20 Der Tempel des Himmelsgottes

»Laß mich in Ruhe!« Das waren die ersten Worte, die Rabe seit der Zerstörung ihrer Flügel über die Lippen gebracht hatte. Cygnus seufzte ungeduldig und wandte sich von ihr ab. Seit Tagen saß er nun neben ihrem Bett, sprach auf sie ein, redete ihr gut zu, tröstete sie und versuchte, die Mauer der Verzweiflung zu durchbrechen, mit der die Königin sich umgeben hatte. Es war typisch, daß sie jetzt, da er eigene Probleme hatte, endlich auf seine Gegenwart reagierte! Vor ein paar Sekunden hatte er Besuch von dem Hohenpriester gehabt und stand noch immer unter dem Schock von Schwarzkralles Worten. »Was für Narren wir doch waren«, stöhnte er. Elster war gefangen und stand kurz vor der Hinrichtung; er selbst war ein Gefangener in den Räumen von Königin Rabe, und ihm blühte ein ähnliches Schicksal wie der Meisterin, sobald der Priester seiner Dienste nicht mehr bedurfte. Plötzlich hatte Cygnus aufgehört, sich Rabes schnelle Genesung zu erhoffen. Sobald sie ihn nicht mehr brauchte, konnte er sein Leben in wenigen Minuten verlieren.

»Laß mich in Ruhe, habe ich gesagt!« Die Schärfe in Rabes Stimme riß Cygnus aus seinen trostlosen Gedanken, und er verspürte eine unvernünftige Welle des Zorns.

»Nur allzugern, aber leider kann ich es nicht!« fuhr er sie an. »Und erzähl mir nicht, du hättest Schwarzkralle nicht gehört. Ich bin genausosehr ein Gefangener hier wie du, also kannst du dich auch gleich daran gewöhnen. Ich würde mir an deiner Stelle jedoch keine Sorgen deswegen machen«, fügte er hinzu. »Ich bezweifle, daß ich dich lange belästigen werde. Du hast ein längeres Leben zu erwarten als ich.«

Betroffen von der Verbitterung in seiner Stimme, drehte Rabe sich um und sah den jungen Arzt, der sich so geduldig um sie gekümmert hatte, zum ersten Mal richtig an. »Ich will nicht leben«, sagte sie ausdruckslos. »Wer würde so schon leben wollen? Warum habt ihr mich nicht sterben lassen, wie ich es wollte?« Ihre Stimme schwoll zu einem kindlichen Wimmern an, und Tränen des Selbstmitleids traten ihr in die Augen. Die feuchten Tropfen wirbelten durch die Luft, als Cygnus ihr heftig ins Gesicht schlug.

»Du selbstsüchtige, kleine Närrin!« schrie er. »Glaubst du, du bist die einzige, die leidet? Was ist mit deinem Volk? Was ist mit mir? Und was mit Elster, die dein erbärmliches Leben gerettet hat und jetzt bei Sonnenuntergang sterben wird? Du bist die Königin! Statt hier zu liegen und zu weinen wie ein Feigling, warum versuchst du nicht, dich an dem schwarzflügeligen Monster zu rächen?«

»Du verfluchter Kerl! Wie kannst du es wagen, mich zu schlagen? Wie kannst du es wagen, so zu mir zu sprechen? Hast du denn eine Ahnung, wie es ist, ein Krüppel zu sein?« kreischte Rabe. Über alle Maßen erzürnt, versuchte sie, sich zu erheben und ihm seinen Schlag mit gleicher Münze heimzuzahlen. Blind kämpfte sie gegen das schwere Holzgerüst, das ihre Schwingen zusammenhielt.

In dem Gesicht des Arztes trat Entsetzen an die Stelle des Zorns. »Nein! Um Yinzes willen, lieg still!« Dann drückte er sie entschlossen in ihre Kissen zurück, wobei er sorgfältig den Klauen auswich, die auf seine Augen zielten. Rabe kämpfte noch einen Augenblick lang weiter, bevor Hilflosigkeit sie überwältigte und sie schlaff in sich zusammensank. Cygnus ließ sie los, als hätte sie ihn verbrannt, und die beiden jungen Himmelsleute funkelten einander schwer atmend an.

»Bei den Göttern, ich hasse dich!« fauchte Rabe.

»Ich halte auch nicht besonders viel von dir«, erwiderte Cygnus, »aber Elster und ich haben eine Menge Arbeit in diese Flügel gelegt, und ich werde nicht zulassen, daß du das alles durch deine hysterischen Anfälle zunichte machst. Versuch das noch mal, und ich binde dich an deinem Bett fest.«

»Das würdest du nicht wagen! Du …« Rabe stotterte vor Wut.

»Ach, würde ich das nicht?« Cygnus sprach mit sanfter Stimme, aber das geflügelte Mädchen sah das wütende Glitzern in seinen Augen und schloß auf der Stelle den Mund.

»Zumindest wehrst du dich jetzt endlich«, fuhr der Arzt trocken fort. »Hätte ich gewußt, wie gut das wirkt, hätte ich dich schon früher geschlagen.«

»Welchen Sinn hat es schon, sich zu wehren?« Rabes Verzweiflung kehrte mit einer überwältigenden Woge des Schmerzes zurück. Dann jedoch richtete sie sich auf und sah Cygnus in die Augen. »Ich werde nie wieder fliegen, nicht wahr?«

Cygnus schüttelte den Kopf, und Tränen des Mitleids traten ihm in die Augen. »Schwarzkralle hat leider zu gute Arbeit geleistet. Wir haben deine Flügel gerettet, aber …« Mit flammenden Augen griff er nach ihrer Hand. »Eure Majestät, rächt Euch! Ihr dürft nicht aus dem Leben scheiden, bevor Schwarzkralle für seine Untaten gezahlt hat.«

»Du weißt ja nicht, was du von mir verlangst!« rief Rabe. »Was kann ich schon gegen den Hohenpriester ausrichten? Ich bin verkrüppelt – hilflos! Man hat mich betrogen …«

»Nach dem, was ich von Anvar gehört habe«, sagte Cygnus brutal, »hast du bekommen, was du verdient hast.«

Unter seinem anklagenden Blick krümmte Rabe sich vor Scham. Sie konnte nicht leugnen, daß er recht hatte, denn sie hatte ihren eigenen Untergang besiegelt, als sie die Magusch betrog … Dann wurde ihr die Bedeutung seiner Worte endlich klar, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Einen Augenblick lang schien die Zeit für sie stillzustehen. »Was?« keuchte sie. »Anvar ist hier?«

Cygnus nickte. »Gefangen in einer Höhle unterhalb der Stadt. Vielleicht haben die Götter dir noch eine letzte Chance gegeben, deinen Fehler wiedergutzumachen«, fügte er weich hinzu.

Rabe schloß die Augen. Wie konnte sie Anvar helfen? Es war unmöglich. Zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme verspürte sie einen winzigen Hoffnungsfunken, der tief in ihr begraben war und jetzt wieder zu wachsen begann. »Du hast recht«, wisperte sie. »Vielleicht gibt es für mich keine Hoffnung mehr, aber zumindest kann ich versuchen, den Schaden, den ich angerichtet habe, zu beheben.« Dann öffnete sie die Augen und sah Cygnus an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Vielleicht können wir uns ja auch noch etwas ausdenken, um dein Leben zu retten«, fügte sie mit dem winzigsten Hauch eines Lächelns hinzu.


Linnet schlich sich an der Brüstung entlang, und ihre nackten Zehen suchten auf dem kalten, zerfallenen Stein nach Halt; ihre braunen Schwingen flatterten, um ihr dabei zu helfen, auf dem schmalen Vorsprung das Gleichgewicht zu bewahren. Dann spähte sie an dem alten Türmchen vorbei und suchte den Himmel zwischen ihrem Versteck und den hoch aufragenden, raffiniert gebauten Türmen des königlichen Palastes ab. Gut. Wie sie erwartet hatte, gab es nichts als leere Luft zwischen ihr und dem Palast. Sie hatten sich den perfekten Zeitpunkt für dieses verbotene Abenteuer ausgesucht, während die Erwachsenen zu beschäftigt waren mit den Vorbereitungen für die große Zeremonie, die Schwarzkralle angesetzt hatte. Jetzt würden sie kaum darauf achten, was ein einzelnes, kleines Kind vorhaben könnte. Linnet grinste, und ihr Gesicht leuchtete schelmisch auf. Der bizarre, verschnörkelte Wald, die kunstvolle Architektur des Palastes bildeten eine mysteriöse und faszinierende Szenerie – eine unwiderstehliche Versuchung für ein tatendurstiges, abenteuerlustiges kleines Mädchen, das gerade flügge geworden war. Solange sie sich erinnern konnte, hatte Linnet sich gewünscht, hier heraufzufliegen und dieses verbotene Territorium zu erkunden, aber normalerweise waren die königlichen Gemächer so gut bewacht, daß sie nicht einmal in ihre Nähe gelangen konnte. Heute jedoch war ihre Chance endlich gekommen.

Von ihrem Versteck in der. Ecke aus winkte sie ihrem Begleiter zu und bedeutete ihm, sich zu ihr zu gesellen. Lark machte ein finsteres Gesicht und zögerte; ihm war die ganze Sache offensichtlich nicht geheuer. Linnet biß sich verärgert auf die Lippen. Sie versuchte, ihrem Bruder die Tatsache zugutezuhalten, daß er ein ganzes Jahr jünger war als sie selbst, aber ehrlich, manchmal war er wirklich blöd. »Komm schon!« flüsterte sie. »Beil dich, solange niemand da ist!«

Widerwillig und mit schmollend vorgeschobener Unterlippe schlurfte Lark über den Vorsprung. »Wir kriegen bestimmt Ärger deswegen«, sagte er warnend.

»Ach, hör doch auf zu jammern!« fuhr Linnet ihn an, »sonst spiele ich nicht mehr mit dir.« Ohne sich umzudrehen, um die Wirkung ihrer Drohung zu überprüfen, schwang sie sich von dem Türmchen hinab und schwebte der dahinterliegenden, verführerischen Kette von Dächern entgegen. Er sollte ihr besser folgen, dachte sie, machte sich jedoch keine Sorgen deshalb. Manchmal hatte sie das Gefühl, als sei das verflixte Gör ihr in den letzten sechs Jahren immer gefolgt – seit dem Augenblick seiner Geburt.

Auf dem ersten Turm, den das geflügelte Kind erreichte, suchte es sich eine bequeme Nische, in der es sich verstecken konnte. Es dauerte nicht lange, da fand Linnet im Schatten eines Strebepfeilers einen Alkoven, in den sie hineinschlüpfte – und mit einem erschrockenen Kreischen zurückprallte, als ihr aus der Finsternis ein gräßliches, verzerrtes Gesicht entgegengrinste. Nachdem sie mit verzweifelten Flügelschlägen ihren Absturz gerade noch verhindert hatte, warf sie dem schauerlichen, aber harmlosen Dämonengesicht, das sie so erschreckt hatte, einen finsteren Blick zu. »Vater der Himmel!« fluchte sie.

»Ich werd’s Mama sagen, daß du schon wieder geflucht hast.« Larks Stimme klang frech und spöttisch.

Linnet drehte sich um, um der kleinen Nervensäge, die ihr also doch gefolgt war, einen drohenden Blick zuzuwerfen. »Und ich werde ihr sagen, was du getan hast, als du mich fluchen hörtest«, gab sie zurück und konnte ein selbstgefälliges Grinsen nicht verbergen, als sie sah, wie sein Gesicht sich weinerlich verzog.

»Ich hasse dich«, schniefte Lark, »und ich fliege jetzt nach Hause. Und ich werde Mama alles sagen, paß nur auf …« Seine Stimme wurde leiser, und er flatterte davon.

»Heulsuse!« schrie Linnet hinter ihm her. Seine Drohung hatte sie nicht weiter beeindruckt. Er wußte, was ihm blühte, wenn er sie verpetzte. In der Zwischenzeit würde sie erst einmal die Gegend erkunden. Achselzuckend vergaß Linnet ihren Bruder und stürzte sich in den mysteriösen Wald aus Türmen.

Das Auskundschaften machte, wie sie sich einige Zeit später eingestehen mußte, nur halb soviel Spaß ohne ihren kleinen Bruder, vor dem sie sonst so gerne angab. Linnet war müde, staubig und schrecklich hungrig, und ihre Nerven flatterten von den ängstlichen Blicken, mit denen sie nach versteckten Wachen Ausschau hielt. Schließlich fand sie einen Felsvorsprung, auf dem sie landen konnte, und sah sich dann noch ein letztes Mal um, denn es widerstrebte ihr, zugeben zu müssen, daß das Abenteuer doch nicht so aufregend war, wie sie erwartet hatte. »Es muß schon fast Zeit zum Abendessen sein«, tröstete sie sich, »und außerdem kann ich ja ein andermal wiederkommen.« Linnet war gar nicht bewußt, daß sie laut gesprochen hatte, bis sie eine Stimme von dem Fenster über ihrem Kopf hörte.

»Wer ist da draußen? Yinze auf einem Baumgipfel! Es ist ein Kind!« Ein langer Arm schoß zwischen den Gitterstäben vor dem Fenster heraus, und Linnet, die gerade hatte fliehen wollen, mußte feststellen, daß sie an ihrem Rock festgehalten wurde.

»Es tut mir leid«, wimmerte sie, während ihre Gedanken sich bei der Suche nach einer Entschuldigung geradezu überschlugen. »Ich wollte das nicht!«

»Es ist schon gut«, sagte die Stimme beschwichtigend. »Hör auf zu jammern, Kind, ich tu dir nichts. Ja, um genau zu sein, ich bin sogar sehr froh, dich zu sehen?«

»Wirklich?« Linnet reckte ihren Hals, um festzustellen, wer sie da festhielt. Zu ihrem Erstaunen lächelte der Mann auf sie herab. Er hatte ein nettes Gesicht, dachte sie, und dieses feine, weiße Haar, das ihm in die Stirn fiel, war viel hübscher als ihre eigenen braunen Locken.

»Hör mir zu«, sagte er zu ihr. »Ich habe hier ein paar Früchte. Wenn du mir einen Gefallen tust, kannst du sie alle haben – und ich werde niemandem verraten, daß du hiergewesen bist.«

Linnet lief bei dem Gedanken an Früchte das Wasser im Mund zusammen. Seit dieser schreckliche Winter begonnen hatte, hatte sie kein Obst mehr zu essen bekommen. »Na schön«, erwiderte sie schnell. »Was muß ich tun?«

»Könntest du deinem Vater eine Nachricht von mir bringen?«

»Nein, kann ich nicht.« Die Lippen des Kindes begannen zu zittern. »Ich habe keinen Vater mehr. Der Hohepriester hat ihn geopfert.«

»Das tut mir leid«, sagte der junge Mann hastig. »Wirst du dann deiner Mutter etwas von mir ausrichten?«

Linnet zog ein langes Gesicht. »Ich werde furchtbaren Ärger kriegen, wenn sie herausfindet, wo ich gewesen bin.«

»Das wirst du bestimmt nicht – im Gegenteil, die Leute werden sagen, du bist eine Heldin. Hör zu, Kind, die Königin ist hier bei mir, eingesperrt in diesem Zimmer.«

»Sei nicht dumm«, schnaubte Linnet. »Königin Flammenschwinge ist tot.« Sie war zwar nur ein kleines Mädchen, aber das wußte sogar sie!

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nicht Königin Flammenschwinge – Königin Rabe, ihre Tochter. Der Hohepriester hat sie gefangengenommen, und sie befindet sich in schrecklicher Gefahr, aber wenn ihr Volk entdeckt, daß sie hier ist, wird ihr vielleicht jemand helfen.« Er schenkte der Kleinen ein gewinnendes Lächeln. »Und dann wärest du eine Heldin, und die Königin würde dir eine Belohnung geben.«

»Was für eine Art Belohnung?« erkundigte Linnet sich zweifelnd.

»Alles, was du willst.«

»Alles?« Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm glauben sollte, aber schließlich versprach er es ihr so oft, daß sie sich überreden ließ. Der geflügelte Mann reichte ihr durchs Fenster hindurch das versprochene Obst, eingewickelt in ein Stück Stoff, in dem sich außerdem ein Zettel für ihre Mutter befand. Dann machte sie sich, während seine Mahnungen, vorsichtig zu sein und sich zu beeilen, ihr noch in den Ohren klangen, mit höchst zwiespältigen Gefühlen auf den Heimweg. Vielleicht sollte sie das Obst einfach aufessen, dachte Linnet, und den Zettel irgendwo in eine Schlucht werfen – denn eines stand auf jeden Fall fest: Trotz aller Versprechungen des Mannes würde ihre Mutter sie ganz bestimmt bestrafen, wenn sie herausfand, wo ihre Tochter gewesen war.


Anvar stand im hinteren Teil der Höhle, atmete tief durch und setzte alles daran, daß seine Hände endlich aufhörten zu zittern. Er hielt den Erdenstab so fest, daß seine Knöchel weiß durch das Fleisch hindurchschimmerten. »Bist du fertig?« fragte er Shia. Einen kurzen Augenblick lang dachte er an die letzte Gelegenheit, bei der er diese Worte zu ihr gesagt hatte: damals im Wald, als sie Harihns Pferde stahlen.

»Um der Göttin willen, fang endlich an!« Die scharfe Antwort der Katze verriet ihre Nervosität. Sie kauerte zusammen mit Khanu in der Nähe des Höhleneingangs im Schatten des vorspringenden Felsbrockens, hinter dem’ der Magusch seine Feuerstelle eingerichtet hatte.

»Geht in Deckung!« Anvar hob den Stab. Er spürte, wie seine Macht, dem Schlagen eines anderen Herzens gleich, durch ihn hindurchpulsierte, während er sich darauf vorbereitete, sich den Weg in das Herz des Berges zu erzwingen. Aufregung und Jubel mischten sich in seinem Blut. Endlich! Eine Chance zu entkommen – falls sein Plan funktionierte. Der Magusch schluckte schwer, straffte die Schultern und schob alle Gedanken an ein mögliches Scheitern beiseite. Was konnte ihn schon aufhalten, wenn er den Stab der Erde in Händen hielt?

Anvar zog seinen Arm zurück und konzentrierte seinen ganzen Willen darauf, die verschlungenen Kräfte des Stabes freizulassen, aber im letzten Augenblick ließ ihn irgend etwas zögern. Ein Schaudern durchlief ihn, als er plötzlich an die Lawine denken mußte, die er verursacht hatte, weil er die Macht, die ihm zur Verfügung stand, nicht richtig begriffen hatte. Nur um Haaresbreite war er, als er in diese Schlucht hinunterstürzte, dem Tod entgangen. Wenn er nun auf dieselbe gedankenlose Weise versuchte, sich mit Hilfe des Stabes seinen Weg zum Tempel zu erkämpfen … Der Magusch erzitterte. Wie leicht konnte durch seine Schuld der Berg über ihnen zusammenstürzen? Aber welche Wahl hatte er schon?

»Feigling!« beschimpfte Anvar sich und hob noch einmal den Arm. Seine Hand, die den Stab umklammerte, begann zu zittern. Dann hatte er plötzlich ein lebhaftes Bild von Aurian vor Augen, stirnrunzelnd und besorgt, wie sie am Tag der Lawine ausgesehen hatte. Sie hatte ihn damals gebeten, vorsichtig zu sein, aber er hatte ihre Warnungen in den Wind geschlagen. Langsam ließ Anvar den Arm sinken. Diesmal mußte er es besser machen. Tot würde er ihr nichts mehr nützen können. Also runzelte er die Stirn und dachte angestrengt nach. Was würde Aurian jetzt tun?

Nun, zunächst einmal würde sie mehr über die Kräfte, mit denen sie es zu tun hatte, herausfinden. Da erinnerte der Magusch sich an das wenige, das sie ihm über das Heilen beigebracht hatte. Also drängte Anvar sein Bewußtsein ein klein wenig aus den engen Grenzen seines Körpers hinaus und tastete mit dem zusätzlichen Sinn des Heilers in den Felsen, so wie Aurian es bei der Kristalltür getan hatte, die ihr unter der Drachenstadt von Dhiammara den Weg versperrt hatte.

Wie ein suchender Fangarm schlüpfte sein Wille zwischen die ineinander verwobenen Gitter der inneren Struktur des Steins, einer Schlange ähnlich, die durch die verschlungenen Äste eines versteinerten Waldes kroch. Der Stein war in Schichten übereinandergewölbt, an manchen Stellen so zerborsten und rissig, daß Anvar mühelos gewisse Schwächen ausmachen konnte. Anvar merkte sich jede einzelne Stelle gut, kehrte dann in seinen Körper zurück und rief die Kräfte des Stabes.

Überall um den Magusch herum sprangen Schatten auf, als die Höhle plötzlich in blendend grünes Licht getaucht wurde. Die uferlose Kraft der Hohen Magie überschwemmte ihn wie eine gewaltige Welle, wie die Lawine, die ihn beinahe in den Tod gerissen hätte. Anvar biß die Zähne zusammen und versuchte, die Kraft in sich zu umfangen. Ein dünner Schweißfilm zeigte sich auf seinen Brauen. Schließlich machte er sich daran, die Energie des Stabs in kleinen Stößen freizulassen, und richtete einen schmalen Strahl smaragdgrünen Leuchtens auf die Schwachstelle in der hinteren Höhlenwand, wo einige Schichten des Steins in sich zusammengesackt waren.

An der Stelle, an der das Licht des Stabs auf dem Stein aufschlug, stieg schwarzer Rauch auf. Der Fels begann zu glühen und zu zischen, und Steinbrocken stoben mit lautem Krachen zur Seite. Die Anstrengung, soviel Magie in sich zu halten und zu beherrschen, ließ Anvar zittern, und er brauchte seine ganze Kraft, um die bereits zerfallende Mauer weiter einzureißen, wobei er die sich neu bildenden Risse zu dehnen und auszuweiten versuchte. Stück um Stück begann der Fels zu bersten und einzustürzen; die Öffnung wurde immer größer. Das Innere der Höhle versank in dem düsteren Zwielicht, das von draußen eindrang, aber Anvar, der sich wie ein Maulwurf tief in das steinerne Herz des Berges hineinbohrte, nahm nichts anderes mehr wahr als den Tunnel, den er geschaffen hatte, und das vibrierende, gleißende Licht des Erdenstabs.


Die Moldan in dem geheimen Herzen des Berges war hellwach und spürte die Anwesenheit des Stabs der Erde, der näher und näher kam. Als Shia den Berg erklommen hatte, war der Erdenstab für die Moldan wie das unangenehme Jucken einer Fliege auf ihrer Haut gewesen. Als die Katze die Höhle erreicht hatte, hatte sie gespürt, wie er in sie eindrang. Sie hatte gewartet, voller Aufregung und nicht ohne Angst, um herauszufinden, was als nächstes geschehen würde. Erst als Anvar den Stab ergriff, nahm die Moldan die Gegenwart eines verhaßten Zauberers wahr.

»Nein!« Der Berg zitterte unter dem Zorn der Moldan. Anvar, der ganz damit beschäftigt war, die Macht des Stabs zu beherrschen und zu lenken, schenkte dem keine Beachtung; er glaubte lediglich, daß er der Grund des Bebens war und ein wenig vorsichtiger vorgehen müsse. Shia und Khanu, die sich vor dem Rückprall der Magie duckten, hatten andere Probleme. Hoch oben in der Stadt von Aerillia flogen Himmelsleute wie eine Schar gejagter Vögel auf, Häuser bekamen Risse und begannen zu beben, und Felsbrocken und Schnee lösten sich aus dem Antlitz des Gipfels. Aber Erdbeben waren in diesem Gebiet nichts Ungewohntes. Die Berge hatten sich schon zuvor in ihrem Schlaf umgedreht und würden es zweifellos auch in Zukunft noch tun. Rabe und Cygnus klammerten sich entsetzt aneinander und vergaßen für einen kurzen Augenblick ihre Feindseligkeit, während sie einander Trost spendeten. Elster, die in den Zellen unter dem Tempel gefangen war, hoffte, daß die Wände bersten und sie befreien würden, aber nichts dergleichen geschah. Selbst ihr Gebet darum, daß ihr Tod den Hohenpriester um ihr Opfer betrügen würde, blieb ungehört. Schwarzkralle, der sich in den geheiligten Hallen auf Elsters Opfer vorbereitete, nahm das Beben als ein Zeichen für Yinzes Gunst.

Die Moldan krümmte sich vor Schmerzen. Das Eindringen des Stabs in ihren Körper war wie eine Klinge, die man ihr ins Fleisch trieb. Endlich jedoch hatte sie sich wieder unter Kontrolle und konnte die ihr angeborenen Kräfte der Alten Magie benutzen, um den Schmerz zu unterdrücken. Die uralte Kreatur empfand heiße Wut. Was tat dieser Zauberer da? Wie konnte er es wagen? Sie spürte den schräg abfallenden Pfad auf, der, gekennzeichnet durch ein Band unbezwingbaren Schmerzes, nun weit in sie hineinreichte.

Wenn dieses Ungeheuer so weitermachte, würde er sich direkt bis zu ihrem Gipfel vorarbeiten.

»Na, das werden wir ja sehen!« Die Moldan kümmerte sich nicht um das Schicksal der Himmelsleute; sie interessierte nichts anderes als das Eindringen ihres alten Feindes. Und sie wollte den Stab der Erde, hatte ihn schon seit dem Sturz Ghabals gewollt, aber nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hatte sie zu hoffen gewagt, daß sie ihn je in ihre Hände bekommen würde.

Die Moldan des Aerillia-Gipfels straffte sich. Nach all diesen endlosen Jahrhunderten würde sie vielleicht diejenige sein, der es gelang, die Dwelven zu befreien und die Fesseln abzuschütteln, mit denen die Zauberer ihr Volk gefangenhielten. Sie brauchte lediglich den Stab … Ohne ihn konnte sie den Ketten ihrer steinernen Gestalt nicht entkommen.

Die Kräfte der Alten Magie hielten die Antwort bereit. Der Zauberer mochte im Augenblick zwar mehr sein, als sie bewältigen konnte, aber eine geringere Kreatur konnte sie ohne weiteres beeinflussen und für ihre Ziele einsetzen. Daher richtete sie ihren Blick auf die winzigsten Wesen in ihrem Körper und suchte nach einem Geschöpf, das ihren Zwecken dienen konnte.


Mit wachsendem Selbstbewußtsein bahnte Anvar sich seinen Weg in das Herz des Berges. Gelegentlich hielt er inne und schaffte es mit größter Anstrengung, die Macht des Stabes in sich festzuhalten, während er gleichzeitig seinen Willen weiter tastend in den Felsen drängte und nach einem Weg suchte, der natürliche Schwachstellen enthielt und dem Berg möglichst wenig Schaden zufügen würde. Er ging sparsam mit seiner Energie um und machte den Tunnel nur so groß, daß er gerade einigermaßen bequem aufrecht darin stehen konnte, obwohl der Weg doch breiter geworden war, als er beabsichtigt hatte. Durch die Macht des Erdenstabs wußte er die ganze Zeit über, wo er sich befand, und er wußte auch, daß er immer weiter in die Höhe stieg und sich allmählich dem Gipfeltempel näherte.

Dieser enge Tunnel war etwas ganz anderes als die dunklen, labyrinthartigen Katakomben, in denen die Archive der Akademie untergebracht waren, oder die breiten, gut erleuchteten, gewundenen Tunnel unter der Drachenstadt Dhiammara. Beide Gewölbe waren zumindest gefahrlos zu betreten, und die Zeit hatte bewiesen, daß sie stabil und sicher waren. Zum ersten Mal seit langem dachte Anvar an Finbarr. Bei den Göttern, er wünschte, der Archivar wäre jetzt neben ihm. Finbarrs köstlicher Humor und seine grenzenlose Neugier hätten ihm Mut gemacht und ihn von den Gefahren abgelenkt, die auf ihn einstürmten, denn hier knirschte und klagte der gequälte Stein überall um ihn herum; der Boden war uneben und die Wände schief. Unaufhörlich rieselten Steine und Staub von der durchhängenden Decke. Wasser tropfte aus Rissen in den Felsen; die Luft war tot und schwer und von dem dumpfen Geruch von Alter und Verfall erfüllt. Die einzige Beleuchtung war das verwirrende, smaragdgrüne Licht, das dem Stab der Erde entstieg, und in der Dämmerung drängten sich finstere Schatten zusammen.

Zuerst hörte Anvar nichts, nur das Summen der Macht des Stabes und das Zischen und Bersten des zerfallenden Steins. Das Scharren vieler Füße und das Rascheln von Schuppen auf rohem Stein entging seiner Aufmerksamkeit vollkommen. Erst Shia und Khanu, die dem Magusch in respektvoller Entfernung folgten, sahen den gewaltigen Schatten, der sich zwischen sie und das grüne Licht des Erdenstabs senkte.

Zu Anvars Glück hatte die Moldan überhaupt nicht an die Katzen gedacht – solche Geschöpfe waren so weit unter ihrer Würde, daß sie sie nicht einmal bemerkte. Der Magusch war sich keiner Gefahr bewußt, bis Shias warnender Schrei durch seine Gedanken schoß: »Anvar! Hinter dir!«

Anvar wirbelte instinktiv herum und griff mit seiner freien Hand nach dem Schwert, das Elster gegen besseres Wissen zu ihm hinuntergeschmuggelt hatte. Als der Magusch das grauenerregende Geschöpf vor sich sah, wurde sein Verstand leer vor Entsetzen, und die Klinge verwandelte sich in seiner leblosen Hand zu Eis.

Ein Scheusal, ein wahrer Greuel, blockierte den Tunnel hinter dem Magusch. Von seinem schwarzen, in Segmente geteilten Körper ging eine Vielzahl von Beinen ab, deren jedes in einer gezackten, tödlichen Klaue endete. Dunkle Schuppen glitzerten schleimig, fingen das smaragdene Licht des Stabes auf und warfen es in verzerrten Blitzen widerlichen Verfalls zu Anvar zurück. Augen glitzerten – Stecknadelköpfe aus eitrigem Grün – weit über seinem Kopf. Mit Federn besetzte Fühler schwenkten wild durch die Luft; spitze, zusammengesetzte Kiefer klackten und klapperten und durchtrennten die Luft, als die Kreatur sich mit bösem Zischen aufbäumte und den Magusch mit Mordlust in den Augen anstarrte. Anvar schluckte, sein Herz raste vor Angst, und seine Kehle war plötzlich trocken geworden. Unwillkürlich machte er einige Schritte zurück, aber es war zu spät. Mit einem schnellen, wohlberechneten Sprung war das Ungeheuer über ihm.

Anvar warf sich zur Seite und drückte sich gegen die Tunnelmauer. Das mit Zähnen so scharf wie Sägen besetzte Maul schoß an ihm vorbei, und das gewaltige Tier wirbelte, angetrieben von seinem eigenen Schwung, weiter in den Tunnel hinein. Anvar schlug, als es an ihm vorbeikam, mit seinem Schwert nach ihm, und ein Nebel grüner Funken stob in der Dunkelheit auf – seine Klinge war an einem undurchdringlichen, schwarzen Panzer abgeprallt. Obwohl die Wucht seines Schlages Anvars Arm halb betäubt hatte, schlug er noch einmal zu und zielte diesmal auf die unzähligen, an ihm vorbeihuschenden Glieder. Es nützte jedoch alles nichts. Die Kreatur war zu kraftvoll, um von einer Klinge getötet werden zu können, aber sie war auch zu unbeholfen, um sich in dem schmalen Tunnel zu bewegen. Zumindest dachte Anvar dies. Erst als ihr finsterer, gegabelter Schwanz an ihm vorüberschoß, wurde ihm klar, daß die Kreatur in der Wand verschwunden war, wobei sie sich so mühelos durch den Stein geschoben hatte, als wäre er nichts als Luft! Was bedeutete, daß sie in der Lage war, sich jederzeit umzudrehen. Sie konnte aus jeder Richtung auf ihn zukommen …

Anvar wartete, seine feuchte Haut kribbelte, und er achtete auf jedes kühle Wispern in der Luft und jedes noch so leise Geräusch, das das Nahen des Ungeheuers verraten konnte. Shia und Khanu traten flink und kaum hörbar auf ihren weichen Pfoten zu ihm; er war froh über ihre Nähe, obwohl sie ihm kaum helfen konnten. Die Gedanken der jungen Katze waren ein Mahlstrom des Entsetzens, und zum ersten Mal war selbst Shia zu erschrocken, um etwas zu sagen. »Rücken an Rücken«, sagte Anvar zu ihnen, und seine Gedanken waren ein geistiges Flüstern. »Es könnte von überall herkommen …«

Mit einem ohrenbetäubenden Krachen in den gequälten Felsen brach das Ungeheuer durch den Boden unter Anvars Füßen hervor. Der Magusch und die Katzen, die durch die sich aufbäumenden Steine beiseite geschleudert wurden, entgingen nur um Haaresbreite der tödlichen Umklammerung der sich schließenden Kiefer. Anvar verfing sich in einem Labyrinth sich windender Chitinspiralen, als das Geschöpf versuchte, sich umzudrehen und sie mit seinem messerscharfen Maul zu fassen zu bekommen. Voller Verzweiflung schlug er mit dem Stab nach dem Ungeheuer, aber die glatten Schuppen reflektierten die Magie nur und lösten einen Steinhagel aus. Anvar, der dem Angriff des widerwärtigen Geschöpfs hilflos ausgesetzt war, stand mit dem Rücken gegen die Tunnelwand, als das Ungeheuer abermals sein Ziel verfehlte und in massivem Stein verschwand.

»Khanu? Shia?« Anvar, der die Orientierung verloren hatte, tastete in der Dunkelheit nach seinen Freunden. Er spürte das Pochen anschwellender Prellungen und registrierte das Brennen vieler kleiner Schnitte und Kratzer.

»Ich höre dich, Mensch.« Die unvertraute Stimme der jüngeren Katze hallte in den Gedanken des Magusch wider. »Shia ist hier – laß ihr nur einen Augenblick Zeit, sich wieder zu fassen …«

Es schien, als sei nicht einmal eine Sekunde vergangen, bevor Shias Stimme energisch in seinem inneren Ohr widerklang: »Anvar, wir müssen eine Möglichkeit finden, dieses Ding zu bekämpfen.«

»Ich habe schon mein Schwert und den Stab probiert. Ich bin offen für jeden Vorschlag, aber du solltest dich besser beeilen.«

Einen Augenblick lang herrschte völliges Schweigen, dann sagte Shia: »Wenn seine Schuppen unverletzlich sind, mußt du statt dessen auf die Augen zielen. Das ist vielleicht seine Schwachstelle – zumindest hoffe ich es.«

Der Magusch hatte keine Zeit für eine Antwort. Die Kreatur stürzte sich abermals brüllend auf ihn; diesmal kam sie hinterlistig von oben. »Stirb, du verfluchtes Geschöpf!« Anvar hatte keine Ahnung, daß er die Worte laut hinausgeschrien hatte. Es war ihm auch nicht bewußt, daß er den Stab benutzte. Und doch war das Artefakt in seiner Hand lebendig geworden und flammte mit einem weißen, leuchtenden Licht auf. Ein hoher, dünner Schrei hallte durch den Tunnel. Dampf stieg über den Facettenäugen der Kreatur auf, aus denen gleich darauf auch grünlicher Eiter floß. Die federnbesetzten Fühler sanken zu Boden, und unzählige Beine scharrten kraftlos auf dem Stein. Die Bewegungen des gräßlichen Geschöpfes wurden langsamer und kamen schließlich ganz zum Erliegen, während sein Kopf an der gegenüberliegenden Wand des Tunnels niederfiel. Und doch wußte Anvar, daß er das Tier nur verletzt hatte. Daher hob er sein Schwert weit über den Kopf und stieß die Klinge bis zum Griff in eines der dunkel glitzernden Augen.

Die gewaltige Kreatur krümmte sich und warf den Magusch zur Seite; aber ihr Todeskampf war nur kurz. Schon bald zog sie sich zurück in die Tiefen des Tunnels; ihre Fähigkeit, durch Stein zu gehen, war plötzlich verschwunden. In dem ersterbenden Licht des Stabs konnte man noch das drohende Glitzern eines der riesigen Facettenaugen sehen. Dann erlosch sein Licht für immer. Der gegabelte Schwanz scharrte noch einmal über den Stein und blieb dann reglos liegen. Als die letzten Funken von Anvars Energie versiegten, erlosch auch das Licht des Erdenstabs.

»Ist es tot?« fragte Khanu mit zitternder Stimme.

»Bei den Göttern, das will ich doch hoffen«, stieß Anvar schwer atmend hervor. »Ich glaube nicht, daß ich so einen Kampf noch einmal durchstehen würde.« Mühsam richtete er sich ein wenig auf, so daß er schließlich mit dem Rücken gegen die schleimige Wand des Tunnels gelehnt dasaß. »Shia, bist du da? Ist mit dir alles in Ordnung?« Er zitterte, sowohl von der Kälte als auch von den Nachwirkungen seines schrecklichen Erlebnisses.

»Beides.« Die große Katze klang ziemlich gedämpft. Nach einer Weile konnte Anvar genug Energie zusammenraffen, um den Stab wieder zu entzünden. Khanu war ganz in seiner Nähe, direkt an der Wand gegenüber, aber er brauchte ein wenig länger, bevor er auch Shia sehen konnte, die gerade über die sterbenden Glieder des toten Ungeheuers kletterte. »Ich hoffe aus ganzem Herzen«, murmelte sie, »daß es in diesem Berg nicht noch mehr von diesen Viechern gibt.«

Anvar schauderte bei dem Gedanken – aber nachdem er schon so weit gekommen war, würde er nicht einfach aufgeben. Daher raffte er die letzten Funken seiner Kraft zusammen, erhob sich mühsam auf die Füße, zwang sich aufzustehen und hielt den Stab hoch über den Kopf.


Die Moldan von Aerillia war sowohl erschrocken als auch erbost darüber, daß ihr Angriff so kläglich gescheitert war. Sie hatte all ihre Kraft in die Schöpfung ihrer Kreatur geworfen und würde eine ganze Weile nicht die Kraft haben, ein anderes Tier auf solche Größe anschwellen zu lassen.

Offensichtlich hatte sie die Macht dieses Zauberers unterschätzt. Sie schauderte, als ein neuer Schmerz ihre Eingeweide verzerrte. Hatte dieser elende Kerl die Absicht, sich bis nach oben zu diesem gräßlichen Bauwerk auf ihrem Gipfel durchzukämpfen? Zum ersten Mal stellte die Moldan sich die Frage, warum er das alles tat. Die Kriege und Auseinandersetzungen der jämmerlichen kleinen Himmelsleute hatten sie im Laufe der Jahrhunderte kaum interessiert: seit der Verheerung, bei der sie ihre magischen Kräfte verloren hatten. Seit damals waren die Himmelsleute für sie kaum mehr von Bedeutung gewesen als Fliegen oder Läuse. Jetzt jedoch, da es um einen Zauberer ging, ganz zu schweigen von dem Stab der Erde …

Was hatte dieser Zauberer vor? Und wie konnte sie das zum Vorteil der Moldan nutzen? Die aerillianische Moldan versank in tiefes Grübeln und versuchte, das qualvolle Hämmern in ihren Eingeweiden zu ignorieren, das ihren Gedankengang wieder und wieder zu verwirren drohte. Soviel stand fest: Auf freiem Fuß würde der Zauberer, solange er den Stab der Erde besaß, immer eine Bedrohung für sie bleiben. Ihr Hauptproblem bestand darin, daß das Artefakt der Hohen Magie ihn viel mächtiger machte, als sie selbst es war. Ohne den Stab war sie nicht in der Lage, ihm den Stab abzunehmen – eine lächerliche und scheinbar unlösbare Situation.

Die Moldan richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Leib, auf das winzige Geschöpf, das über so ehrfurchtgebietende Macht verfügte. Nun gut – so sei es. Für den Augenblick konnte sie nur zusehen und abwarten, bis sie die Pläne des Zauberers durchschaute. Wenn Gewalt ihr nicht half, dann mußte sie eine List ersinnen, um den Stab in ihre Gewalt zu bekommen.


Das Wimmern von Incondors Klagelied übertönte das gedämpfte, unzufriedene Gemurmel der Gemeinde im Tempel. Schwarzkralle spähte durch die dunklen Vorhänge hinter dem großen Altar, überrascht und äußerst erfreut darüber, daß der große Raum sich früh und schnell füllte. Immer mehr Himmelsleute drängten in das geräumige Mittelschiff und füllten nun sogar die luftigen Galerien weiter oben. Endlich! dachte der Priester; endlich hatten die Geflügelten seine Herrschaft wohl doch akzeptiert. Flammenschwinges Tod hatte offensichtlich den Ausschlag gegeben, ganz so, wie er es sich erhofft hatte.

Schwarzkralle wartete in dem engen Vorraum hinter den goldbestickten Vorhängen, während seine niedrigeren Priester den Ritus der Anbetung für den Vater der Himmel vollzogen. Seine prächtig bestickten Amtsroben raschelten steif, und ihr Gewicht lastete schwer auf seinen Schultern, während er in dem engen Raum auf und ab lief. Die gemurmelten und gesungenen Antworten schienen sich endlos hinzuziehen, und es fiel dem Hohenpriester immer schwerer, seine Ungeduld angesichts solchen Unsinns im Zaum zu halten. Macht war das einzige, was eine Rolle spielte; wenn der Aberglaube die Himmelsleute jedoch zu beschwichtigen vermochte, überlegte Schwarzkralle, dann mußte wohl der Zweck die Mittel heiligen.

Endlich war der Augenblick für Schwarzkralles eigenen Anteil an der Zeremonie gekommen. Als er sein Stichwort hörte, öffnete er die Holztür im hinteren Teil der Kammer, und zwei Tempelwachen führten die Ärztin herein. Elsters Gesicht war totenbleich, und sie biß die Zähne zusammen. Schlaff hing sie zwischen ihren beiden Wachen, und ihre Füße schleiften über den Boden; sie weigerte sich, ihnen auch nur im geringsten dabei zu helfen, sie zum Altar zu schaffen, wo bereits das Messer auf sie wartete.

Als sie an Schwarzkralle vorbeikam, kehrte das Leben für einen kurzen Augenblick in Elsters steinernes Gesicht zurück. »Möge Yinze dich in ewige Verdammnis stürzen!« fauchte sie. Dann blitzten ihre Augen noch einmal auf, und sie spuckte ihm ins Gesicht.

Elster hatte die Befriedigung, zu sehen, wie der Hohepriester vor ihr zurückschrak. Er wollte natürlich nicht das Gesicht vor den Wachen verlieren, indem er seinen Ekel zeigte, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als stehenzubleiben und sie wütend anzufunkeln, während die schleimige Spur ihres Speichels über sein Kinn tröpfelte. Elster lächelte grimmig. In Anbetracht des Schicksals, das sie erwartete, schien es ein armseliger Sieg, den sie errungen hatte, aber es war trotzdem ein befriedigendes Gefühl.

Als die Wachen sie durch die Vorhänge in den Tempel zogen, erfüllte die Reaktion der versammelten Gemeinde sie plötzlich mit neuem Mut. Wie ein Mann erhob sich die Menge und jubelte ihr zu. Elster blinzelte verwirrt. Seit Schwarzkralle die Macht ergriffen hatte, hatte sie den Tempel absichtlich gemieden, aber nach dem, was sie gehört hatte, war ihr Empfang bisher ohne Beispiel. Noch besser sogar war die Reaktion der Menge, als Schwarzkralle erschien. Die Ärztin konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als die Geflügelten bei Schwarzkralles Auftritt zischten und ihn auspfiffen.

Ohne auf den Befehl des Hohenpriesters zu warten, schwärmten die Tempelwachen aus und versuchten, die Störenfriede in der Gemeinde zu finden und zu isolieren. Die ruhelose Menge schwieg plötzlich, aber hinter ihrem Schweigen lag ein geradezu spürbarer Zorn. Die Spannung lastete schwer auf dem Tempel, wie eine drohende Sturmfront. Noch während die Wachen sie auf dem Altar fesselten, sah die Ärztin den Ausdruck verblüfften Unwillens auf Schwarzkralles Gesicht.

Unter Verzicht auf jedes weitere Zeremoniell trat der Hohepriester mit hoch erhobenem Messer zu ihr. Für Elster verlangsamte sich die Zeit zu einem bösartigen Kriechen. Die Welt bestand plötzlich nur noch aus lebhaften Einzelheiten, von denen ihr Gehirn jede einzelne mit schmerzlicher Deutlichkeit wahrnahm. Jede Pore in Schwarzkralles Gesicht, jede Linie von Ehrgeiz und Unzufriedenheit, die seine Haut durchzog, sprang ihr wie eine Schriftrolle entgegen, ein geöffnetes Buch, in dem sie mühelos lesen konnte. Elster spürte, wie die Ruhelosigkeit der Menge auf sie übergriff. Der Puls so vieler Herzen, die in einem gemeinsamen Ansinnen schlugen, trommelte wie eine vibrierende Harfensaite durch den Tempel. Dann wurde die Welt plötzlich sehr klein und dunkel, als die Ärztin ihre Aufmerksamkeit mit hypnotischer Intensität auf die glitzernde Klinge richtete, die mit tödlicher Absicht über ihr schwebte. Das Messer schoß auf sie zu …

»Feigling!«

»Verräter!«

»Wo ist Königin Rabe?«

»Wir wollen die Königin sehen!«

Elster war erstaunt, daß sie noch lebte, und noch größer war ihre Überraschung angesichts der Entdeckung, daß das Himmelsvolk von Rabes Anwesenheit in Aerillia wußte. Wie hatte Cygnus das geschafft? Sie öffnete die Augen und sah das Messer, das zitternd über ihr schwebte, nur einen winzigen Zoll von ihrem Herzen entfernt.

Schwarzkralles Augen blitzten vor Zorn. »Verfluchtes Weib!« ächzte er. »Wie haben sie das erfahren

Abermals hob er das Messer in die Höhe. »Diesmal gibt es keine Rettung für dich«, zischte er.

Elster sah, wie sein hoch erhobener Arm sich bewegte, und schloß die Augen …


»Wir sind ganz in der Nähe«, sagte Anvar zu den Katzen, die in respektvoller Entfernung vom Erdenstab hinter ihm standen.

»Dann bring es zu Ende!« Shias Stimme war ganz leise vor Anspannung. Der Magusch nickte zustimmend, denn er wußte, daß das Artefakt ihr Ungemach bereitete. Immerhin ging es ihr noch besser als Khanu, der schon seit einiger Zeit nichts mehr gesagt hatte, so sehr litt er unter dem ungewohnten Gefühl der Magie des Stabes.

Sie hatten ihr Ziel jedoch endlich erreicht. Nur eine dünne Felsschicht trennte Anvar noch vom Tempel der Himmelsleute. Und der Priester war dort – er wußte es! Irgendwie machte der Stab ihn besonders empfänglich für das Böse. Der Magusch konnte es fühlen wie einen Strom stinkenden Mülls, der über seinem Kopf durch den Felsen sickerte, und er wurde von dem unbezwingbaren Drang ergriffen, sich den Weg durch den dazwischenliegenden Stein freizukämpfen. Er hob den Stab und …

Tödliche Felsbrocken wirbelten durch den engen Raum im Tunnel, als der Stein über ihm barst. Shia und Khanu gingen fauchend in Deckung. Als Anvar die Öffnung über sich erblickte, sprang er hoch, und seine Finger fanden sofort Halt. Dann zog er sich ein klein wenig über den Rand hinaus, so daß er in den gewaltigen Raum spähen konnte, der vor ihm lag. In Panik geratene Himmelsleute rannten schreiend durcheinander und erhoben sich in die Luft, wobei sich ihre Flügel in dem engen Raum immer wieder verfingen. Der Hohepriester stand über einem gefesselten Opfer auf dem Altar. Anvar sah, wie die Klinge hinunterzuckte … Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung zog er sich aus dem Loch und sandte einen Strahl smaragdgrünen Feuers in das Dach des Tempels. Mit einem gewaltigen Aufflackern traf der Strahl sein Ziel. Ein Hagel von Felsbrocken ergoß sich über den Raum, als die Decke aufriß. Schwarzkralle fluchte, blickte auf … In diesem winzigen Augenblick der Ablenkung ging sein Stoß daneben, und die Klinge traf das Opfer an der Schulter.

Zwei geflügelte Wachen schwebten von oben auf Anvar herab. Shia faßte sich schnell und setzte zu einem mächtigen Sprung an; einen Feind erwischte sie mitten in der Luft und riß ihn mit ihren Klauen entzwei, noch bevor er am Boden aufschlug. Wie ein Blitz trat ein lebhaftes Bild von dem mitleiderregenden Fellhaufen in der Höhle vor Anvars inneres Auge. Khanu bekam die andere Wache zu fassen, als diese auf dem Boden landete, und seine Kiefer schlossen sich um die Kehle des Himmelsmannes. Die Luft war erfüllt von Blut und Federn. Als Shia herumwirbelte und nach einem neuen Opfer suchte, zogen sich die übrigen Wachen hastig zurück und flohen – nur um auf einen weiteren, flammenäugigen Schatten zu treffen, der fauchend in dem offenen Eingang stand. Hreeza. Während Anvar sich dem zutiefst entsetzten Hohenpriester näherte, fing er den triumphierenden Gedanken der alten Katze auf: »Ha! Und es gibt doch einen leichteren Weg herauf!«

Schwarzkralle warf Anvar, der von der Macht des Erdenstabs umstrahlt war, einen verängstigten Blick zu, wirbelte herum und floh hinter den Vorhang. Anvar folgte ihm und erreichte den Vorraum gerade noch rechtzeitig, um die Tür, durch die sein Feind entkommen war, zuschlagen zu sehen. Wild vor Zorn verfolgte er den Hohenpriester und riß in seiner Hast beinahe die Tür aus den Angeln. Mit dem Stab der Erde, der seinen Weg beleuchtete, stürmte er eine schmale Treppe hinunter und rannte durch das Labyrinth von Katakomben unter dem Tempel, wobei er sich von dem Klang laufender Schritte leiten ließ.

Als er an eine Stelle kam, an der der Weg sich gabelte, zögerte der Magusch. In welche Richtung war Schwarzkralle gegangen? Er glaubte, das leiseste Echo von Schritten auf seiner rechten Seite zu hören, und wählte diesen Weg. Der schmale Korridor führte wieder nach oben, und Anvar stieg über eine endlose Spirale schmaler Stufen in die Höhe. Höher und höher kletterte er, bis seine Beine schmerzten und er keuchend nach Luft rang. Seit einigen Augenblicken hatte er von Schwarzkralle nichts mehr gesehen oder gehört, und nun begann Anvar sich doch zu fragen, ob er sich nicht vielleicht für die falsche Richtung entschieden hatte.

Das scharfe Zuknallen einer Tür über ihm beseitigte alle Zweifel. Ein einzelnes Fenster auf dem letzten Treppenabsatz zeigte Anvar, daß er die Spitze eines gewaltigen Turms erklommen hatte. Wie der Magusch erwartet hatte, war die Tür vor ihm fest verschlossen. Vor Ungeduld fluchend, ließ er einen Energiestrahl aus dem Stab los und zerschmetterte die Tür mit einem einzigen Schlag. Noch bevor die vielen kleinen Holzstücke zu Boden rieseln konnten, stürmte er in das Zimmer hinein – und begriff zu spät, welchen Fehler er gemacht hatte, als ein Messer durch die Luft auf ihn zuflog. Während kaltes Entsetzen ihn durchzuckte, schien die Zeit für Anvar beinahe stillzustehen. Die Klinge trieb auf ihn zu, unaufhaltsam, wie es schien … Sie fiel klirrend zu Boden, weil er gerade noch rechtzeitig seinen Schild aktivieren konnte. Keuchend blickte Anvar auf und sah den Hohenpriester vor sich, der über einem geschnitzten Sockel kauerte und in einen funkelnden Kristall hineinschrie. »Erzmagusch!

Erzmagusch! – der Gefangene ist entkommen! … Verfluchter Kerl, antworte mir endlich!«

Irgendwie erschien es ihm feige und auch falsch, den Stab zu benutzen, um dieses widerwärtige Geschöpf zu töten. Mit einem stählernen Klirren zog der Magusch sein Schwert. Als Anvar mit langen Schritten auf ihn zukam, kehrte Schwarzkralle seinem wenig hilfreichen Kristall den Rücken, wirbelte herum und rannte auf das Fenster zu, wobei er seine Schwingen bereits halb ausgestreckt hatte. Noch während seine Hände nach dem Fenstervorsprung griffen, schoß Anvars Klinge herab und bohrte sich in seinen Hals. Schwarzkralles Körper brach vor dem Magusch zusammen. Sein Kopf rollte noch ein kleines Stück weiter, und in den vor Angst weit aufgerissenen Augen spiegelte sich der letzte Moment des Entsetzens wider, mit dem der Hohepriester seinem Ende entgegengesehen hatte.

Anvar wischte seine blutverschmierte Klinge am Saum der priesterlichen Robe ab und wandte sich achselzuckend zum Gehen. Soviel zu Schwarzkralle – jetzt war Miathan an der Reihe. So voreilig es auch sein mochte, er wollte, daß sein Feind von seiner Flucht erfuhr, denn Miathan würde mit Sicherheit Aurian davon erzählen. Also steckte er sein Schwert wieder in die Scheide, griff nach dem Kristall des Hohenpriesters und rief den Erzmagusch.

Der Edelstein flackerte mit schwindelerregendem Leuchten auf, das sich plötzlich legte, als Miathans Gesicht erschien. Dessen Erstaunen verwandelte sich in heißen Zorn, als er begriff, wer es war, der ihn da rief. »Anvar! Wie …«

»Schwarzkralle ist tot, Erzmagusch.« Anvars Gedankenstimme war hart wie Eis. »Jetzt bin ich hinter dir her.« Bevor Miathan die Möglichkeit hatte, etwas zu erwidern, warf Anvar den Kristall aus dem Fenster und kehrte dem Gemach des Hohenpriesters den Rücken.


Während der ganzen Zeit hatte die Moldan zugesehen. Jetzt, da der Zauberer ganz allein in diesem Turm war, bot sich ihr endlich die Chance, auf die sie die ganze Zeit über gewartet hatte! Das gewaltige Elementarwesen zuckte heftig mit seiner Außenhaut und konzentrierte sich dabei vor allem auf die Felsen unter dem schlanken, steinernen Turm. Der ganze Berg schauderte, als Schwarzkralles Domizil schwankte und krachte und mit einem gewaltigen Dröhnen in sich zusammenfiel.

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