Am Tag nach Vas Kors Aufnahme in das Haus des Prinzen von Helium, herrschte in den Zwillingsstädten große Aufregung, die größte natürlich in Carthoris’ Palast. Es war nämlich die Nachricht von der Entführung der Prinzessin Thuvia von Ptarth aus dem Palastgarten ihres Vaters eingetroffen, und es wurden sogar Andeutungen gemacht, der Prinz von Helium stehe im Verdacht, etwas mehr als andere Leute über die Entführung der Prinzessin und ihren jetzigen Aufenthaltsort zu wissen.
Im Ratssaal hatten sich John Carter, Kriegsherr vom Mars, Tardos Mors, Jeddak von Helium, Mors Kajak, dessen Sohn. Jed von Klein-Helium und Carthoris versammelt, zu denen noch die angesehensten Edlen des Reiches von Helium kamen.
»Zwischen Ptarth und Helium darf es keinen Krieg geben, mein Sohn«, sagte John Carter. »Daß du der gegen dich erhobenen Anklage nicht schuldig bist, wissen wir sehr gut, aber auch Thuvan Dihn muß es zu wissen bekommen.
Es gibt nur einen, der ihn davon überzeugen kann, und das bist du selbst. Du mußt daher sofort an den Hof von Ptarth eilen und ihm durch deine Anwesenheit und deine Worte versichern, daß du mit der Entführung nichts zu tun hast und sein Verdacht unbegründet ist. Nimm mit dir die Autorität des Kriegsherrn von Barsoom und des Jeddaks von Helium und biete ihm jede nur denkbare Hilfe bei der Suche nach seiner Tochter an und selbstverständlich auch bei der Bestrafung der Schuldigen, wer auch immer das sein mag.
Und jetzt geh! Ich weiß, daß ich dir nicht erst erklären muß, wie wichtig die größte Eile in diesem Fall ist.«
Carthoris verließ den Ratssaal und begab sich schnellstens zu seinem Palast.
Schon im nächsten Moment richteten seine Sklaven alles her, was für die Reise ihres Herrn nötig war. Einige arbeiteten an dem schnellen Schiff, das den Prinzen von Helium nach Ptarth bringen sollte.
Und dann war alles bereit. Zwei bewaffnete Sklaven blieben als Wachen beim Schiff. Die untergehende Sonne hing niedrig über dem Horizont. In ein paar Minuten würde es ganz dunkel sein.
Einer, der Wächter war ein riesiger Bursche, über dessen rechte Wange von der Schläfe zum Mundwinkel eine dünne Narbe lief. Dieser ging auf seinen Gefährten zu. Sein Blick schweifte über seinen Kameraden hinaus. Er stand ganz nahe vor ihm, als er sprach.
»Das ist aber ein seltsamer Flieger!« sagte er.
Der andere drehte sich schnell um, denn er wollte ihn sehen.
Aber kaum hatte er dem Riesen den Rücken zugekehrt, als des letzteren Kurzschwert auch schon unter dem linken Schulterblatt des anderen steckte, so daß sein Herz durchbohrt war.
Ohne einen Laut von sich zu geben, fiel der Soldat in sich zusammen. Er war tot. Schnell schleifte der Mörder die Leiche in den tiefsten Schatten im Hangar. Dann kehrte er zum Flieger zurück.
Aus seiner Gürteltasche nahm er einen seltsam und sehr kompliziert geformten Schlüssel, hob den Deckel der rechten Skala des Zielkompasses ab und studierte den darunterliegenden Mechanismus. Dann setzte er die Skala wieder auf, verschob den Zeiger und stellte die Veränderung fest, die sich aus der anderen Zeigereinstellung ergeben hatte.
Der Mann lächelte. Mit einer scharfen kleinen Schere schnitt er den dünnen Zapfen ab, der durch die Skala zum außenliegenden Zeiger führte. Jetzt konnte dieser zu jedem Punkt der Skala bewegt werden, ohne daß es auf den darunterliegenden Mechanismus einen Einfluß hatte. Mit anderen Worten: die östliche Hemisphärenskala war nutzlos.
Nun beschäftigte er sich mit der Skala für die westliche Hemisphäre. Die stellte er auf einen bestimmten Punkt ein. Nun nahm er auch hier den Deckel ab und schnitt den dünnen Zapfen unter dem Zeiger ab.
So schnell wie möglich legte er auch diesen Deckel wieder auf und begab sich an seinen Platz. Wenn man den Kompaß anschaute, bemerkte man nicht, daß er nichts mehr taugte. Er sah genauso aus wie vorher. Nur konnte man jetzt die Zeiger auf den Skalen bewegen soviel man wollte – es nützte nichts, denn sie waren nicht mehr mit dem Mechanismus darunter verbunden.
Und das Gerät war auf den Bestimmungsort eingestellt, den der Sklave gewählt hatte. Nichts ließ sich daran ändern.
Wenig später kam Carthoris in Begleitung einiger Edler an. Er warf dem einzelnen Sklaven, der bei seinem Flieger Wache hielt, einen flüchtigen Blick zu. Die schmalen, grausamen Lippen und die Narbe, die schräg über die Wange lief, weckten in ihm eine vage unangenehme Erinnerung. Wo mochte Saran Tal diesen Mann gefunden haben? Aber dann verbannte er den Gedanken, und der Prinz von Helium lachte und schwatzte mit seinem Gefolge, obwohl sein Herz von Sorge und Kummer bedrückt war. Er ahnte ja nicht einmal, welches Schicksal Thuvia von Ptarth ereilt haben konnte.
In erster Linie hatte er selbstverständlich mit dem Gedanken gespielt, daß Astok Dusar das schöne Mädchen von Ptarth entführt haben könnte. Aber fast gleichzeitig mit dem Bericht über die Entführung waren Nachrichten über große Feierlichkeiten eingetroffen, die der Jeddak zur Rückkehr seines Sohnes an den väterlichen Hof hatte ausrichten lassen.
Es konnte also doch nicht recht sein, daß Astok in der Nacht von Thuvias Entführung gleichzeitig in Dusar und in Ptarth gewesen war. Und doch…
Er betrat den Flieger und sprach noch ein paar Worte mit seinen Gefährten, als er den Kompaßmechanismus öffnete und den Zeiger auf die Hauptstadt von Ptarth einstellte.
Mit einem verabschiedenden Wort wandte er sich seinen Instrumenten zu und drückte den Knopf für die Rückstoßstrahlen; der Flieger hob sich leicht wie ein Vogel in die Luft, und als er auf einen zweiten Knopf drückte, begann die Maschine zu schnurren wie eine zufriedene Katze. Der Propeller surrte, und seine Hand zog den Hebel für die Geschwindigkeit zurück. Carthoris, Prinz von Helium, hatte abgehoben und raste unter den eiligen Monden und den Millionen funkelnder Sterne durch die zauberhafte Marsnacht.
Als das Schiffchen seine volle Reisegeschwindigkeit erreicht hatte, hüllte sich der Prinz in seine Schlafseiden und Pelze und streckte sich auf dem Deck aus, um zu schlafen.
Aber er blieb noch sehr lange wach.
In seinem Kopf herrschte ein Aufruhr an Gedanken, der den Schlaf vertrieb. Ihm fielen wieder die Worte Thuvias von Ptarth ein, Worte, die ihn glauben ließen, daß sie ihn liebe; denn als er sie gefragt hatte, ob sie Kulan Tith liebe, hatte sie nur geantwortet, sie sei ihm versprochen.
Jetzt sah er ein, daß diese Antwort viele Möglichkeiten offen ließ. Sie konnte bedeuten, daß sie Kulan Tith nicht liebte und er konnte daraus schließen, daß sie dann einen anderen liebte.
Hatte er denn irgendeine Sicherheit, daß dieser andere er selbst, Carthoris Prinz von Helium sein könnte?
Je mehr er darüber nachdachte, desto positiver kam er zu der Überzeugung, daß sie mit diesen Worten nicht ausgedrückt hatte, ihn zu lieben. Auch keine ihrer Handlungen deutete darauf hin.
Nein, er mußte es als Tatsache hinnehmen, daß sie ihn nicht liebte.
Sie liebte einen anderen. Und sie war auch nicht entführt worden, sondern sie war freiwillig mit ihrem Geliebten geflohen.
Diese Gedanken füllten ihn teils mit verzweifeltem Schmerz, teils mit schrecklicher Wut. Aber schließlich fiel Carthoris doch in Schlaf, wenn auch in einem Zustand äußerster seelischer Erschöpfung.
Als die kurze Morgendämmerung anbrach, schlief er noch immer. Sein Flieger jagte über eine ausgedörrte, ockerfarbene Ebene, über den seit undenklichen Zeiten ausgetrockneten Boden der toten Marsmeere.
In einiger Entfernung erhoben sich niedere Hügel. In diese Richtung flog das Schiffchen. Als es sich ihnen näherte, hätte Carthoris vom Deck aus einen langgestreckten Hügel sehen können, der weit in das hinausreichte, was früher einmal ein Ozean gewesen war. Dann umschloß dieser Hügel auch den vergessenen Hafen einer vergessenen Stadt, deren verlassene Kais noch zu erkennen waren. Es waren die ungeheuer eindrucksvollen Reste einer herrlichen, wundersamen Architektur einer sagenhaften Vergangenheit.
Unzählige leere, trostlos öde Fensterhöhlen starrten wie tote Augen aus den Marmorwänden. Die ganze Stadt sah aus wie eine Unzahl sonnengebleichter nackter Menschenschädel mit augenlosen Höhlen, und die großen Tore waren grinsende Münder.
Dieser uralten Stadt näherte sich nun der Flieger, und er verlor allmählich an Geschwindigkeit; doch es war noch lange nicht Ptarth.
Über dem Zentralplatz blieb er erst in der Luft hängen und ließ sich dann ganz sanft und langsam auf den Boden herunter.
Etwa hundert Yards über dem Grund blieb er in der Luft hängen und wiegte sich leise im sanften Lufthauch. Und nun schrillte ein Alarm, der den Schläfer aufweckte.
Carthoris sprang auf. Unter dem Schiff hoffte er die Stadt Ptarth zu sehen, und eigentlich hätte ihn schon eine Luftpatrouille zum Liegeplatz geleiten müssen.
Erstaunt und verwirrt schaute er in die Runde. Was unter ihm lag, war zwar eine große Stadt, sicher jedoch nicht Ptarth.
Konnte ihn das Werk seines Geistes und seiner Hände so betrogen haben? In den breiten Avenuen drängten sich keine Menschenmengen, und kein Lebenszeichen unterbrach die tote Monotonie der verlassenen Hausdächer. Keine prächtigen Seiden, keine luxuriösen Pelze verliehen dem schimmernden Marmor und dem glühenden Ersit Farbe und Leben.
Und kein Patrouillenboot war weit und breit zu sehen. Unter ihm lag eine riesige, leere, schweigende Stadt.
Was war geschehen?
Carthoris prüfte die Skala seines Kompasses. Der Zeiger war auf Ptarth eingestellt; daran war nicht zu zweifeln. Er konnte es einfach nicht glauben, daß dieses doch schon einige Zeit erprobte Gerät so versagt haben sollte.
Er lockerte den Deckel und legte ihn in den Angeln zurück.
Ein einziger Blick genügte, ihn die Wahrheit oder wenigstens einen Teil davon ahnen zu lassen. Der stählerne dünne Zapfen, der die Bewegungen des Zeigers auf der Skala in das Herz des darunterligenden Mechanismus übertrug, war abgebrochen worden.
Wer konnte das getan haben? Und warum?
Carthoris hatte nicht die geringste Ahnung, wen er verdächtigen sollte. Aber nun mußte er irgendwie herausbringen, in welchem Teil seiner Welt er sich befand. Dann mußte er die Weiterreise aufnehmen, um möglichst bald nach Ptarth zu kommen.
Wenn es die Absicht eines Feindes gewesen war, seine Reise nach Ptarth zu verhindern oder wenigstens hinauszuschieben, dann war ihm das ziemlich gut gelungen. Das überlegte Carthoris, als er den Deckel der anderen Skala abnahm.
Auch hier fand er, daß der Zapfen abgebrochen worden war, aber zuerst war der Mechanismus des Zielgerätes auf einen Punkt der westlichen Hemisphäre eingestellt worden, während das andere Gerät gar nicht gesetzt worden war.
Er hatte gerade seinen Standort grob bestimmt und war zu der Ansicht gekommen, er müsse irgendwo südwestlich von Helium und ziemlich weit von den Zwillingsstädten entfernt sein, als er unter sich den Schrei einer Frau vernahm.
Er beugte sich über die Reling seines Schiffchens und sah eine offensichtlich Rote Frau, die von einem riesigen grünen Krieger, einem der grausamen, gewalttätigen Bewohner der toten Seegründe und verlassenen Städte des sterbenden Mars, quer über den Platz geschleift wurde.
Mehr brauchte Carthoris nicht zu sehen. Er griff nach seinen Instrumenten und ließ das Schiffchen leicht wie eine Feder auf dem Boden aufsetzen.
Der grüne Mann zerrte seine Gefangene zu einem riesigen Thoat, das an dem ockerfarbenen Moos des einstmals so prächtigen Platzes herumrupfte. Im gleichen Augenblick stürzte etwa ein Dutzend Roter Krieger aus dem Eingang eines nahen Ersitpalastes. Mit nackten Schwertern verfolgten sie den Entführer, dem sie erboste Verwünschungen nachschrien.
Einmal wandte die Frau ihr Gesicht dem zu Boden schwebenden Flieger zu, und mit einem einzigen raschen Blick sah Carthoris, daß es Thuvia von Ptarth war!