Der Erzmagusch war wieder einmal fortgegangen, um seine südlichen Marionetten zu überwachen, und sein Aufbruch bedeutete wie jedesmal für Eliseth eine gewaltige Erleichterung. Obwohl nur Miathans Geist fort war, verbesserte sich die Atmosphäre in der Akademie durch das Fehlen seiner brütenden Gedanken sofort beträchtlich, und die Wettermagusch konnte sich endlich entspannen. In der Sicherheit ihrer Gemächer betastete sie mit ängstlichen Fingern ihr Gesicht. Ihre Haut war jetzt wieder so glatt, straff und seidig dort, wo sie noch vor so kurzer Zeit rauh und eingefallen war. Plötzlich wünschte sie, sie hätte nicht alle Spiegel zerschlagen. Was für eine Freude wäre es gewesen, wieder sich selbst zu sehen und nicht dieses gräßliche, alte Weib. Dank sei den Göttern – aber auf der anderen Seite, warum sollte sie ihnen danken? Eliseth hatte sich durch ihre eigene Klugheit gerettet.
Nichtsdestoweniger machte die Magusch sich schleunigst daran, ihr Wort zu halten und den Winter wiederherzustellen – eine einfache Angelegenheit, obwohl ihr Wetterdom in dem Kampf mit Aurian durch den Rückstoß magischer Kräfte zerstört worden war. Ihr Winterzauber hatte jedoch nicht viel Zeit gehabt, um sich zu verbrauchen, und es kostete sie nur geringe Mühe, ihn wieder aufzubauen. Dazu stieg sie auf den offenen Dachtempel auf dem Maguschturm, von dem Bragars Asche mittlerweile entfernt worden war. Als sie ihr Werk vollendet hatte, ging Eliseth langsam wieder nach unten, wobei sie die weiche Biegsamkeit ihres wieder jugendlichen Körpers genoß und den Frieden in dem stillen Turm auskostete. Als sie an Miathans Tür vorüberkam, blieb sie stehen. Hinter dieser Tür mußte sein Körper liegen, unbewacht und hilflos, während sein Geist weit fort im Süden war, um seine Pläne für Aurians Gefangennahme zu überwachen.
Eliseth blieb vor der Tür stehen und betrachtete eingehend das Honigwabenmuster in der Maserung des Holzes. Die Versuchung war überwältigend. Es wäre so leicht … Als sie ihre Hand auf den Türgriff legte, streifte sie ein Schwall prickelnder Kälte. Aus den Augenwinkeln sah Eliseth die dunstig schimmernde Illusion eines Abwehrzaubers. Fluchend riß sie ihre Hand zurück und rieb sich die Innenfläche an ihren Röcken ab. Ich hätte es wissen müssen, dachte sie. Der alte Wolf würde mir nie so weit trauen – weder mir noch irgend jemandem sonst –, daß er seinen Körper in seiner Abwesenheit unbewacht ließe. Sie fragte sich, welchen Zauber Miathan über die Tür gelegt hatte, welches Schicksal sie erwartet hätte, wäre sie dumm oder unaufmerksam genug gewesen, den Riegel umzulegen. Es wäre sicher etwas Unaussprechliches gewesen, da war Eliseth sich ganz sicher. Jetzt, da Miathan über die Macht des Kessels verfügte …
Schaudernd ging die Wettermagusch an Miathans Tür vorbei und setzte hastig ihren Weg die Treppe hinab fort. Die nächsten Räume, an denen sie vorbeikam, gehörten Aurian. Nach einem Augenblick des Zögerns drückte Eliseth die schwere Tür auf. Die Zimmer waren aufgeräumt – so aufgeräumt, wie Anvar sie in jener Nacht zurückgelassen hatte, als er mit seiner Herrin aus Nexis geflohen war. Eliseth rümpfte die Nase über den modrigen Geruch, der in diesen Zimmern herrschte. Die feuchte Luft war schal und abgestanden, der lange nicht mehr benutzte Kamin kalt und grau und mit einem dicken Aschenbelag überzogen. Spinnweben und Staub hüllten die Möbel wie ein geisterhafter Schleier ein, und an den vermodernden Kissen hatten Mäuse genagt.
Die Wettermagusch lächelte. Wenn der Erzmagusch seinen Willen durchsetzte, würde Aurian schon bald einen ähnlichen Zustand in ihrer Seele erleben. Wie gut, daß ich dich nicht getötet habe, Aurian, dachte Eliseth. Miathan kann dich viel mehr leiden lassen, als ich es vermocht hätte! Mit diesem Gedanken drehte sie sich auf dem Absatz um, kehrte der düsteren Kammer, ohne sich noch einmal umzusehen, den Rücken und machte sich weiter auf den Weg in ihre eigenen Räume, ein Stockwerk weiter unten.
Während die Magusch sich weiter oben zu schaffen gemacht hatte, hatte einer der wenigen ihnen noch verbliebenen Dienstboten – ein zerlumptes Balg mit spitzem Gesicht – ihre Räume saubergemacht. Als Eliseth eintraf, warf das Mädchen ihr hinter einem Vorhang zerzauster, brauner Locken einen verängstigten Blick zu und machte dann, seinen Putzlumpen mit schmutzigen Fingern fest umklammernd, einen flüchtigen Knicks. »Ich – ich habe dir ein Bad eingelassen, Lady«, wisperte sie ängstlich. »Ich hoffe, das war richtig.«
Das Küchenmädchen hatte sich selbst übertroffen bei ihren Bemühungen, Eliseths Gemach wieder in Ordnung zu bringen. Die zerbrochenen Spiegel waren fort, und kein einziger Glassplitter war auf dem glänzenden Boden zurückgeblieben. Die Möbel waren abgestaubt und die Weinkrüge und Kelche weggeräumt. Die Flecken an der Wand, dort, wo ihr Weinglas aufgeprallt war, waren vollkommen verschwunden, und in dem sauber ausgefegten Kamin loderte ein helles Feuer. Eliseth nickte zustimmend. Endlich! Wenigstens eine von diesen Schlampen weiß, wie man arbeitet. Sie entließ das Mädchen und schickte sie mit dem Befehl, daß man ihr, der Magusch, eine Mahlzeit zubereiten solle, in die Küche zurück.
Als Eliseth ihr Badezimmer betrat, war sie noch dankbarer. In dem quadratischen Eisenofen brannte ein Feuer, die Badewanne war voll dampfendem Wasser, und Seife sowie duftende Öle lagen für sie bereit. Frisch gewaschene Handtücher hingen in der Nähe des glühenden Ofens, damit sie ein wenig warm waren, wenn sie gebraucht wurden. Die Magusch war entzückt. War für einen Unterschied solche Annehmlichkeiten doch machten, dachte sie. Ihre frühere Magd war von einem der Todesgeister ermordet worden, in jener Nacht, als Miathans abscheuliche Kreaturen in Nexis Amok gelaufen waren, und seitdem waren sie in der Akademie so knapp mit Hilfskräften, daß Eliseth noch keine neue Magd für sich hatte finden können. Aber dieses Mädchen war wirklich nicht schlecht … Eliseth lächelte. Vielleicht wendet sich das Blatt für mich endlich wieder, dachte sie. Sie zog die Robe aus, die sie als altes Weib getragen hatte, und ihr Gesicht verdüsterte sich bei der Erinnerung daran zu einem finsteren Stirnrunzeln. Mit einem gemurmelten Fluch ballte sie das Kleid zusammen und warf es in den Ofen, wo es sogleich Feuer fing und verbrannte.
Als sie sich in das duftende Wasser gleiten ließ, schnitt das Bedauern über den Verlust von Davorshan wie ein Messer durch Eliseths Seele. Sie vermißte den jungen Wettermagusch. Unter ihrer Führung war er immer talentierter geworden, sowohl in der Magie als auch in ihrem Bett, und er hatte sich als ein williges und nützliches Instrument ihrer Pläne gezeigt, bis Miathan ihn weggeschickt hatte, um Eilin zu töten, und er selbst dabei umgekommen war. Eliseth war froh über Miathans Auftrag, herauszufinden, wer Davorshan ermordet hatte, denn sie war entschlossen, ihn zu rächen. Aber in der Zwischenzeit blieb Eilins Tal ein Rätsel, das mit äußerster Gefahr verbunden war. Wie sollte sie herausfinden, was dort vor sich ging? Während die Magusch, in nachdenkliches Grübeln versunken, in dem beruhigenden Wasser lag, nahmen die ersten Keime eines Plans in ihren Gedanken Gestalt an.
Nachdem sie einige Zeit später, endlich wieder an Leib und Seele gereinigt, aus dem Wasser gestiegen war, kehrte Eliseth in ihre Schlafgemach zurück und legte ein loses Gewand aus dicker, weißer Wolle an. Dann beschwor sie eine warme Brise herauf, um die letzte Feuchtigkeit aus ihrem Haar zu vertreiben, und rollte sich schließlich auf den weißen Samtkissen ihres Sessels am Fenster zusammen, um ihre silbernen Haarsträhnen zu bürsten.
Es würde eine Weile dauern, bis die grimmigen Wolken ihres Winters wieder an ihren Platz über Nexis zurückkehrten. In der Zwischenzeit schien der Himmel das Beste aus seiner augenblicklichen Chance machen zu wollen. Ein spektakulärer Sonnenuntergang überflutete den Hof der Akademie mit honigfarbenem Licht und kühlen, blauen Schatten und verwandelte das zerschmetterte Gerippe ihres Wetterdoms in Feuer und dunkelrotes Blut. Bragars Blut. Bei der Erinnerung an ihr Versagen und ihre Schande sog Eliseth scharf die Luft ein. »Warte nur, Aurian«, fauchte sie wütend. »Eines Tages werde ich meine Rache bekommen!«
Die topasfarbene Pracht des Sonnenuntergangs verblaßte in einem Zwielicht, das zuerst die Farbe von Saphiren und dann die von Amethysten annahm. Zu Eliseths Erleichterung zog die Nacht nun ihren schattigen Mantel über Nexis und machte die Zerstörungen im Hof unsichtbar. An dem tiefen Himmelsgewölbe über ihr tauchten die ersten Diamantspitzen der Sterne auf.
»Lady Eliseth? Bist du hier?« Sie hörte ein schüchternes Klopfen an der Tür ihres Schlafgemachs.
»Wie kannst du es wagen, mich zu stören!« Die Magusch riß die Tür auf und stürzte sich auf das zerlumpte Mädchen, das auf der anderen Seite stand.
»Aber Lady, dein Abendessen …« Ihre Worte endeten mit einem Wimmern, als Eliseth ihr ins Gesicht schlug.
»Keine Widerworte, du Gassengöre!« zischte sie. Das Mädchen ballte die Fäuste, und hinter den fettigen Locken ihres Haares blitzten ihre Augen trotzig auf. Eliseth hob die Augenbrauen. Es sah so aus, als hätte sie den kleinen Fratz unterschätzt! Was für eine nette Abwechslung es sein wird, ihren Willen zu brechen und sie mir gefügig zu machen, überlegte sie. »Wie heißt du, Kind?« fragte sie.
»Inella, Lady«, murmelte die Kleine.
»Sprich lauter, Mädchen! Und sag mir, warum habe ich dich noch nie zuvor hier gesehen?«
»War früher nicht hier.«
Es juckte Eliseth in den Fingern, sie wieder zu schlagen, aber sie hielt ihr Temperament im Zaum. Sie wollte, daß das Mädchen sie fürchtete und respektierte, aber sie brauchte auch seine Treue. Mit einiger Mühe gelang es Eliseth, ein Lächeln hervorzubringen. »Bist du hungrig, Kind?« Das Mädchen nickte, und ihre großen Augen hefteten sich auf die Servierschalen, die sich auf Eliseths Essenstablett drängten.
Eliseths Mund verzog sich zu einem zuckenden, kleinen Lächeln, als sie die Speisen auf dem Tablett teilte und sich zunächst einmal mit großzügigen Portionen von dem Fleischeintopf und dem gedämpften Gemüse bediente. Aber sie ließ in den zugedeckten Schalen genug übrig, damit das halb verhungerte Kind ebenfalls noch satt werden konnte. Dann nahm sie eine der süßen Apfelpasteten, die mit Nelken und Zimt gewürzt waren und ließ die andere für Inella übrig. »Hier, Kind.« Sie gab ihr das Tablett zurück. »Nimm das mit in eine stille Ecke und iß dich satt – so, wie du aussiehst, bekommst du von Janok wohl ziemlich kleine Portionen. Melde dich morgen früh gleich wieder hier bei mir, und dann kümmern wir uns darum, die scheußlichen Lumpen, die du trägst, durch Besseres zu ersetzen.«
Der stumpfe, widerwillige Blick war aus Inellas Gesicht verschwunden. Es sah so aus, als hätte sie Eliseths übellaunige Ohrfeige bereits vergessen. »Oh, Lady, ich danke dir!« Die Augen des Kindes strahlten vor Dankbarkeit, als sie das dargebotene Tablett entgegennahm, das sich gefährlich zur Seite neigte, als sie einen Knicks machte. Eliseth fing es gerade noch rechtzeitig auf, bevor die Schalen zu Boden rutschen konnten. »Und jetzt weg mit dir«, sagte sie. »Genieß dein Abendessen, Kind – und wenn du dich wieder bei Janok meldest, sag ihm, daß ich dich von jetzt an als meine persönliche Magd haben will.«
Als das Mädchen, das sich unablässig weiter bedankte, verschwunden war, setzte Eliseth sich an den Tisch, um ihr erstes wohlschmeckendes Mahl zu genießen, seit Miathan sie mit der Gestalt des häßlichen, alten Weibes geschlagen hatte. Es war eine gute, solide Kost – etwas ganz anderes als die Suppe und der Haferbrei, die das einzige gewesen waren, was sie mit den zahnlosen Kiefern der Alten hatte essen können. Die Magusch aß mit großem Appetit, aber mehr noch als das Essen kostete sie den Gedanken daran aus, daß sie wieder einmal ein williges Werkzeug haben würde, ein Werkzeug, dem sie mit Hilfe ihres falschen, mühelosen Charmes ihren Willen aufzwingen würde. Eliseth lächelte. Sie war sich sicher, daß die kleine Magd sich im Endeffekt noch als sehr nützlich erweisen würde. Das taten die Sterblichen meistens.
Eilins Tal fing die üppigen Farben des Sonnenuntergangs auf wie eine Handvoll Juwelen. Am Rande der glitzernden Wasser des Sees tummelte sich ein prachtvolles Einhorn, das mit seinen stampfenden Hufen einen wie tausend Sterne funkelnden Sprühregen aufwirbelte und mit seinem silbernen Horn einen Regen von Diamanttröpfchen durch die Luft schoß. D’arvan beobachtete Maja mit einem Lächeln. Bei den Göttern, sie war atemberaubend! Das schönste Geschöpf, das je gelebt hatte, und er war der einzige, der das Privileg genoß, es zu sehen – und doch hätte er dieses Wunder auf der Stelle dafür eingetauscht, seine Maja zurückzubekommen. Ihr herzliches Lachen und ihren Sinn für Humor; ihren unverblümten, gesunden Menschenverstand, in dem immer auch so viel Mitleid für andere lag; ihre schlanke, drahtige Gestalt mit den starken, sonnengebräunten Gliedern; ihr glänzendes, dunkles Haar, das in Kriegermanier zu festen Zöpfen geflochten war oder in sanften Wellen offen auf einem Kissen lag …
Als sei auch er gerade erst aus den Wasser des Sees gestiegen, schüttelte D’arvan sich, um sich von den Träumen der Sehnsucht zu befreien, während das Einhorn langsam näher kam. Das sich allmählich verdüsternde Zwielicht warf blausilberne Schatten auf dem mondgesponnenen Fell. D’arvan legte seine Arme um Majas Hals, und die beiden – der Magusch und das Zauberwesen – umarmten einander und teilten einen Augenblick lang ihre Einsamkeit. Wie lange würde diese elende Trennung noch dauern? fragte sich D’arvan. Er und Maja taten alles, worum sein Vater, der Waldfürst, sie gebeten hatte. Seine Magie, von der er vermutete, daß sie durch die uralten Kräfte der Phaerie zugenommen hatte, hatte Eliseths tödlichen Winter von dem Tal ferngehalten, das wie ein einsamer Smaragd in dem von eisernen Klauen umschlossenen Land ringsum erstrahlte. Bäume, wach und aufmerksam, füllten das große Becken von einem Rand zum anderen und spendeten den Feinden des Erzmagusch Zuflucht, Schutz und Nahrung. D’arvan und die Wölfe der Lady Eilin kontrollierten das Tal und beschützten diejenigen, die in seinem Innern lebten, vor Eindringlingen und Gefahren. Maja bewachte das Seeufer und die hölzerne Brücke, die zu der Insel und ihrem verborgenen Geheimnis führte – dem legendären Flammenschwert, in uralter Zeit vom Drachenvolk geschmiedet, um das größte der Artefakte der Macht zu werden.
D’arvan seufzte. Wäre dieses verfluchte Schwert nicht … Aber seine Wünsche waren nutzlos. Es gab sie eben, diese Waffe der Hohen Magie, und bis der Eine, für den sie geschmiedet war, kam, um sie zu holen, so wie es vor langer Zeit vorhergesagt worden war – so lange mußten er und Maja ihre einsame Wächterschaft erfüllen. Der Magusch fragte sich wie so oft, wer der Träger des Schwertes sein würde. Es war ja alles gut und schön, dachte er, solange man davon ausgehen konnte, daß er auf unserer Seite stehen wird. Aber es könnte jeder sein! Was ist, wenn es sich herausstellt, daß es der Erzmagusch ist? D’arvans Eingeweide zogen sich bei diesem Gedanken vor Entsetzen zusammen.
Maja – oder, um genau zu sein, das Einhorn – versetzte ihm einen kräftigen Stoß in die Magengegend, so daß er zurücktaumelte und Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. »Na schön«, sagte D’arvan zu ihr. »Ich weiß; ich verschwende nur meine Zeit mit diesen törichten Gedanken, während du einen letzten Blick auf deinen Freund Hagorn werfen willst, bevor er aufbricht.«
Die Dunkelheit senkte sich herab, und alles war still bis auf das rhythmische Quaken der Frösche in den Binsen. Geisterhafte Ranken aus silbernem Nebel wirbelten über die dunkle, glatte Oberfläche des Wassers. D’arvan hielt den Stab der Lady Eilin empor, und die Bäume teilten sich vor ihm, um ihre belaubten Häupter wie zu einer Huldigung über den Pfad zu neigen, den sie geschaffen hatten. Gemeinsam ließen sie den See hinter sich, Magusch und Einhorn, und verschwanden in dem dunklen Wald wie die letzten, verblassenden Erinnerungen an einen Traum.
Es war nicht mehr weit vom See bis zum Lager von Vannors Rebellen. Obwohl D’arvan und das Einhorn für die Sterblichen unsichtbar waren, hielten sie sich doch im Schutz des Dickichts am Rande der Lichtung. D’arvan hatte ein- oder zweimal versucht, das Lager zu betreten, aber der leere Ausdruck von Vannors Flüchtlingen hatte an seinen Nerven gezerrt, denn ihre Blicke waren mitten durch ihn hindurchgegangen. Man war schon einsam genug als Unsichtbarer, hatte der Magusch gefunden, ohne an diese Tatsache auch noch erinnert zu werden.
Unsichtbar oder nicht, D’arvan hatte den Rebellen einen großen Dienst erwiesen, indem er ihnen ein Lager errichtet hatte. Sein Vater hatte ihm befohlen, Miathans Feinde zu beschützen, und er hatte sein Bestes getan, sogar schon bevor Vannors Leute angekommen waren. Da ihm der Schutz der Bäume dringend am Herzen lag, hatte D’arvan jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme getroffen, um die Flüchtlinge davon abzuhalten, sich an lebendigem Holz zu vergreifen. Die runden Schutzzelte, die die Lichtung umringten, waren aus Schößlingen und Büschen gemacht, die der Erdmagusch dazu überredet hatte, sich ineinander zu verschlingen und dabei Höhlen zu bilden, in denen Menschen leben konnten. D’arvan sorgte dafür, daß jeden Tag ein neuer Stapel abgestorbenes Holz im Lager auftauchte, den er mit Hilfe eines Apportzaubers – eines der Kunststücke, die er in seiner kurzen Lehrzeit bei der Lady Eilin gelernt hatte – von den am weitesten entfernten Teilen des Waldes zu den Rebellen hinschaffte. Wo immer Vannors Leute hinzugehen wünschten, taten sich Pfade auf. Die Haselnußsträucher und Obstbäume, die am Flußufer wuchsen, waren dazu überredet worden, eine frühe Ernte hervorzubringen, und obwohl die Insel mit Eilins Garten den Gesetzlosen verboten war, hatte D’arvan den größten Teil ihrer weit verstreuten Ziegen und das Federvieh zusammengetrieben und sie an einer Stelle zurückgelassen, wo die Rebellen sie finden mußten.
Der junge Magusch lächelte bei der Erinnerung daran, wie verängstigt die Rebellen zu Anfang gewesen waren – und wie schnell sie sich eingewöhnt hatten. Vannors respekteinflößende Haushälterin Dulsina war natürlich die erste gewesen, die feststellte, daß sie von irgendwoher Hilfe bekamen, daß irgend jemand sie beschützte und daß sie das Beste daraus machen mußten – was sie auch tatsächlich getan hatten. Darvans kleines Nest war offensichtlich eine gewaltige Verbesserung gegenüber ihrem Versteck in den Abwässerkanälen von Nexis!
Nur mit größtem Widerwillen konnte Vannor sie schließlich dazu bringen, den anderen klarzumachen, daß dieses Idyll im Wald ihnen nicht weiterhalf. Er hatte beschlossen, daß jemand zurück nach Nexis gehen mußte, wenn sie Informationen über ihre Feinde haben wollten, wenn sie ihre kleine Streitmacht vergrößern und mehr Menschen aus der Stadt an diesen sicheren Ort bringen wollten. Am Ende wurde, zu Majas offenkundiger Mißbilligung, Hagorn für diese Mission ausgewählt.
»Bist du sicher, daß du alles hast?« fragte Dulsina Hagorn. Vannor, der von einem umgestürzten Baum in der Nähe zusah, grinste über den angewiderten Gesichtsausdruck des alten Soldaten.
»Bei den Göttern, Frau«, protestierte Hagorn. »Ich habe schon mein Bündel für irgendwelche Feldzüge geschnürt, als du noch ein kleines Mädchen warst und an den Schürzenbändern deiner Mutter gehangen hast. Natürlich habe ich alles!«
Vannor, der das vertraute, hinterhältige Funkeln in Dulsinas Augen bemerkt hatte, beugte sich erwartungsvoll vor.
Der alte Soldat seufzte und hob seine Augen gen Himmel.
»Essen, Wasserflasche, Kleider zum Wechseln, Decke, Feuerstein und Zündhölzer …«Er zählte noch verschiedene Teile seiner Kleidung und seiner Stiefel auf, in denen Dolche verborgen waren. »Umhang …, sonst noch was? Oder gibst du jetzt endlich zu, daß du geschlagen bist?«
Mit einem süßen Lächeln ließ Dulsina eine Hand in die Tasche ihres Kleides gleiten und zog einen kleinen, aber gut gefüllten Lederbeutel hervor. »Geld?« schlug sie vor. »Oder hattest du die Absicht, für dein Abendessen zu singen, wenn du nach Nexis kommst? Ich habe deinen Gesang gehört, Hagorn – die Vorstellung, daß du davon abhängig sein könntest, würde mir gar nicht gefallen.«
Vannor, der ihr das Silber gegeben hatte – den letzten Rest seiner ohnehin geringen Mittel, damit sie es an den ergrauten Krieger weitergab –, brach in Gelächter aus.
»Sieben verfluchte Dämonen!« sagte Hagorn mit Gefühl. Dann wandte er sich an den kichernden Kaufmann. »Das ist deine Schuld – sie ist deine Haushälterin!«
»Wieso soll es meine Schuld sein?« protestierte der Kaufmann. »Du hast sie hierhergebracht – du kannst dir die Schuld also ruhig selbst zuschreiben. Außerdem habe ich sie schon lange entlassen – aber sie weigert sich ja zu gehen.«
»Entlassen, wahrhaftig – und zehn Tage später bist du zurückgekommen, um mich zu bitten, meine Arbeit wieder aufzunehmen, weil dir das Haus über dem Kopf zusammenfiel«, schnaubte Dulsina verächtlich. Jetzt war es an Hagorn, sich über das offenkundige Unbehagen seines Freundes lustig zu machen. »Es endet immer auf die gleiche Art und Weise«, erzählte Dulsina dem Krieger. »Die Wahrheit ist, daß er ohne mich einfach nicht zurechtkommt.«
»Sei endlich still«, knurrte Vannor und legte ihr voller Zuneigung einen Arm um die Taille, »sonst muß ich wohl etwas Respekt in dich hineinprügeln. Hätte ich vor langer Zeit schon tun sollen.«
Weit entfernt, sich durch seine Drohung beeindruckt zu zeigen, brach Dulsina in fröhliches Gelächter aus.
»Hör auf zu lachen, Weib!«
»Dann hör du auf, den Narren zu spielen«, kicherte Dulsina und löste sich von ihm, bevor ihm eine Antwort einfiel.
»Hast du es je geschafft, bei dieser Frau das letzte Wort zu behalten?« erkundigte sich Hagorn.
»Ich kenne sie jetzt schon über zwanzig Jahre lang, und bisher ist es mir nicht gelungen.« Vannor blickte zu seiner Haushälterin hinüber, die mittlerweile auf der anderen Seite der Lichtung den Inhalt von Fionals Bündel überprüfte. »Auf der anderen Seite«, sagte er, »würde ich ohne zu zögern mein Vermögen, meine Kinder und mein Leben in ihre Hände legen.« Er zuckte mit den Schultern. »Um ehrlich zu sein, Hagorn, ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde. Ich bin froh, daß sie dich dazu überredet hat, sie hierherzuschmuggeln – aber wehe, wenn du ihr das erzählst!«
Hagorn kicherte. »Ich wußte, daß du irgendwann zur Vernunft kommen würdest. Eine Entwicklung, die Dulsina übrigens ebenfalls vorhergesehen hat.« Der alte Soldat lächelte, als er den jämmerlichen Gesichtsausdruck des Händlers sah. Wie schade, dachte er, daß Vannor immer noch von der Erinnerung an diese hinterhältige, kleine Hexe besessen ist, die er geheiratet hat. Was für eine Verschwendung! Es liegt auf der Hand, daß er Dulsina gern hat – und so wie es aussieht, nehme ich an, daß sie ihn schon seit Jahren liebt. Eine hübsche, kluge und vernünftige Frau wie sie ist genau das, was ein Mann wie Vannor braucht – nicht die Tochter irgendeines verdammten Müllers, die nur halb so alt war wie er und es einzig und allein auf seinen Reichtum abgesehen hatte. Hagorn seufzte. Die arme Dulsina – verschwendet sich an einen Narren, der nicht genug Verstand hat, sie so zu schätzen, wie sie es verdient. Also wirklich, wäre ich nur zehn Jahre jünger, würde ich ihr selbst den Hof machen – nicht, daß ich auch nur einen Augenblick lang glaubte, daß sie mich nehmen würde.
Gerade in diesem Augenblick kam Fional herbei, und der ängstliche Gesichtsausdruck des jungen Mannes stimmte Hagorn nachdenklich.
»Vannor, Dulsina verstreut alles, was ich in meinem Bündel hatte, auf dem Boden«, beklagte sich der junge Bogenschütze. Dann fuhr er sich unglücklich mit der Hand durch seine zotteligen, braunen Locken. »Sag ihr, daß sie damit aufhören soll.«
Der Bogenschütze hatte von Vannor den Auftrag bekommen, eine Botschaft zu überbringen. Vannor wollte seine Tochter Zanna wissen lassen, daß sie hier im Tal in Sicherheit waren – und er wollte dafür sorgen, daß Yanis, der Führer der Nachtfahrer, Kontakt zu Hagorn aufnahm, sobald dieser in Nexis war. Die Schmuggler hatten dort einen Mann, von dem niemand etwas wußte. Seit der Flucht der Rebellen hatte Miathan dafür gesorgt, daß die Stadt gut bewacht wurde. Jede Bewegung wurde genau beobachtet. Wenn also Hagorn Leute fand, die Nexis verlassen wollten – und daran hatte Vannor keinen Zweifel –, mußte dafür gesorgt sein, daß die Schmuggler sie über den Fluß aus der Stadt herausbringen konnten. In diesem Augenblick sah es jedoch so aus, als könnte Fional von Glück sagen, wenn er überhaupt wegkäme.
»Du solltest diese Sachen einpacken, Fional«, tadelte ihn Dulsina, »statt sie einfach nur hineinzustopfen.« Sie hielt des Ersatzgewand des jungen Bogenschützen empor, das zusammengeknautscht ganz unten in dem Bündel gelegen hatte.
»Was spielen ein paar Knitter schon für eine Rolle?« protestierte der junge Mann. »Ich war damit beschäftigt, neue Pfeile zu machen – ich hatte keine Zeit, irgendwelche Sachen kunstvoll zusammenzufalten.«
Dulsina seufzte. »Es geht doch nicht um zerknitterte Kleidung. Wenn du diese Sachen vernünftig zusammenfaltest, so in etwa, hast du mehr Platz für dein Essen. Du hast nicht einmal annähernd genug eingepackt.«
Fional stöhnte ganz wie jemand, der bereits wußte, daß eine Erwiderung zwecklos war. »Ich dachte, ich könnte unterwegs Kaninchen und Vögel schießen.« Der junge Bogenschütze war zu Recht stolz auf seine Talente, aber Dulsina zeigte sich wenig beeindruckt von seinen praktischen Einwänden.
»Hast du vergessen, daß es da draußen Winter ist?« fragte sie ihn. »Auf diesen Mooren da werden sich bestimmt nicht viele Tiere tummeln – und außerdem hast du keine Zeit zum Jagen.«
Der junge Mann errötete unter seinem Bart, und Dulsina tätschelte ihm beschwichtigend den Arm. »Mach dir nichts draus«, sagte sie. »Es war einfach ein Versehen. Ich hole dir jetzt noch etwas Proviant.«
Vannor und Hagorn tauschten verständnisvolle Blicke mit dem jüngeren Mann. »Ich weiß«, sagte der Kaufmann zu ihm. »Glaub mir – ich weiß – aber die Sache ist die: Sie hat immer recht.«
D’arvan, der von seinem Versteck aus zusah, war entsetzt. Er hatte gewußt, daß Hagorn gehen würde – aber doch nicht auch noch Fional! Ebenso wie Maja war auch der junge Bogenschütze sein Freund geworden, nachdem Aurian ihn zum ersten Mal zu einem ihrer Besuche in der Garnison mitgenommen hatte. Sie beide, ein Magusch und ein Sterblicher, hatten eine gemeinsame Leidenschaft fürs Bogenschießen entwickelt – eine Leidenschaft, die in D’arvans Fall nur von seiner Liebe zu Maja übertroffen wurde –, während es in Fionals Fall nichts und niemanden gab, was seine Liebe zu Pfeil und Bogen in den Schatten gestellt hätte. Zumindest bis jetzt noch nicht, dachte der junge Magusch bei dem Gedanken an seine eigene Leidenschaft für Forrals dunkelhaarige Stellvertreterin, die ihn so vollkommen überraschend in ihren Bann geschlagen hatte.
Als der Erzmagusch die Herrschaft über Nexis an sich gerissen hatte, hatte D’arvan sich um Fionals Sicherheit gesorgt und war zutiefst erleichtert gewesen, ihn gesund und munter unter den Rebellen zu entdecken, die im Tal Zuflucht suchten. Hier war der Magusch endlich in der Lage gewesen, seinen Freund zu beschützen – aber sich vorzustellen, wie er allein über diese zugefrorenen Moore streifte, allen möglichen Gefahren ausgesetzt … Und doch war Fional ein vernünftiger junger Mann, der mehr konnte, als sich mit einer Klinge zu verteidigen, und der mit seinem Bogen natürlich tödlich war. Darüber hinaus war er ein erfahrener Pfadfinder, der sich auf den Mooren wohl kaum verirren würde – was natürlich der Grund dafür war, warum Vannor gerade ihn ausgewählt hatte. Darvan war sich im Innersten seines Herzens all dieser Dinge bewußt, machte sich aber dennoch große Sorgen. Oh, wenn er das Tal doch nur verlassen und seinen Freund begleiten könnte, um für seine Sicherheit zu sorgen! Aber das würde bedeuten, Maja im Stich zu lassen – und außerdem konnten er und das Einhorn das Tal überhaupt nicht verlassen. Sie waren die Wächter hier und mußte die ihnen zugewiesenen Aufgaben erfüllen.
Plötzlich versteifte sich D’arvan, aufmerksam geworden durch eine heftige Unruhe unter den Bäumen, die in seiner Nähe standen. Als er sein Bewußtsein auf den Wald richtete, nahm er die warnende Botschaft der Baumwächter wahr. Eindringlinge! An der Grenze des Tals waren Leute, die versuchten, sich Eintritt zu verschaffen. Er drehte sich zu Maja um. »Zur Brücke, meine Liebste – schnell!« Mit einem Aufblitzen seiner Hufe war das Einhorn auch schon verschwunden. D’arvan eilte in entgegengesetzter Richtung zum Rand des Waldes, um festzustellen, wer die Eindringlinge waren.
»Weg? Was meinst du, sie ist weg?«
Tarnal machte einen hastigen Schritt nach hinten, als er den Zorn auf Vannors Gesicht sah. Es war schon schlimm genug gewesen, dachte der junge Schmuggler, sich an diesen beunruhigenden Ort zu begeben. Er und Remana hatten eine ganze Weile in der Falle gesessen, gegen einen Baum gedrängt von einem Rudel der abscheulichst aussehenden Wölfe, die ihm je zu Gesicht gekommen waren, als der schützende Baumstamm hinter ihm plötzlich einfach seine Wurzeln aus der Erde gezogen und sich bewegt hatte! Als er sich dann wieder umsah, war das Wolfsrudel verschwunden und ein breiter, von Blättern überwölbter Gang hatte sich vor ihm geöffnet, ein Gang, der hinunter in den Krater führte. Tarnal seufzte und verfluchte Yanis mit gedämpfter Stimme. So erschreckend auch die Begegnung mit den Wölfen gewesen war, war sie doch nichts im Vergleich dazu, Vannor erklären zu müssen, daß seine Tochter verschwunden war.
»Was, in drei Teufelsnamen, hat sich Yanis dabei gedacht?« Vannors Schimpftirade ging ohne Unterbrechung weiter. »Wie ist es möglich, daß Zanna ihm unbeobachtet entkommen konnte? Was für ein Narr ich doch war, diesem Schwachkopf von einem Idioten meine Tochter anzuvertrauen! Und was dich betrifft …« Sein Zorn richtete sich nun gegen Remana. »Ich dachte, du wolltest auf sie aufpassen. Ich habe dir vertraut …«
Remana wirkte erschüttert. Tarnal seufzte. Ich kann die Sache genausogut gleich hinter mich bringen, dachte er. »Ich hatte in dieser Nacht Wache«, unterbrach er den zornigen Kaufmann. »Ich hätte nie gedacht, daß sie … Und dann hat sie mich einfach überlistet …« Unter Vannors vernichtendem, haßerfülltem Blick erstarben ihm die Worte in der Kehle.
»Sie hat diesen Trick schon einmal bei Tarnal versucht, bevor du zu uns gekommen bist.« Remana kam dem jungen Mann zu Hilfe. »Ehrlich, Vannor. Wir hätten nie gedacht, daß sie es wieder tun würde. Aber sie hatte mit Yanis gestritten, weil sie dachte, daß er mehr tun sollte, um dir zu helfen, und ich glaube, weil er sie nicht mitnehmen wollte, wenn er nach Süden fuhr, um dort Handel zu treiben. Er ist noch am selben Tag in See gestochen und hat uns nicht erzählt, was zwischen ihnen vorgefallen war, und Zanna hat auch nichts gesagt, obwohl ich den Eindruck hatte, daß sie ziemlich still war. In derselben Nacht ist sie dann verschwunden.« Remana biß sich auf die Lippen. »Wenn du Tarnal Vorwürfe machen willst, kannst du mir auch gleich welche machen. Ich war diejenige, die Zanna beigebracht hat, wie man segelt und wie man durch die schmale Durchfahrt vor der Höhle kommt. Yanis ist immer noch in den südlichen Gewässern – er weiß nicht einmal etwas davon. Tarnal und ich dachten, es sei das beste, herzukommen und es dir sofort zu erzählen. Bei den Göttern, Vannor, es tut mir leid. Dulsina, du hast dich geirrt, als du mir vertraut hast.« Tränen standen in Remanas Augen. »Sie hat einen Brief hinterlassen, in dem sie erklärt, was geschehen ist und was sie vorhat. Sie ist nach Nexis gegangen.«
Vannor hatte während der ganzen Zeit ein versteinertes Schweigen bewahrt. Tarnal wünschte, er würde irgend etwas tun, würde vielleicht mit diesen fest geballten Fäusten auf ihn einschlagen – alles wäre besser, als ihn einfach nur mit diesem haßerfüllten Blick auf dem Gesicht dastehen zu sehen. Nun trat Dulsina einen Schritt vor und griff nach dem Arm des Kaufmanns. »Vannor, mach den beiden keine zu großen Vorwürfe. Du weißt, wie Zanna ist – sie schlägt ganz nach dir. Wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, kann sie niemand mehr aufhalten.«
»Und damit ist die Sache in Ordnung, wie?« knurrte Vannor, der sich nun zu Dulsina umdrehte. »Sie hätten eben besser auf sie aufpassen müssen. Sie …«
»Das haben sie aber nicht, wie es aussieht.« Dulsinas nüchterner Tonfall brachte den Kaufmann zum Schweigen. »Also«, fuhr sie fort, »die Frage ist jetzt, was sollen wir wegen Zanna unternehmen? Indem du Tarnal und Remana beschimpfst, holst du sie nicht zurück.«
»Du hast recht.« Vannor schien erleichtert, endlich irgend etwas tun zu können. »Hagorn, wir müssen unsere Pläne ändern. Du gehst nach wie vor nach Nexis – aber ich komme mit dir.«
»Vannor, das darfst du nicht!« ächzte Dulsina. »Es ist ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt. Man wird dich erkennen. Und was ist dann mit den Rebellen? Du bist ihr Anführer …«
»Dann sollten sie sich, verdammt noch mal, besser einen anderen Führer suchen!« Der Ausdruck auf Vannors Gesicht duldete keine Einwände mehr. »Dulsina, pack mir ein Bündel zusammen. Fional, du gehst wie besprochen nach Wyvernesse zurück. Nimm dir ein paar Ponys von diesen beiden Idioten hier – das ist das wenigste, was sie zur Wiedergutmachung tun können.« Er streifte Tarnal und Remana mit einem verächtlichen Blick. »Und bring meinem Sohn mit, wenn du wiederkommst. Ich möchte, daß er hier bei Dulsina in Sicherheit ist.«
»Aber …«, stammelte Fional.
»Streite nicht mit mir!« brüllte Vannor. »Dulsina, ist mein Bündel endlich fertig? Worauf wartest du noch, Frau?«
Als Dulsina, die es ausnahmsweise einmal nicht wagte, dem Kaufmann zu widersprechen, herbeigerannt kam, schluckte Tarnal schwer und ging zu Vannor hinüber. »Ich möchte mit dir kommen«, sagte er fest.
Vannor musterte ihn mit einem finsteren Blick. »Mit mir kommen? Nach dem, was du getan hast? Du hast wirklich Nerven, Junge! Geh mir aus den Augen. Ich will dich und deine Nachtfahrerfreunde niemals wiedersehen.«
Als die Reisenden sich von ihren Kameraden verabschiedet und die Lichtung über den Pfad verlassen hatten, der sich vor ihnen auftat, schloß D’arvan die Augen, denn er konnte nicht zusehen, wie sie die Zufluchtsstätte verließen, die er für sie geschaffen hatte, und wieder hinausgingen in ein Land, in dem überall Gefahr lauerte. Er hätte sie aufhalten können, das wußte er. Für den Sohn des Waldfürsten wäre es ein leichtes gewesen, die Pfade zwischen den Bäumen umzulenken und die Wanderer nicht aus dem Wald herauszulassen, sondern sie in einem Kreis zurück in die Sicherheit zu führen, die sie hinter sich gelassen hatten. Aber es wäre falsch von ihm gewesen, das zu tun. Sie mußten ihre Rollen in dem Kampf gegen Miathan spielen, so wie er es mußte, und er konnte nichts für sie tun, als um ihre sichere Rückkehr zu beten.
Hagorn wischte sich seine taube, tropfende Nase am Ärmel ab. »Bei Chathak, ich hatte vergessen, wie kalt es hier draußen sein kann«, murmelte er Fional zu, der sich von ihnen trennen würde, sobald sie die Bäume hinter sich gelassen hatten, um sich auf den Weg nach Wyvernesse zu machen.
Remana und Tarnal würden ihm folgen, sobald sie sich genügend ausgeruht hatten, um die anstrengende Reise anzutreten, aber Vannor hatte dem Bogenschützen nicht gestattet, auf sie zu warten. Einmal mehr wünschte sich Hagorn, die Rebellen hätten Pferde an diesen verlassenen Ort mitbringen können. Aber in diesen Tagen des Hungers waren Pferde ein seltener Luxus, denn die meisten waren schon vor langer Zeit verspeist worden.
Vor den drei Männern erstreckte sich die endlose Trostlosigkeit der Moore; an manchen Stellen ragte der schwarze Fels ihrer windgepeitschten Knochen durch einen zerfetzten Mantel aus verkümmertem Farn, und struppige Heide wuchs auf nachtgrauer Erde, die unter einer Haut aus knisterndem Frost hart war und spröde. Hinter den Wanderern schlossen sich die Bäume, die das jähe Ende des Tals bildeten, fest und eng wieder zusammen, als kauerten sie sich aneinander, um sich gegenseitig Wärme zu spenden. Gequält von dem bitteren, heulenden Wind, streckten sich ihre kahlen, verzerrten Äste klauengleich dem bewölkten Himmel entgegen.
Der Bogenschütze nickte, und sein für gewöhnlich lächelnder Mund verzog sich zu einer Grimasse. »Die Kälte war leicht zu vergessen da drin.« Stirnrunzelnd drehte er sich zu dem älteren Mann um. Es hatte keinen Sinn, mit Vannor zu sprechen, der seit ihrem Aufbruch aus dem Lager ein grimmiges Schweigen bewahrt hatte. Die anderen wagten es nicht, in seiner Gegenwart über ihre Sorge um Zanna zu sprechen, und Fional zermarterte sich das Gehirn auf der Suche nach einem anderen Thema. »Hagorn, was glaubst du, was uns in dem Tal beschützt hat? Glaubst du, es war Aurians Mutter? Und wenn ja, warum hat sie sich nicht gezeigt?«
Der alte Soldat schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, Junge – obwohl ich mich daran erinnere, daß Aurian gesagt hat, ihre Mutter wäre eine ausgesprochene Einzelgängerin. Aber nach allem, was geschehen ist, würde man doch denken, daß sie sich uns gezeigt hätte – falls es wirklich die Lady war, die uns da drin geholfen hat.«
»Aber wer hätte es denn sonst sein können?«
»Das wissen nur die Götter … Sollte nicht auch dein Maguschfreund D’arvan zusammen mit der armen Maja hierherkommen? Ich frage mich seit einiger Zeit, was wohl aus ihnen geworden sein mag?«
»D’arvan und Maja wären bestimmt nicht in ihrem Versteck geblieben, wenn sie wußten, daß wir da waren«, protestierte Fional entrüstet.
Hagorn seufzte. »Vielleicht hast du recht. Aber in diesem Tal gehen seltsame Dinge vor sich, Junge. Wenn man dort ist, fällt es einem leicht, nicht so viel darüber nachzudenken. Aber wenn man wieder herauskommt und zurückdenkt …« Er drehte sich zwinkernd zu dem jüngeren Mann um. »Bist du nicht auch ein wenig neugierig? Willst du nicht herausfinden, was da vor sich geht und was mit D’arvan und Maja geschehen ist? Glaubst du, Parric hätte sich, wenn er dort gewesen wäre, damit zufriedengegeben, rumzusitzen und nicht herauszufinden, was los ist? Glaubst du, Forral hätte das getan?«
Fional grinste. »Aber natürlich nicht. Da hast du ganz recht. Schließlich ist es unsere Pflicht, herauszufinden, was aus unseren verschwundenen Freunden geworden ist.«
»Guter Junge!« Hagorn schlug dem Bogenschützen auf die Schulter. »Ich sag dir etwas – sobald wir erledigt haben, was zu erledigen uns aufgetragen ist, und ins Tal zurückkommen, wollen wir beide, du und ich, diesem Geheimnis ein und für allemal auf den Grund gehen.«
»Abgemacht!« Der junge Bogenschütze streckte die Hand aus, und Hagorn ergriff sie, um ihr Abkommen zu besiegeln.
»So«, sagte er nun energisch. »Je schneller wir gehen, um so eher kommen wir zurück und können uns um die Sache kümmern. Paß gut auf dich auf, junger Fional – und hol dir nicht alle hübschen, jungen Nachtfahrermädchen in dein Bett!«
Selbst in der herannahenden Dunkelheit konnte Hagorn sehen, wie das Gesicht des jüngeren Manns tiefrot anlief, und er grinste. Fional war ungeheuer schüchtern, wenn es um Frauen ging. »Wäre schön, wenn ich die Chance dazu hatte«, gab der Bogenschütze zurück. »Gute Reise, du alter Schurke – und trink nicht alles Bier in Nexis!«
Mit einem Abschiedsgruß machten sich nun die beiden Krieger, der alte und der junge, auf den Weg und gingen in entgegengesetzten Richtungen über die dunklen, gefrorenen Moore, jeder seinem eigenen Ziel entgegen. Vannor lief, eingehüllt in einen undurchdringlichen Umhang aus Schweigen, neben Hagorn her.
Hagorn manövrierte sein schweres Bündel auf seinen Schultern in eine bequemere Position und marschierte mit dem stetigen, schnellen Schritt, den er in vielen Jahren langer und mühsamer Wanderungen entwickelt hatte. Er war ängstlich darauf bedacht, vor der Abenddämmerung eine möglichst große Wegstrecke zurückzulegen, denn obwohl sich nach dem Massaker, das unter Angos und seinen Männern angerichtet worden war, kein Feind im Tal gezeigt hatte, hatte er keine Ahnung, ob die Moore hier draußen nicht doch noch immer bewacht wurden. Zweiundfünfzig Jahre waren ein seltenes Alter für einen Soldaten,’ und Hagorn hätte es ohne ein klein wenig gesunden Menschenverstand und Vorsicht – und, wie er bei aller Bescheidenheit glaubte, schlichter Geschicklichkeit – nicht geschafft, so alt zu werden. In diesem Geschäft war es nicht weniger wichtig, zu wissen, wie man Ärger aus dem Wege ging, als sich darauf zu verstehen, mit ihm fertig zu werden.
Vannor war jedoch unglücklicherweise ein Ärgernis, dem er nicht mehr aus dem Wege gehen konnte. Hagorn warf dem Kaufmann einen besorgten Seitenblick zu. Dieses unheimliche Schweigen ging auf einen Schock zurück, und das war keine Überraschung. Der arme Vannor – wie schrecklich, innerhalb eines Monats seine angebetete Frau und seine geliebte Tochter zu verlieren! Hagorn hatte jedoch vor allen Dingen Angst vor dem, was der Kaufmann tun würde, wenn der Schock sich erst gelegt hatte.
Doch trotz seiner Besorgnis um den Mann an seiner Seite und das arme, dumme Mädchen, das sich ganz allein in eine gefährliche Situation begeben hatte, schöpfte der alte Soldat wieder frischen Mut, als er daran dachte, daß nun endlich wieder Taten vor ihm lagen. Ein Krieger durch und durch, hatte er dem einfachen Leben im Tal zutiefst mißtraut – es war ja gut und schön, zu sagen, daß irgendeine geheimnisvolle Macht den Rebellen half, aber indem sie müßig auf der faulen Haut lagen, taten sie wahrlich nicht viel, um dem Erzmagusch Einhalt zu gebieten. In der Tat, dachte der alte Soldat, was immer uns da in dem Tal beschützt hat, hat uns zugleich vom Kampf ferngehalten, als wären wir Gefangene gewesen.
Es war eine große Erleichterung für ihn, in Fional endlich einen Verbündeten zu finden. Hagorn hatte im Tal das Gefühl gehabt, sehr vorsichtig sein zu müssen und seine Zweifel besser für sich zu behalten. Etwas kam den Gesetzlosen dort offensichtlich zu Hilfe – ein Etwas, das seine Identität nicht preisgeben wollte. Man konnte in diesem Wald nie wissen, ob nicht vielleicht jemand mithörte. Aber Parric oder ein richtiger Kommandant wie Forral hätten sich nie damit zufriedengegeben, inmitten eines Geheimnisses müßig herumzusitzen, ohne weiter nachzuforschen.
Und wenn er jetzt so darüber nachdachte – Maja hätte das sicher auch nicht getan, und das lenkte Hagorns Aufmerksamkeit auf seine dritte und wichtigste Sorge. Er wünschte sich verzweifelt, zu erfahren, was aus dem Mädchen geworden war. Er kannte sie, seit sie damals der Garnison beigetreten war – eine schüchterne und unausgebildete Rekrutin, die direkt von ihrem Elternhaus im Süden gekommen war. Und seit diesen Tagen hatte er ihre zunehmend erfolgreiche Soldatenkarriere mit Zuneigung und Respekt verfolgt. Wenn sie mit D’arvan das Tal erreicht hatte – und Maja erreichte immer alles, was sie sich vornahm –, wo war sie dann jetzt? Und wo war der junge Magusch? Was war ihnen zugestoßen? »Vannor hin, Vannor her«, murmelte der alte Soldat, »eines Tages werde ich es herausfinden!«