6 Der Jeddak von Lothar

Das Mädchen sah ungläubig drein.

»Sie lagen doch in Stapeln da«, sagte Thuvia. »Es waren Tausende – noch vor wenigen Minuten.«

»Und jetzt«, stellte Carthoris fest, »sind nur einige Banths da und die Leichen der grünen Männer.«

»Sie müssen Leute aus der Stadt geschickt haben, welche die Toten wegschafften, während wir miteinander sprachen«, vermutete Thuvia.

»Das ist unmöglich!« erwiderte Carthoris. »Mehr als tausend Tote lagen noch vor wenigen Minuten auf diesem Feld. Auch ein großer Trupp Leute hätte ziemlich lange gebraucht, diese alle wegzuschaffen. Und wir hätten sie auch unter allen Umständen bemerken müssen. Eine merkwürdige Angelegenheit!«

»Und ich hatte gehofft, daß uns diese hellhäutigen Leute Asyl gewähren würden«, seufzte Thuvia. »Sehen wir davon ab, daß sie auf dem Schlachtfeld eine ganz beträchtliche Wildheit entwickelt haben; doch das war schließlich ihr gutes Recht, und sie müssen sich ja ihrer Haut wehren. Sonst erschienen sie mir jedoch nicht als sehr kriegerische und gefährliche Leute. Ich wollte dir schon vorschlagen, daß wir in die Stadt zu gelangen versuchen sollten, aber jetzt weiß ich nicht mehr recht, ob das vernünftig ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sehr gerne unter Leuten weile, deren Tote sich einfach in Luft auflösen.«

»Dein Vater stellte mir einmal dieselbe Frage«, erzählte sie.

»Es war in den Galerien der Goldenen Klippen in den Bergen von Otz unter den Tempeln der Therns. Ich konnte es ihm damals nicht erklären und kann es auch dir jetzt nicht sagen, denn ich weiß nicht, woher meine Macht über sie kommt. Aber seit dem Tag, da Sator Throg mich unter sie in die Banthgruben der Heiligen Therns warf und die Tiere friedlich zu meinen Füßen lagen statt mich zu zerreißen, hatte ich diese seltsame Macht über sie. Sie kommen, wenn ich sie rufe, und sie gehorchen mir aufs Wort. Nicht einmal euer treuer Wula könnte deinem Vater, dem mächtigen Herrn, besser gehorchen.«

Mit einem Wort entließ das Mädchen das gefährliche Rudel.

Brüllend kehrten sie zu ihrem unterbrochenen Mahl zurück, während Carthoris und Thuvia völlig sicher zwischen ihnen zur Stadt gingen. Verwundert besah sich Carthoris die Leichen der grünen Krieger, die noch nicht von den Banths angefressen worden waren.

Er zeigte dem Mädchen, was ihm aufgefallen war. Aus den riesigen Körpern ragten keine Pfeile, und nirgends wiesen sie tödliche Wunden auf, ja nicht einmal Abschürfungen oder kleinere Risse.

Und dabei waren die Leichen der Torquasianer wie mit tödlichen Pfeilen gespickt gewesen, ehe die toten Bogenschützen sich in Luft aufgelöst hatten! Wohin waren die schlanken Todesbringer verschwunden? Welche unsichtbare Hand hatte sie aus den Körpern der Gefallenen entfernt?

Das alles war so unheimlich, daß Carthoris fühlte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Als er jetzt zur Stadt schaute, war kein Lebenszeichen mehr wahrzunehmen, und auf der Mauerkrone und den Dächern bewegten sich keine Gestalten mehr. Alles war ruhig. Es herrschte eine unheilträchtige, brütende Stille.

Und doch hatte Carthoris das sichere Gefühl, daß hinter der dicken Mauer Augen waren, die sie beobachteten.

Er sah Thuvia an. Ihre großen Augen hingen am Stadttor. Er schaute in die Richtung ihres Blickes, doch er bemerkte nichts.

Sie schien seinen Blick zu spüren und aus einer Art Lethargie zu erwachen. Sie wandte sich ihm zu, und ein schnelles, tapferes Lächeln huschte um ihre Lippen. Dann trat sie an seine Seite und legte ihre Hand in die seine.

Er vermutete, daß sie das sehr impulsiv, fast unbewußt tat, daß sie ihm damit um Schutz bat. Er legte ihr einen Arm um die Schultern, und so gingen sie weiter. Sie entzog sich diesem Arm nicht. Man mag daran zweifeln, daß sie diesen Arm bewußt wahrnahm, so sehr war sie von dem Geheimnis dieser seltsamen Stadt gefangen.

Vor dem Tor blieben sie stehen. Es war sehr hoch und breit. Aus der Konstruktion und der Bauart konnte Carthoris schließen, daß es von undenkbarem Alter war.

Es war rund und hatte eine runde Öffnung. Carthoris wußte aus seinen Studien, daß es wie ein riesiges Rad in eine Maueröffnung hineinrollte. Solche Tore gab es jedoch nicht einmal in so uralten Städten wie Aaanthor, denn schon die damals lebenden Rassen hatten ihren Mechanismus nicht mehr gekannt.

Als er so dastand und über das vermutliche Alter dieser Stadt nachdachte, sprach ihn von oben her eine Stimme an. Beide schauten hinauf. Über den Rand der hohen Mauer lehnte ein Mann.

Sein Haar war von der Farbe des Honigs, und seine Haut war sehr hell, viel heller sogar als die John Carters, des Mannes aus Virginia. Er hatte eine hohe Stirn und große, kluge Augen.

Die Sprache, in der sich dieser Mann an die beiden unter der Mauer wandte, war verständlich, wenn sie auch etwas fremdartig oder antiquiert klang und sich von der gegenwärtig allgemeinen gesprochenen Sprache etwas unterschied.

»Wer seid ihr?« rief der Mann. »Und was sucht ihr hier vor dem Tor von Lothar?«

»Wir sind Freunde!« rief Carthoris hinauf. »Das hier ist die Prinzessin Thuvia von Ptarth, die von einer Horde der Torquasianer entführt und gefangen wurde. Ich bin Carthoris Prinz von Helium aus dem Hause von Tardos Mors. Jeddak von Helium und Sohn von John Carter. Kriegsherr vom Mars und seiner Gattin Dejah Thoris.«

»Ptarth?« wiederholte der Mann. »Helium?« Er schüttelte den Kopf. »Von solchen Plätzen habe ich nie gehört, und ich wußte auch nicht, daß es auf Barsoom eine Rasse eurer seltsamen Farbe gibt. Wo liegen diese Städte, von denen du sprichst? Von unserem höchsten Turm aus konnten wir niemals eine andere Stadt sehen als Lothar.«

Carthoris deutete nach Nordosten.

»In dieser Richtung liegen Helium und Ptarth«, antwortete er.

»Helium ist mehr als achttausend Haads von Lothar entfernt, während Ptarth neuntausendfünfhundert Haads nordöstlich von Helium liegt.«

Aber der Mann schüttelte nur den Kopf.

»Ich weiß nichts von jenseits der Hügel von Lothar«, sagte er. »Außer den schrecklichen Horden von Torquas lebt draußen nichts. Und diese grünen Horden haben ganz Barsoom erobert bis auf dieses einzige Tal und die Stadt Lothar. Hier haben wir sie seit undenklichen Zeiten abgewehrt, obwohl sie von Zeit zu Zeit ihren Versuch, uns zu vernichten, erneuern. Ich kann mir nicht vorstellen, woher ihr kommt, außer ihr seid Nachkommen von Sklaven, die von den Torquasianern vor sehr langer Zeit gemacht wurden, als sie die gesamte Außenwelt zu ihren Vasallen erklärten. Aber wir haben gehört, daß sie alle Rassen vernichtet haben, daß nur noch sie übrig sind.«

Carthoris versuchte dem Mann zu erklären, daß die grünen Horden von Torquas nur über ein verhältnismäßig sehr wertloses und kleines Gebiet von Barsoom herrschten und das auch nur deshalb, weil die Rote Rasse an diesem Land nicht interessiert war. Der Lotharianer schien das alles nicht glauben zu wollen oder zu können, und er war wohl der Meinung, daß es außerhalb von Lothar nur weglose Wüste gab, die ausschließlich von den grausamen grünen Horden bewohnt war.

Nach einigen Überredungsversuchen erklärte er sich schließlich bereit, die beiden in die Stadt einzulassen, und einen Moment später rollte das radförmige Tor in die Mauernische zurück, so daß Thuvia und Carthoris die Stadt Lothar betreten konnten.

Die Stadt war ungewöhnlich reich. Die Fassaden der Häuser an der breiten Avenue waren mit Schnitzereien und Reliefs geschmückt, und um Türen und Fenster lagen oft breite Rahmen aus edlen Steinen, großartige Mosaiken oder sogar goldene gehämmerte oder ziselierte Platten, die anscheinend Teile der Geschichte dieses vergessenen Volkes wiedergaben.

Der Mann, mit dem sie gesprochen hatten, erwartete sie auf der Avenue. Ihn umgaben hundert oder mehr Männer seiner Rasse.

Alle waren bartlos, und alle trugen lange, fließende, kostbare Gewänder. Die Haltung dieser Männer war weniger feindlich zu nennen, eher ein wenig ängstlich und mißtrauisch. Sie folgten den beiden mit den Augen, aber keiner richtete das Wort an sie.

Zu seinem Staunen stellte Carthoris fest, daß keiner der Männer Waffen trug, obwohl die Stadt noch vor wenigen Stunden von einer Horde blutrünstiger grüner Teufel umgeben gewesen war. Nirgends war ein Soldat zu sehen. Vielleicht, überlegte Carthoris, waren alle waffenfähigen Männer hinter dem Feind dreingejagt, um ihn endgültig zu vertreiben, auch wenn sie dabei die Stadt ungeschützt zurücklassen mußten. Darüber befragte er seinen Gastgeber.

Der Mann lächelte.

»Kein Wesen außer einigen unserer heiligen Banths hat heute Lothar verlassen«, erwiderte er.

»Aber die Soldaten… die Bogenschützen…« wandte Carthoris ein. »Wir sahen Tausende von ihnen durch dieses Tor kommen, die Horden von Torquas überwältigen und sie mit ihren tödlichen Pfeilen und den wilden Banths in die Flucht jagen.«

Aber der Mann lächelte noch immer.

»Schaut!« rief er und deutete die Avenue entlang.

Carthoris und Thuvia folgten mit dem Blick seinem weisenden Finger. Im vollen Sonnenlicht kam ihnen eine große Truppe schneidig marschierender Bogenschützen entgegen.

»Ah!« rief Thuvia. »Sie sind also durch ein anderes Tor zurückgekehrt! Oder sind das vielleicht die Truppen, die zur Verteidigung der Stadt zurückbehalten wurden?«

Wieder lächelte der Mann seltsam.

»In Lothar gibt es keine Soldaten«, antwortete er. »Schaut!«

Während er sprach, hatten sich ihm Thuvia und Carthoris zugewandt, doch jetzt drehten sie sich wieder zu den heranmarschierenden Regimentern um. Ihre Augen wurden groß vor Staunen, denn die breite Avenue lag still und ruhig da wie eine Gruft.

»Und die, welche den grünen Horden entgegengezogen sind?« flüsterte Carthoris. »Waren die auch nur eine Illusion?«

Der Mann nickte.

»Aber ihre Pfeile töteten doch die grünen Krieger«, beharrte Thuvia.

»Wir wollen zu Tario gehen«, erwiderte der Lotharianer. »Er wird euch das sagen, was er für gut hält und was er glaubt, das ihr wissen müßt. Ich könnte euch vielleicht zuviel sagen.«

»Wer ist Tario?« wollte Carthoris wissen.

»Das ist der Jeddak von Lothar«, erklärte ihr Führer und ging mit ihnen die breite Avenue entlang, auf der vor wenigen Minuten noch ganze Regimenter von Phantombogenschützen marschiert waren.

Eine halbe Stunde lang gingen sie durch wunderschöne Straßen, und schönere Häuser als jene, die zu beiden Seiten der herrlichen Avenuen standen, hatten sie noch nie gesehen. Nur wenig Menschen begegneten ihnen. Trotz ihrer Schönheit machte die Stadt einen recht verlassenen Eindruck.

Endlich kamen sie zum königlichen Palast. Carthoris sah ihn schon von weitem und wunderte sich, daß von einem so riesigen, herrlichen Gebäude sowenig Aktivität und Leben ausging Auch hier war es ungewöhnlich ruhig.

Nicht ein einziger Posten stand vor dem großen Tor, und auch in den Gärten war kein Wärter oder Wächter zu sehen. Sonst sprudelt das Leben in der Nähe eines königlichen Palastes doch über; wenigstens für die Rote Rasse traf das zu, und warum sollte das anderswo anders sein?

»Hier ist der Palast Tarios«, sagte ihr Führer.

Carthoris musterte den herrlichen, seltsamen Palast. Er rieb sich die Augen, schüttelte den Kopf und rieb sich wieder die Augen.

Nein, er mußte sich irren. Oder doch nicht? Vor dem massiven Tor stand nämlich ein ganzer Trupp Wachen. Die breite Straße, die vom Tor zum Hauptgebäude führte, war auf beiden Seiten mit dichten Reihen von Bogenschützen eingesäumt. In den Gärten standen Offiziere und Soldaten, und viele eilten hin und her, so als seien sie sehr beschäftigt und mit Pflichten überladen.

Was waren das für Menschen, die ganze Armeen aus der Luft zaubern konnten? Carthoris sah Thuvia an. Auch sie schien diese Veränderung bemerkt zu haben. Sie drückte sich ein wenig fester an ihn, als suche sie bei ihm eine Wirklichkeit, die sie in ihrer Umgebung nicht mehr finden konnte.

»Was hältst du davon?« flüsterte sie ihm zu. »Das ist außerordentlich ungewöhnlich.«

»Ich weiß gar nichts damit anzufangen«, erwiderte Carthoris.

»Vielleicht sind wir wahnsinnig geworden.«

Carthoris wandte sich schnell an den Lotharianer. Der Mann lachte breit.

»Ich dachte, du sagtest doch eben, es gebe in Lothar keine Soldaten. Und was ist das hier?« Er deutete auf die vielen Bogenschützen und Offiziere.

»Frag doch Tario«, erwiderte der Mann. »Wir werden sehr bald vor ihm stehen.«

Wenig später betraten sie einen hohen Saal. Am anderen Ende, der Tür gegenüber, stand auf einer Estrade eine sehr üppige Couch, auf der ein Mann saß und sich behaglich zurücklehnte.

Als sich das Trio näherte, wandte ihnen der Mann schläfrige, verträumte Augen zu. Zwanzig Fuß vor der Estrade blieb ihr Führer stehen und flüsterte Thuvia und Carthoris zu, sie sollten seinem Beispiel folgen. Er warf sich in voller Länge auf den Boden, erhob sich dann auf Hände und Knie und kroch so dem Thron entgegen. Dazu schwang er seinen Kopf hin und her und wand seinen Körper so wie ein Hund, der seinem Herrn entgegenkriecht.

Thuvia warf Carthoris einen raschen Blick zu. Er blieb auf recht stehen, hatte den Kopf stolz zurückgeworfen und die Arme vor der breiten Brust gekreuzt. Um seinen Mund lag ein hochmütiges Lächeln. Der Mann auf der Couch musterte ihn scharf, aber Carthoris von Helium blickte ihn unverwandt an.

»Wer ist dieser da, Jav?« fragte der Mann auf der Couch jenen, der über den Boden kroch.

»O Tario, glorreichster aller Jeddaks«, erwiderte Jav, »diese sind Fremde, die mit den Horden der grünen Männer von Torquas kamen. Sie näherten sich unserem Tor und behaupteten, sie seien Gefangene der grünen Männer. Und sie erzählen seltsame Geschichten von Städten, die weit von Lothar entfernt sein sollen.«

»Erhebe dich, Jav«, befahl Tario. »Frag diese beiden, weshalb sie Tario nicht den ihm zukommenden Respekt erweisen wollen.«

Jav erhob sich und sah die Fremden an. Er wurde totenblaß, als er entdeckte, daß sie sich nicht auf den Boden gelegt hatten, und mit einem Satz sprang er sie an.

»Elende!« schrie er. »Hinunter mit euch! Werft euch auf eure elenden Bäuche vor dem letzten der Jeddaks von Barsoom!«

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