Als Thuvia von Ptarth sah, daß Carthoris sie mit dem Mann Tario allein ließ, bekam sie plötzlich schreckliche Angst.
Der prächtige Saal war in sich schon ein Geheimnis. Die Möbel und die ganze Ausstattung sprachen von Reichtum und Kultur, und man konnte annehmen, daß dieser Saal oft genug der Schauplatz prächtigster königlicher Funktionen war, für die er auch geschaffen schien.
Und doch war nirgends, weder hier noch im Vorzimmer, auch nur das geringste Zeichen dafür zu finden, daß noch ein anderes Lebewesen in der Nähe weilte. Der Jeddak von Lothar lehnte mit halbgeschlossenen Augen auf seiner mit kostbaren Seiden und Fellen geschmückten Couch und musterte sie.
Das dauerte ziemlich lange, aber schließlich sprach er doch.
»Komm näher«, befahl er, und sie gehorchte. »Wessen Kreatur bist du? Wer hat es gewagt, seine Vorstellung einer Frau zu materialisieren? Das widerspricht den Sitten und dem königlichen Edikt von Lothar. Sag mir, Frau, aus welchem Gehirn bist du entsprungen? Aus dem Javs? Nein, leugne es nicht. Er kann es nicht lassen, mich versuchen zu wollen. So etwas kann nur einem neidigen Realisten einfallen. Er hätte es nur allzu gern, wenn ich deinen Reizen zum Opfer fiele, denn dann würde nämlich er, dein Meister, mein Geschick bestimmen – und mein Ende. Ich sehe alles ganz genau!«
Über Thuvias Gesicht war eine rote Welle des Zorns über soviel Würdelosigkeit gegangen. Sie hab ihr Kinn, und um ihren schönen Mund lag ein hochmütiger Zug.
»Ich weiß nichts!« rief sie. »Gar nichts weiß ich von dem, was du da andeutest! Ich bin Thuvia, Prinzessin von Ptarth. Ich bin keines Mannes Kreatur. Von dem heutigen Tag habe ich den Mann, den du Jav nennst, nicht einmal gesehen, auch nicht deine lächerliche Stadt, von der keine Nation auf Barsoom etwas weiß oder auch nur ahnt.
Und meine Reize sind nicht für dich bestimmt, merk dir das.
Auch nicht für Deinesgleichen. Sie sind nicht zu kaufen oder zu verschachern, auch dann nicht, wenn der Preis ein richtiger Thron wäre. Und daß ich sie benützen könnte, um deine mehr als dürftige, unnütze Macht an mich zu reißen…« Sie vollendete den Satz nicht, zuckte aber vielsagend ihre schönen Achseln und lachte verächtlich dazu.
Tario saß nun am Rand seiner Couch, hatte die Füße auf dem Boden und starrte sie an. Er beugte sich vorwärts, und seine Augen wirkten jetzt gar nicht mehr verschlafen, sondern verblüfft und höchst verwundert.
Die Hoheit ihrer Worte und ihrer Haltung schien er nicht zu bemerken. Sie schien etwas viel Zwingenderes und Erstaunlicheres an sich zu haben.
Dann stand er langsam auf.
»Bei den Fängen Komals!« murmelte er.» Aber du bist ja echt!
Du bist eine echte, lebendige Frau aus Fleisch und Blut! Kein Traum! Keine närrische und eitle Ausgeburt eines Geistes!«
Mit ausgestreckten Händen ging er auf sie zu.
»Komm«, flüsterte er. »Komm, Frau! Seit unzähligen Jahren habe ich davon geträumt, daß du eines Tages doch noch kommen würdest. Und jetzt bist du hier, und kaum wage ich dem Zeugnis meiner Augen zu trauen. Selbst jetzt fürchte ich noch, daß du doch nur ein Traum, ein Fantasiegebilde bist, und ich weiß doch, daß ich dich sehe.«
Thuvia wich zurück. Sie hielt den Mann für total verrückt.
Ihre Hand stahl sich vorsichtig zum juwelenbesetzten Griff ihres Dolches. Der Mann sah die Bewegung und schwieg. Ein schlauer Ausdruck kam in seine Augen. Dann wurden sie wieder träumerisch, dann durchdringend, und nun bohrten sie sich in das Gehirn des Mädchens.
Thuvia spürte plötzlich, wie in ihr eine Veränderung vorging.
Sie wußte nicht, was der Grund dafür war. Doch der Mann vor ihr schien eine neue Beziehung zu ihr herzustellen.
Sie war keine fremdartige und geheimnisvolle Feindin mehr, sondern eine alte, vertraute Freundin. Ihre Hand glitt vom Dolchgriff ab. Tario näherte sich ihr. Er sprach sanfte, freundliche Worte, und sie antwortete ihm mit einer Stimme, welche die ihre und doch nicht die ihre war.
Nun stand er neben ihr. Seine Hand lag auf ihrer Schulter. Seine Augen versuchten sich in die ihren zu versenken. Sie schaute auf und sah in sein Gesicht. Sein Blick bohrte sich in sie hinein, als suche er eine in ihr verborgene Gefühlsquelle, um sie sprudeln zu machen. Ihre Lippen öffneten sich in verwundertem Staunen über die Enthüllung ihres innersten Selbst, das nun offen vor ihrem Bewußtsein lag. Sie hatte Tario schon seit ewigen Zeiten gekannt. Er war für sie mehr als ein Freund. Sie rückte ein wenig näher an ihn heran. Und nun schien eine Lichtflut über sie hereinzubrechen, die zugleich die Wahrheit war – sie liebte Tario.
Jeddak von Lothar! Und sie hatte ihn schon immer geliebt.
Der Mann sah den Erfolg seiner Strategie und konnte ein kleines Lächeln der Befriedigung nicht unterdrücken. Und dann zerteilte jemand oder etwas plötzlich den seltsamen Zauber, der von dem Mann ausging. Ob es irgend etwas in seiner Miene war, oder ob von Carthoris von Helium, der in einem anderen Raum des Palastes weilte, eine viel stärkere Gedankenflut anrollte, läßt sich wohl kaum mehr sagen.
Mit einem Mal sah Thuvia den Jeddak Tario so, wie sie ihn vorher gesehen hatte. Es war so, als sei ihr eine Binde von den Augen gerissen worden. Selbstverständlich war sie vertraut mit den hochentwickelten Seelenkräften und ihren Manifestationen, die auf Barsoom ja nichts Ungewöhnliches waren, und deshalb begriff sie auch sofort die volle Wahrheit: sie befand sich in großer Gefahr.
Rasch trat sie einen Schritt zurück und riß sich aus seinem Griff los. Aber der nur flüchtige Kontakt hatte in Tario alle Leidenschaften einer liebeleeren Existenz geweckt.
Mit einem gedämpften Schrei sprang er sie an, warf seine Arme um sie und versuchte seinen Mund auf den ihren zu pressen.
»Weib!« schrie er. »Wunderschönes Weib! Tario wird dich zur Königin von Lothar machen. Hör mir zu! Lausche den Liebesschwüren des letzten Jeddaks von Barsoom!«
Thuvia kämpfte erbittert, um sich aus seiner Umarmung zu befreien.
»Aufhören, du Kreatur!« rief sie. »Aufhören! Ich liebe dich nicht Laß mich los, sonst schreie ich um Hilfe!«
Tario lachte schallend dazu.
»Nun, dann schrei doch um Hilfe«, spottete er. »Und wer in ganz Lothar ist da, der dich hören wird und dir zu Hilfe eilt? Wer würde es wagen, unberufen zu Tario vorzudringen?«
»Einen gibt es«, erwiderte sie. »Einer wird kommen! Und er wird es sogar wagen, dich in deinem eigenen Thronsaal zu züchtigen, wenn er glauben muß, daß du Thuvia von Ptarth beleidigt hast!«
»Wer denn? Jav?« fragte Tario lachend.
»Nein, nicht Jav und auch kein anderer weichhäutiger Lotharianer«, erwiderte sie. »Ein richtiger Mann, ein echter Krieger – Carthoris von Helium!«
Tario lachte schallend.
»Du vergißt ganz die Bogenschützen«, erinnerte er sie. »Was kann der Rote Krieger schon gegen meine furchtlosen Legionen ausrichten?«
Damit riß er sie recht grob an sich und versuchte sie zu seiner Couch zu zerren.
»Wenn du nicht meine Königin sein willst, dann wirst du meine Sklavin werden!« drohte er ihr.
»Nichts von beiden!« schrie das Mädchen.
Dazu machte sie eine rasche kleine Bewegung mit ihrer rechten Hand: Tario gab sie frei, taumelte zurück und preßte beide Hände an seine Seite. Im gleichen Moment füllte sich der Saal mit Bogenschützen, und dann sank der Jeddak von Lothar bewußtlos auf den Marmorboden.
In dem Moment, als der Jeddak zu Boden fiel, waren die Bogenschützen gerade dabei, ihre Pfeile abzuschießen und sie in Thuvias Herz zu schicken. Unwillkürlich tat sie einen lauten Hilfeschrei, obwohl sie annehmen mußte, daß nicht einmal Carthoris von Helium sie jetzt mehr zu retten vermochte.
Dann schloß sie die Augen und wartete auf den Tod. Doch kein schlanker Pfeil bohrte sich in ihre zarte Brust. Sie schlug die Augen auf um zu sehen, welche Macht die Hände ihrer Henker aufgehalten hatte.
Der Raum war leer. Außer ihr und der bewegungslos am Boden liegenden Gestalt des Jeddaks von Lothar war niemand da.
Eine kleine Blutpfütze hatte sich auf dem weißen Marmorboden gebildet. Tario war bewußtlos.
Bestürzt fragte sich Thuvia, wo die Bogenschützen wohl sein mochten. Warum hatten sie ihre Pfeile nicht abgeschossen? Was hatte das alles zu bedeuten?
Noch vor einem Augenblick war der Saal auf geheimnisvolle Weise mit bewaffneten Männern angefüllt gewesen, die offensichtlich zum Schutz ihres Jeddaks gerufen worden waren.
Und jetzt, da doch ihre Tat offenkundig war, hatten sich alle ebenso plötzlich verflüchtigt, wie sie gekommen waren. Und sie war nun allein mit der Leiche des Herrschers dieser Leute, dem sie ihren langen, scharfen Dolch in die Seite gestoßen hatte.
Das Mädchen sah sich mit zwiespältigen Gefühlen um.
Waren etwa die Bogenschützen zurückgekehrt? Oder gab es hier irgendeine Fluchtmöglichkeit?
Die Wand hinter der Throncouch wies zwei kleine Durchgänge auf, die mit schweren Wandbehängen bedeckt waren. Auf einen dieser Ausgänge lief Thuvia eiligst zu, als sie am anderen Ende des Saales das Klirren von Metall hörte.
Wenn sie nur einen Augenblick länger Zeit gehabt hätte! Dann wäre es ihr leicht möglich gewesen, die schützenden Behänge zu erreichen und vielleicht einen Fluchtweg dahinter zu finden. Jetzt war es zu spät. Man hatte sie entdeckt.
Mit einem Gefühl, das einer Apathie verdächtig nahe kam, wandte sie sich um, damit sie sich ihrem Schicksal stellte. Aber es war Carthoris, der mit blankem Langschwert durch den langen Saal zu ihrer Hilfe herbeieilte.
Tagelang hatte sie an den ehrenhaften Absichten des Prinzen von Helium gezweifelt. Sie hatte geglaubt, er sei an ihrer Entführung beteiligt gewesen. Seit das Schicksal sie zusammen-geworfen hatte, war sie kalt und abweisend zu ihm gewesen und hatte seine Fragen ziemlich einsilbig und kalt beantwortet. Nur ein paarmal war es anders gewesen – als die merkwürdigen und spuk-haften Begebnisse in Lothar sie aus ihrer Reserve herauslockten.
Sie wußte, daß Carthoris von Helium für sie kämpfen würde: ob er das tun würde, um sie für sich selbst oder für einen anderen Mann zu retten, wußte sie allerdings nicht.
Sie hatte ihm ja erklärt, daß sie Kulan Tith, Jeddak von Kaol, versprochen war, aber falls er an ihrer Entführung teilgenommen hatte, konnten seine Gefühle und Motive nicht von Rücksichtnahme oder Treue seinem Freund gegenüber bestimmt sein, und ihre Ehre bedeutete ihm dann wohl wenig.
Und doch… Sie sah ihn über den Marmorboden des Thronsaales von Lothar eilen, und in seinen ehrlichen Augen las sie die Sorge um ihre Sicherheit. Seine herrliche Gestalt personifizierte alles Gute und Edle in den kämpferischen Männern des kriegerischen Mars, und sie konnte es einfach nicht glauben, daß sich in einem so großartigen, herrlichen Körper ein perfider Geist verstecken könnte.
Offen mußte sie vor sich selbst zugeben, daß ihr noch nie im Leben der Anblick eines Mannes so angenehm gewesen war wie der seine. Es kostete sie alle Mühe, ihm nicht entgegenzulaufen und sich an seine Brust zu werfen.
Sie wußte, daß er sie liebte. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, daß sie ja Kulan Tith versprochen war. Sie durfte dem jungen Prinzen ganz gewiß keine zu große Dankbarkeit zeigen, denn er hätte sie mißverstehen können.
Carthoris stand dann an ihrer Seite. Mit einem raschen Blick hatte er die Szene in sich aufgenommen – die auf dem Boden liegende bewegungslose Gestalt des Jeddaks, das Mädchen, das einen verdeckten Ausgang zu erreichen versuchte.
»Hat er dir etwas zuleide getan, Thuvia?« fragte Carthoris.
Sie hielt den vom Blut roten Dolch in die Höhe, damit er ihn sehen konnte.
»Nein«, sagte sie. »Er hat mir nichts zuleide getan.«
Carthoris lächelte grimmig. »Gepriesen sei unser erster Ahnherr«, murmelte er. »Und jetzt laß uns sehen, ob wir nicht aus dieser verfluchten Stadt Lothar fliehen können, ehe die Leute hier entdecken, daß ihr Jeddak tot ist.«
Mit jener sicheren Bestimmtheit, die ihm so gut anstand, weil in seinen Adern das Blut John Carters aus Virginia und das der Dejah Thoris aus Helium floß, griff er nach ihrer Hand und zog Thuvia mit sich zur großen Tür, durch die Jav sie beide vor kurzem vor den Jeddak geführt hatte.
Fast hatten sie diese Tür schon erreicht, als durch einen anderen Eingang eine Gestalt sprang. Es war Jav. Auch er überschaute die Szene mit einem einzigen Blick.
Carthoris drehte sich zu ihm um. Sein Schwert lag stoßbereit in seiner Hand, und mit seinem großen Leib schirmte er die schlanke Mädchengestalt ab.
»Komm her, Jav von Lothar!« rief er ihm zu. »Wir wollen es gleich hinter uns bringen, denn nur einer von uns beiden verläßt diesen Saal lebend mit Thuvia von Ptarth.« Er sah aber, daß der Mann kein Schwert hatte. »Nun, so bring doch deine Bogenschützen an! Oder komm als mein Gefangener mit mir, bis wir die Tore eurer geisterhaften Stadt passiert haben!«
»Du hast Tario getötet!« rief Jav, ohne auf die Herausforderung des Prinzen zu hören. »Du hast Tario getötet! Ich sehe sein Blut auf dem Boden. Wirkliches Blut. Und es ist ein echter Tod. Dann war also Tario ebenso echt wie ich es bin. Und doch war er ein Ätheralist… Er wollte seine Nahrung nicht materialisieren…
Ist es möglich, daß solche Leute echt sind? Nun, wir sind es jedenfalls, wir Realisten. Und die ganze Zeit hindurch haben wir gestritten, weil wir uns nicht darüber einig werden konnten, wer recht hat! Jeder von uns sagte, der andere habe unrecht…
Nun ja, jedenfalls ist er jetzt tot. Eigentlich bin ich recht froh darüber. Jetzt kommt endlich Jav an die Reihe. Nun wird Jav der Jeddak von Lothar!«
Aber Jav hatte noch nicht recht zu reden aufgehört, als Tario die Augen öffnete und sich aufsetzte.
»Verräter! Mörder!« schrie er. »Kadar! Kadar!« Ein Kadar ist ein Leibwächter auf Barsoom.
Jav wurde kreidebleich. Er ließ sich auf den Boden fallen und kroch auf dem Bauch zu seinem Jeddak.
»Oh, mein Jeddak, mein Jeddak!« winselte er. »Jav hat keine Hand in diesem Spiel! Jav ist dein treuester Diener, der in diesem Augenblick deinen Thronsaal betrat, dich auf dem Boden liegend vorfand und die beiden Fremden dabei erwischte, als sie zu flüchten versuchten. Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte, mein Jeddak. Glaub mir, glorreicher Tario, größter und letzter aller Jeddaks!«
»Halt den Mund, du elender Verräter«, fuhr ihn Tario an. »Ich hörte doch deine Worte, du Lügner. Du hast gesagt: ›Nun ja, jedenfalls ist er jetzt tot. Eigentlich bin ich recht froh darüber.
Jetzt kommt endlich Jav an die Reihe. Nun wird Jav der Jeddak von Lothar‹
Endlich habe ich dich entlarvt, du Lügner und Verräter. Deine eigenen Worte haben dich verdammt. Und nicht nur dich, sondern auch diese beiden rothäutigen Kreaturen, wenn nicht…« Er machte eine Pause und leckte sich die Lippen. »Wenn nicht die Frau…«
Weiter kam er nicht. Carthoris wußte genau, was er gesagt hätte, und ehe er diese Worte noch aussprechen konnte, hatte er schon dem Jeddak von Lothar eine ganz gewaltige Ohrfeige versetzt.
Tario schäumte vor Wut.
»Und solltest du die Prinzessin von Ptarth noch einmal beleidigen«, warnte der Prinz von Helium, »dann werde ich vergessen, daß du kein Schwert trägst. Mich juckt nämlich jetzt schon meine Schwerthand, und ich weiß nicht recht, wie lange ich sie noch beruhigen kann.«
Tario zog sich langsam zu den kleinen Ausgängen hinter der Estrade zurück. Er versuchte etwas zu sagen, aber seine Gesichtsmuskeln zuckten derart schrecklich, daß er einige Minuten lang kein Wort herausbrachte. Dann stotterte er erst noch eine ganze Weile.
»Stirb!« schrie er endlich. »Stirb!« Und dann drehte er sich zu den Ausgängen um.
Jav rannte ihm nach und schrie dabei vor Entsetzen.
»Hab Mitleid, Tario! Hab doch Mitleid! Denk doch an die lange Zeit, die ich dir treu gedient habe. Denk doch an alles, was ich für Lothar getan habe. Rette mich! Verdamme mich nicht zu einem so schrecklichen Tod! Rette mich! Rette mich!«
Aber Tario lachte nur höhnisch und hob den Wandbehang auf, der die kleine Tür verdeckte.
Jav wandte sich zu Carthoris um.
»Halt ihn auf!« kreischte er. »Du mußt ihn aufhalten! Wenn dir dein Leben lieb ist, darfst du ihn nicht aus diesem Raum hinausgehen lassen!« Und mit diesen Worten rannte er seinem Jeddak nach.
Carthoris folgte Javs Beispiel, aber der letzte der Jeddaks von Barsoom war zu flink für beide. Als sie nämlich die kleine Tür erreichten, durch die er verschwunden war, fanden sie, daß eine schwere Steintür ihnen den Weiterweg versperrte.
Jav sank, von Entsetzen geschüttelt, zu Boden.
»Mensch, wir sind doch noch nicht tot!« rief Carthoris.
»Reiß dich zusammen! Wir wollen auf die Straße laufen und versuchen, die Stadt zu verlassen. Wir leben doch noch! Und solange wir leben, müssen wir versuchen, unser Schicksal fest in die Hand zu nehmen und es selbst zu bestimmen. Wofür soll es gut sein, wenn du dich rückgratlos auf den Boden fallen läßt? Komm, sei doch ein Mann!« Aber Jav schüttelte nur den Kopf.
»Hast du denn nicht gehört, wie er seine Leibwache rief?« ächzte er. »Ah, wenn wir ihn nur hätten aufhalten können! Dann hätten wir wenigstens hoffen können. Aber leider – er war viel zu flink für uns.«
»Na, schön«, antwortete Carthoris ungehalten. »Und wenn er die Leibwache rief? Wenn sie kommen, haben wir immer noch Zeit genug, uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Im Moment glaube ich noch gar nicht daran, daß sie’s wirklich so schrecklich eilig haben, dem Ruf ihres Jeddaks zu folgen.« Jav schüttelte betrübt den Kopf.
»Das verstehst du nicht«, sagte er. »Die Leibwache war schon da – und ist schon wieder weg. Sie haben ihre Arbeit getan, und wir sind verloren. Schau dir doch einmal die verschiedenen Ausgänge an.« Carthoris und Thuvia wandten sich zu den Türen um und stellten fest, daß alle mit riesigen Steinquadern verschlossen waren. »Na, und?« fragte Carthoris. »Wir müssen sterben«, flüsterte Jav matt.
Mehr wollte er nicht sagen. Er setzte sich auf die Kante von des Jeddaks Couch und wartete.
Carthoris trat neben Thuvia und hatte sein blankes Schwert in der Hand. Unablässig suchte er mit den Augen den ganzen Saal ab, damit nicht unbemerkt ein Feind auf sie eindringen konnte. Die Minuten erschienen ihnen wie Stunden, und nichts durchbrach die Grabesstille. Von nirgendwoher wurde ihnen ein Zeichen dafür gegeben, wann und auf welche Art sie den Tod zu erwarten hatten.
Die Spannung war fast unerträglich. Selbst Carthoris von Helium spürte, wie sie an seinen Nerven zerrte. Wenn er nur geahnt hätte, wie und wann der Tod zuschlagen würde! Er wäre ihm ganz sicher furchtlos gegenübergetreten. Die Pläne des Mörders nicht zu kennen und endlos lange auf das Verhängnis warten zu müssen, war mehr als er ertragen zu können glaubte.
Thuvia von Ptarth drängte sich nahe an ihn. Sie fühlte sich sicherer, wenn sie seinen Arm an dem ihren spürte, und da sich ihm dieses Gefühl mitteilte, riß er sich zusammen. Lächelnd wandte er sich ihr zu.
»Mir scheint, daß sie uns zu Tode ängstigen wollen«, sagte er lachend. »Und Schande über mich! Leider muß ich bekennen, daß es ihnen beinahe gelungen wäre, ihr Ziel bei mir zu erreichen.« Sie wollte ihm gerade antworten, als der Lotharianer einen entsetzlichen Schrei ausstieß.
»Das Ende kommt!« jammerte er. »Das Ende kommt! Der Boden! Oh, der Boden! O Komal, sei barmherzig!«
Thuvia und Carthoris brauchten den Boden nicht anzusehen, denn sie wußten auch so, was los war – er bewegte sich.
Der Marmorboden senkte sich von allen Seiten her der Mitte zu.
Zuerst war es eine kaum unmerkliche Bewegung, aber allmählich wurde die Neigung so steil, daß sie nur dann gerade zu stehen vermochten, wenn sie ein Knie sehr stark anzogen.
Jav kreischte immer lauter und klammerte sich an die königliche Couch, die der Raummitte entgegenrutschte. Dort bemerkten Thuvia und Carthoris eine kleine Öffnung, die sich schnell erweiterte und schließlich eine trichterähnliche Form annahm.
Es wurde immer schwieriger, sich an dem glatt polierten immer steiler sich neigenden Marmorboden festzuhalten.
Carthoris versuchte Thuvia zu stützen, aber er selbst rutschte unaufhaltsam dem Trichter entgegen.
Um besseren Halt auf dem glatten Stein zu finden, schlüpfte Carthoris aus seinen Sandalen aus Zitidarleder, und nun stemmte er sich mit nackten Sohlen gegen den Marmor. Mit den Armen stütze er Thuvia. In ihrer Angst legte sie ihm die Arme um den Hals. Ihre Wange lag an der seinen. Der Tod, der sie in einer ihnen unbekannten, vielleicht unsichtbaren Form bald ereilen würde, streifte einige Hemmungen von ihnen ab.
»Mut, meine Prinzessin«, flüsterte er.
Sie schaute ihm ins Gesicht: sie sah seine lächelnden Lippen, seine tapferen Augen, in denen keine Spur Angst zu erkennen war und diese Augen tauchten tief in die ihren.
Dann neigte sich der Boden noch mehr: er kippte direkt. Und nun rutschten sie der Öffnung entgegen.
Javs Schreie gellten ihnen schauerlich in den Ohren. Einen Moment später fanden sie sich zu dritt auf Tarios königlicher Couch wieder, die am Grund des Marmortrichters steckengeblieben war.
Einen Augenblick lang atmeten sie ein wenig freier, aber dann entdeckten sie, daß sich die Öffnung ständig erweiterte. Die Couch rutschte weiter nach unten. Jav kreischte. Es war ein recht merkwürdiges Gefühl, als sie spürten, wie die Couch unter ihnen wegfiel und sie selbst durch eine undurchdringliche Dunkelheit dem Tod entgegenstürzten.