5 Die Rasse der Blonden

Der seltsame Tunnel mit seinem glatten Boden führte immer tiefer in den Berg hinein und fiel dabei ziemlich steil ab. Carthoris war nun überzeugt, daß dies keine Höhle war, sondern ein vermutlich künstlich angelegter Schacht.

Weiter vorne hörte er gelegentlich das leise Winseln des Banths, und später vernahm er auch denselben gräßlichen Laut von hinten. Ein zweiter Banth folgte ihm also!

Seine Lage war alles andere als angenehm. Es war so stockdunkel, daß er nicht einmal die Hand vor seinen Augen sah.

Die Banths waren jedoch Nachttiere und sahen auch dann, wenn nicht der leiseste Lichtschimmer vorhanden war, ausgezeichnet.

Er sah also gar nichts, und zu hören bekam er nur das blutrünstige Winseln des einen Raubtieres vor ihm und des anderen hinter ihm.

Der Tunnel schien, soweit er es beurteilen konnte, unten durch die hohe Granitwand zu führen, die ihn vorher so lange genarrt hatte. Erst war er sehr steil abgefallen, doch später verlief er eine ganze Weile eben, um schließlich leicht anzusteigen.

Das Tier hinter ihm kam immer näher, so daß er gezwungen war, dem Banth vor ihm fast auf die Pfoten zu steigen. Mindestens mit einem mußte er früher oder später kämpfen, wenn nicht sogar mit allen beiden. Bei diesem Gedanken griff er ein wenig fester um sein Schwert.

Bald hörte er den Banth hinter sich schnaufen. Jetzt konnte er den Kampf wohl nicht mehr lange hinausschieben. Das hätte er gerne noch solange getan, bis er wußte, ob der Tunnel tatsächlich zur anderen Seite der Barriere führte oder nicht, denn ihm wäre lieber gewesen, er hätte draußen im hellen Mondlicht etwas sehen können. Es war kein angenehmer Gedanke, in völliger Finsternis mit mindestens einem riesigen Raubtier kämpfen zu müssen.

Die Sonne war gerade untergegangen, als er den Tunnel betreten hatte, und da der Weg ziemlich lang war, mußte es draußen inzwischen ganz dunkel geworden sein. Er warf einen Blick nach rückwärts. Ihm schien, daß zwischen ihm und den zwei glühenden Kreisen keine zehn Schritte lagen. Als die wilden Augen die seinen trafen, stieß das Tier ein schauerliches Brüllen aus und sprang.

Ein Mann brauchte Nerven aus Stahl, wenn er sich dem Angriff eines so riesigen Raubtieres stellen wollte, das von ungeheurer Wildheit war und dazu die schärfsten Fänge fletschte, die man sich vorstellen konnte, und die Fänge konnte Carthoris sich genau vorstellen, obgleich er sie nicht sah. Aber er hatte diese Nerven aus Stahl, die er brauchte.

Er hatte sich genau eingeprägt, wo die glühenden Augen waren, und er hatte die unglaublich ruhige Schwerthand seines mächtigen Vaters und Herrn, so daß er, obwohl er dem Ansturm des Tieres leicht seitlich auswich, seine Schwertspitze mit tödlicher Sicherheit in einen dieser Kreise stieß.

Das verwundete Tier brüllte vor Schmerz und Wut, schlug mit den Tatzen um sich und war mit einem Riesensatz an ihm vorbei.

Doch dann drehte es sich um und wollte noch einmal angreifen.

Diesmal sah Carthoris nur noch einen glühenden Kreis, der vor unbändigem Haß brannte.

Wieder traf die Spitze in den flammenden Kreis, und wieder hallte der entsetzliche Schmerzensschrei des Tieres durch den Felstunnel, von dessen Wänden er als hundertfaches Echo zurückkam.

Trotzdem griff das Tier erneut an. Diesmal hatte Carthoris keinen glühenden Richtpunkt mehr, in den er seine Schwertspitze schicken konnte. Er hörte das Kratzen krallenbewehrter Pfoten auf dem harten Fels. Er wußte, daß das Tier sich näherte, doch er konnte nichts sehen.

Allerdings konnte ihn auch sein Feind nicht mehr sehen…

Carthoris hielt sein Schwert, wie er glaubte, etwa auf Brusthöhe des Tieres und tat einen Satz zur Tunnelmitte. Mehr konnte er kaum tun, und er hoffte, der Zufall möge sein Schwert genau in das Herz des gefährlichen Feindes schicken.

So schnell war diese Sache dann vorüber, daß Carthoris es kaum zu glauben vermochte, als der riesige Körper an ihm vorüberschoß. Entweder hatte er selbst nicht die Tunnelmitte erraten, oder das blinde und schmerzgepeinigte Tier hatte sich verschätzt.

Jedenfalls mißte ihn das gewaltige Tier etwa um Fußbreite, und dann raste es den Tunnel entlang, als wolle es eine Beute verfolgen, die vor ihm auf der Flucht war.

Auch Carthoris lief in die gleiche Richtung, und nun dauerte es nicht mehr lange, bis er erleichtert aufatmete, weil ein Schimmer Mondlicht vom Ausgang her in die Dunkelheit des Tunnels fiel.

Vor ihm lag eine tiefe, breite Rinne, die völlig von hohen Felsen umgeben war. Das ganze Tal selbst war mit enormen Bäumen bestanden, und das war ein seltsamer Anblick, wenn man bedachte, wie weit diese Berge von den großen Wasserwegen entfernt waren. Der Boden war mit dichtem, scharlachfarbenem Gras bewachsen, in dem dicke Polster bunter, wilder, unbeschreiblich schöner Blumen wucherten.

Im Licht der beiden Monde war die Szene von unbeschreiblicher Lieblichkeit, über der ein Hauch merkwürdigster Verzauberung lag. Aber er gönnte sich nur einen kurzen Augenblick für die Bewunderung des Bildes, das sich seinen Augen bot, denn er sah vor sich einen riesigen Banth quer über dem Kadaver eines Thoat stehen, das ganz frisch geschlagen war.

Das riesige Tier sträubte seine prächtige, gelblich-braune Mähne, als es einen anderen Banth beobachtete, der sinn- und ziellos da- und dorthin rannte und schrille Schmerzensschreie und dazwischen immer wieder ein entsetzliches Wutgebrüll ausstieß.

Dieses letztere Tier mußte jenes sein, das er im Tunnel zweimal getroffen und damit geblendet hatte: größeres Interesse hatte Carthoris jedoch an dem frischgeschlagenen Thoat. Die Raubtiere waren im Moment von untergeordneter Wichtigkeit.

Das riesige Reittier trug noch sein Geschirr, und Carthoris zweifelte nicht daran, daß es jenes Thoat war, auf dem der grüne Krieger seine Gefangene. Thuvia von Ptarth, entführt hatte.

Aber wo waren Reiter und Entführte? Den Prinzen von Helium überlief es kalt, als er sich das Schicksal ausmalte, das die beiden vermutlich ereilt hatte.

Diese Marslöwen sind reine Fleischfresser, und besonders wild sind sie auf Menschenfleisch. Sie sind auch so groß, daß sie gewaltige Mengen Fleisch brauchen, um sich zu sättigen.

Kein Wunder also, wenn sie alles anfallen, was ihnen in den Weg kommt. Zwei Menschen, selbst wenn der eine davon ein riesiger grüner Krieger war, regten erst den enormen Appetit dieser Tiere an. Carthoris hatte also allen Grund zu der Vermutung, der Banth habe Thuvia von Ptarth und den grünen Krieger getötet und aufgefressen. Für das riesige Thoat hatte sein Hunger nicht mehr ganz ausgereicht, und er hatte es daher nur getötet. Seine Leibspeise, die Menschen, hatte er jedoch sofort verschlungen.

Der geblendete Banth war immer wieder dahin und dorthin gerannt und hatte Angriffe gegen die leere Luft geführt. Auf die Art war er an der Beute seines Kameraden vorbeigekommen, und nun trug ihm die leichte Brise frischen Blutgeruch zu.

Jetzt waren seine Bewegungen plötzlich wieder ganz gezielt.

Mit ausgestrecktem Schwanz und schäumenden Lefzen rannte er schnurgerade auf den Kadaver des Thoats zu, und der andere Banth, der vermutlich das Thoat geschlagen hatte, stand mit den Vordertatzen auf seiner Beute, die er zu verteidigen gedachte.

Der angreifende Banth war keine zwanzig Schritte mehr von dem Kadaver entfernt, als der andere Banth eine schauerliche Herausforderung brüllte und einen mächtigen Satz in die Richtung des anderen tat.

Der Kampf, der sich nun abspielte, ließ selbst einen kriegserfahrenen Barsoomianer vor Ehrfurcht erstarren. Voll unglaublicher Wut und Blutlust gingen sie aufeinander los, röhrten schauerlich und hieben mit den Tatzen. Die beiden blutenden Kreaturen bissen und schlugen solange aufeinander ein, bis sie tot dalagen. Ihre Köpfe und Schultern waren buchstäblich zerfetzt, und ihre mächtigen Kiefer waren noch in den Leib des Gegners verkrampft. Carthoris hatte fasziniert zugeschaut und konnte sich schließlich nur unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft von diesem schauerlichen Anblick losreißen.

Dann lief er schnell zum toten Thoat und suchte nach Anzeichen dafür, ob das Mädchen, wie er fürchtete, das Schicksal des toten Tieres geteilt hatte oder nicht. Nirgends vermochte er jedoch etwas zu entdecken, das ihm Gewißheit gegeben hätte.

Ihm war etwas leichter ums Herz, als er nun ins Tal weiterging, um sich umzuschauen. Er war noch nicht weit gekommen, als er am Boden ein glitzerndes Juwel liegen sah. Er hob es auf und musterte es und entdeckte, daß es der Haarschmuck einer Frau war. Und schließlich fand er darin eingraviert die Insignien des königlichen Hauses von Ptarth.

Doch zu seinem Entsetzen entdeckte er Blut, noch ganz frisches Blut an diesem Schmuckstück.

Carthoris schnürte es die Kehle zu, als er alle Möglichkeiten durchdachte, die dieser Fund in sich schloß. Nein, das Schlimmste konnte und wollte er nicht glauben!

Er hielt es ganz einfach für unmöglich, daß ein so strahlendes, liebenswertes Wesen ein so schreckliches Ende gefunden haben könnte. Und er wollte es um nichts in der Welt glauben, daß die schöne, wundervolle Thuvia überhaupt je zu existieren aufhören könnte.

Er steckte das funkelnde Geschmeide, das Thuvia von Ptarth getragen hatte, an seinen Harnisch, genau an jene Stelle seiner Waffengehänge, unter der sein treues Herz schlug, das große Herz des Prinzen von Helium. Es war ein heiliges Vermächtnis für ihn, das er niemals wieder abzunehmen gedachte.

Dann setzte er seinen Weg in das unbekannte Tal fort.

Er konnte an keiner Stelle weit sehen, da riesige Bäume ihm den Ausblick verwehrten. Gelegentlich zeigten sich dazwischen die Umrisse der hohen Berge, die das Tal auf allen Seiten einschlossen. Im Licht der beiden Monde hatte es den Anschein, als stünden sie in unmittelbarer Nähe, doch er wußte, daß sie sehr weit entfernt waren, daß auch das Tal sehr weitläufig war.

Die halbe Nacht hindurch setzte er seine Suche fort, bis er in der Ferne das schrille Quieken von Thoats hörte. Lauschend blieb er stehen.

Diese Tiere waren eigentlich fast immer zornig und mißgelaunt, aber nun wurde er von ihren Stimmen geleitet.

Lautlos huschte er zwischen den Bäumen weiter, bis er sich schließlich am Rand einer baumlosen Ebene befand, in deren Mitte sich eine mächtige Stadt mit glänzenden Kuppeln und farbenprächtigen Türmen erhob.

Die Stadt war mit einer hohen Mauer umgeben; vor ihr hatte ein großer Trupp grüner Krieger von den toten Seegründen Lager bezogen. Er musterte die Stadt und ihre Umgebung so genau, wie es aus dieser Entfernung möglich war und stellte fest, daß sie nicht eine jener verlassenen Metropolen aus längstvergangener Zeit sein konnte. Aber welche Stadt war das? Seine Studien hatten ihn gelehrt, daß in diesem wenig erforschten Teil von Barsoom die wilden Stämme der Torquasianer überlegen herrschten, und das waren grüne Krieger. Kein Roter Mann hatte bisher einen Fuß auf den Boden ihres Herrschaftsgebietes gesetzt, um dann wieder in die Welt der Zivilisation zurückzukehren.

Die Männer von Torquas hatten eine ungewöhnliche Geschicklichkeit bewiesen, als sie die bisher gebräuchlichen Schußwaffen soweit entwickelten, bis sie zu großen Kanonen geworden waren, die als von fast unfehlbarer Treffsicherheit galten. Damit war es ihnen immer gelungen, die wenigen Angriffe einer kleinen Anzahl Roter Stämme und Nationen, die ihre unmittelbaren Nachbarn waren, abzuwehren, denn früher einmal hatten diese immer wieder versucht, mit ihren Kampfschifflotten das Gebiet zu erkunden.

Carthoris war überzeugt, daß er sich im Torquas-Land befand, aber er hätte nie davon zu träumen gewagt, in diesem Land eine so wundervolle Stadt vorzufinden. Kein Chronist hatte je eine solche Möglichkeit angedeutet, denn die Torquasianer waren wie alle anderen grünen Horden dafür bekannt, daß sie niemals ein festes Gebäude errichteten, sondern nur die zahlreichen verlassenen Städte, die über den ganzen Planeten verstreut zu finden waren, als Standquartiere benützten, wenn sie auf Raub-oder Kriegszüge gingen oder längere Rasten einlegen mußten. Sie waren Nomaden, und zu mehr als den niederen, kunstlosen und mit kleinen Mäuerchen eingefaßten Inkubatoren hatten sie es als Baumeister nicht gebracht. Die bauten sie auch nur deshalb, weil sie ihren Eiern Schutz vor der heißen Sonne gewähren mußten.

Das Lager der Grünen dehnte sich weit nach links und rechts aus und schien die ganze Stadt zu umschließen. Es lag etwa fünfhundert Yards von der Stadtmauer entfernt. Zwischen dem Lager und der Mauer gab es nichts, was irgendwie an Barrikaden, Wälle oder dergleichen erinnerte und vor Gewehr- oder Kanonenkugeln hätte schützen können. Im Licht der aufgehenden Sonne erkannte Carthoris viele Gestalten, die sich auf der hohen Mauerkrone und auf den dahinterliegenden Hausdächern bewegten.

Er war überzeugt, daß es Menschen waren wie er, nur konnte er wegen der großen Entfernung nicht feststellen, ob es Rote Menschen waren.

Fast unmittelbar nach Sonnenaufgang begannen die grünen Horden auf die kleinen Gestalten zu schießen, die sich auf der Mauerkrone und den Hausdächern befanden. Zu Carthoris’

Staunen wurde das Feuer nicht erwidert, aber bald hatte der letzte Stadtbewohner Deckung vor der Treffsicherheit der grünen Männer gesucht, und innerhalb der Stadtmauern war kein Lebenszeichen mehr zu erkennen.

Carthoris hielt sich noch immer im Schutz der Bäume, welche die Ebene begrenzten und bewegte sich hinter dem Rücken der Belagerer weiter, denn er hoffte entgegen aller Hoffnung, Thuvia von Ptarth zu finden, da er nicht annehmen konnte und wollte, sie könne tot sein.

Es war ein Wunder, daß man ihn nicht entdeckte, denn die grünen Krieger ritten ununterbrochen auf ihren Thoats hin und her, vom Lager zum Wald und wieder zurück. Aber der Tag ging weiter, und nichts Entscheidendes geschah, bis er gegen Sonnenuntergang einem mächtigen Tor in der westlichen Stadtmauer gegenüberstand.

Hier schien sich die Hauptstreitmacht der Belagerer versammelt zu haben. Eine große Plattform war hier aufgebaut, und darauf saß breit und wuchtig ein riesiger grüner Krieger, der von zahlreichen seiner Leute umgeben war.

Das mußte also der bekannte, wenn nicht berüchtigte Hortan Gur, Jeddak von Torquas sein, der wilde alte Riese, dieses schreckliche Ungeheuer der südwestlichen Hemisphäre, denn nur für einen Jeddak wurde eine Plattform errichtet, wenn die grünen Horden von Barsoom irgendwo auf dem Marsch ein Lager bezogen.

Noch während der junge Prinz aus Helium die Plattform beobachtete, drängte sich ein grüner Krieger zu seinem Herrscher durch. Er zerrte einen Gefangenen mit sich, und als die Krieger vor der Plattform zur Seite traten, um diesen Mann durchzulassen, konnte er einen flüchtigen Blick auf ihn tun.

Sein Herz tat einen Freudensprung: Thuvia von Ptarth lebte.

Carthoris mußte sich alle Mühe geben, nicht dem ersten Impuls zu folgen und an die Seite der Prinzessin von Ptarth zu eilen. Er wußte, daß er hier nur mit vernünftiger Überlegung etwas ausrichten konnte, und eine übereilte Tat hätte sinnlos jede künftige Rettungsmöglichkeit verspielt.

Sie wurde zum Fuß des Podiums gezerrt, und dann sah er, wie Hortan Gur sie ansprach. Die Worte konnte er wegen der großen Entfernung nicht verstehen, auch nicht Thuvias Antwort; diese mußte aber das grüne Ungeheuer sehr geärgert haben, denn Carthoris sah ihn aufspringen, und dann schlug er sie brutal mit dem Arm, der mit schweren Armreifen und Ornamenten behängt war, quer über das Gesicht.

Das war zuviel. Der Sohn John Carters, Jeddak der Jeddaks, Kriegsherr von Barsoom, wurde irr vor Zorn. Der blutrote Nebel, durch den sein Herr und Vater zahlreiche Feinde gesehen hatte, schob sich vor seine Augen.

Seine halb irdischen Muskeln reagierten blitzschnell, und mit ein paar enormen Sprüngen näherte er sich dem grünen Ungeheuer, das die Frau geschlagen hatte, die er liebte.

Die Torquasianer schauten nicht in die Richtung, aus der er kam. Aller Augen hingen an den Gestalten des Mädchens und ihres Jeddaks, und ihr Lachen war widerlich laut und brutal, als sie sich über den köstlichen Witz amüsierten, den diese kleine Gefangene eben gemacht hatte. Sie hatte nämlich von dem Riesen ihre Freiheit verlangt.

Carthoris hatte etwa die Hälfte der Strecke zwischen Wald und Plattform zurückgelegt, als sich etwas ereignete, das die Aufmerksamkeit der grünen Krieger noch stärker beanspruchte, weshalb man nun erst recht nicht auf ihn aufmerksam wurde.

Auf einem hohen Turm der belagerten Stadt erschien ein Mann. Er hatte sein Gesicht nach oben gewandt und stieß mit weit offenem Mund entsetzliche schrille Schreie aus. Diese Schreie klangen so furchterregend über die Stadtmauern und die Köpfe der Belagerer bis zum Wald hinüber, daß selbst den grünen Kriegern das Mark in den Knochen gefrieren konnte.

Zwei-, dreimal hallten diese gräßlichen Schreie an die Ohren der wie versteinert dastehenden grünen Männer, und dann kam von weit, weit hinter den Wäldern ein klarer, scharfer, ebenso schriller Antwortschrei.

Das war aber nur der Anfang. Aus allen Richtungen schienen nun diese Schreie zu kommen, und aus unzählichen Kehlen schienen sie aufzusteigen, und das wurde so überwältigend schrecklich, daß davon die ganze Welt zu zittern und zu hallen schien.

Nervös sahen sich die grünen Krieger um. Sie kannten keine Furcht, wie Erdenmenschen sie kennen, aber in ihren Gesichtern stand es deutlich geschrieben, daß die sonstige Selbstsicherheit, die recht oft an Überheblichkeit grenzte, langsam verloren ging.

Und dann wurde plötzlich das große Stadttor gegenüber der Plattform von Hortan Gur weit aufgerissen. Das Schauspiel, das sich Carthoris nun bot, war recht merkwürdig, und er konnte sich nicht daran erinnern, je etwas Ähnliches gesehen oder davon gehört zu haben. Durch dieses Tor kamen sehr große Bogenschützen, die lange, ovale Schilde vor sich hielten. Diese Männer hatten rötlichbraune Haare, und die Tiere, die knurrend und brüllend neben ihnen her liefen, waren die wilden Löwen von Barsoom.

Aber dann stand er schon mitten unter den verblüfften Torquasianern und schwang sein Langschwert. Noch ein Sprung, und er befand sich neben Thuvia von Ptarth, die ihn starr vor Staunen ansah, denn sie glaubte John Carter persönlich vor sich zu sehen, so ähnlich sah der Sohn seinem Vater, und so sehr glichen seine Kampfmethoden denen des Kriegsherrn von Barsoom.

Sogar das Kampflächeln des Mannes aus Virginia hatte der Marsprinz. Und den Schwertarm! Ah, dieses Tempo, diese fantastische Geschicklichkeit!

Jetzt herrschte überall verwirrte Aufregung. Grüne Krieger sprangen auf die Rücken ihrer verschlafenen, quiekenden Thoats.

Kalotts knurrten wild oder winselten, weil sie es nicht mehr erwarten konnten, den herannahenden Feinden an die Kehle zu springen.

Thar Ban und ein weiterer an der Plattform stehender Mann waren die ersten, die Carthoris kommen sahen, und mit ihnen mußte er auch um den Besitz des Roten Mädchens kämpfen, während die anderen davoneilten, um dem aus der belagerten Stadt heranmarschierenden Feind gebührend zu empfangen.

Carthoris versuchte sowohl Thuvia von Ptarth zu verteidigen als auch an die Seite des schrecklichen Hortan Gur zu gelangen, um den Schlag zu rächen, den er dem Mädchen versetzt hatte.

Über die Leichen von zwei grünen Kriegern, die sich ihm entgegengestellt hatten, um das Leben ihres Jeddak zu schützen, erreichte Carthoris das Podium. Thar Ban und einige der Krieger bemühten sich noch immer, den Roten Prinzen zurückzuschlagen, doch damit hatten sie wenig Erfolg. In dem Moment, als der junge Prinz aus Helium am Fuß der Tribüne stand, versuchte Hortan Gur, von dort aus auf sein Thoat zu springen.

Die grünen Krieger hatten ihre Aufmerksamkeit den aus der Stadt herankommenden Bogenschützen zugewandt, und beim Anblick der wilden Banths war ihnen anscheinend doch nicht ganz geheuer. Sie wußten, daß diese Tiere ungeheuer grausam und wild waren, viel furchterregender als ihre eigenen wilden Kampfhunde, die Kalotts. Mit einem Satz war Carthoris auf dem Podium, und er zog Thuvia mit hinauf. Dann wandte er sich mit einer zornigen Herausforderung und einem kraftvollen Schwertstoß dem Jeddak zu, der schon dabei war, sich auf sein Thoat zu schwingen.

Als die Schwertspitze des Heliumprinzen die grüne Haut des Riesen berührte, wandte sich dieser seinem Gegner mit einem fürchterlichen Knurren zu, aber zwei seiner Häuptlinge riefen ihn an, er solle sich beeilen, denn die hellhäutigen Stadtbewohner seien viel zahlreicher als zu erwarten gewesen sei. Der Kampf werde viel gefährlicher werden, als man geahnt habe.

Hortan Gur ließ also von dem Roten Prinzen ab und stellte ihm in Aussicht, sich ausführlich mit ihm zu beschäftigen, sobald er sich der streitsüchtigen Bürger der belagerten Stadt entledigt hatte. Damit sprang er endgültig auf sein Thoat und galoppierte davon, den rasch herankommenden Bogenschützen entgegen.

Die anderen Krieger folgten eiligst ihrem Jeddak und ließen Thuvia und Carthoris allein auf der Plattform zurück.

Um sie herum in der ganzen Stadt herrschte ein schreckliches Kampfgetümmel. Die hellhäutigen Krieger, die nur mit ihren großen Bogen und kurzen Kriegsäxten bewaffnet waren, schienen den grünen Kriegern in unmittelbarer Nähe nicht gewachsen zu sein, doch aus einer gewissen Entfernung richteten, ihre Pfeile mindestens ebensolche Verwüstungen unter den grünen Kriegern an, wie deren Radiumprojektile unter ihnen.

Wenn auch die ausfallenden Belagerten auf diese Art den Grünen unterlegen waren, so machten ihre wilden Gefährten, die schrecklichen Banths, einiges wieder wett. Die beiden Kampflinien waren noch ein ganzes Stück voneinander entfernt, als Hunderte dieser fürchterlichen, blutrünstigen Kreaturen unter die Torquasianer sprangen und viele Krieger von ihren Thoats herunterrissen und dann sogar noch die riesigen Reittiere anfielen. Auf die Art schufen sie eine so große Verwirrung unter den Feinden ihrer Herren, daß diese stellenweise nicht mehr wußten, wem sie nun ihre Aufmerksamkeit zuwenden sollten.

Auch die riesige Anzahl der aus der Stadt quellenden Krieger verblüffte die Grünen. Kaum glaubten sie nämlich, sie hätten einen der Hellhäutigen erledigt, als sein Platz auch schon von mindestens einem anderen eingenommen worden war, so daß sich schließlich die Zahl der Verteidiger der Stadt nicht nur nicht verringerte, sondern sogar vervielfachte.

Und so geschah es dann auch, daß vor dem Ansturm der wütenden Banths und der immer mehr anwachsenden Zahl der hellhäutigen Krieger die Torquasianer zurückfielen, so daß wenig später die Plattform, auf der noch immer Carthoris und Thuvia standen, der Mittelpunkt der Kämpfe war.

Daß keiner von beiden von einer Kugel oder einem Pfeil getroffen wurde, erschien ihnen als Wunder. Schließlich war die Kampfeswoge über sie hinweggerollt, und sie waren allein zwischen den Kämpfern und der Stadtmauer. Nur Tote und Sterbende lagen herum, und eine beträchtliche Anzahl knurrender Banths, die vielleicht noch nicht so gut trainiert waren wie ihre Kameraden, fraß sich an den Toten satt.

Für Carthoris war die Tatsache am erstaunlichsten, daß die Bogenschützen mit ihren doch eigentlich wenig wirksamen Waffen einen solchen Blutzoll von den Grünen gefordert hatten.

Nirgends erblickte er nämlich einen verwundeten Grünen, aber die Leichen der Roten auf dem Schlachtfeld waren ungeheuer zahlreich.

Unmittelbarer Tod schien jedem Pfeil zu folgen, ob er nun traf oder nur streifte. Kein einziger schien sein Ziel zu missen. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben – die Pfeilspitzen mußten vergiftet sein.

Dann verklang allmählich das Kampfgetöse im Wald. Nun herrschte wieder Stille, die nur vom Knurren der fressenden und schlingenden Banths unterbrochen wurde. Carthoris wandte sich Thuvia zu. Keiner von beiden hatte bisher ein Wort gesprochen.

»Wo sind wir, Thuvia?« fragte er.

Das Mädchen sah ihn fragend an. Seine Gegenwart schien seine Mitschuld an ihrer Entführung zu bestätigen. Wie hatte er sonst das Ziel jenes Schiffes wissen können, das sie in diese Gegend gebracht hatte?

»Wer sollte das besser wissen als der Prinz von Helium?« entgegnete sie. »Kam er nicht aus eigenem freiem Willen hierher?«

»Von Aaanthor kam ich freiwillig, da ich dem Pfad des grünen Kriegers folgte, der dich entführte, Thuvia«, antwortete er.

»Doch als ich Helium verließ, glaubte ich nach Ptarth zu fliegen – bis ich über Aaanthor aufwachte.«

»Man hat nämlich angedeutet, ich hätte vielleicht von deiner Entführung gewußt oder daran mitgewirkt«, erklärte er weiter.

»Deshalb machte ich mich zum Jeddak, deinem Vater auf, um ihn zu überzeugen, daß nichts Wahres an dieser Anschuldigung ist. Ich wollte ihm meine Dienste anbieten und ihm nach besten Kräften behilflich sein, dich wieder zu finden, Thuvia. Bevor ich Helium verließ, muß sich jemand an meinem Kompaß zu schaffen gemacht haben, so daß mich mein Schiff nach Aaanthor trug statt nach Ptarth. Das ist alles. Glaubst du mir nun?«

»Aber die Krieger, die mich aus dem Garten unseres Palastes entführten!« rief sie. »Als wir in Aaanthor ankamen, trugen sie das Emblem des Prinzen von Helium, doch als sie mich entführten, hatten sie die Harnische von Dusar an ihren Leibern. Dafür schien es nur eine Erklärung zu geben. Wer immer die Rache für diese Untat zu fürchten hatte, wollte sie, sollte er entdeckt werden, auf einen anderen abwälzen. War man aber erst weit genug von Ptarth entfernt, dann konnte man sich sicher fühlen und wieder den eigenen Harnisch anlegen.«

»Du glaubst also, Thuvia, daß ich diese Untat begangen habe?« fragte Carthoris bestürzt.

»Ah, Carthoris, ich wünschte wirklich nicht, es glauben zu müssen«, antwortete sie traurig. »Doch leider deutete alles auf dich. Und selbst dann wollte ich es nicht glauben.«

»Ich habe es auch nicht getan, Thuvia«, erwiderte er. »Und ich wußte auch nichts davon. Laß mich aber ganz ehrlich sprechen. Ich liebe deinen Vater und respektiere Kulan Tith, dem du versprochen bist, und ich weiß auch, welch schreckliche Konsequenzen eine so unüberlegte Tat von mir hätte. Drei der größten und edelsten Nationen von Barsoom würden einander bekriegen, und das, Thuvia, will ich ganz gewiß nicht. Und doch – ich hätte sicher nicht gezögert, dich zu entführen, Thuvia, wenn du mir je angedeutet hättest, daß du es wünschest.«

»Du hast das jedoch niemals getan, Thuvia, und deshalb bin ich jetzt hier. Nicht meinetwegen, sondern in deinem Dienst und im Dienst jenes Mannes, dem du versprochen bist, um dich für ihn zu retten, wenn es in meiner Macht liegt«, schloß er fast bitter.

Thuvia von Ptarth musterte ihn lange schweigend. Ihre Brust wogte wie unter dem Ansturm heftiger Gefühle. Sie tat einen kleinen Schritt auf ihn zu; ihre Lippen öffneten sich, als wolle sie sprechen – impulsiv und ungestüm.

Doch mitten im Schritt hielt sie inne, und dann hatte sie ihre Gefühle wieder in der Hand.

»Die künftigen Taten des Prinzen von Helium müssen den Beweis für die Lauterkeit seiner Gesinnung erbringen«, erwiderte sie kalt. Der Ton des Mädchens verletzte Carthoris und auch der Zweifel an seiner Aufrichtigkeit, den ihre Worte ausdrückten. Er hätte ein wenig darauf gehofft, daß ihre Worte andeuten möchten, seine Liebe und Verehrung seien ihr angenehm; wenigstens ein bißchen hätte er auch mit ihrer Dankbarkeit gerechnet für das, was er in letzter Zeit ihretwegen auf sich genommen hatte, aber nun war ihre ganze Reaktion nichts als kalter Zweifel.

Der Prinz von Helium zuckte die breiten Achseln. Das Mädchen bemerkte es und sah auch das andeutungsweise Lächeln um seine Lippen, und nun war sie an der Reihe, verletzt und gekränkt zu sein.

Selbstverständlich hatte sie nicht die Absicht gehabt, ihn zu kränken. Er hätte eigentlich wissen wollen, daß sie nichts tun oder sagen durfte, was ihn hätte ermutigen können, doch es wäre nicht nötig gewesen, ihr seine Gleichgültigkeit so überdeutlich zu erkennen zu geben. Die Männer von Helium waren für ihre ausgezeichneten Manieren und ihre Galanterie bekannt, nicht für kaltherzige Taktlosigkeiten. Vielleicht war das Erdenblut in seinen Adern schuld daran.

Wie sollte sie auch wissen, daß dieses Achselzucken Carthoris’ rein körperlicher Versuch war, die düstere Sorge und den drückenden Kummer von seiner Seele zu schütteln? Daß das Lächeln auf seinen Lippen das Kampflächeln seines Vaters war, mit dem der Sohn zu beweisen versuchte, daß er seine eigene große Liebe zu unterdrücken bereit war, um sie, Thuvia von Ptarth, für einen anderen Mann zu retten, den sie, wie er glauben mußte, liebte?

Er kehrte zu seiner ursprünglichen Frage zurück.

»Wo sind wir? Ich weiß es nicht.«

»Ich weiß es auch nicht«, erwiderte das Mädchen. »Die Männer, die mich entführten, sprachen untereinander von Aaanthor, so daß ich es für möglich hielt, daß die Stadt, zu der sie mich brachten, diese berühmte alte Ruine ist, aber wo wir jetzt sind, ahne ich nicht einmal.«

»Wenn die Bogenschützen zurückkehren, erfahren wir sicher alles, was wir wissen müssen«, sagte Carthoris. »Wir wollen also hoffen, daß sie uns freundlich gesinnt sind. Von welcher Rasse mögen sie wohl sein? Nur in unseren ältesten Legenden und in den Wandmalereien der verlassenen Städte der toten Seegründe gibt es hellhäutige Leute mit honigfarbenem Haar. Könnte es sein, daß wir zufällig über eine Stadt aus der Vergangenheit gestolpert sind, die sich über die vielen Jahrtausende gerettet hat und von deren Existenz niemand mehr wußte?«

Thuvia schaute zum Wald hinüber, in den die grünen Horden und die sie verfolgenden Bogenschützen verschwunden waren.

Aus großer Ferne hörten sie die schrecklichen Schreie der Banths und dann auch ein paar Schüsse.

»Seltsam, daß sie nicht zurückkehren«, sagte das Mädchen.

»Man sollte doch eigentlich erwarten, daß Verwundete zurückgehinkt kommen oder von anderen zur Stadt getragen werden«, bemerkte Carthoris und runzelte nachdenklich die Brauen. »Aber was ist mit den Verwundeten, die sich noch in Stadtnähe befanden? Haben sie diese denn mitgenommen?

Oder wurden sie schon in die Stadt gebracht?«

Beide musterten das Kampfgebiet zwischen dem Podium und der Stadtmauer, wo der Kampf am heftigsten gewesen war.

Hier gab es noch viele Banths, welche knurrend ihre schauerliche Mahlzeit hielten.

Carthoris sah Thuvia erstaunt an. Dann deutete er auf das Feld hinaus.

»Wo sind sie?« flüsterte er. »Was ist aus ihren Toten und Verwundeten geworden? «

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