Am Morgen des zweiten Tages ihrer Einkerkerung im Ostturm des Palastes von Astok, Prinz von Dusar erwartete Thuvia ziemlich apathisch die Ankunft ihres Mörders.
Sie hatte sich den Kopf nach einer Fluchtmöglichkeit zermartert und immer wieder alle Fenster und Türen, alle Böden und Wände untersucht.
Die massiven Ersitplatten konnte sie nicht einmal ankrat-zen. Das außerordentlich widerstandsfähige Fensterglas von Bar soom hätte mindestens eines schweren Schmiedehammers in der Hand eines Riesen bedurft. Tür und Schloß waren so stark, daß sie mit ihrem geringen Gewicht gar nichts ausrichten konnte. Eine Fluchtmöglichkeit hatte sich also nicht gefunden.
Und ihre Waffen hatte man ihr genommen, so daß sie ihnen nicht einmal das Vergnügen vergällen konnte, sie zu ermorden, denn sie konnte ihrem Leben selbst kein Ende setzen.
Wann würden sie nun kommen? Würde Astok diese scheußliche Tat mit seinen eigenen Händen verrichten? Sie zweifelte an seinem Mut. Im Herzen war er nämlich ein Feigling, und das hatte sie vom ersten Augenblick an gewußt, als er zu Besuch an den Hof ihres Vaters kam und sie mit allerhand Prahlerei zu beeindrucken und von seinem Wert zu überzeugen suchte.
Sie konnte gar nicht anders, als ihn mit einem anderen zu vergleichen. Mit wem sollte eine Braut einen erfolglosen und abgewiesenen Bewerber vergleichen? Mit ihrem Verlobten? Das wäre sicherlich normal und richtig gewesen. Tat sie das auch?
Verglich Thuvia von Ptarth, den Prinzen Astok von Dusar mit Kulan Tith, Jeddak von Kaol?
Da sie nun doch sterben mußte, konnte sie ihren Gedanken erlauben, dorthin zu schweifen, wo es ihnen gefiel. Zu Kulan Tith schweiften sie jedoch nicht; sie waren weit davon entfernt.
Eher füllte schon die Gestalt des großen, prachtvoll gewachsenen Prinzen von Helium ihren Kopf und verdrängte alle anderen Bilder daraus.
Sie träumte von seinem edlen Gesicht, der ruhigen Würde seines Benehmens, von dem Lächeln, das seine Augen aufleuchten ließ, wenn er sich mit seinen Freunden unterhielt, aber auch von jenem Lächeln, das um seine Lippen lag, wenn er mit seinen Feinden kämpfte. Es war das Kampflächeln seines virginischen Vaters.
Und Thuvia von Ptarth, eine wahre Tochter Barsooms, fand ihren Atem schneller gehen, wenn sie an ein ganz bestimmtes Lächeln dachte, das sie nun niemals mehr sehen sollte. Als sie sich dessen erinnerte, tat ihr Herz einen Satz, und mit einem Seufzer unendlichen Bedauerns ließ sie sich auf die Schlafseiden und Pelze sinken, die sie neben dem Ostfenster aufgehäuft hatte.
Sie legte ihr Gesicht auf die Arme.
Auf dem Korridor vor ihrem Gefängnis standen zwei Männer und stritten heftig miteinander.
»Und ich sage dir noch einmal, Astok«, betonte der eine, »daß ich es nicht tun werde, wenn du nicht im Raum anwesend bist.«
Von dem Respekt, der einem königlichen Prinzen gebührt, war im Ton dieses Mannes nichts zu vernehmen. Der andere bemerkte es und wurde rot.
»Vas Kor, verlaß dich nicht allzu sehr auf meine freundschaftlichen Gefühle für dich«, brüllte der Prinz. »Auch meine Geduld hat einmal ein Ende.«
»Von königlichen Vorrechten kann hier überhaupt nicht die Rede sein«, erwiderte Vas Kor. »Du verlangst von mir, daß ich an deiner Stelle einen Mord ausführen soll, der gegen den ausdrücklichen Befehl deines Jeddaks ist. Astok, du bist nicht in der Lage, mir etwas zu diktieren, sondern du solltest dich gerne bereit erklären, meiner Forderung zu folgen, daß du im Raum anwesend bist und so die Schuld mit mir teilst. Warum soll ich alles allein auf mich nehmen?«
Der junge Mann runzelte zornig die Brauen, aber er ging auf die verschlossene Tür zu und betrat, als sie aufschwang, zusammen mit Vas Kor den Raum.
Das Mädchen, das am Fenster gestanden hatte, erhob sich und sah ihnen entgegen. Unter der weichen Kupfertönung ihrer Haut wurde ihr Gesicht nur eine Spur blasser, aber ihre Augen waren tapfer und gleichmütig, und ihr kleines, festes Kinn sprach deutlich von verächtlicher Ablehnung.
»Ziehst du immer noch den Tod vor?« fragte Astok.
»Dir – ja«, erwiderte das Mädchen kalt.
Der Prinz von Dusar wandte sich zu Vas Kor um und nickte.
Der Edelmann zog sein Kurzschwert und ging quer durch den Raum auf Thuvia zu.
»Knie nieder!« befahl er.
»Ich ziehe es vor, stehend zu sterben«, entgegnete sie.
»Wie du meinst«, erwiderte Vas Kor und prüfte mit dem linken Daumen die Schärfe der Schneide. »Im Namen von Nutus, Jeddak von Dusar!« schrie er und rannte auf sie zu.
»Im Namen von Carthoris Prinz von Helium!« sprach eine tiefe Stimme an der Tür.
Vas Kor wirbelte herum und sah den Panthan, den er im Haus seines Sohnes als Rekrut verpflichtet hatte. Und dieser Bursche rannte in großen Sprüngen auf ihn zu. Er streifte dabei Astok und rief: »Du kommst auch noch an die Reihe, du… Hund!«
Vas Kor stellte sich dem Angreifer.
»Was soll dieser Verrat?« schrie er.
Astok hatte sein Schwert gezogen und eilte zu Vas Kors Hilfe.
Das Schwert des Panthans klirrte an das des Edlen, und schon beim ersten Ausfall wußte Vas Kor, daß er einem Meister der Schwertkunst gegenüberstand.
Ehe er noch begriff, was der Fremde vorhatte, fand er, daß dieser sich zwischen ihn und Thuvia von Ptarth gestellt hatte.
So stand er den Schwertern der beiden Dusarianer gegenüber.
Aber er kämpfte nicht wie ein Mann, der sich verteidigt, sondern immer wie ein wütender Angreifer. Immer gelang es ihm, sein blitzendes Schwert zwischen dem Mädchen und den beiden Männern zu haben, und dabei gelang es ihm auch noch, die beiden im Raum herumzujagen wie es ihm gefiel. Dem Mädchen rief er zu, es solle sich genau hinter ihm halten.
Vas Kor und Astok ahnten lange nicht, was der Fremde vorhatte, und als sie es dann taten, war es schon zu spät für sie. Das war, als der junge Kämpfer mit dem Rücken zur Tür stand; da begriffen sie erst, was seine Absicht gewesen war – sie waren Gefangene in ihrem eigenen Gefängnis. Jetzt konnte der Eindringling mit ihnen tun, was er wollte, denn Thuvia von Ptarth verriegelte auf Geheiß des Mannes die Tür, zog aber zuvor den Schlüssel auf der anderen Seite ab, wo Astok ihn hatte stecken lassen, als sie kamen. Astok, der sah, daß der Fremde sich keineswegs ihren Schwertern ergab, handelte so, wie er es gewohnt war und überließ den Kampf zum größten Teil Vas Kor. Da er jetzt Zeit fand, den Panthan genauer anzusehen, tat er es auch, und seine Augen wurden immer größer. In dem Fremden erkannte er nämlich den Prinzen von Helium. Carthoris drang nun erneut auf Vas Kor ein. Der Edelmann blutete schon aus einem Dutzend Wunden. Astok sah, daß er nicht mehr lange, der meisterhaften Geschicklichkeit dieser schrecklichen Schwerthand standhalten konnte.
»Mut, Vas Kor!« flüsterte er dem anderen zu. »Ich habe einen Plan. Halt ihn noch einen Moment länger, fest, dann wird alles gut werden.« Das, was er sich noch dachte – mit Astok, Prinz von Dusar – sprach er nicht aus.
Vas Kor hätte nicht im Traum an einen Betrug und Verrat gedacht, und so nickte er. Ein paar Augenblicke gelang es ihm sogar, Carthoris in die Verteidigung zu drängen. Dann sahen der Heliumprinz und das Mädchen, wie der Prinz von Dusar rasch zur gegenüberliegenden Seite des Raumes rannte, etwas in der Mauer berührte, so daß eine türartige Wandverkleidung nach innen schwang, und dann in die dahinterliegende schwarze Finsternis verschwand.
Das geschah alles so blitzschnell, daß niemand ihm hätte entgegentreten können. Carthoris fürchtete nun, Vas Kor könne ihm auf dieselbe Art entkommen, oder Astok werde mit Verstärkung zurückkehren, drang nun viel rücksichtsloser als vorher auf seinen Gegner ein, und einen Moment später rollte der kopflose Leib des Edelmannes aus Dusar über den glatten Ersitboden.
»Komm!« schrie Carthoris. »Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren. Astok wird jeden Moment mit genug Kriegern zurückkehren, um mich zu überwältigen.«
Aber Astok hatte keine solchen Pläne, denn dafür hätte er ja die im Palast umlaufenden Gerüchte bestätigen müssen, daß die Prinzessin von Ptarth im Ostturm gefangengehalten werde.
Im Nu hätte sein Vater davon erfahren, und dann hätte keine Lüge mehr die Tatsachen verbergen können, die des Jeddaks Nachforschungen ans Licht bringen mußten.
Deshalb rannte also Astok wie ein Irrer durch die langen Korridore des Palastes, um die Tür des Turmzimmers zu erreichen, bevor es Carthoris und Thuvia verlassen konnten. Er hatte gesehen, wie das Mädchen den Schlüssel abgezogen und in ihre Gürteltasche geschoben hatte, und er wußte, daß eine von der anderen Seite her in das Schlüsselloch gesteckte Dolchspitze die beiden einsperren würde, so daß sie drinnen gefangen blieben, bis Barsoom als toter, dürrer Planet in fernen Zeiten um eine sterbende Sonne kreiste.
Astok rannte also so schnell er konnte zum Haupptkorridor, der zum Turmzimmer führte. Konnte er noch rechtzeitig die Tür erreichen? Was dann, wenn der Prinz von Helium den Raum bereits verlassen hatte und ihm vielleicht auf dem Korridor auflauerte? Astok fühlte einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen, denn er war ein Feigling, der nicht die geringste Lust verspürte, sich der Klinge eines Meisters zu stellen.
Schon war er in der Nähe der Tür; nur noch eine Korridorecke, dann stand er davor. Nein, sie hatten den Raum noch nicht verlassen. Vas Kor schien also noch immer dem Prinzen von Helium standzuhalten.
Astok konnte kaum ein Grinsen unterdrücken, weil er auf so gerissene Art den Edelmann übers Ohr gehauen hatte und ihn gleichzeitig losgeworden war. Und dann bog er um die letzte Ecke – und stand einem weißen Riesen mit honigfarbenem Haar gegenüber.
Der Bursche stellte keine Fragen und wartete auch nicht auf eine Erklärung für sein Kommen, sondern er sprang ihn mit seinem Langschwert an, so daß Astok erst einmal mindestens ein Dutzend heftigster Ausfälle parieren mußte, ehe er sich zurückziehen und in höchster Eile die Flucht ergreifen konnte.
Einen Augenblick später betraten Carthoris und Thuvia den Korridor vom Geheimraum aus.
»Nun, Kar Komak?« fragte der Prinz von Helium.
»Roter, das war aber gut, daß du mich hierher gestellt hast«, sagte der Bogenschütze. »Ich habe eben einen abgefangen und in die Flucht geschlagen, der unbedingt zu dieser Tür hinein wollte. Es war der, welchen sie Astok Prinz von Dusar nennen.«
Carthoris lächelte.
»Und wo ist er jetzt?« wollte er wissen.
»Leider ist er meinem Schwert entkommen, und er rannte diesen Korridor entlang«, erklärte Kar Komak.
»Dann dürfen wir keine Zeit verlieren!« rief Carthoris. »Er wird uns sofort die Garde auf den Hals hetzen!«
Zusammen hasteten die drei durch die langen, gewundenen Korridore, durch welche Carthoris und Kar Komak vorher die beiden Dusarianer verfolgt hatten. Diese Gänge wurden selten benutzt und waren daher immer staubig; die beiden Männer hatten selbstverständlich Fußspuren hinterlassen, und es war ziemlich einfach gewesen, ihnen zu folgen.
Erst bei den Aufzügen trafen sie auf einige Posten und einen Offizier, der, da sie Fremde waren, wissen wollte, was sie im Palast Astoks zu suchen hatten.
Wieder einmal ließen Carthoris und Kar Komak ihre Klingen sprechen, aber der Kampfeslärm mußte allmählich den ganzen Palast alarmiert haben, denn überall hörten sie nun Männer rufen. Es gelang ihnen aber, in eine Kabine zu springen, wenn sie auch unterwegs in den vielen Stockwerken, an denen sie vorbeikamen, schwerbewaffnete Männer herumrennen sahen, die alle nach der Ursache des Aufruhrs suchten.
Auf der Landeplattform lag die Thuria mit drei Kriegern, die sie bewachten. Wieder fochten der Prinz von Helium und der Mann aus Lothar Schulter an Schulter, doch der Kampf war schnell vorüber, denn der junge Prinz hätte allein auch mit dem wildesten Trio aufgeräumt, das Dusar zu stellen imstande gewesen wäre.
Die Thuria hatte gerade von der Landebühne abgehoben, als mindestens hundert Krieger herangestürmt kamen. Angeführt wurden sie von Astok von Dusar, und als er sah, daß die beiden, die er so sicher im Griff zu haben glaubte, ihm entschlüpften, führte er vor Wut und Enttäuschung einen Wahnsinnstanz auf.
Er schüttelte die Fäuste und schrie ihnen gemeine Schmähungen und die übelsten Schimpfworte nach, deren sich selbst der Pöbel von Barsoom schämen würde.
Wie ein Meteor schoß die Thuria in einem kühnen Winkel in den Himmel hinauf. Mindestens ein Dutzend Patrouillenboote versuchten sie von verschiedenen Punkten aus zu verfolgen, denn die Szene auf der Landeplattform von Astoks Palast hatte nicht unbemerkt bleiben können.
Etliche Schüsse kratzten den Rumpf der Thuria ein wenig an.
Da Carthoris die Instrumente nicht verlassen konnte, richtete Thuvia von Ptarth die Mündungen der Schnellfeuerkanonen des Schiffes gegen die Feinde, obwohl sie sich nur mühsam auf dem glatten, steilen Deck festhalten konnte.
Es war eine noble Rasse und ein nobler Kampf. Einer gegen eine ganze Meute, denn andere Dusarianer-Schiffe hatten sich der Verfolgungsjagd angeschlossen. Aber Astok, Prinz von Dusar, hatte gute Arbeit geleistet, als er seine Thuria baute. Keiner in der Flotte seines Vaters und Herrn besaß ein schnelleres Schiff, und keines war so glänzend bewaffnet und so tadellos gepanzert.
Ein Verfolger nach dem anderen fiel zurück, und als der letzte ebenfalls aufgeben mußte, richtete Carthoris die Nase der Thuria waagerecht aus, und so zog sie, den Geschwindigkeitshebel im allerletzten Loch eingerastet, in einem unglaublichen Tempo durch die dünne Luft des sterbenden Planeten nach Osten und damit nach Ptarth.
Dreizehneinhalbtausend Haad entfernt lag Ptarth, und für das schnellste Schiff war das eine Reise von dreißig Stunden; dabei war vermutlich zwischen Dusar und Ptarth die Hälfte der Flotte von Dusar aufgezogen, denn in jener Richtung sollte den Gerüchten nach die große Luftschlacht stattfinden, die vielleicht jetzt in vollem Gange war.
Hätte Carthoris nur geahnt, wo sich die Flotten der großen Nationen befänden, dann wäre er ohne Verzug zu ihnen geeilt, denn in der Rückkehr Thuvias zu ihrem Vater lag die größte Hoffnung auf einen raschen Frieden.
Sie hatten etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, und noch hatten sie nicht ein einziges Kriegsschiff gesehen. Erst ein wenig später machte Kar Komak den jungen Prinzen auf ein Schiff aufmerksam, das auf dem ockerfarbenen Moos der toten Seegründe lag, über denen die Thuria dahinjagte.
Viele Gestalten umschwärmten das große gestrandete Schiff. An Bord der Thuria gab es ausgezeichnete Ferngläser, mit deren Hilfe sie erkennen konnten, daß es sich um grüne Krieger handelte, die immer wieder die Mannschaft des Schiffes angriffen. Dessen Nationalität war auf die große Entfernung hin nicht auszumachen.
Es war nicht nötig, den Kurs der Thuria zu ändern, um genau über dem Schauplatz des Kampfes wegzufliegen, aber Carthoris ging einige hundert Fuß herunter, um die Lage besser beurteilen zu können.
War es Schiff einer befreundeten Macht, dann konnte er die Feinde mit seinen Kanonen beschießen, denn mit seiner kostbaren Fracht wollte er eine Landung nicht riskieren. Zwei Schwerter, die er zu bieten hatte, waren vermutlich zu wenig, und die Sicherheit der Prinzessin von Ptarth durfte er unter keinen Umständen aufs Spiel setzen.
Als sie sich dem gestrandeten Schiff näherten, konnten sie deutlich erkennen, daß es nur noch eine Frage weniger Minuten war, bis die grünen Krieger das gepanzerte Schanzkleid erstürmen würden, um ihre wilde Blutlust an den Verteidigern zu stillen.
»Eine Landung wäre sinnlos«, sagte Carthoris zu Thuvia. »Es könnte sogar ein Schiff aus Dusar sein. Es hat keine Insignien.
Mehr könnten wir nicht tun als auf die Horden schießen.«
Während er noch sprach, trat er zu einer der Kanonen und richtete ihren Lauf auf die grünen Krieger neben dem Schiff aus.
Erst der erste Schuß der Thuria schien die Leute auf dem Schiff auf die Hilfe aufmerksam zu machen, die ihnen zuteil wurde.
Sofort flatterte vom Bug des Kriegsschiffes eine Flagge. Thuvia von Ptarth hielt den Atem an und warf Carthoris einen gespannten Blick zu.
Die Flagge war die von Kulan Tith, Jeddak von Kaol, des Mannes, dem die Prinzessin von Ptarth verlobt war!
Wie einfach wäre es für den Prinzen von Helium gewesen, nun weiterzufliegen und den Rivalen seinem Schicksal zu überlassen! Lange konnte er sowieso den grünen Horden nicht mehr widerstehen. Niemand könnte ihn der Feigheit oder des Verrates beschuldigen, denn Kulan Tith stand gegen Helium im Krieg, und auf der Thuria gab es nicht genug Schwerter, um den bereits sicheren Ausgang des Kampfes auch nur noch für kurze Zeit hinauszuschieben.
Was sollte Carthoris Prinz von Helium nun tun?
Besser noch: Was würde er tun?
Kaum hatte die Flagge im schwachen Wind am Bug des Kriegsschiffes zu flattern begonnen, als sich auch schon die Nase der Thuria in einem scharfen Winkel senkte.
»Kannst du sie navigieren?« fragte Carthoris Thuvia.
Sie nickte.
»Ich versuche, die Überlebenden an Bord zu nehmen«, erklärte er. »Kar Komak und ich werden die Kanonen bedienen müssen, während die Kaolianer über die Strickleiter an Bord kommen. Laß den Bug vorne. Er ist gut gepanzert und kann das Gewehrfeuer leichter hinnehmen. Außerdem sind auch die Propeller besser geschützt.«
Dann eilte er zur Kabine, als Thuvia die Instrumente übernahm. Einen Moment später fiel die Strickleiter vom Kiel der Thuria, und zu beiden Seiten des Schiffes flogen dicke, geknotete Lederseile über die Reling. Vom Bug stieg eine Signalfahne auf, die bedeutete:
ALLES FERTIGMACHEN UND AN BORD KOMMEN.
Ein gewaltiger Schrei stieg auf vom Deck des Kriegsschiffes aus Kaol. Carthoris, der inzwischen aus der Kabine zurückgekehrt war, lächelte traurig. Ausgerechnet den Mann, der zwischen ihm und seiner Liebe zu Thuvia von Ptarth stand, mußte er jetzt dem Rachen des Todes entreißen.
»Kar Komak, übernimm jetzt die Backbordkanone am Bug!« rief Carthoris dem Bogenschützen zu. Er selbst übernahm das Geschütz der Starbordseite.
Nun spürten sie die scharfen Erschütterungen der Explosionen, als die grünen Horden die Thuria mit einem Geschoßhagel eindeckten. Jeden Augenblick konnten die Treibstofftanks beschädigt werden, und dann wurde die Lage für alle recht brenzlig. Aber die Männer auf dem Kaolianerschiff kämpften mit mehr Hoffnung. Im Bug stand Kulan Tith, ein tapferer Mann, der zusammen mit seinen tapferen Kriegern focht und die wilden grünen Horden zurückschlug.
Nun stand die Thuria ganz niedrig über dem anderen Schiff. Die Kaolianer machten sich unter Führung ihrer Offiziere bereit, an Bord der Thuria zu gehen. Aber in diesem Moment schickten die grünen Krieger einen neuen, wilden Geschoßhagel in die Seiten des tapferen kleinen Fliegers.
Wie ein verwundeter Vogel taumelte sie hinunter. Thuvia versuchte die Nase des kleinen Schiffes wieder nach oben zu drehen, um einen Absturz mit hartem Aufprall zu vermeiden, doch das gelang ihr nur insoweit, als sie das Schiffchen einigermaßen gerade neben dem Schiff der Kaolianer aufsetzte, ohne den Bug in den Boden zu bohren.
Als die grünen Männer nur zwei Krieger und eine Frau auf Deck sahen, erscholl aus ihren Reihen ein brüllendes Lachen, während die Kaolianer enttäuscht stöhnten.
Natürlich wandten sich die Grünen nun den Neuankömmlingen zu, da sie hofften, die beiden Männer und die schwache Frau schnell zu überwältigen, denn vom Deck der Thuria aus konnten sie das des größeren Schiffes leichter überblicken.
Kulan Tith, der auf der Brücke seines eigenen Schiffes stand, schrie eine gellende Warnung zur Thuria hinüber, und dieser Warnung fügte er noch eine Anerkennung für die außerordentlich tapfere Haltung der Fremden an.
»Wer ist es«, rief er, »der sein Leben für Kulan Tith aufs Spiel setzt? Noch nie war auf Barsoom eine edlere Tat der Selbstaufopferung zu verzeichnen!«
Die grünen Horden waren dabei, das Schanzkleid der Thuria zu erklettern, als vom Bug das Symbol Carthoris’, des Prinzen von Helium, flatterte, um auf die Frage des Jeddaks von Kaol zu antworten. Keiner von dem kleinen Flieger hatte Gelegenheit, die Wirkung dieses Symbols auf die Kaolianer zur Kenntnis zu nehmen, denn sie waren vollauf mit dem beschäftigt, was auf ihrem eigenen Deck vorging.
Kar Komak stand an der Kanone, feuerte unablässig und starrte aber gleichzeitig großäugig den anstürmenden grünen Kriegern entgegen. Carthoris, der dies beobachtete, fürchtete schon, daß sich dieser Mann, den er für so unendlich tapfer und wertvoll gehalten hatte, nun als so rückgratlos wie Jav oder Tario erweisen würde, obwohl er von ihm in der Stunde größter Not mehr Aktivität erwartet hatte.
»Kar Komak!« schrie er. »Reiß dich zusammen! Denk an die Tage der glorreichen Seefahrer von Lothar! Kämpfe, Mensch, kämpfe! Kämpfe wie noch nie ein Mann vor dir focht! Jetzt können wir nichts anderes mehr tun als kämpfend sterben!«
Kar Komak wandte sich zum Prinzen von Helium um. Auf seinen Lippen lag ein grimmiges Lächeln.
»Warum sollten wir gegen eine so schreckliche Übermacht kämpfen und sterben?« rief er zurück. »Es gibt eine viel bessere Möglichkeit. Schau doch!« Er deutete auf die Stufen, die unter Deck führten.
Eine Handvoll der grünen Krieger hatten bereits das Deck der Thuria erklettert. Das sah Carthoris, als er in die vom Lotharianer angedeutete Richtung schaute. Doch das war nicht alles. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ sein Herz vor Freude hüpfen. Konnte Thuvia von Ptarth vielleicht doch gerettet werden? Von unten kam nämlich ein ununterbrochener Strom von Bogenschützen herauf, die sehr grimmig und entschlossen und ziemlich fürchterlich aussahen. Es waren nicht die Bogenschützen von Tario oder Jav, sondern eine kriegerische Elite, wilde Kämpfer, die nach einem ordentlichen Kampf zu hungern schienen.
Erstaunt und verwirrt hielten die grünen Krieger für einen Augenblick ein, aber es war wirklich nur ein Augenblick. Dann stießen sie ein entsetzliches Kriegsgeschrei aus und stürmten auf diese merkwürdigen neuen Feinde los.
Eine erste Pfeilsalve hielt schreckliche Ernte in ihren Reihen und stoppte ihren Ansturm. Die einzigen grünen Krieger auf der Thuria waren eine Minute lang tote grüne Krieger, und die Bogenschützen von Kar Komak sprangen sofort über die Reling des Schiffes, um den grünen Horden auf dem Boden einen erbitterten Kampf zu liefern.
Utan nach Utan stieg aus dem Bauch der Thuria nach oben und warf sich auf die grünen Krieger, denen es gelang, das Deck zu erreichen. Kulan Tith und seine Kaolianer standen sprachlos vor Staunen da und starrten mit großen Augen herüber, als sie Tausende dieser seltsamen, wilden Krieger aus einem Schiffchen auftauchen sahen, das mit höchstens fünfzig Personen vollgestopft hätte werden können.
Es dauerte nicht sehr lange, dann konnten selbst die wilden grünen Horden am Ansturm dieser mindestens ebenso wilden Bogenschützen nicht mehr standhalten. Erst zogen sie sich noch langsam und hinhaltend über die ockerfarbene Ebene zurück, und die Bogenschützen drängten nach. Kar Komak stand auf dem Deck der Thuria und sah vor Erregung zitternd zu.
Aus vollen Lungen stieß er den wilden Kriegsschrei längst vergangener Zeiten aus. Er röhrte Aufmunterungen und Befehle, feuerte seine Utans an und konnte schließlich seiner Kampfeslust nicht mehr widerstehen, als sich der Kampf immer weiter und immer schneller von der Thuria entfernte.
Er sprang also mit einem Satz über die Reling und raste hinter seinen Bogenschützen drein über den toten Seegrund. Und er rannte solange, bis er seine Männer einholte, bis er sich selbst daran beteiligen konnte, die grünen Horden in die Flucht zu schlagen.
Hinter einem niederen Hügel, der früher einmal eine Insel gewesen war, verschwanden die grünen Krieger in Richtung Westen. Ihnen auf den Fersen folgten die alten Seefahrer-Bogenschützen aus einer längst vergangenen Zeit, und zwischen ihnen stürmte der riesige Kar Komak dahin. Er schwang aufmunternd sein Kurzschwert, das er einem Torquasianer abgenommen hatte und trieb seine Truppen hinter dem davonrennenden Feind her.
Als der letzte der Männer hinter dem Hügel verschwunden war, wandte sich Carthoris an Thuvia von Ptarth.
»Sie haben mich etwas gelehrt, diese dort verschwundenen Bogenschützen von Lothar«, sagte er. »Wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben, dann bleiben sie nicht, um ihren Herrn und Meistern zur Last zu fallen. Kulan Tith ist mit seinen Kriegern da und kann dich beschützen. Meine Taten haben, glaube ich, meine Lauterkeit und die Ehrlichkeit meines Herzens bewiesen. Leb wohl.« Damit kniete er zu ihren Füßen nieder und hob ein Gehänge ihres Harnisches an seine Lippen.
Das Mädchen streckte die Hand aus und legte sie auf den dicken schwarzen Haarschopf des gesenkten Kopfes vor ihr.
»Wohin willst du gehen, Carthoris?« fragte sie.
»Ich gehe mit Kar Komak, dem Bogenschützen«, erwiderte er. »Dort wird es immer Kampf und Vergessen geben.«
Thuvia legte die Hände über die Augen, als wolle sie eine übermächtige Versuchung nicht länger mehr sehen.
»Mögen meine Vorfahren Erbarmen mit mir haben,« rief sie, »wenn ich Worte spreche, die ich nicht sagen dürfte. Aber ich kann es nicht ertragen, wenn du sein Leben wegwirfst, Carthoris, Prinz von Helium! Bleib, mein Häuptling. Bleib, denn ich liebe dich!«
Lange Zeit sprach niemand mehr ein Wort. Dann hustete jemand hinter ihnen, und beide drehten sich um. Zwei Schritte von ihnen entfernt stand Kulan Tith, Jeddak von Kaol.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der Jeddak sich räusperte.
»Ich konnte es nicht vermeiden, daß ich alles mit anhörte«, sagte er. »Ich bin kein Narr und auch nicht blind für die Liebe, die zwischen euch ist. Ich bin auch nicht blind für die Ehre, die dich, Carthoris, bewogen hat, dein Leben und das ihre aufs Spiel zu setzen, um das meine zu retten, obwohl du doch selbst daran gedacht haben mußt, daß diese Tat dich der Möglichkeit beraubt, sie für dich zu gewinnen.
Und ich muß auch deine Tugendhaftigkeit anerkennen, Thuvia, die deine Lippen versiegelt hat, so daß kein Wort der Liebe für diesen Heliumiten ihnen entfloh. Ich weiß, daß du jetzt zum erstenmal ihm gesagt hast, daß du ihn liebst. Ich verdamme dich nicht. Eher hätte ich dich verdammt, wenn du mich geheiratet hättest, ohne mich zu lieben.
Nimm deine Freiheit zurück, Thuvia von Ptarth«, rief er, »und versprich dich mit dem, an den dein Herz schon jetzt gekettet ist.
Und wenn dann die goldenen Kragen auf euren Schultern liegen, dann werdet ihr sehen, daß Kulan Tith als erster sein Schwert hebt, um der neuen Prinzessin von Helium und ihrem königlichen Gefährten ewige Freundschaft zu schwören!«