Stadt, wo es etwas zu essen gab und ein Dach über dem Kopf und das Versprechen einer Zukunft; ein Ort, an dem die Verlorenen, die Heimatlosen, die Notleidenden und die Verzweifelten willkommen waren …

Jarvas spürte, wie sich seine Kehle vor Kummer zusammenschnürte. Von den drei Männern, die diesen Traum in Bewegung gesetzt hatten, war nur noch einer übrig. Vannor war in der Nacht der Todesgeister verschwunden – nur um ganz unerwartet wieder aufzutauchen und die Rebellen anzuführen, die geschworen hatten, der Herrschaft des grausamen Erzmagusch ein Ende zu setzen. Jarvas und sein Bruder hatten ihnen mit Nahrungsmitteln und anderen Dingen geholfen, bis die Rebellenbasis in den Abwasserkanälen von Miathans Söldnern, die die Stadtwache ersetzt hatten, angegriffen worden war. Angos, ihr Hauptmann, hatte behauptet, die Rebellen bis zum letzten Mann vernichtet zu haben. Und tatsächlich war ihre Basis zerstört und leer – Jarvas hatte nachgesehen.

Kurz nach dem Schock über Vannors Verlust hatte man ihm auch Harkas genommen; er gehörte zu den auf rätselhafte Weise › Verschwundenen^ Die Hintergründe des plötzlichen Verschwindens zahlreicher Menschen erfüllten die Herzen der Bürger von Nexis mit Grauen. Harkas hatte einen seiner gewöhnlichen, nächtlichen Spaziergänge gemacht, auf denen er für seine geliebten Schweine weggeworfene Nahrungsmittel sammelte – etwas, das mittlerweile in der Stadt kaum noch vorkam. Und dann war Harkas nie mehr zurückgekehrt. Diejenigen, die verschwunden waren, waren zur Akademie gebracht worden – soviel wußte man inzwischen –, aber es war klug, nicht allzu viele Fragen zu stellen. Die, die trotzdem gefragt hatten, waren daraufhin nämlich ebenfalls verschwunden. Dank der Magusch waren zwei gute Männer für immer verloren, und nur der trauernde Jarvas war übriggeblieben, um ihr Werk fortzusetzen. Wie lange würde es noch dauern, bis die Hand des Erzmagusch sich auch nach ihm ausstreckte? In der Zwischenzeit war der ›Hund‹ einer der Orte, an dem er seine Leute rekrutierte, ein Ort so gut wie jeder andere. Das war der Grund, warum er hierherkam, Abend um Abend, um die Notleidenden in sein eigenes, kleines Königreich einzuladen.


Der Betrunkene Hund war nicht die Art Lokal, die Hagorn sich normalerweise ausgesucht hätte – in einem Rattenloch wie dem ›Hund‹ zu trinken forderte den Ärger geradezu heraus –, aber der Schwertkämpfer war über den Punkt hinaus, an dem er sich über solche Dinge noch Sorgen machte. Er hatte sich durch die ganze Stadt hindurchgearbeitet und war in jeder Taverne eingekehrt, um für die Rebellen Informationen über die Vorgänge in der Stadt aufzuschnappen sowie – was noch wichtiger war – jedes Wort, das ihn zu Vannor oder seiner verschwundenen Tochter führen konnte. Jetzt gab es kaum einen Ort, an dem er noch nicht gesucht hatte; und obendrein ging ihm langsam das Silber aus, mit dem er sich bisher seinen Weg gebahnt hatte. Vannors magerer Vorrat an Münzen hatte nicht lange gehalten. Zumindest sollte diese stinkende Jauchegrube billig sein, dachte der alte Soldat, als er die Schänke betrat.

Das Feuer und ein paar vereinzelte, magere Binsenlichter stellten die einzige Beleuchtung dar, aber in gewisser Weise war die übelriechende Düsternis der Schankstube ein Segen, denn die Schatten verbargen die ungewaschenen Bierhumpen, die Spinnweben, die von den niedrigen Dachsparren herabhingen, die splittrigen Tische und die fleckigen, mit Messerschnitten übersäten Wände. Die verräucherte Dunkelheit warf zudem noch einen barmherzigen Schleier über die Trinker, denn dies war die rauheste Bierschänke im Hafen, und ihre Kunden waren sogar noch rauher.

In der tiefen Stille, die seinem Eintritt folgte, warf Hagorn jedem der Gäste, die sich in der Schankstube aufhielten, einen finsteren Blick zu und betastete auf eine Art und Weise den Griff seines Schwertes, von der er hoffte, daß sie etwas Bedrohliches an sich hatte. Das war für gewöhnlich die beste Möglichkeit, jedem Ärger vorzubeugen, und wie erwartet lebten die Gespräche sehr schnell wieder auf, als hätte jeder plötzlich sein Interesse an dem wiedergefunden, was er gerade eben noch getan hatte.

Der Soldat unterdrückte ein Lächeln. Es verfehlte nie seine Wirkung, dachte er. Warum Schwierigkeiten herausfordern? Er kannte diese Art Leute – er hatte ihresgleichen in jeder Stadt getroffen, die er auf seinen Wanderungen gesehen hatte. Sie waren der Abschaum der Stadt – Hafenarbeiter, Träger, Lumpensammler, Bettler, Einbrecher und Taschendiebe, ausgezehrte, alternde Huren sowohl männlichen wie weiblichen Geschlechts. Ihre erbärmlichen Existenzen ließen ihnen wenig Wahlmöglichkeiten; der ›Hund‹ war wärmer als die Kaimauern, und er war eine winzige Spur sicherer als die schmalen, unbeleuchteten Gassen, in denen das Leben eines Menschen nur ein oder zwei Kupferpfennige wert war und die Tugend einer Frau überhaupt nichts. Das säuerliche, wäßrige Bier war billig, und der selbstgemachte Grog – widerlich schmeckend, aber mit einer Wirkung wie flüssiges Feuer, wie Hagorn schnell herausfand – war sogar noch billiger. Was konnten diese Leute mehr verlangen? dachte der Krieger verbittert. Was konnte irgend jemand mehr verlangen.

Ja, wirklich, was? Ich weiß, was ich will, dachte Hagorn kläglich. Ich will herausfinden, was, zum Kuckuck, mit Vannor geschehen ist. Es war jetzt viele Tage her, seit sie in die Stadt gekommen waren und sich dann, weil der Kaufmann darauf bestanden hatte, getrennt hatten. Der alte Soldat hatte ihm wieder und wieder gesagt, daß es ein Fehler sei, aber Vannor, den das Verschwinden seiner widerspenstigen Tochter über alle Maßen besorgte, hatte sich geweigert, auch nur auf ein einziges, vernünftiges Wort zu hören. »Wir können sie viel schneller finden, wenn wir uns trennen«, hatte er argumentiert –, und schließlich, als Hagorn am wenigsten damit gerechnet hatte, war er spurlos in dem Labyrinth der nördlichen Hafengebiete verschwunden.

»Dieser verfluchte Narr«, murmelte Hagorn bei sich, während er dem lächerlichen, spitzgesichtigen Zwerg hinter dem Tresen eine weitere Flasche mit dem billigen, braunen Spülwasser abkaufte. Ihm wäre der Grog lieber gewesen, aber das Ale reichte länger. Sobald er dieses letzte Silber ausgegeben hatte, würde es nichts mehr davon geben – zumindest nicht in Nexis. Man würde schon bald nach ihm suchen. Nachdem er Vannors letzte Münzen verbraucht hatte, hatte er sich als Privatwache bei dem Gildeherrn Pendral verdingt – einem fetten, geldgierigen, kleinen Bastard mit einigen ausgesprochen widernatürlichen Gewohnheiten. Er war einer der vielen Händler, die sich mit Miathan verbündet hatte, um aus den notleidenden Armen der Stadt einen schnellen Profit herauszupressen, solange das noch möglich war.

Hagorn seufzte. Ich gebe einen lausigen Spion ab, dachte er. Vannor hätte jemanden mit weniger heftigem Temperament und mehr Verstand schicken sollen. Es hatte sich herausgestellt, daß es dem Krieger einfach nicht möglich war, im Angesicht von Pendrals widerlicher Gier seinen Mund zu halten, und so hatte er sich schließlich angewöhnt, seinen Kummer zu ertränken, was in seiner gefährlichen Situation beileibe nicht gut war. Die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen war das letzte, was er brauchen konnte; aber heute hatte Pendral ihn entlassen, weil er betrunken gewesen war, während er ein Lagerhaus bewachen sollte, und die Beleidigungen dieses arroganten Schweinekerls waren mehr gewesen, als der alte Soldat sich hatte gefallen lassen können. Zugegeben, es war wahrscheinlich ein Fehler gewesen, den kleinen Bastard mit dem Kopf zuerst in diese Jauchegrube zu werfen, aber … Einen Augenblick lang hellte Hagorns düstere Stimmung sich auf, und er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Bei allen Göttern, es war die Sache wert gewesen!


Für Tilda schien die Taverne an einem rauhen, schwarzen Winterabend wie ein Traum von Behaglichkeit zu sein. Seit der Erzmagusch die Kontrolle über die Stadt an sich gerissen hatte, gingen die Geschäfte immer schlechter, und heute abend war es besonders schlecht gewesen, denn wegen des abscheulichen Wetters trieben sich nur wenige Leute draußen herum. Die gewundenen, schmalen Straßen von Nexis lagen unter einem dichten, eiskalten Nebel, der sich in ihrer Kehle festsetzte und den trockenen Husten auslöste, der sie nun schon den ganzen Winter quälte. Genug war genug, beschloß Tilda. Warum sollte sie sich für nichts und wieder nichts hier draußen an einer zugigen Ecke den Hintern abfrieren?

Als sie den Betrunkenen Hund erreichte, blieb die Hure kurz in der Tür stehen, um die tropfenden Säume ihrer Unterröcke zurechtzuzupfen und ihre feuchten, rotgefärbten Locken auszuschütteln. Sie müßte verrückt sein, wenn sie hier im ›Hund‹ Geschäfte machen wollte. Er gehörte zu Dellies Revier, und Dellie war eine Kollegin – und zwar eine, die ziemlich unangenehm werden konnte, wenn es ums Geschäft ging. Trotzdem in diesem Gewerbe zahlte es sich immer aus, vorbereitet zu sein. Manchmal hatte man eben doch Glück … Sie als alternde Straßendirne, die obendrein noch einen zehnjährigen Sohn zu versorgen hatte, brauchte alles Glück, das sie bekommen konnte.

Sobald sie eintrat, wußte Tilda allerdings, daß dies doch nicht ihr Glücksabend werden würde. Offensichtlich war sie nicht die einzige Straßendirne in Nexis, die des miserablen Wetters müde war. Es sah aus, als beherbergte der ›Hund‹ im Augenblick jede Hure und jeden Lustknaben in der Stadt. Für einen einzigen Abend hatte man einen Waffenstillstand ausgerufen, und viele der Prostituierten saßen, in freundlichem Geplauder vereint, an den Tischen, um eine der seltenen Stunden der Entspannung auszukosten. Wenn es nur immer so sein könnte, dachte Tilda. Wir sitzen doch alle im selben Boot, wir sollten Freundinnen sein. Aber sie war nicht dumm genug, Zeit mit solchen törichten Ideen zu verschwenden. Sie mußten schließlich alle leben, und der Wettbewerb um Kunden war selbst in einer Stadt wie Nexis ungeheuer groß.

Tilda mußte sich durch eine dichtgedrängte Menschenmenge ihren Weg zu den Tischen hinüber bahnen. Zusätzlich zu den Huren und Stammkunden saß heute abend eine Gruppe Kahnführer in der Nähe des Feuers und spielte Würfel. Tilda erhaschte eine schattenhafte Bewegung in der dunkelsten Ecke und hörte das leise Summen gemurmelter Gespräche. Schnell sah sie weg. Nach so vielen Jahren auf der Straße konnte sie immer genau spüren, wann etwas Fragwürdiges im Gange war. Wenn man überleben wollte, mußte man wissen, wann man seine Augen abzuwenden hatte.

Der interessanteste Kunde war, soweit Tilda sehen konnte, ein wettergegerbter, grauhaariger Mann, der einen schweren Soldatenumhang trug. Er saß ganz allein da und war blind für alles bis auf seinen Bierhumpen. Einen Augenblick lang machte Tilda sich Hoffnungen – aber als sie näher kam, sah sie, daß sein Mantel geflickt und fadenscheinig war, und er blickte mit so finsterer Leidenschaft in sein Bier, daß sie ein kalter Schauer überlief. Vergiß es, sagte sie zu sich. Auf diese Art von Schwierigkeiten kannst du gut verzichten. Manchmal wurden die Soldaten so, das wußte sie. Verdreht und verwirrt, die armen Kerle; aber nach ein paar Drinks ließen sie dann alles, was sie bedrückte, an dem aus, der ihnen am nächsten saß, und wenn sie erst einmal angefangen hatten, konnte niemand sie mehr aufhalten. Oh, ihr Götter, eine Freundin von ihr war von einem betrunkenen Soldaten für ihr ganzes Leben verkrüppelt worden. Nein danke, Kamerad, dachte sie und wollte gerade mit ihrem Grog an einen Tisch in der Nähe der Würfelspieler gehen – so weit weg wie möglich von dem finster dreinblickenden Krieger –, als sie plötzlich sah, wie sich sein Gesicht zu dem schelmischsten Lächeln aufhellte, das man sich nur denken konnte.

Was für eine Veränderung! Tilda, bezaubert von diesem schnellen, ansteckenden Grinsen, ging auf den Fremden zu, der ihre Neugier geweckt hatte. Nun, es konnte schließlich nicht schaden, mit ihm zu sprechen, oder? »Herr?« Sie legte ihm zögernd eine Hand auf den Arm.

Er fuhr herum, einen Fluch auf den Lippen, und wandte sich dann ab, als hätte sie aufgehört zu existieren. Wieder starrte er finster in sein Bier. Dann rieb er sich mit der Hand über die Augen, mit einer Geste, die so furchtbar müde wirkte, daß Tildas Herz ihm entgegenflog. Sag mal, Mädchen, was denkst du dir eigentlich dabei? schalt sie sich selbst. Du bist genauso töricht wie er. Sie hatte schon früher erwachsene Männer in ihr Bier weinen sehen; das hatte nichts zu bedeuten. Aber trotzdem war es einen Versuch wert. »Du siehst aus, als könntest du etwas Gesellschaft gebrauchen«, sagte sie leise. »Würde ich nicht vielleicht reichen? Nur für heute nacht?«

Diesmal war der Gesichtsausdruck des Soldaten voller Sehnsucht. »Ach, Mädchen!« Seine Stimme schwankte bereits leicht von dem vielen Bier, das er getrunken hatte. »Du würdest ganz bestimmt reichen und sogar noch mehr als das, aber …« Er zuckte mit den Schultern und förderte, nachdem er eine Weile in der Tasche seines Lederrocks herumgesucht hatte, nichts als einige wenige Kupferpfennige zutage. »Gerade im Augenblick könnte ich dir nicht einmal ein Ale spendieren.«

»Oh!« Tilda wandte sich ab, seltsam enttäuscht und wütend über sich selbst, weil sie so empfand. Also wirklich, es war jetzt Jahre her, seit sie einen Mann als Person betrachtet hatte! Eine Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, das war alles, was Männer ihr noch bedeuteten, mehr nicht. »Tilda, du bist eine Närrin«, sagte sie zornig zu sich selbst. »Daß du es ja nicht wagst, jetzt plötzlich weich zu werden!« Sie wandte sich statt dessen den Würfelspielern zu, aber die hatten ihre Gewinne eingesteckt und waren gegangen, während sie ihre Zeit mit diesem Hungerleider von Soldaten verschwendet hatte. »Die Pest über alle verfluchten Soldaten«, murmelte Tilda. Nun, sie konnte ebensogut gehen; sie konnte es sich nicht leisten, sich selbst etwas zu trinken zu kaufen.

In diesem Augenblick flog die Tür der Taverne auf, und ein Schwall übelriechenden Nebels schoß in den Raum, gefolgt von etwa einem Dutzend Söldner, die die ursprüngliche Stadtwache ersetzt hatten. Das Schlußlicht bildete ein fettleibiger, schieläugiger kleiner Mann in der goldbestickten Robe eines Händlers. »Da ist er!« quiekte er und zeigte auf Tildas Fremden. »Das ist der Mann, der versucht hat, mich zu ertränken. Nehmt den Lumpenhund auf der Stelle gefangen!«

Es herrschte eine wie vom Donner gerührte Stille in der Schankstube, während der Gildeherr Pendral seinen Soldaten Befehle gab. Auf ein kurzes Nicken ihres Hauptmanns hin umzingelten die Männer den Soldaten. Das Ganze erinnerte Tilda an eine gräßliche Szene, die sie einmal in den erbärmlichen Elendsquartieren miterlebt hatte, als ein Rudel Straßenköter auf ein hilfloses Kind zugerannt war und es dann zerfetzt hatte. Aber das hier war kein hilfloses Kind. Mit einem stählernen Surren zog der Krieger sein Schwert und erhob sich schwankend.

Tilda nahm aus den Augenwinkeln eine allgemeine Bewegung zur Hintertür der Taverne hin wahr, als all die Feiglinge in der Ecke sich davonstahlen. Der Raum leerte sich wie durch einen Zauber – selbst der Mann hinter dem Tresen machte sich unsichtbar. Der Schwertkämpfer befand sich in einer hoffnungslosen Lage. Tilda, die sein Schicksal nicht teilen wollte, hielt es für klug, ebenfalls zu fliehen, solange die Wachen noch abgelenkt waren. Leise erhob sie sich von ihrem Stuhl und schlich zur Tür hin.

Sie hatte keinen Augenblick lang die Absicht gehabt, zurückzusehen, aber trotz ihres stark ausgeprägten Selbsterhaltungstriebes wurden ihre Augen von der Szene in der Schänke magisch angezogen. Die Wachen sammelten sich und stürmten nach vorn. Ihre Schwerter krachten hinunter – und bohrten sich bierverspritzend in den Tisch, während der Fremde sich duckte und zur Seite rollte. Dabei riß er zwei seiner Angreifer in einem Wirrwarr von Armen und Beinen mit sich. Tilda raffte ihre Röcke, um wegzulaufen, aber ein schriller Schmerzensschrei brachte sie mit einem Ruck wieder zum Stehen. Ein Gegner des Soldaten rollte sich, ein Messer im Bauch, schreiend über den Boden. Tilda keuchte. Wer war dieser Mann? Sogar im betrunkenen Zustand waren seine Bewegungen so schnell, daß sie ihnen kaum mit ihrem Blick folgen konnte.

Er hatte die anderen offensichtlich eingeschüchtert. Keiner wollte der erste sein, der sich an ihn heranwagte. Die übrigen Wachen bildeten einen lockeren Halbkreis um den Fremden, der, in die Enge getrieben, mit dem Rücken zur Durchreiche stand. »Nun?« verhöhnte er sie. »Welcher von euch Mistkerlen will der nächste sein?«

Es war ein Patt – der Fremde schien betrunken zu sein, aber nach der Schnelligkeit seiner Reaktionen zu urteilen, zweifelte Tilda daran. Dann sah sie den Mann, der die Getränke ausschenkte – das Aufflackern einer schattenhaften Bewegung hinter der Durchreiche. Er hielt ein Schwert in der Hand und lauerte hinter dem Fremden in der offensichtlichen Absicht, den Söldnern ihre Arbeit abzunehmen. Zweifellos hoffte er auf eine Belohnung. Er hob den Arm …

»Hinter dir!« schrie Tilda. Der Fremde duckte sich gerade noch rechtzeitig. Das Schwert streifte ihn mit einem Schlag seitlich am Kopf und krachte hinunter, um sich in den Tresen zu graben, während sein eigentliches Opfer zur Seite sprang und nicht mehr zu sehen war, als die Wachen entschlossen auf ihn zugingen. Zu dieser Zeit hatte Tilda bereits eigene Probleme. Sie hatte genau das getan, was sie sich geschworen hatte, nicht zu tun: sie hatte Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Hände griffen von hinten nach ihr und rissen ihr die Arme auf den Rücken.

»Behinderung der Stadtwache, wie? Du stehst unter Arrest, du Miststück!« Die Stimme hallte in ihren Ohren wider, gefolgt von warmem Speichel, der sie seitlich im Gesicht traf und dann widerwärtig schleimig über ihre Wange rann. Ihre Arme wurden ihr weiter auf den Rücken gedreht, bis sie vor Schmerz aufschrie – dann sah sie aus den Augenwinkeln plötzlich eine Bewegung und hörte das Geräusch einer Faust, die auf Knochen krachte. Der Griff um ihre Arme lockerte sich so abrupt, daß sie nach hinten taumelte, wo sie von einem anderen Paar Arme aufgefangen wurde – sanfte, hilfsbereite Arme diesmal. Tilda blickte in das häßlichstes Gesicht, das sie je gesehen hatte.

»Jarvas!« stöhnte sie dankbar. Der verletzte Söldner, der sie festgehalten hatte, war nach Luft ringend zurückgetaumelt, und Blut sickerte ihm durch die Finger, die er sich über das Gesicht gelegt hatte.

»Der da wird eine Zeitlang keiner Frau mehr wehtun.« Während er sprach, führte Jarvas sie zu einem Hocker im Schutz einer Ecke. Tilda sah mit offenem Mund zu, wie er einen schweren Ast aus dem Holzhaufen neben dem Feuer zog und sich ins Getümmel stürzte.

Der Fremde hielt nach wie vor die Stellung, aber nur noch mit großer Mühe. Blut sickerte aus einer Kopfverletzung, wo man ihm um ein Haar das linke Ohr abgetrennt hätte. Blut tropfte über seine Rippen und besudelte seine dicke Lederjacke. Obwohl der Kampf sich auf die andere Seite des Raumes verlagert hatte, stand er immer noch mit dem Rücken zur Wand, aber die Wachen, ein Dutzend oder mehr, kamen ihm näher, und Tilda konnte sehen, daß er langsam schwächer wurde. Seine Augen waren bereits glasig, und er taumelte. Jeden Augenblick …

In dieser Sekunde stürzte sich Jarvas auf die Söldner und schwenkte seinen dicken Ast, den er in beiden Händen hielt. Der ihm am nächsten stehende Wachmann, der nicht gemerkt hatte, daß der um sich schlagende Riese auf sie zustürmte, brach unter der Wucht seines Schlages zusammen. Die anderen drehten sich mit erhobenen Schwertern um, um kurzen Prozeß zu machen mit diesem Wahnsinnigen, der es wagte, sich mit nichts anderem als einem Ast gegen ihre langen Stahlklingen zu stellen. Das war ihr Fehler. Der Fremde, der sah, daß Hilfe nahte, schien neue Kraft zu finden. Mit einem wilden Schrei stürzte er sich auf sie und kämpfte wie ein Derwisch.

Jarvas wütete wie besessen, ließ seinen Ast auf Arme und Gesichter niederkrachen, wich Schwerthieben aus und richtete größtes Unheil unter den Söldnern an. Es sah so aus, als würde das ungleiche Paar gegen alle Erwartungen gemeinsam den Sieg erringen, als Tilda bemerkte, wie der fette Kerl von einem Kaufmann, der diesen ganzen Ärger begonnen hatte, zur Tür schlich – offensichtlich um Hilfe zu holen. Die Erregung des Kampfes war Tilda zu Kopf gestiegen. Ohne auch nur einen Augenblick lang nachzudenken, griff sie nach ihrem Hocker und schlich sich von hinten an Pendral heran, um ihm einen schweren Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen. Das dünne Holz zersplitterte unter der Wucht ihres Schlages, und der fette Mann stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden. Tilda stieß einen Jubelschrei aus. Erst jetzt hatte die Erregung des Kampfes sie wirklich gepackt, und sie griff nach einem weiteren Hocker, um sich auf die übrigen Wachen zu stürzen, wobei sie jedesmal wartete, bis einer ihr den Rücken zuwandte, bevor sie auf ihn einschlug.

Es war ganz leicht – bis die Wachen bemerkten, daß ihr Angreifer weder ein Riese noch ein Krieger war, sondern eine kleine und unerfahrene Frau. Wie ein Mann bewegten sich plötzlich auf sie zu. Tilda wich zurück, und ihr wurde tödlich kalt, als sie begriff, daß sie sich da mehr vorgenommen hatte, als sie bewältigen konnte.

»Was, im Namen aller Götter, glaubst du, was du da tust?« Ein starker Arm riß sie zur Seite, gerade in dem Augenblick, als eine Klinge pfeifend niedersauste, wo sie kurz zuvor noch gestanden hatte. »Aus dem Weg mit dir, du Idiotin, und komm uns ja nicht wieder in die Quere!« Jarvas schleuderte sie so heftig zur Seite, daß sie der Länge nach hinfiel. Dann ließ er einen gespaltenen und im Laufe des Kampfes immer kürzer gewordenen Knüppel auf das Handgelenk des Mannes niedersausen, der sie angegriffen hatte. Tilda raffte sich fluchend auf und rieb sich ihre blauen Flecken. Sie war dankbar für ihre Rettung, aber gleichzeitig auch auf geradezu absurde Weise verärgert darüber, daß er so grob und beleidigend zu ihr gewesen war. Ich bin bis dahin ganz gut zurechtgekommen, dachte sie zornig. Ich werde es ihm schon zeigen. Sie sah sich nach einem weiteren Hocker um, aber der Kampf war bereits vorüber. Der Fremde grinste Jarvas über einen Haufen regloser Menschenleiber hinweg an. »Guter Kampf«, sagte er und brach zusammen.

»O verflucht«, sagte Jarvas. »Kannst du mir helfen? …« Einen Augenblick lang runzelte er die Stirn, dann hellte sein Gesicht sich auf. »Tilda, nicht wahr? Ich muß ihn nach Hause bringen. Und für mich wird es heute nacht auf der Straße auch nicht mehr sicher sein, sobald sich diese Sache hier herumgesprochen hat.« Er hielt inne und blickte auf sie herab. »Ich fürchte, das gilt auch für dich, Mädchen – du hättest weglaufen sollen, als du noch die Chance dazu hattest. Jetzt steckst du genauso tief in der Sache wie wir.«

Tilda erstarrte. »Ich kann nicht mit euch gehen«, protestierte sie, denn sie weigerte sich, die eigentliche Bedeutung ihrer Worte zu akzeptieren. »Was ist mit meinem Sohn? Er braucht mich. Außerdem muß ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen.«

Jarvas sah sie ernst an und schüttelte den Kopf. »Nicht in Nexis«, sagte er zu ihr. »Jetzt nicht mehr.«

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