Auf einer massiven Bank aus poliertem Ersit saß eine Frau unter den prachtvollen Blüten einer riesigen Pirnalie.
Ihr entzückender Fuß war mit einer Sandale bekleidet und klopfte ungeduldig auf den edelsteinbestreuten Fußweg, der an ungeheuren Sorapusbäumen vorbei über den scharlachroten Rasen der königlichen Gärten des Jeddaks von Ptarth, Thuvan Dihn, führte. Ein dunkelhaariger, rothäutiger Krieger beugte sich über sie und flüsterte ihr heiße Worte in das Ohr.
»Ah, Thuvia von Ptarth«, rief er. »du bist kalt selbst vor dem verzehrenden Feuer meiner Liebe! Kalt und hart wie diese Bank aus kaltem, hartem Ersit ist dein Herz! Wie glücklich kann sich dieser Stein schätzen, daß er deine göttliche, makellose Gestalt tragen darf! Oh, sag mir, Thuvia von Ptarth, daß ich noch hoffen darf, auch wenn du mich jetzt noch nicht liebst. Aber eines Tages, meine geliebte Prinzessin, werde ich…«
Das Mädchen sprang auf und tat einen Ausruf unangenehmer Überraschung. Ihr königlicher Kopf saß stolz auf ihren glatten, roten Schultern. Ihre dunklen Augen funkelten den Mann zornig an.
»Du vergissest dich und die Sitten von Barsoom, Astok«, sagte sie. »Ich habe dir kein Recht gegeben, die Tochter von Thuvan Dihn so anzusprechen, und ein solches Recht hast du dir auch noch nicht verdient.«
Der Mann griff plötzlich aus und hielt sie am Arm fest.
»Du wirst meine Prinzessin!« rief er. »Bei der Brust der Issus, das wirst du, und kein anderer wird sich zwischen Astok, Prinz von Dusar, und seinen Herzenswunsch stellen! Sag mir, daß da ein anderer Mann ist, und ich werde ihm sein verfaultes Herz aus dem Leib schneiden und es den wilden Hunden der toten Seegründe vorwerfen!«
Als die Hand des Mannes ihre Haut berührte, wurde sie blaß, denn die Frauen von den königlichen Höfen des Mars werden fast als Heilige behandelt. Daß Astok, Prinz von Dusar, sie berührte, war ein Frevel. Angst hatte Thuvia von Ptarth nicht, nur Entsetzen fühlte sie über das, was der Mann getan hatte, denn daraus konnten sich böse Folgen ergeben.
»Laß mich los«, sagte sie kalt und gemessen.
Der Mann murmelte etwas Unverständliches und zog sie grob an sich.
»Laß mich los!« wiederholte sie scharf. »Oder ich rufe den Wächter, und der Prinz von Dusar weiß, was das zu bedeuten hat.«
Aber er warf seinen rechten Arm um ihre Schultern und versuchte ihr Gesicht an seine Lippen zu ziehen. Sie tat einen kleinen Schrei und schlug ihm mit den schweren Armreifen, die ihren freien Arm schmückten, auf den Mund.
»Kalott!« rief sie. »Wächter! Wächter! Kommt, um die Prinzessin von Ptarth zu beschützen!«
Sofort kam ein ganzes Dutzend Wächter über den roten Rasen gerannt, und ihre blanken Langschwerter funkelten in der Sonne.
Das Metall ihrer Waffen klirrte gegen das ihrer Lederharnische, und aus ihren Kehlen stiegen heisere Wutschreie beim Anblick, der sich ihnen bot.
Ehe sie noch die Hälfte des Rasens hinter sich gebracht hatten, sprang eine andere Gestalt aus den dichten Büschen, die einen goldenen Brunnen einschlossen. Es war ein großer Junge von prachtvoller Gestalt, schwarzem Haar und klugen grauen Augen. Seine Schultern waren breit, die Hüften schmal, und seine klargezeichneten Glieder waren die eines Kämpfers. Seine Haut war heller als die der kupferfarbenen Roten Männer des Mars, die sich schon allein durch ihre Hautfarbe von den anderen Rassen des sterbenden Planeten unterscheiden. Er war so wie die Roten und doch anders als sie, nicht nur wegen der helleren Haut und der grauen Augen.
Auch seine Bewegungen waren ein wenig anders. Er kam in großen Sprüngen an, und sie trugen ihn so schnell über den Rasen, daß im Vergleich dazu die Schnelligkeit der heranrennenden Wächter nichts war.
Astok hielt noch immer Thuvias Handgelenk fest, als der junge Krieger ihm gegenüberstand.
»Kalott!« fauchte er nur, und dann landete schon seine Faust am Kinn des anderen. Der Prinz flog hoch in die Luft und landete als unansehnlicher Haufen mitten im Pimalienbusch neben der Ersitbank.
»Kaor, Thuvia von Ptarth!« rief der junge Mann, der sich vor dem Mädchen verbeugte. »Mir scheint, das Schicksal hat die richtige Zeit für meinen Besuch bestimmt.«
»Kaor, Carthoris von Helium!« erwiderte die Prinzessin den Gruß des jungen Mannes, ihres Retters. »Was hätte ich sonst erwarten können vom Sohn eines solchen Herrn?«
Er verbeugte sich dankbar für das Kompliment für seinen Vater John Carter, Kriegsherr des Mars. Und dann kamen eben die Wächter keuchend an, als der Prinz von Dusar mit gezogenem Schwert und aus dem Mund blutend aus dem Gewirr der Pimalienzweige herauskroch.
Astok hätte sofort, mit dem Sohn von Dejah Thoris einen Kampf auf Leben und Tod begonnen, wenn ihn die Wächter nicht daran gehindert hätten. Es war aber deutlich zu sehen, daß Carthoris von Helium den Kampf nur allzu gerne angenommen hätte.
»Sag nur ein Wort, Thuvia von Ptarth«, bat er, »und nichts wird mich mehr erfreuen, als diesem Burschen die Strafe zu verpassen, die er verdient hat.«
»Das darf nicht sein, Carthoris«, antwortete sie. »Er hat zwar jeden Anspruch auf meine Rücksichtnahme verspielt, aber er ist ein Gast des Jeddaks, meines Vaters, und ihm wird er auch Rechenschaft ablegen müssen wegen der unverzeihlichen Tat, die er begangen hat.«
»Wie du sagst, Thuvia«, erwiderte der junge Mann aus Helium.
»Aber dann wird er sich vor Carthoris, dem Prinzen von Helium, für die Beleidigung zu verantworten haben, die er der Tochter des Freundes meines Vaters zugefügt hat.«
Ein tiefes Rot überzog die zarten Wangen des Mädchens, und die Augen von Astok, Prinz von Dusar, umwölkten sich, denn er fühlte das, was im königlichen Garten des Jeddaks ungesprochen blieb.
»Und du dich vor mir«, zischte er Carthoris an.
Die Wachen umstanden Astok noch immer. Für den jungen Offizier der sie befehligte, war das eine recht schwierige Situation, denn sein Gefangener war der Sohn eines mächtigen Jeddaks. Außerdem war er der Gast von Thuvan Dihn – übrigens, ein bis jetzt hoch geehrter Gast – der mit allen königlichen Ehren empfangen und überschüttet worden war. Nahm man ihn jetzt gefangen, dann bedeutete das Krieg.
Der junge Mann zögerte. Er sah seine Prinzessin fragend an.
Auch sie schien zu wissen, was alles von den nächsten Minuten abhing. Seit vielen Jahren hatten Dusar und Ptarth in bestem Einvernehmen gelebt. Die großen Handelsschiffe waren ständig zwischen den größeren Städten der beiden Nationen unterwegs, und sogar jetzt konnte die Prinzessin über der scharlachfarbenen Kuppel des Palastes einen riesigen, unförmigen Frachter erkennen, der sich seinen majestätischen Weg durch die dünne Luft Barsooms nach dem Westen und nach Dusar bahnte.
Ein einziges Wort würde genügen, um diese zwei mächtigen Nationen in einen blutigen Konflikt zu verwickeln, der sie ihrer tapfersten Männer und unschätzbaren Reichtümern beraubte und sie hilflos den Raubgelüsten ihrer weniger reichen und glücklichen Nachbarn auslieferte, die schon seit langem eifersüchtig waren. Und ebenso zu fürchten waren die grünen Horden von den toten Seegründen.
Die Kinder des Mars kennen kaum Furcht, und so wurde auch Thuvia in ihrer Entscheidung nicht von Furcht beeinflußt: eher leitete sie ein sehr ausgeprägter Sinn für Verantwortung, denn ihr, der Tochter des Jeddaks, lag das Wohl ihres Volkes am Herzen.
»Ich habe dich gerufen, Padwar«, sagte sie zu dem Leutnant der Wachen, »um die Person deiner Prinzessin zu schützen und um den Frieden zu erhalten, der in den königlichen Gärten des Jeddaks nicht gebrochen werden darf. Das ist alles. Du wirst mich nun zum Palast begleiten, und auch der Prinz von Helium wird bei mir bleiben.«
Sie warf Astok nicht einmal mehr einen flüchtigen Blick zu, sondern griff nach Carthoris’ hilfreich gebotener Hand und ging mit ihm langsam dem riesigen Marmorgebäude zu, das der Palast des Herrschers von Ptarth war und ihm und seinem prächtigen Hof zur Wohnung diente. Links und rechts von ihnen marschierten die Garden mit. Auf diese Art hatte Thuvia von Ptarth einen Ausweg aus dem Dilemma gefunden, denn sie hatte sowohl die beiden Prinzen getrennt, die einander sonst an die Kehle gesprungen wären, als auch vermieden, dem königlichen Gast ihres Vaters Schmach anzutun und ihn seiner Freiheit zu berauben.
Astok stand noch immer unter der Pimalie. Er hatte die Brauen gerunzelt und seine dunklen Augen zu haßerfüllten Schlitzen verkniffen, und so sah er der sich entfernenden Frau nach, für die er die wildeste Leidenschaft empfand und auch dem Mann, der – und davon war er jetzt überzeugt – zwischen seiner Liebe und ihrer Erfüllung stand.
Als sie im Palast verschwanden, zuckte Astok die Achseln und stieß einen Fluch aus. Dann ging er quer durch den Garten zu einem anderen Flügel des weitläufigen Gebäudes, in dem er mit seinem Gefolge untergebracht war.
Im Laufe der Nacht verabschiedete er sich förmlich von Thuvan Dihn, und mit keinem Wort wurde der Vorfall im königlichen Garten erwähnt. Trotzdem ließ die kalte Maske der Höflichkeit des Jeddaks ahnen, daß er nur, weil er die Gastfreundschaft des Königs angenommen hatte, seiner Verachtung nicht Ausdruck verlieh, die er für den Prinzen von Dusar empfand.
Carthoris war bei der Verabschiedung nicht anwesend; auch Thuvia war ihr ferngeblieben. Die Zeremonie war so steif und formell, wie die Hofetikette sie vorschrieb, darüber hinaus aber auch ohne die geringste Andeutung von Herzlichkeit. Endlich war dann der letzte Dusarianer über die Reling des Kampfschiff es geklettert, das sie zu jenem schicksalhaften Besuch nach Ptarth gebracht hatte, und die riesige Zerstörungsmaschine hatte sich langsam von der Landebühne abgehoben. Jetzt stieß Thuvan Dihn einen Seufzer der Erleichterung aus. Er wandte sich an seinen Adjutanten mit einem erklärenden Wort über den seltsamen Vorfall, der seit Stunden alle Palastbewohner und Höflinge beschäftigt hatte.
Aber war es denn wirklich so seltsam gewesen?
»Laßt alle wissen«, befahl er, »daß es unser Wunsch ist, daß die Flotte, die heute früh nach Kaol aufgebrochen ist, zurückgerufen wird, um im Westen von Ptarth zu kreuzen.«
Als das Kriegsschiff, das Astok an den Hof seines Vaters zurückbrachte, nach Westen drehte, saß Thuvia von Ptarth auf derselben Bank, wo der Prinz von Dusar sie beleidigt hatte. Sie sah den flimmernden Lichtern des Schiffes nach, das in der Ferne immer kleiner wurde. Der nähere Mond goß sein strahlendes Licht auf Carthoris, der neben ihr saß. Seine Augen folgten nicht dem riesigen Kampfschiff, sondern hingen am aufwärts gewandten Gesicht des Mädchens.
»Thuvia«, flüsterte er.
Das Mädchen sah ihn an. Seine Hand tastete sich der ihren entgegen, doch sie zog sie sanft zurück.
»Thuvia von Ptarth, ich liebe dich!« rief der junge Krieger.
»Sag mir, daß dich meine Liebe nicht kränkt!«
Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Die Liebe eines Carthoris von Helium kann für jede Frau nur eine große Ehre sein«, antwortete sie einfach. »Du sollst aber nicht sprechen, mein Freund. Schweig von Gefühlen, die ich nicht teilen kann.«
Langsam stand der junge Mann auf. Seine Augen waren groß vor Staunen. Nie hätte Carthoris, Prinz von Helium, damit gerechnet, daß Thuvia von Ptarth einen anderen Mann lieben könnte.
»Aber in Kadabra und später an meines Vaters Hof – Thuvia von Ptarth, hättest du mich warnen sollen, daß du meine Liebe nicht erwidern kannst.«
»Und was habe ich getan, Carthoris von Helium«, erwiderte sie, »das dich glauben ließ, ich würde deine Liebe erwidern?«
Er dachte eine ganze Weile nach, dann schüttelte er den Kopf.
»Nichts, Thuvia, das ist wahr. Doch ich hätte schwören mögen, daß du mich liebst. Du weißt recht gut, wie verehrungsvoll meine Liebe zu dir ist.«
»Und wie sollte ich das wissen, Carthoris?« fragte sie unschuldig. »Hast du mir je etwas davon gesagt? Ist je ein Wort deiner Liebe für mich von deinen Lippen gekommen?«
»Aber du mußt es gewußt haben!« rief er. »Ich bin wie mein Vater; mit Frauen kann ich nicht umgehen, und wenn mein Herz sprechen soll, bin ich ein Tölpel. Aber all diese Juwelen, die auf den Wegen des königlichen Gartens funkeln, die Bäume, die Blumen, selbst der Rasen – alles und jedes muß in meinem Herzen die Liebe zu dir gelesen haben, die ich fühle, seit meine Augen das Glück hatten, die Schönheit deines vollkommenen Gesichtes und deiner lieblichen Gestalt in mich hineinzutrinken.
Wie könntest also allein du blind dafür gewesen sein?«
»Zeigen die Mädchen von Helium den Männern, daß sie sie lieben?« fragte Thuvia.
»Du spielst mit mir!« rief Carthoris. »Sag, Thuvia, daß du nur mit mir spielst und daß du mich doch liebst!«
»Das kann ich dir nicht sagen, Carthoris, denn ich bin einem anderen versprochen.«
Ihre Stimme klang unbewegt, doch wer könnte behaupten, aus ihren tiefsten Tiefen habe nicht ein wenig Trauer mitgeklungen?
»Du bist einem anderen versprochen?« Carthoris flüsterte fast unhörbar diese Worte. Sein Gesicht war aschfahl geworden, aber dann hob er stolz den Kopf, wie es einem Mann zukommt, in dessen Adern das Blut des Kriegsherrn einer Welt fließt.
»Carthoris von Helium wünscht dir alles Glück mit dem Mann deiner Wahl«, sagte er voll Stolz. »Mit…« Er zögerte, denn er erwartete von ihr den Namen zu hören.
»Kulan Tith, Jeddak von Kaol«, sagte sie. »Meines Vaters Freund und Ptarths mächtigster Verbündeter.«
Der junge Mann sah sie lange prüfend an, ehe er wieder sprach.
»Du liebst ihn, Thuvia von Ptarth?« fragte er.
»Ich bin ihm versprochen«, erwiderte sie schlicht.
Er drang nicht weiter in sie. »Er ist vom edelsten Blut Barsooms und ein gewaltiger Kämpfer«, überlegte Carthoris laut.
»Meines Vaters Freund und auch der meine. Oh, wäre es nur ein anderer!« Er war verzweifelt. Was das Mädchen dachte, ließ sich nicht erkennen, denn ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske, die höchstens ein wenig Traurigkeit andeutete. Er konnte jedoch nicht erraten, ob diese Trauer ihr selbst, ihm oder ihnen beiden galt.
Carthoris von Helium fragte nicht, obwohl er die Andeutung des Leides im Gesicht des Mädchens bemerkte. Seine Loyalität für Kulan Tith war die des Blutes von John Carter aus Virginia für einen Freund, und keine Treue konnte größer sein als die seine.
Er hob etwas von des Mädchens juwelengeschmück ten Harnisch behängen an seine Lippen.
»Auf die Ehre und das Glück von Kulan Tith und des preislosen Juwels, das ihm anvertraut wurde«, sagte er, und seine Stimme klang heiser vor Bewegung, doch an der Aufrichtigkeit seines Wunsches war nicht zu zweifeln. »Ich sagte dir, daß ich dich liebe, Thuvia, ehe ich wußte, daß du einem anderen versprochen bist. Ich werde es nicht wiederholen, doch bin ich froh, daß du es weißt, denn darin liegt keine Unehre für dich, für Kulan Tith oder für mich selbst. Meine Liebe ist so, daß ich auch Kulan Tith umarmen würde – falls du ihn liebst.« Darin lag eine deutliche Frage.
»Ich bin ihm versprochen«, wiederholte sie.
Langsam zog sich Carthoris zurück. Er legte eine Hand auf sein Herz, das andere auf den Knauf seines Langschwertes.
»Die gehören dir – immer«, sagte er. Und einen Augenblick später war er im Palast und den Blicken des Mädchens ent-schwunden.
Wäre er sofort umgekehrt, hätte er sie zusammengesunken und mit einem in ihren Armen vergrabenen Gesicht gefunden.
Weinte sie? Niemand sah es.
An jenem Tag war Carthoris von Helium unangemeldet an den Hof von seines Vaters Freund gekommen. Er hatte nur einen kleinen Flieger benützt und kein Gefolge mitgenommen, denn er war überzeugt, in Ptarth ebenso herzlich aufgenommen zu werden wie sonst auch. Und da es bei seiner Ankunft keine Formalitäten gegeben hatte, konnte er auch ohne Umstände wieder abreisen.
Thuvan Dihn erklärte er, daß er eine eigene Erfindung ausprobieren wollte, mit der sein Flieger ausgestattet war, eine recht geschickte Verbesserung des gewöhnlich benutzten marsianschen Luftkompasses, den man auf ein bestimmtes Ziel ausrichten konnte, auf das er dann immer fixiert blieb. Es war nichts weiter nötig, als den Bug des Schiffes ständig nach der Kompaßnadel auszurichten, um jeden gewünschten und eingestellten Punkt auf Barsoom auf dem kürzesten Weg zu erreichen.
Carthoris’ Verbesserung an diesem Kompaß war ein Zusatzgerät, das ein damit ausgerüstetes Schiff mechanisch in die auf dem Kompaß eingestellte Richtung steuerte und über dem Punkt, für den der Kompaß gesetzt war, die Maschine zum Stehen brachte, und sie langsam und vollautomatisch auf den Grund senkte.
»Die Vorteile dieser Erfindung liegen klar auf der Hand«, sagte er zu Thuvan Dihn, der ihn zur Landeplattform auf dem Palastdach begleitet hatte, weil er den Kompaß ansehen und seinem jungen Freund Lebewohl sagen wollte.
Ein Dutzend Offiziere und Hofbeamte mit einigen Leibdienern standen hinter dem Jeddak und seinem Gast und lauschten aufmerksam der Unterhaltung. Einer der Edlen schob zweimal ziemlich unsanft einen Dienstboten zurück, der sich immer wieder vor die anderen drängte, um den wundervollen, sehr komplizierten Mechanismus des Zielüberwachungskompasses, wie das Gerät genannt wurde, möglichst genau zu sehen.
»Wenn ich zum Beispiel einen Nachtflug vor mir habe, so wie heute«, fuhr Carthoris fort, »dann stelle ich den Zeiger auf der rechten Skala, welche die östliche Hemisphäre von Barsoom darstellt, so ein, daß die Zeigerspitze genau auf die Länge und Breite von Helium zeigt. Dann starte ich die Maschine, rolle mich in meine Schlafseiden und Pelze ein, lasse alle Lichter brennen und rase durch die Nacht Helium entgegen. Ich weiß, daß ich zur errechneten Zeit langsam auf die Landeplattform meines eigenen Palastes heruntergehe, egal ob ich nun noch schlafe oder nicht.«
»Vorausgesetzt natürlich«, wandte Thuvan Dihn ein, »daß du nicht inzwischen mit einem anderen Nachtwanderer zusammen-gestoßen bist.«
Carthoris lächelte. »Da besteht gar keine Gefahr. Sieh her.« Er deutete auf ein weiteres Gerät, das rechts neben dem Zielkompaß angebracht war. »Das hier ist mein Hindernis-Ausweichgerät.
Ein besserer Name dafür ist mir noch nicht eingefallen, doch dieser bezeichnet genau dessen Funktion. Das hier ist der Schalter, mit dem der Mechanismus ein- und ausgeschaltet wird. Das Instrument selbst liegt geschützt darunter und ist sowohl mit dem Lenkmechanismus als auch mit den übrigen Kontrollinstrumenten verbunden.
Das ist nun eigentlich recht einfach, denn es ist nichts anderes als ein Radiumgenerator, der Radioaktivität in alle Richtungen ausschickt über eine Weite von etwa hundert Yards vom Flieger entfernt. Sollte nun dieses Radioaktivitätsfeld aus irgendeiner Richtung her durchstoßen oder auch nur gestreift werden, so zeigt sofort ein sehr empfindliches Instrument diese Annäherung an und gibt gleichzeitig Impulse an ein magnetisches Gerät ab, das wiederum auf den Steuermechanismus einwirkt und den Bug des Fliegers solange und soweit vom Hindernis ablenkt, bis das radioaktive Feld nicht mehr von ihm berührt wird. Dann schwenkt das Schiff automatisch wieder auf den alten Kurs ein. Sollte die Störung von hinten her erfolgen, falls mich etwa ein schneller fliegendes Schiff überholen will, so wirkt der Mechanismus auf die Geschwindigkeitskontrolle und die Steuerung ein, so daß das Schiff gleichzeitig nach vorne und oben oder unten schießt, je nachdem, ob das sich nähernde Schiff höher oder niedriger fliegt als ich.
Gibt es zum Beispiel viele Hindernisse oder solche, die den Bug in irgendeiner Richtung um mehr als fünfundvierzig Grad ablenken würden, oder wenn das Schiff bereits sein Ziel erreicht hat und auf eine Höhe von hundert Yards über dem Boden gefallen ist, so bringt das Gerät das Schiff zum Stehen und gibt zugleich einen sehr lauten Alarm, der den Piloten aufweckt. Siehst du, ich habe fast jede Möglichkeit in Betracht gezogen.«
Thuvan Dihn nickte lächelnd, denn ihm imponierte das Gerät.
Der vorderste Diener drängte sich noch weiter vor, so daß er fast unmittelbar neben dem Flieger stand. Seine Augen kniff er zu Schlitzen zusammen.
»Fast alle Möglichkeiten, nur eine nicht«, sagte er.
Die Edlen schauten ihn erstaunt an, und einer von ihnen packte den Burschen nicht gerade sanft an der Schulter, um ihn so auf den ihm gebührenden Platz zurückzuschieben. Carthoris hob die Hand.
»Wartet«, bat er. »Laßt uns hören, was der Mann zu sagen hat, denn keine Schöpfung eines menschlichen Geistes ist perfekt.
Vielleicht hat er eine Schwäche darin entdeckt, und ich werde sie sofort erkennen, wenn er spricht. Komm, mein Freund, und sage mir, welche Möglichkeit ich übersehen haben könnte.«
Während er sprach, musterte Carthoris den Diener zum erstenmal genau. Er sah vor sich einen Mann von der Gestalt eines Riesen, der so wie alle Angehörigen der Roten Rasse sehr gut aussah. Aber die Lippen des Burschen waren dünn und grausam, und über eine Wange lief eine schwach sichtbare hellere Linie von der rechten Schläfe zum Mundwinkel, die von einem Schwerthieb stammen mochte.
»Komm, mein Freund, so sprich doch«, drängte der Prinz von Helium.
Der Mann zögerte. Jeder konnte sehen, daß er es schon bedauerte, sich selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Anwesenden gerückt zu haben. Es blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, und so sprach er.
»Man könnte daran herumpfuschen«, sagte er. »Ein Feind zum Beispiel.«
Carthoris entnahm dem Lederbeutel an seinem Gürtel einen kleinen Schlüssel.
»Schau dir den an«, sagte er und reichte ihn dem Mann. »Auch wenn du gar nichts von Schlössern verstehst, wird dir klar sein, daß der Mechanismus, der mit diesem Schlüssel in Bewegung gesetzt wird, allen Schlösserknackern weit überlegen ist. Er beschützt die Eingeweide des Instruments davor, daß man an ihnen herumpfuschen kann. Ohne diesen Schlüssel müßte ein Feind das Gerät fast herausstemmen, um zu dessen Herz vorzudringen, und das würde selbst dem flüchtigsten Beobachter nicht entgehen können.«
Der Diener nahm den Schlüssel, musterte ihn aufmerksam und ließ ihn aber, als er ihn angeblich Carthoris zurückreichen wollte, auf den Marmorboden fallen. Er schaute sich um als wolle er den kleinen Schlüssel suchen und stellte seinen Fuß in der Sandale auf den glitzernden Gegenstand. Einen Augenblick lang verlegte er sein ganzes Körpergewicht auf diesen Fuß; dann trat er zurück, tat einen Ausruf der Freude, weil er ihn gefunden hatte, bückte sich, hob ihn auf und reichte ihn dem Prinzen von Helium. Dann zog er sich hinter die Reihen der Edlen zurück und war auch schon vergessen.
Einen Augenblick später hatte sich Carthoris von Thuvan Dihn und seinen Edlen verabschiedet. Mit blinkenden Lichtern hob er sich von der Landeplattform ab und verschwand in die sternenfunkelnde Leere der Marsnacht.