Als Jav ihn ansprang, legte Carthoris seine Hand auf den Knauf seines Langschwertes. Der Lotharianer blieb unvermittelt stehen.
Der Saal war leer bis auf die vier Personen auf der Estrade, doch als Jav vor der Drohung des Schwertes aus Helium zurückwich, fand sich der junge Prinz plötzlich von einer ganzen Horde Bogenschützen umringt.
Woher waren die so plötzlich gekommen? Carthoris und Thuvia sahen einander verblüfft an.
Der junge Prinz zog sein Schwert, und die Bogenschützen spannten ihre Bogen.
Tario hatte sich, auf einen Ellbogen gestützt, halb erhoben.
Jetzt zum erstenmal sah er das Mädchen Thuvia in ihrer ganzen Gestalt, denn vorher war sie von Carthoris fast völlig verdeckt gewesen.
»Genug!« schrie der Jeddak und hob eine protestierende Hand, doch im selben Moment zischte das Schwert des Prinzen aus Helium durch die Luft.
Als die scharfe Klinge den Gegner eigentlich um einen Kopf kürzer machen sollte, ließ Carthoris verwirrt die Schwertspitze sinken, und mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen trat er zurück. Bestürzt legte er die linke Hand über die Stirn. Sein Schwert hatte nichts als nur leere Luft durchschnitten, denn sein Gegner war verschwunden gewesen, einfach verschwunden! Es gab im ganzen Saal nicht einen einzigen Bogenschützen.
»Diese Leute können nichts anderes als Fremde sein«, sagte Tario zu Jav. »Laß uns erst einmal eindeutig feststellen, daß sie uns wissentlich beleidigt haben, damit wir danach unser Strafmaß bestimmen können.«
Er wandte sich an Carthoris, doch immer wieder schweifte sein Blick zu Thuvia, deren wundervolle Gestalt es ihm angetan zu haben schien. Der Harnisch einer Prinzessin von Barsoom enthüllte mehr als er verbarg.
»Wer seid ihr«, fragte er, »daß ihr nicht die Etikette kennt, die am Hof des letzten der Jeddaks von Barsoom üblich ist?«
»Ich bin Carthoris, Prinz von Helium«, erwiderte der junge Mann, »und das hier ist Thuvia, Prinzessin von Ptarth. An den Höfen unserer Väter fällt niemand vor den Königen zu Boden.
Niemand auf ganz Barsoom ist mehr vor einer anderen Person auf dem Bauch gekrochen, seit die Erstgeborenen ihre unsterbliche Göttin Glied für Glied zerrissen haben. Glaubst du wirklich, daß die Tochter eines mächtigen Jeddaks und der Sohn eines anderen sich selbst so demütigen würden?«
Tario sah Carthoris lange an. Endlich sprach er.
»Auf Barsoom gibt es keinen anderen Jeddak als Tario«, erwiderte er. »Es gibt auch keine andere Rasse als die von Lothar, außer man überschätzt die Torquas, indem man diese grünen Horden auch als Menschen bezeichnet. Die Lotharianer sind weiß. Eure Haut ist rot. Auf Barsoom gibt es keine Frauen mehr. Deine Gefährtin ist eine Frau.«
Er erhob sich halb und beugte sich weit vorwärts. Mit einem anschuldigenden Finger wies er auf Carthoris.
»Du bist eine Lüge, ein Betrug!« kreischte er. »Ihr beide seid Lügen, und ihr wagt es, vor Tario zu kommen, den letzten und mächtigsten aller Jeddaks von Barsoom und zu behaupten, daß ihr Wirklichkeit seid? Dafür, Jav, wird jemand teuer zu bezahlen haben. Und wenn ich mich nicht sehr irre, warst du es, der in seiner Oberflächlichkeit die Gutmütigkeit seines Jeddaks so mißbraucht.
Den Mann bringst du weg, doch die Frau bleibt hier. Wir werden sehen, ob sie beide Lügner sind. Und später, Jav, wirst du für deine Frechheit büßen. Nur noch wenige von uns sind übrig, und Komal muß gefüttert werden. Und jetzt geh!«
Carthoris bemerkte, wie sehr Jav zitterte, als er sich vor seinem Herrscher auf den Boden warf, sich wieder erhob und an den Prinzen von Helium wandte.
»Komm!« forderte er ihn auf.
»Und die Prinzessin von Ptarth soll ich hier allein zurücklassen?« rief er.
Jav ging ganz nahe an ihm vorbei. »Folge mir«, flüsterte er.
»Ihr geschieht nichts. Er kann ihr nichts zuleide tun, außer er will sie töten. Und das kann er tun, ob du nun bleibst oder nicht.
Vertraue mir. Wir gehen am besten jetzt sofort weg.«
Das verstand Carthoris zwar nicht, aber etwas in der drängenden Stimme des anderen gab ihm ein wenig Sicherheit, und so drehte er sich um, warf aber Thuvia noch einen Blick zu, der ihr sagen sollte, er verlasse sie nun in ihrem eigenen besten Interesse.
Sie schien ihn aber nicht zu begreifen. Entrüstet wandte sie ihm den Rücken zu, maß ihn aber vorher noch mit einem so verächtlichen Blick, daß ihm das Blut in die Wangen stieg.
Er zögerte, doch Jav packte sein Handgelenk.
»Komm!« drängte er. »Oder er wird dir seine Bogenschützen an den Hals schicken. Diesmal entkommst du ihnen aber nicht mehr. Hast du nicht gesehen, wie wenig dein Schwert gegen dünne Luft ausrichten kann? «
Widerwillig wandte sich Carthoris ab, um ihm zu folgen. Als die beiden den Saal verlassen hatten fragte er seinen Führer:
»Wenn ich dünne Luft nicht töten kann, wieso habe ich dann zu fürchten, daß dünne Luft mich tötet?«
»Hast du nicht die Torquasianer von den Bogenschützen fallen sehen?« entgegnete Jav.
Carthoris nickte.
»So würdest auch du fallen, und du hättest nicht die kleinste Möglichkeit, dich zu verteidigen oder zu rächen.«
Jav führte Carthoris zu einem kleinen Raum in einem der zahlreichen Türme des Palastes. Hier gab es Diwane und Sitzgelegenheiten, und Jav forderte ihn auf, Platz zu nehmen.
Einige Minuten lang musterte nun der Lotharianer seinen Gast, oder besser gesagt: seinen Gefangenen, denn Carthoris war sich darüber klar, daß er einer war.
»Fast bin ich schon überzeugt, daß du wirklich bist«, sagte Jav.
Carthoris lachte schallend.
»Natürlich bin ich wirklich«, versicherte ihm der junge Heliumite. »Warum zweifelst du daran? Kannst du mich nicht sehen? Nicht fühlen?«
»So kann ich auch die Bogenschützen sehen und fühlen«, erwiderte Jav. »Und trotzdem wissen wir alle, daß sie nicht echt sind.«
Carthoris’ Miene ließ deutlich erkennen, wie sehr ihn diese Antwort verwirrte. Diese ständig auftauchenden und wieder verschwindenden Bogenschützen von Lothar waren ja auch wirklich ein erstaunliches und verblüffendes Rätsel.
»Was könnten sie dann sein? «fragte er.
»Das weißt du wirklich nicht?« staunte Jav.
Carthoris schüttelte den Kopf.
»Fast möchte ich glauben, daß du uns die Wahrheit gesagt hast, daß du wirklich aus einem anderen Teil Barsooms stammst, vielleicht auch von einer anderen Welt. Aber sag mir doch, habt ihr denn in eurem Land keine Bogenschützen, um die Herzen der grünen Horden in Angst und Schrecken zu versetzen? Und habt ihr keine Kampfbanths, die den Bogenschützen bei der Vernichtung der Feinde helfen?«
»Wir haben Soldaten«, erklärte ihm Carthoris. »Wir von der Roten Rasse sind alle Soldaten, aber wir haben keine solchen Bogenschützen wie ihr, die uns verteidigen könnten. Wir verteidigen uns selbst.«
»Dann müßt ihr ja aus eurer Stadt heraus und euch von den Feinden totschlagen lassen!« rief Jav ungläubig.
»Sicher«, bestätigte Carthoris. »Wie machen es denn die Lotharianer?«
»Das hast du doch gesehen«, antwortete Jav. »Wir schicken unsere todeslosen Bogenschützen aus, und sie sind todlos, weil sie auch ohne Leben sind. Sie bestehen nur in der Einbildung unserer Feinde. Unsere unglaublich starken Geister beschützen uns in Wirklichkeit, denn sie schicken Legionen von Phantomsoldaten aus, die sich vor den Augen der Feinde materialisieren.
Sie sehen diese Soldaten. Sie sehen, wie sie ihre Bogen spannen, und sie sehen auch, wie die schlanken Pfeile davonschwirren und mit unglaublicher Präzision und unfehlbarer Sicherheit das Herz des Feindes treffen. Und unsere Feinde sterben – von der Kraft unserer Suggestion.«
»Aber es gibt doch auch getötete Bogenschützen!« rief Carthoris. »Du nennst sie todlos, und doch sah ich ihre Leichen in Stapeln und Haufen auf dem Schlachtfeld liegen. Wie soll das möglich sein?«
»Oh, das geschieht nur deshalb, um die Szene mit einem Schein Wirklichkeit zu umgeben«, erwiderte Jav. »Wir suggerieren unseren Feinden, daß sie eine Anzahl unserer Verteidiger getötet haben, damit die Torquasianer nicht auf die Idee kommen, die Bogenschützen seien nicht aus Fleisch und Blut.
Würden sie erst einmal daran zweifeln, dann wäre der nächste Schritt der, daß sie auch nicht mehr an die tödlichen Pfeile glauben würden. Viele von uns sind dieser Meinung, und fast alle sind davon überzeugt, daß wir unglaubliche Kräfte aufwenden müßten, um überhaupt noch eine Suggestion aufrechterhalten zu könne. Das ist bei uns eine Art Gesetz.«
»Und was ist mit den Banths?« wollte Carthoris wissen. »Sind sie auch nur Kreaturen eurer Suggestionskraft?«
»Einige von ihnen sind echt«, sagte Jav. »Die aber, die zusammen mit unseren Bogenschützen die Torquasianer in die Flucht schlugen, waren unwirklich. Wie die Bogenschützen kamen sie niemals zurück. Sie hatten ihren Zweck erfüllt und konnten zusammen mit diesen verschwinden, sobald die Flucht des Feindes bewirkt war.
Die Banths, die auf dem Schlachtfeld blieben, waren jedoch wirklich. Man ließ sie los, um die toten Torquas aufzufressen, und sie dienen uns dazu, diesen Unrat zu beseitigen. Die Realisten unter uns fordern das. Ich bin Realist. Tario ist Ätheralist.
Die Ätheralisten bestehen darauf, daß es so etwas wie Materie überhaupt nicht gibt, daß alles nur Geist ist. Sie sagen, keiner von uns existiere oder nur in der Fantasie seiner Gefährten.
In Wirklichkeit sei jeder nur eine ungreifbare, unsichtbare Mentalität.
Wenn Tario recht hat, dann ist es nur nötig, daß sich alle bei uns vorstellen, es gebe keine toten Torquasianer jenseits unserer Mauern, und dann seien auch wirklich keine da. Deshalb brauchten wir auch keine aasfressenden Banths.«
»Du glaubst also nicht an das, was Tario glaubt?« rief Carthoris.
»Nur teilweise«, erwiderte der Lotharianer. »Ich glaube, das heißt, ich weiß es sogar, daß es wirklich ätherische Kreaturen gibt. Tario ist eine, davon bin ich überzeugt. Er existiert nicht – außer in der Einbildung seines Volkes.
Wir Realisten sind natürlich davon überzeugt, daß alle Ätheralisten nur Produkte der Einbildungskraft sind. Sie behaupten nämlich, daß keine Nahrung nötig sei, und sie essen auch nicht. Aber jeder von uns, der wenigstens mit einer ganz rudimentären Intelligenz ausgestattet ist, muß doch zugeben, daß Nahrung nötig ist für Kreaturen, die wirklich existieren.«
»Ja, natürlich«, pflichtete ihm Carthoris bei. »Ich weiß das recht genau, denn ich habe heute noch keinen Happen gegessen.«
»Oh, verzeih bitte!« rief Jav. »Bitte, nimm doch Platz und stille deinen Hunger!« Mit einer auffordernden Handbewegung wies er auf einen üppig beladenen Tisch hin, der in dem Augenblick, als er sprach, noch nicht dagestanden hatte. Das hätte Carthoris beschwören mögen, denn er hatte sich recht genau im Raum umgesehen. »Du hast Glück gehabt, daß du nicht in die Hände der Ätheralisten gefallen bist«, fuhr Jav fort. »Da hättest du nämlich hungern müssen.«
»Aber das ist doch keine echte Nahrung!« rief Carthoris. »Der Tisch stand vor einem Augenblick noch nicht da, und richtige, echte Nahrung materialisiert sich nicht aus der leeren Luft heraus.«
Jav sah sehr gekränkt drein.
»In Lothar gibt es keine echte Nahrung und kein echtes Wasser«, erklärte er. »Seit unendlichen Zeiten gibt es das nicht mehr. Von dem, was du hier siehst, existieren wir seit grauer Vorzeit. Und du kannst ebenso gut davon existieren wie wir.«
»Und ich dachte, doch, du hättest vorher behauptet, ein Realist zu sein?« rief Carthoris.
»Aber«, rief Jav. »was kann denn noch wirklicher sein, als diese üppige Mahlzeit hier? Siehst du, darin liegt der Unterschied zwischen uns Realisten und den Ätheralisten. Sie behaupten, es sei völlig unnötig, sich Nahrung vorzustellen, aber wir haben gefunden, daß es zur Erhaltung des Lebens nötig ist, dreimal am Tag eine herzhafte Mahlzeit zu sich zu nehmen.
Die Nahrung, die man zu sich nimmt, wird während des Verdauungsprozesses gewissen chemischen Veränderungen unterworfen. Sie wird in ihre Bestandteile aufgespalten, und das Ergebnis davon ist die Erhaltung und Neubildung von Gewebe.
Nun wissen wir aber, daß der Geist alles ist. Natürlich gehen die Interpretationen über seine verschiedenen Manifestationen ein wenig auseinander. Tario ist der Meinung, so etwas wie Substanz gebe es nicht. Alles sei nur eine Schöpfung des substanzlosen Gehirns.
Wir Realisten wissen das jedoch besser. Wir wissen zum Beispiel, daß der Geist die Fähigkeit hat. Substanz zu erhalten, wenn er sie auch nicht schaffen kann. Nun, letzteres ist vermutlich noch eine recht offene Frage. Wir wissen daher auch, daß wir zu Erhaltung unserer physischen Körper dafür sorgen müssen, daß alle Organe so funktionieren, wie sie sollen.
Das erreichen wir durch eine Materialisierung der Essens-Gedanken und dadurch, daß wir die damit geschaffene Nahrung auch zu uns nehmen. Wir kauen, wir schlucken, wir verdauen.
Alle unsere Organe funktionieren genauso, als hätten wir eine echte Mahlzeit zu uns genommen. Und was ist das Ergebnis?
Es kann kein anderes geben… Die chemischen Veränderungen werden vollzogen durch direkte und indirekte Suggestion, und wir leben und erhalten uns auch am Leben.«
Carthoris musterte mißtrauisch die vor ihm stehende Mahlzeit.
Sie schien sehr echt zu sein. Er hob ein Stückchen davon an seine Lippen. Es hatte tatsächlich Substanz. Und Geschmack! Jawohl, auch sein Gaumen ließ sich täuschen und davon überzeugen.
Jav beobachtete ihn lächelnd, während er aß.
»Ist das nicht sehr zufriedenstellend?« fragte er.
»Ich gebe zu, daß es eine ausgezeichnete und sättigende Mahlzeit ist«, antwortete Carthoris. »Aber sag mir doch, wie leben Tario und die anderen Ätheralisten, die der Überzeugung sind, Nahrung sei überflüssig?«
Jav kratzte sich nachdenklich den Kopf.
»Über diese Frage diskutieren wir recht häufig«, gab er zu.
»Sie ist praktisch unser stärkster Beweis gegen die Ätheralisten: aber wer soll das sonst wissen als Komal?«
Jav beugte sich tief hinunter zum Ohr des sitzenden Prinzen, schaute sich aber vorher noch ängstlich um.
Jav beugte sich tief hinunter zum Ohr des sitzenden Prinzen, schaute sich aber vorher noch ängstlich um.
»Komal ist die Essenz«, flüsterte er. »Selbst die Ätheralisten müssen zugeben, daß der Geist Substanz braucht, um der Vorstellungskraft die Erscheinung der Substanz zu vermitteln.
Gäbe es nämlich keine Substanz, so könnte sie ja auch nicht suggeriert werden. Was nie war, kann man sich auch nicht vorstellen. Kannst du mir folgen?«
»Oh, ich komme mit«, erwiderte Carthoris trocken.
»Also muß die Essenz eine Substanz sein«, fuhr Jav fort. »
Komal ist die Essenz des All, so wie es ist. Er wird von der Substanz erhalten. Er ißt. Er ißt die Wirklichkeit. Um genau zu sein – er ißt die Realisten. Und das ist Tarios Werk.
Er sagt nämlich, wenn wir schon behaupten, daß wir allein Wirklichkeit seien, dann müßten wir konsequent bleiben und zugeben, daß wir auch die einzig wahre Nahrung für Komal wären. Manchmal, so wie heute, finden wir andere Nahrung für ihn Torquasianer sind seine Leibspeise.«
»Und Komal ist ein Mensch?« wollte Carthoris wissen.
»Er ist das All, das sagte ich dir doch«, entgegnete Jav »Ich weiß nicht, wie ich es dir mit Worten begreiflich machen soll.
Er ist der Anfang und das Ende. Alles Leben entströmt Komal, denn die Substanz, die das Gehirn mit Vorstellungskraft ernährt, strahlt vom Leib Komals aus.
Sollte Komal einmal zu essen aufhören, dann würde alles Leben auf Barsoom aufhören. Er kann nicht sterben, aber er könnte zu essen aufhören. Tut er das, dann könnte er auch nicht mehr strahlen.«
»Und er nährt sich von Menschen? Von Männern und Frauen eures Glaubens?«
»Frauen?« tat Jav erstaunt. »Frauen? Es gibt keine Frauen in Lothar. Das letzte weibliche Wesen ist schon seit unendlich langer Zeit auf einer grausamen, schrecklichen Reise über die sumpfigen Ebenen an der austrocknenden See verschwunden. Damals jagten uns die grünen Horden quer über diese Welt zu unserem letzten Versteck, unserer uneinnehmbaren Festung Lothar.
Wir waren eine Rasse von unzähligen Millionen. Kaum zwanzigtausend Männer erreichten lebend Lothar. Es gab keine Frauen und Kinder mehr. Alle waren unterwegs umgekommen.
Die Zeit ging weiter, und einer nach dem anderen starb.
Unsere Rasse ging immer mehr dem Auslöschen entgegen.
Da wurde uns die Große Wahrheit enthüllt, daß der Geist das All ist. Noch viele starben, ehe wir unsere Kraft entwickelten, aber schließlich gelang es uns, den Tod zu besiegen, als wir ganz begriffen hatten, daß der Tod nur ein Zustand des Geistes ist.
Dann kam die Erschaffung der Geist-Leute, oder besser gesagt: die Materialisierung der Vorstellungen. Zum erstenmal benützten wir diese Erkenntnis praktisch, als die Torquasianer unser Versteck entdeckten, und zum Glück für uns brauchten sie für ihre Suche Jahrhunderte, bevor sie den einzigen winzigen Zugang zum Tal Lothar entdeckten.
An jenem Tag warfen wir ihnen unsern ersten Bogenschützen entgegen. Wir hatten damals eigentlich nur die Absicht, sie abzuschrecken durch die zahllosen Bogenschützen, die wir auf unsere Mauern und Dächern materialisierten. Ganz Lothar floß über von Pfeilen und Bogen.
Aber die Torquasianer ließen sich nicht erschrecken. Sie stehen unter den Tieren, denn sie kennen keine Angst. Sie erstürmten unsere Mauern, und einer stellte sich auf die Schultern eines anderen, um über eine menschliche Leiter die Mauerkrone zu erreichen. Es hätte nicht mehr lange gedauert, dann wären sie in die Stadt eingefallen und hätten uns überwältigt.
Nicht ein einziger Pfeil war von unsere Bogenschützen abgeschossen worden. Wir hatten nur dafür gesorgt, daß sie auf der Mauerkrone hin und her liefen, schrille Schreie ausstießen und dem Feind Drohungen zuschrien.
Später dachte ich daran, die Sache ein wenig auszubauen und das große Ding zu vollbringen. Ich konzentrierte also meinen mächtigen Intellekt auf die Bogenschützen meiner eigenen Schöpfung, denn jeder von uns produziert und leitet so viele Bogenschützen, wie seine geistige Kraft und Vorstellungswelt zulassen.
Ich veranlagte sie, Pfeile auf ihre Bogen zu legen, und das taten sie dann auch zum erstenmal. Ich ließ sie auf die Herzen der grünen Krieger zielen. Das alles ließ ich die grünen Männer auch sehen, und dann sahen sie, wie die Pfeile flogen, und ich ließ sie schließlich denken, daß diese Pfeile ihre Herzen durchbohrten.
Mehr war nicht nötig. Zu Hunderten stürzten sie von unserer Mauer, und als meine Gefährten sahen, was mir gelungen war, folgten sie sehr schnell meinem Beispiel, so daß sich die grünen Horden der Torquasianer blitzartig der Reichweite unserer Pfeile entzogen.
Natürlich hätten wir sie auf jede Entfernung hin töten können, aber wir hielten von Anfang an eine Regel ein – die des Realismus.
Wir tun nichts und lassen unsere Bogenschützen nichts tun – wenigstens nicht im Angesicht unserer Feinde – was diese nicht verstehen können. Sonst könnten sie ja die Wahrheit ahnen, und das wäre unser Ende.
Nachdem sich die Torquasianer aus der Reichweite unserer Bogenschützen zurückgezogen hatten, griffen sie uns mit ihren schrecklichen Flinten und Kanonen an, und diese ununterbrochenen Angriffe machten uns das Leben innerhalb unserer Mauern zur Hölle.
Deshalb kam ich auf den Plan, unsere Bogenschützen durch die Tore auf sie zu hetzen. Du hast doch heute gesehen, wie das wirkt!
Seit undenkbaren Zeiten greifen sie uns immer wieder an, und immer ist das Ergebnis das gleiche.«
»Und das ist alles nur ein Produkt deines Intellekts?« fragte Carthoris verwundert. »Dann müßtest du doch im Rat deines Volkes eine sehr geachtete Stellung einnehmen.«
»Ich bin auch«, erwiderte Jav mit einigem Stolz, »nach Tario der nächste.«
»Aber weshalb kriechst du dann auf dem Bauch zu seinem Thron?«
»Das verlangt Tario. Er ist sehr eifersüchtig auf mich. Ihm würde die geringste Entschuldigung genügen, mich an Komal zu verfüttern. Er fürchtet, ich könnte eines Tages seine Macht untergraben, verstehst du?«
Carthoris sprang plötzlich auf.
»Jav!« rief er. »Ich bin doch ein gieriges Tier! Hier sitze ich und fülle meinen Magen mit diesen Köstlichkeiten, während die Prinzessin von Ptarth wahrscheinlich noch gräßlichen Hunger leidet. Wir wollen deshalb in den Saal zurückkehren und ihr einiges Essen bringen.«
Der Lotharianer schüttelte den Kopf. »Das würde Tario nie erlauben! Er wird ohne Zweifel eine Ätheralistin aus ihr machen.«
»Aber ich muß zu ihr!« beharrte Carthoris. »Du sagst, in Lothar gibt es keine Frauen. Dann ist sie ja nur unter Männern, und wenn das so ist, muß ich in ihrer Nähe bleiben, um sie notfalls verteidigen zu können.«
»Tario setzt seinen Willen durch«, erklärte ihm Jav. »Er hat dich weggeschickt, und du darfst nicht zurückkommen, ehe er nach dir verlangt.«
»Dann gehe ich selbst und warte nicht auf seine Aufforderung, daß ich kommen soll.«
»Aber vergiß die Bogenschützen nicht«, warnte Jav.
»Nein, die vergesse ich schon nicht«, erwiderte Carthoris, doch er deutete Jav gegenüber nicht an, daß ihm noch etwas eingefallen war, das der Lotharianer hatte fallen lassen.
Carthoris ging zur Tür. Jav trat vor ihn und versperrte ihm den Weg.
»Roter Mann, ich mag dich gern«, sagte er. »Vergiß aber nicht, daß Tario noch immer mein Jeddak ist und daß Tario befohlen hat, daß du hier bleiben sollst.«
Carthoris setzte zu einer Antwort an, als der schwache Hilfeschrei einer Frau an seine Ohren drang.
Mit einer kraftvollen Handbewegung schob der Prinz von Helium den Lotharianer zur Seite, und mit gezogenem Schwert rannte er in den Korridor hinaus.