7

Sham unterdrückte ein Gähnen und ließ den Blick über die Gruppe der sie umgebenden Männer wandern. Mehrere von Lord Halvoks Jungspunden hatten sich unter die älteren Anwesenden gemischt. Kerim hatte recht – die abendlichen Versammlungen wurden besser besucht als die Zusammenkünfte während des Tages.

Er hatte vorgehabt, sie zu ihrer ersten Abendveranstaltung zu begleiten, hatte sich jedoch zu krank gefühlt. Ohne seine Respekt einflößende Gegenwart scharten sich die Männer wie Heuschrecken auf einem Weizenfeld um sie, was sie eher lästig als unterhaltsam fand. Entsprechend der Rolle, die sie spielte, schäkerte sie verhalten mit ihnen, ließ aber keinen Zweifel daran, dass ihre Treue dem Vogt galt.

Allmählich begann sie zu glauben, dass sich ihre Anwesenheit am Hof als nutzlos erweisen würde. Die Flüsterer besaßen umfassendere Kenntnisse über das weniger öffentliche Leben der Hofmitglieder, als sich aus den Hofgerüchten heraushören ließ. Über den Dämon jedoch hatte sie bisher noch nichts erfahren.

Für die Unterhaltung sorgte an diesem Abend ein Barde, der sich als höchst mittelmäßig erwies – was die Musik anging. Aufgrund der leidenschaftlichen Blicke, die er mit mehreren Hofdamen wechselte, vermutete Sham, dass sein Können auf anderen Gebieten überdurchschnittlich sein musste.

Abermals gähnte sie und kratzte sich unauffällig am Oberschenkel. Die Wunden, die ihr der Dämon zugefügt hatte, traten in jenen Abschnitt der Heilung ein, in dem sie juckten wie nasse Wolle. Shamera spielte ernsthaft mit dem Gedanken, sich früh in ihre Gemächer zurückzuziehen.

Sie öffnete schon den Mund, um sich bei ihrem derzeitigen Begleiter zu entschuldigen, als sie Lady Sky erblickte, die alleine saß, während in ihrer Nähe zwei Frauen aus dem Osten miteinander tratschten. Zu den Dingen, die Sham bei ihren Streifzügen am Hof festgestellt hatte, gehörte, dass die Lords von Südwald zwar von den Lords aus dem Osten geduldet wurden, die Frauen aus dem Osten hingegen kein ähnliches Entgegenkommen für Damen aus Südwald aufbrachten – deren Anzahl sich hier und derzeit auf zwei belief: Shamera und Sky.

Von Shamera, die entweder durch Kerims Gegenwart oder durch Halvoks Jungvolk beschützt wurde, hielten sie sich fern, aber Sky glich Freiwild, sobald Lady Tirra sich nicht im selben Raum befand. Dass die Männer aus dem Osten die Abneigung ihrer Damen gegen Lady Sky keineswegs teilten, verschlimmerte die Dinge nur.

So stumm wie unauffällig schüttelte Sham den Kopf und bahnte sich den Weg durch die Menge zu Lady Sky. Sie dachte daran, dass der Hai unbeirrt die Auffassung vertrat, dass ihre Schwäche für schutzlose Einzelgänger noch einmal ihr Tod sein würde.

Sky schaute erschrocken auf, als Shamera neben ihr Platz nahm – oder vielleicht lag es an ihrem violetten und gelben Kleid; aufsehenerregend genug dafür schien es jedenfalls zu sein. Ihr von Halvok eingesetzter Beschützer ergriff eine von Skys Händen und küsste sie zart, bevor er wie selbstverständlich in den Hintergrund zurücktrat und dafür sorgte, dass sich die beiden Damen aus dem Osten eine andere Beute suchen mussten.

»Sagt«, begann Shamera und richtete ihre Röcke rings um sie, »wie ist es einer Frau aus Südwald gelungen, einen Krieger aus dem Osten zu umgarnen?«

Sky musterte sie zunächst verhalten, doch offenbar überzeugte sie die Arglosigkeit in Shams Blick. »Ich habe ihn bei Fahills Wallfahrtstor kennengelernt.«

Shams Augen weiteten sich. »Wie romantisch! Mich hat Ervan von meinem Vater gekauft. Ich versichere Euch, daran war rein gar nichts romantisch. Als Wiedergutmachung habe ich ihn hart arbeiten lassen – so ist er gestorben.« Dem Vernehmen nach war Ervan, ein betagter, verbitterter Mann, im Bett verschieden. Kerim hatte ihr versichert, dass er selbst am Hof der Einzige war, der ihn je persönlich kennengelernt hatte.

Sky konnte nicht anders, als prustend zu lachen. »Ich bin nicht wirklich sicher, ob es bei mir romantischer war.« Gefühlvoll legte sie die Hände auf ihren angeschwollenen Bauch. Als sie wieder zu Sham aufschaute, wirkte ihr Blick gehetzt. »Mein Vater hatte unser Landgut behalten, indem er einem Ostländler die Gefolgstreue schwor, aber nachdem ihn sich die Pest geholt hatte, beanspruchte unser Oberherr den Besitz für seinen zweiten Sohn. Mein Bruder hat uns zusammengepackt und ist mit uns hierher nach Landsend zum Hof aufgebrochen, da er gehört hatte, dass der Vogt heimatlose Adelige aufnimmt. Ein Stück außerhalb von Fahill wurden wir von Banditen überfallen. Ich wusch mich gerade im Bach, als ich sie hörte. Da ich unbewaffnet war, konnte ich nur warten, bis sie verschwanden, bevor ich mein Versteck verließ. Die Plünderer hatten alle außer mir getötet.«

Shamera beugte sich vor und ergriff Skys Hand. »Das tut mir leid.«

Sky schüttelte den Kopf, um den alten Schmerz zu verdrängen. »Nein, das muss es nicht. Das war vor langer Zeit, und es hat sich schließlich auch etwas Gutes daraus ergeben. Da mir nichts anderes einfiel, setzte ich damals den Weg nach Landsend fort und gelangte kurz vor Einbruch der Dunkelheit nach Fahill. Lord Fahill selbst antwortete auf mein Klopfen.« Da lächelte sie, verlor sich in der Erinnerung. »Fahill schien mir überlebensgroß zu sein. Er war rothaarig wie ein Händlerkind und höher gewachsen als Kerim. Solange ich ihn hatte, schien nichts schiefgehen zu können.«

Sham erinnerte sich an die Sicherheit zurück, die der Vogt ihr in der Nacht des Angriffs durch den Dämon vermittelt hatte, und nickte. »Wenigstens habt Ihr sein Kind.«

Ermutigt von Shams Mitgefühl fuhr Sky fort. »Unser erstes Kind verlor ich, zwei Monate bevor Fahill starb. Dieses hier kommt einem unverhofften Wunder gleich.«

Sie schaute auf und verstummte, als sich ihnen Lady Tirra näherte.

»Lady Sky«, rief Tirra und sah dabei über Shamera hinweg. »Ich habe nach dir gesucht, mein Kind.«

Kerims Mutter zog Sky auf die Beine und in einen offenen Bereich des Saals. Dann klatschte sie laut in die Hände, um die Aufmerksamkeit des Barden zu erringen, der zu spielen aufhörte. Anmutig hob sie die Hand, und nach und nach richtete sich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf ihre zierliche Gestalt.

»Meine Lords und Ladys, ich bitte um einen Augenblick der Nachsicht.« Ihre tiefe, volle Stimme drang mühelos in die entferntesten Winkel des Raumes vor. Sky wirkte an ihrer Seite wie ein Kaninchen in der Falle eines Jägers. »Ihr alle wisst von den Schwierigkeiten, die wir dabei hatten, zu schlichten, was aus dem Besitz von Fahill werden soll. Das Übel war ein Widerspruch zwischen den Gesetzen Südwalds und dem Brauchtum in Cybelle. Nach südwäldischem Recht sollten die Ländereien an Lady Sky gehen; dem Brauchtum gemäß sollte sie Lord Johar von Fahill erben. Ein Großteil seiner Einwände richtete sich dagegen, dass die Ländereien, die im Besitz eines Adeligen aus dem Osten gestanden hatten, in die Hände einer Dame aus Südwald gelangen würden. Wir haben darauf geantwortet, indem wir eine Ehe zwischen meinem Sohn, Lord Ven, und Lady Sky vorgeschlagen haben. Ich darf Euch nun verkünden, dass er den Vorschlag geneigt angenommen hat.«

Sham fragte sich, ob sich Lady Tirra den Lords von Südwald vorsätzlich widersetzte oder ob sie lediglich blind für den Schaden war, den sie den Versuchen des Vogts zufügte, die Ostländler und die Südwäldler enger aneinanderzubinden.

»Der lange umstrittene Verbleib des Besitzes von Lord Fahill«, fuhr Lady Tirra triumphierend fort, »ist somit geklärt. Der Landbesitz von Fahill, Oran und Tiber wird in die Hände des Bruders des verstorbenen Lords Fahill übergeben, und die entsprechenden Titel gehen ebenfalls an ihn über – von diesem Tage an wird aus Lord Johar Lord Fahill. Der Landbesitz von Kerhill und Tourn sowie der Titel des Lords Kerhill fallen meinem Sohn, Lord Ven, bei der Eheschließung mit Lady Sky zu. Ich ersuche Euch alle um Eure Glückwünsche.«

Lady Sky stand wie erstarrt da; alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. Offensichtlich hatte man sie in all das nicht eingeweiht. Und dann eine solche Ankündigung vor versammeltem Hofe …

Zum ersten Mal war Sham dankbar für ihr Leben in Fegfeuer. Dort konnte sie wenigstens ihre eigenen Entscheidungen treffen.

Lady Tirra sprach weiter, als wieder Stille im Saal einkehrte. »Ich bedaure, dass Lord Ven nicht hier sein kann, um die guten Wünsche des Hofes entgegenzunehmen. Er hatte Dringendes zu erledigen und ist früh heute Morgen abgereist. Sobald er zurückkehrt, werde ich ihn über die guten Neuigkeiten in Kenntnis setzen.«

Lady Sky blieb noch einige Minuten, bevor sie den Raum verließ, und stützte sich müde auf Lady Tirra. Kaum waren die beiden verschwunden, brach der Hof in wilde Mutmaßungen und gehässiges Getuschel aus. Shamera zog von Gruppe zu Gruppe, während ihr Begleiter höflich hinterdreintrottete.

»Lady Shamera, auf ein Wort«, ertönte hinter ihr Lord Vens geschmeidige Stimme.

Sham sah sich überrascht um. Der Saal war nach wie vor ziemlich voll, und es gelang ihr, den Blicken mehrerer Männer zu begegnen, mit denen sie bereits geselligen Umgang gepflegt hatte. Erst als sie anfingen, auf sie zuzugehen, drehte sie sich zu Lord Ven um. Er hatte schon mehrmals versucht, sie in die Enge zu treiben, nach ihrer Vermutung hauptsächlich, um herauszufinden, ob es wohl eine Möglichkeit gab, Kerim die Lust an ihr zu verderben. Arme Lady Sky. Sham fragte sich, ob ihm bereits von seiner Verlobung erzählt worden war – gewiss ließ sich daraus noch ein wenig Spaß ableiten.

Sie sah den gutaussehenden Adeligen an, legte die Stirn in Falten und tippte sich verwirrt ans Kinn, bevor sie laut vernehmlich rief: »Kerims Bruder!« Dann verstummte sie kurz, bevor sie sagte: »Lord … Van? Ich dachte, Ihr wärt verreist.«

Aus der Schar, die sich um sie einfand, ertönte vereinzelt verhaltenes Gelächter. Kerims Bruder galt höchstens bei den radikalsten Gruppen am Hof als einigermaßen beliebt. Den Männern hier entging nicht, dass Lord Ven umso weniger Eindruck bei ihr zu hinterlassen schien, je aufdringlicher er wurde.

Seine ansprechenden Züge erröteten leicht, aber er ließ sich nichts anmerken, als er erwiderte: »Lord Ven, Kerims ehelicher Halbbruder. Ich bin gerade eben erst zurückgekehrt.«

Shamera nickte verständig; seine hinterhältige Anspielung auf Kerims uneheliche Herkunft hatte ihre restlichen Skrupel hinweggeweht, den Bruder des Vogts zu demütigen. »Jetzt erinnere ich mich. Was kann ich für Euch tun? Möchte Kerim etwas von mir? Er meinte, er wolle sich den Rest des Abends ausruhen, und ich solle mich ruhig amüsieren. Aber falls er jetzt doch möchte, dass ich zu ihm komme, gehe ich nur zu gern.«

Wieder ließ sich verhaltene Belustigung vernehmen.

»Nein, Lady«, entgegnete Lord Ven, dem es nur mühsam gelang, einen unverbindlichen Tonfall zu bewahren. »Ich habe nicht mit Kerim gesprochen, seit ich heute Morgen aufgebrochen bin. Ich wollte mich nur ungestört mit Euch unterhalten.«

»Oh«, gab Sham mit offensichtlicher Enttäuschung zurück. »Ich denke, solange Ihr sicher seid, dass Kerim mich nicht braucht, kann ich mich mit Euch unterhalten. Was wolltet Ihr noch mal?«

Bevor er die Gelegenheit hatte, erneut das Wort zu ergreifen, spürte sie eine leichte Berührung an der Schulter. Sham drehte sich um und erblickte Kerims Kammerdiener, der hinter ihr stand.

»Dickon!«, rief sie, bevor sie der versammelten Allgemeinheit erklärte: »Dickon ist Kerims Diener.«

Dickon räusperte sich, bewahrte jedoch davon abgesehen seinen üblichen Gleichmut, als er zu ihrer überschwänglichen Begrüßung nickte.

Sham tippte Dickon auf den Arm und fragte: »Ist Kerim schon wach?«

Dickon, dem all die Aufmerksamkeit sichtliches Unbehagen bereitete, antwortete: »Ja, Herrin. Lady Tirra …«

»Seine Mutter«, unterbrach ihn Sham, als verkünde sie einer Gruppe Uneingeweihter eine Neuigkeit.

»Ja, Herrin«, sagte Dickon geduldig. »Seine Mutter hat einen neuen Heiler gefunden, der im Ruf steht, Wunder wirken zu können. Er ist gerade bei ihm.«

Sham dachte kurz darüber nach. Es schien offensichtlich, dass Dickon zu ihr gekommen war, um den Vogt vor einem Scharlatan zu retten. Natürlich dachte der Diener, dass ihr daran gelegen sein würde – immerhin stellte sie seine Mätresse dar. Obwohl sie ihr geheucheltes Gebaren vor Dickon seit der Nacht des Angriffs des Dämons aufgegeben hatte, wusste er nicht alles. Oder vielleicht doch? Das Ausmaß des Zorns, den sie verspürte, ängstigte sie regelrecht.

Als sie das Wort ergriff, achtete sie sorgsam darauf, nicht mehr als die Besitzgier einer Mätresse durchklingen zu lassen, die ihre Position bedroht sah. »Ein Heiler seiner Mutter? Wie lange ist dieser Mann denn schon bei Kerim?«

Dickon trat von einem Bein aufs andere und erwiderte: »Seit dem Abendessen.«

Sham lächelte strahlend. »Meine Herren, wenn Ihr mich bitte entschuldigt. Lord Van … äh, Ven, wir werden unser Gespräch auf ein anderes Mal verschieben müssen. Dickon …«

»Lord Kerims Diener«, ergänzte Halvoks Pflegekind Siven voll Belustigung.

Shamera nickte und fuhr voll Dramatik fort: »… ist gekommen, um mich zu holen. Lord Kerim braucht mich, und ich muss gehen.«

Nach einem flüchtigen Knicks folgte sie Dickon durch die Tür hinaus. Kaum befanden sie sich allein im Gewirr der Gänge, ließ sie die Fassade fallen und verfiel in einen alles andere als schicklichen Laufschritt.

»Wie schlimm ist er?«, fragte sie verkniffen.

»Ziemlich schlimm. Ich wusste nicht, was vor sich ging, bis ich einige der Kleidungsstücke Seiner Lordschaft aus den Flickräumen hineinbrachte. Anscheinend ist jemand aus dem Bekanntenkreis Ihrer Ladyschaft auf diesen Wunderwirker gestoßen. Dem Vernehmen nach ist er in der Lage, Lahme wieder gehen zu lassen. Lady Tirra hat ja schon mehrere solche Quacksalber angeschleppt, und die meisten sind harmlos. Aber dieser …«

»Ich bin auch Wunderwirkerin«, meinte Sham düster. »Pass nur mal auf, wie ich den Heiler auf wundersame Weise verschwinden lasse. Ist Ihre Ladyschaft auch dort?«

»Kerims Mutter?«, fragte Dickon in unschuldigem Tonfall.

Sham kicherte trotz der Dringlichkeit, die sie dazu bewog, geradezu zu rennen. »Das hat dir gefallen, was? Ja, die Mutter des Vogts.«

Er schüttelte den Kopf. »Im selben Raum mit einem teilweise entkleideten Mann? Niemals.«

»Wie konnte jemand wie Lady Tirra je einen ehelichen Sohn zeugen?«, fragte Shamera mit einem Anflug von Verwunderung.

Dickon schüttelte abermals den Kopf. »Im Leben geschehen bisweilen so seltsame Dinge, dass nicht einmal der kühnste Barde wagen würde, sie in Liedform zu verarbeiten, weil er fürchten müsste, dafür ausgelacht zu werden.«

Sham warf einen Seitenblick auf das Gesicht des Dieners. »Dickon!«, rief sie überrascht. »Du kannst ja doch lächeln!«


In wahrer Lady-Shamera-Manier stieß sie Kerims Tür so schwungvoll auf, dass sie beinahe gegen die Wand prallte. Sie eilte zu dem Holztisch, auf dem Kerim mit dem Gesicht nach unten lag. Er bekam von ihrem Eintritt nichts mit, da der Kopf in seinen Armen vergraben ruhte – dem dreckigen kleinen Mann, der neben ihm stand, entging er dafür keineswegs.

Sein Mund klappte unschön auf und offenbarte mehrere geschwärzte Zähne. Er setzte dazu an, gegen ihr Hereinplatzen aufzubegehren, doch als er das sinnliche Wesen wahrnahm, als das die Mätresse des Vogts ihm erschien, breitete sich statt Widerstand ein Lächeln in seinen Zügen aus.

»Kerim!«, rief sie und berührte zart die nackten Schultern des Vogts. »Dickon hat zwar gesagt, dass du nicht gestört werden willst, aber ich wusste einfach, du würdest nichts dagegen haben, wenn ich dir erzähle, dass Lady Sky den interessantesten kleinen Hut …« Kerim drehte sich ihr zu, und Sham schäumte innerlich über den teilnahmslosen Ausdruck, mit dem er sie bedachte. Sie sah jedoch zu, sich das nicht anmerken zu lassen.

Mit gerunzelter Stirn wandte sie sich an den ›Heiler‹. »Du musst jetzt gehen. Ich muss mit Kerim reden, und ich mag es nicht, wenn Fremde meine Privatgespräche belauschen.«

Der Mann richtete sich voller Empörung, die seine Lüsternheit dann doch überwog, zu ganzer Größe auf. »Wisst Ihr eigentlich, wen Ihr vor Euch habt?«

»Nein«, gab sie zurück und stemmte die Hände in die Hüften. »Ist mir auch egal, solange du jetzt gehst.«

»Ihre Ladyschaft …«, begann der Mann.

»Dickon!«, rief Sham, die wusste, dass er angespannt auf dem Gang wartete, um den Schaden zu begutachten.

Die Tür öffnete sich, und der Diener mit der stets unverbindlichen Miene trat ein. Der ehemalige Soldat ließ keine Anzeichen von dem wilden Lauf durch die Feste erkennen.

»Bring ihn weg«, befahl Sham beiläufig. »Danach kannst du zurückkommen und seine Habseligkeiten beseitigen.«

»Ja, Herrin«, antwortete der Diener bemerkenswert gefasst, als er den aufbegehrenden Mann mit einem Griff packte, der von seinen alten Fähigkeiten zeugte. »Ich werde unverzüglich zurückkehren.«

Als er ging, eilte Sham hinüber und schloss die Tür hinter ihm.

»Miese, dreckige kleine Pestbeule«, murmelte sie in bösartigem Tonfall, wenngleich ihr die Umgebung genug Respekt einflößte, nicht noch wüstere Kraftausdrücke zu benutzen.

Sie wandte sich wieder dem harten Holztisch zu, auf dem der Vogt nach wie vor lag, und stellte fest, dass er das Gesicht auf die Arme gebettet hatte. Sham achtete sorgsam darauf, ihn nicht zu berühren, als sie seinen Rücken aufmerksam auf Schäden untersuchte. »Warum hast du ihn das machen lassen?«

Kerim setzte zu einem Schulterzucken an, dann grunzte er. »Es kann nicht schaden, und es macht meine Mutter glücklich.«

Sham brummte leise etwas Passendes über die Dummheit von Mannsbildern, insbesondere die cybellischer Männer. Unter der wunderschön braunen Haut zuckten seine von jahrelangen Kämpfen gestählten Muskeln und verkrampften sich. Dunkel gesprenkelte Blutergüsse verrieten ihr, dass Tirras Heiler die kleinen Holzklöppel verwendet hatte, die auf einem nahen Tisch lagen, aber sie sah keine Blasen, die auf eine Nutzung der Eisenstange hätten schließen lassen, die über einer großen Kerze erhitzt wurde.

Shamera ergriff einen der Klöppel und zeichnete die Unglücksrune darauf, die sie benutzt hatte, um Maur zu rächen. Sie wünschte, sie wäre mächtig genug, um dem Fluch ein weiteres Jahr hinzuzufügen, und musste lange hin und her überlegen, bevor sie sich dazu durchrang, das Zeichen zu ergänzen, das die Menge des Schadens begrenzte, den der Zauber verursachen konnte.

»Was machst du da?«, fragte der Vogt, dessen Stimme nur geringfügig rauer als sonst klang.

Shamera schaute auf und sah, dass er den Kopf gedreht hatte, um sie zu beobachten. Ebenso fiel ihr auf, dass er vor Schmerzen tunlichst darauf achtete, sonst nichts zu bewegen. Sie war versucht, die Begrenzung des Bannes doch wieder zu ändern.

»Das ist nur ein kleiner Bann«, erklärte sie in bestem Mätressentonfall. »Also, was diesen Hut angeht …«

Er lächelte – müde zwar, aber es war ein Lächeln. »Was diesen Zauber angeht …«

»Ich dachte, du hättest Zweifel an Magie.«

»Habe ich auch, aber ich habe es mir zum Grundsatz gemacht, nie eine Möglichkeit völlig auszuschließen. Was im Übrigen auch einer der Gründe ist, warum du jetzt hier überhaupt bist. Was diesen Zauber angeht …«, wiederholte er mit fester Stimme, und sein Lächeln wurde ein wenig gezwungen.

»Nur etwas, um diesen kleinen Wurm ein wenig zu beschäftigen …« Sham verstummte, als ihr ein vielversprechender Gedanke kam. »Ich frage mich, ob der Hai von ihm weiß. Ich muss ihn fragen.«

Kerim begann zu lachen, verstummte jedoch abrupt und biss die Zähne zusammen.

Dickon betrat leise den Raum. Aufgrund seines zufriedenen Gesichtsausdrucks und ein paar leichten Spuren von Rot an den Knöcheln seiner rechten Hand vermutete Shamera, dass er ein wenig seiner eigenen Form von Vergeltung geübt hatte.

Leise räusperte er sich, um Kerim seine Gegenwart anzuzeigen, bevor er sagte: »Der Heiler hat entschieden, in den Küchen zu warten, bis wir seine Habseligkeiten holen. Falls Ihr es vorzieht, Euch eine Weile auf dem Tisch auszuruhen, bevor wir versuchen, Euch zu bewegen, Herr – der Mann schien nicht in großer Eile zu sein.«

»Nein«, gab Kerim zurück und stemmte sich mit den Händen hoch, bis er aufrecht saß.

Dickon brachte ihm einen leichten Leibrock. Er war nicht warm genug, um ihn im Freien zu tragen, aber in einem Raum, in dem ein fröhliches Feuer knisterte und in dem Wandbehänge die Zugluft abhielten, schien er mehr als ausreichend zu sein. Das Gesicht des Vogts nahm sich gegen den dunkelblauen Satin des Leibrocks eher grau als braun aus, und die Linien um seinen Mund kamen deutlicher als sonst zur Geltung.

Shamera hatte hart daran gearbeitet, sich an niemanden zu binden; schon früh hatte sie gelernt, dass Menschen starben und es nur schlimmer schmerzte, wenn man zuließ, dass einem etwas an ihnen lag. Sie war geschickt darin geworden, sich hinter den Rollen zu verstecken, die sie spielte, sei es als Mätresse oder als gewiefte Diebin. Es gab nur zwei Menschen, die Sham als Freunde betrachtete, und einen davon hatte ein Dämon getötet. Der Vogt von Südwald war innerhalb von weniger als einer Woche in jenen erlesenen Kreis vorgestoßen, und Sham befürchtete sehr, dass er sogar zu mehr geworden sein könnte.

»Ich denke, wenn hier alles erledigt ist, unternehme ich einen Streifzug und schnüffle ein wenig herum, während die Leute am Hof noch damit beschäftigt sind, Klatsch zu verbreiten«, verkündete sie und konnte es plötzlich kaum erwarten, den Raum zu verlassen.

Der Vogt ließ sich auf seinem Stuhl nieder und nickte, als überstiege eine Unterhaltung seine Kräfte. Sham betätigte den Hebel, der die ›geheime‹ Tür in der Täfelung öffnete, und trat hindurch. Sie wollte die Öffnung gerade hinter sich verschließen, als sie bemerkte, dass Dickon die Habseligkeiten des Heilers zusammenpackte.

»Dickon«, warnte sie. »Achte darauf, diese Holzklöppel nicht lange in den Händen zu halten … und sorg dafür, dass der Heiler sie unbedingt zurückbekommt.«

Dickon betrachtete die Klöppel und beugte leicht die rechte Hand, als male er sich just aus, sie dem Heiler auf nicht allzu sanfte Weise zurückzugeben. »Ihr könnt Euch darauf verlassen.«


Wenngleich der Gang während des Tags von Kerzen schwach erhellt wurde, waren die meisten mittlerweile ausgebrannt. Sham beschwor ein Magierlicht, das ihr folgte. Es erschien ihr als höchst unwahrscheinlich, hier jemandem zu begegnen. Das stete bläulich weiße Licht spiegelte sich fröhlich funkelnd im polierten Boden, während sie ging. Ein kurzer Gang verlief das Zimmer des Vogts entlang zurück und endete an einer Steinwand. Sie ersparte es sich, diesen Weg einzuschlagen. Stattdessen trat sie einen Schritt dorthin, wo der Hauptgang nach rechts abzweigte. Geradeaus verlief ein schmaler Tunnel die Länge ihrer Gemächer entlang. Sie beschloss, zuerst dorthin zu gehen.

Da in diesem Bereich nur Dickon, der Vogt und sie wohnten, hatte sie diesen Weg erst einmal beschritten, während sie sich mit den Gängen anderswo in der Feste eingehender hatte vertraut machen können.

Neben der mit Angeln versehenen Täfelungsplatte, die sich zu ihrem Schlafzimmer hin öffnete, befand sich eine Reihe von Befestigungswinkeln, die ein Brett an der Wand hielten. In allen Gängen hatte Sham festgestellt, dass solche Halterungen Gucklöcher in die meisten Räume der Feste kennzeichneten. Ursprünglich dienten Bretter vor den Löchern dazu, dass die Beobachteten nicht auf etwaiges Licht aus dem jeweiligen Tunnel aufmerksam wurden. Da die Gänge nicht mehr geheim waren, besaßen die meisten Gucklöcher in die persönlichen Gemächer heutzutage eine dauerhafte Versiegelung.

Versuchsweise bewegte Sham das Brett, und es glitt mühelos in ihre Hand. Sie runzelte die Stirn, weil sie schon früher daran hätte denken sollen. Sie legte das Stück Holz zurück in die Halterungen und benutzte eine Befestigungsrune, um das Brett mit dem Loch zu verschweißen. Wenn sie länger als ein paar Wochen blieb, durfte sie nicht vergessen, den Zauber rechtzeitig zu erneuern. Zufrieden kehrte sie in den breiteren Gang zurück und setzte ihre Erkundung fort.

Das Guckloch in den Raum neben den Gemächern des Vogts offenbarte eine Art Versammlungszimmer, als Sham ihr Magierlicht durch die Öffnung sandte, um den Raum zu erhellen. Mehrere ungemütlich wirkende Stühle umgaben einen großen dunklen Tisch aus Eichenholz. Einen Platz hatte man freigelassen. Er hob sich durch die Einheitlichkeit der Abstände zwischen den anderen ab – die Lücke am Tisch war gerade breit genug für den Rollstuhl, den der Vogt benutzte. Da Sham nichts Bemerkenswertes entdeckte, wandte sie sich ab und durchquerte den Gang, um in den Raum neben dem ihren zu spähen.

Weiße Laken verhüllten die Möbel in der Kammer und schützten die kostbaren Stickereien der Stühle vor Staub, der sich durch mangelnde Nutzung unweigerlich ansammelte, ganz gleich, wie ordentlich geputzt wurde. Anhand der Formen der Tücher erkannte sie, dass die mit Musselin bedeckte Einrichtung ähnlich wie im letzten Raum angeordnet war, den sie sich angesehen hatte.

Sie rümpfte die Nase, als ein Luftstoß durch das kleine Loch wehte, und sie legte angesichts des Gestanks die Stirn in Falten.

»Bei den Gezeiten …«, fluchte sie leise und zwang sich, neben dem Guckloch tief einzuatmen.

Die Feste war seit langer Zeit besetzt, und alle Räume besaßen ihren eigenen Geruch. Das Zimmer des Vogts beispielsweise war beherrscht vom modrig-salzigen Aroma von Leder, Pferden und Metall, und ihre eigene Kammer duftete leicht nach Rosen, durchsetzt mit Rauch. Dieser Raum stank nach Schlachthaus.

Sie verstärkte die Kraft des Magierlichts und sandte es in die Nähe des Kronleuchters, um mehr erkennen zu können. Rings um einen großen Tisch standen fünfzehn Stühle mit hoher Rückenlehne, alle von weißen Tüchern verhangen. Mit Hilfe der besseren Beleuchtung stellte Sham fest, dass der Stuhl unmittelbar gegenüber der Tür ein wenig verrückt worden war. Durch die Staubschichten ließ es sich schwer belegen, aber es sah so aus, als ob der Stuhl der Tür statt dem Tisch zugewandt stand.

Mehr ließ sich durch das Guckloch nicht ausmachen. Shamera ging zur Tür im Gang. Die Hebel ließen sich einwandfrei bedienen, und die Täfelung glitt auf Schienen zurück und beiseite; genau wie bei der Tür zum Zimmer des Vogts. Die volle Wirkung des Gestanks erfasste sie, als sie die Tür öffnete, und sie musste schlucken, bevor sie eintrat.

Wieder verstärkte sie die Helligkeit des Lichts; nicht nur um besser zu sehen, sondern auch wegen des Gefühls etwas größerer Sicherheit, das damit einherging. Die merkwürdige Platzierung des Stuhls erschien ihr irgendwie bedeutungsvoll, und sie dachte daran, dass der Dämon seinem Muster entsprechend bereits vor mehreren Tagen hätte töten sollen – allerdings hatte man bislang keine Leiche gefunden.

Sie trat einen Schritt in den Raum und bemerkte erstmals, dass auf dem polierten Granitboden in der Nähe der Eichentür getrocknete Blutflecken prangten. Flach atmend umrundete Sham den Stuhl, bis sie davorstand. Von dort konnte sie weitere Blutflecken auf dem Boden sehen, die sich in Spritzmustern über andere Möbelstücke zogen und unter der Abdeckung des Stuhls vor ihr verschwanden. Zwischen der Tür und dem Stuhl befand sich ein größerer Fleck, wo so viel Blut geflossen war, dass es eine Lache gebildet hatte. Der ranzige Gestank der faulenden Flüssigkeit brachte sie zum Würgen.

Seltsamerweise erwies sich das Tuch, das den Stuhl verhüllte, als jungfräulich weiß, als hätte jemand absichtlich dafür gesorgt, dass es sauber blieb. Ein Leichentuch, dachte sie. Nicht dafür gedacht, den Körper zu verbergen, der sich deutlich darunter abzeichnete, sondern dafür, das arme Dienstmädchen zu verängstigen, das beim nächsten Putzen in dem Raum darauf stoßen würde.

Sie überwand sich, nach vorn auf den dunkel befleckten Boden in der Nähe des Stuhls zu treten. Da sie an dem Körper nicht mehr als unbedingt nötig verändern wollte, zog sie das Tuch behutsam davon ab und warf es auf den Tisch daneben.

Sham lebte schon lange in Fegfeuer. Der Anblick einer Leiche, ganz gleich, wie übel sie auch zugerichtet war, beunruhigte sie nicht … sehr. Es bedurfte keiner eingehenden Untersuchung des Toten vor ihr, um zu folgern, dass ihr einstiger Meister von derselben Kreatur getötet worden war wie dieser Mann. Dünne Schnitte überzogen die Haut, genau wie bei Maur.

Der Kopf war nach vorn gesackt, sodass die Gesichtszüge ihrem Blick verborgen waren. Die Aussichten darauf, dass sie den Mann erkennen würde, schätzte sie gering ein; dem Zustand des Leichnams nach war er ungefähr zu der Zeit getötet worden, als sie in die Feste gezogen war. Trotzdem musste sie nachsehen. Statt den Körper zu bewegen, kauerte sich Sham so tief nieder, dass sie nach oben ins Gesicht blicken konnte.

Als sie die geschundenen, vom Tod gräulich verfärbten Züge sah, musste sie schwer schlucken, um das Grauen zu überwinden, das ihr förmlich das Blut in den Adern gerinnen ließ. Dieser Mann war seit mindestens drei Tagen tot, eher länger. Im Tod zeigte sich Lord Ven nicht annähernd so gutaussehend wie bei ihrer letzten Begegnung – vor weniger als einer Stunde.


Der Vogt saß in seinem Stuhl vor dem Feuer, wo sie ihn zurückgelassen hatte; von Dickon fehlte jede Spur. Bei Shams unverhofftem Eintreten schaute er auf. Er wirkte so müde und erledigt, dass sie sich fragte, ob sie nicht Talbot suchen sollte.

»Was ist?«, fragte er, drehte den Stuhl leicht und schob ihn auf sie zu.

Shamera biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe eine Leiche im Zimmer neben meinem gefunden.«

Die Müdigkeit verschwand aus den Zügen Kerims und wurde von Erregung verdrängt. Sham erkannte, dass ihm Niedergeschlagenheit genauso sehr wie Erschöpfung und Schmerzen zu schaffen machten. Sie war nicht sicher, ob die Entdeckung der Leiche seines Halbbruders seiner Wehmütigkeit besonders zuträglich sein würde. Wortlos rollte er auf dem Weg zur Öffnung, die in den Durchgang führte, an ihr vorbei.

»Kerim?« Ihre Stimme klang vor Anspannung belegt.

Er hielt inne und sah sie fragend an. Shamera senkte kurz den Kopf, bevor sie seinem Blick begegnete. »Es ist Lord Ven.«

Sie bemerkte, wie flüchtig etwas in seinen Augen aufblitzte, bevor sein Gesichtsausdruck unlesbar und hart zu dem des kampferprobten Kriegers wurde. Er nickte und setzte den Weg durch die Tür zum Gang fort. Sham ergriff eine entzündete Kerze von einem nahen Tisch, denn das Magierlicht hatte sie gelöscht, bevor sie in Kerims Gemächer gekommen war. Sie folgte dem Vogt.

Sie hatte die Tür zu dem Raum angelehnt gelassen, und der Gestank strömte in den Tunnel heraus. Shamera hob die duftende Kerze näher an die Nase; es half nicht. Kerims Stuhl passte nur mit Mühe durch den schmalen Eingang; die Naben hinterließen tiefe Kerben im Holz, als er sich hindurchzwängte. Unmittelbar hinter der Öffnung hielt er inne.

»Halt die Kerze höher«, sagte er. Sein Tonfall ließ es mehr wie eine Bitte denn einen Befehl klingen.

Sham hob die Hand und ließ das flackernde Licht den Raum erhellen. Ihr fielen die gespenstischen Schatten auf. Sie tänzelten, als sich die Flamme am Docht bewegte, und sie war ausgesprochen dankbar dafür, die Leiche nicht im unruhigen Schein von Kerzenlicht gefunden zu haben. Kerim betrachtete den Anblick vor sich eingehend, bevor er weiterrollte, dann hielt er abermals inne und schaute auf die Abdrücke hinab, die Shams Füße im getrockneten Blut hinterlassen hatten.

»Das war ich«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. »Es gab keine Anzeichen darauf, dass vor mir jemand hier gewesen ist.«

Er nickte und umkreiste den Stuhl und die makabre Gestalt, die das Möbel beherbergte. Shamera beobachtete sein Gesicht und wusste, dass er auf das Muster des Blutes auf dem Boden achtete – die Lache hatte sich sehr gleichmäßig ausgebreitet. Lord Ven war im Stehen getötet und nach dem Eintritt des Todes zu dem Stuhl gebracht worden, wovon auch die Blutspur zeugte, die seine Absätze hinterlassen hatten. Am beunruhigendsten fand der Vogt offensichtlich die riesige Lache. Es gab keinerlei Male, die darauf hinwiesen, wo der Mörder gestanden haben mochte, kein einziges Anzeichen dafür, dass er Blut abbekommen hatte, das sonst auf den Boden getropft wäre, keine blutigen Abdrücke, die den Fluchtweg des Mörders kennzeichneten.

Sham ergriff das weiße Tuch vom Tisch und hielt es so, dass Kerim sehen konnte, was für einen makellosen Zustand es aufwies. »Damit war er verhüllt, als ich hereingekommen bin.«

Kerim runzelte die Stirn und berührte den Stoff, ohne ihn an sich zu nehmen. Er rieb ihn nur sachte zwischen seinen Fingern. Abermals betrachtete er die Flecken auf dem Boden und legte die Stirn in Falten.

»Jemand hat viel Mühe auf sich genommen, um diesen Mord merkwürdig erscheinen zu lassen«, merkte er an. Shamera erwiderte nichts darauf.

Schließlich schob er seinen Rollstuhl über den besudelten Boden und berührte das Gesicht seines Halbbruders, neigte dessen Antlitz nach oben. Shameras Kerze erhellte die hohen, fein geschnittenen Wangenknochen und die breite, gerade Nase, die beide Männer besaßen, bevor er den Kopf behutsam wieder auf die Brust sinken ließ.

Wortlos wischte sich Kerim die Hände an den Oberschenkeln ab – weniger um sie zu säubern, als vielmehr um einem aufgestauten Tatendrang Erleichterung zu verschaffen. Ohne Shamera anzusehen, ergriff er schließlich das Wort. »Mein Bruder ist seit drei oder vielleicht vier Tagen tot. In diesem Raum ist es kühl, daher ist es schwierig, es genau zu bestimmen.«

»Ja«, pflichtete Sham ihm mit tonloser Stimme bei.

»Ich habe heute Morgen mit ihm geredet.«

»Und ich vor einer Stunde«, erwiderte sie ruhig. »Er sagte, er hätte mir etwas Vertrauliches mitzuteilen, aber Dickon kam, um mich zu holen, bevor ich ihn begleiten konnte.«

»Der Dämon.« Kerim starrte auf die Leiche, ohne sie wirklich wahrzunehmen. In seiner Stimme schwang Überzeugung mit.

»Ich glaube schon, ja«, gab sie ihm recht.

»Ich dachte, ein Dämon könnte nur die Gestalt annehmen, die ihm sein Beschwörer zugedacht hat.« Sein Tonfall klang wieder unverbindlich: Sie vermochte nicht zu beurteilen, was er insgeheim dachte.

Sham zuckte mit den Schultern. »So habe ich es gehört – stimmt anscheinend nicht.«

»Also könnte es jeder sein. Er könnte nach Belieben bald die Gestalt des einen Menschen, bald die eines anderen annehmen.«

Hilflos schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß es nicht.«

»Komm mit«, forderte er sie kurz angebunden auf, als er aus dem Raum rollte, ohne auf das Knirschen zu achten, das der Stuhl ein zweites Mal verursachte, als er über den Rahmen schrammte. »Schließ die Täfelung hinter dir.«

Zurück in seiner Kammer, wartete sie darauf, dass er etwas sagte. Sie hatte das Gefühl, dass er unruhig auf und ab laufen würde, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Da er jedoch an den Stuhl gefesselt war, verlagerte er stattdessen immer wieder das Gewicht, während er ins Feuer starrte.

Plötzlich rollte er zurück und wirbelte herum, sodass er sie unmittelbar ansah. »Magie … Könntest du das auch? Die Gestalt von jemand anderem annehmen?«

Sham schluckte. Sie fand die teilnahmslose Miene des Vogts alles andere als ermutigend. »Nein. Mit sehr wenigen Ausnahmen sind Magier dazu nicht in der Lage. Zu Trugbannen schon. Aber einen Trugbann so gut aufrechtzuerhalten, um Leute zu täuschen, die den nachgeahmten Menschen kennen, das ist nicht möglich. Mein Meister galt einst als der bedeutendste Zauberer von Südwald, als der viert- oder fünftmächtigste der Welt, und er hätte es nicht vermocht. Vielleicht könnte es der Erzmagier, aber ich bezweifle, dass er es so lange könnte.«

»Du denkst also, der Dämon kann seine Gestalt verändern?«

»Es könnte noch eine andere Möglichkeit geben«, ließ Sham langsam durchklingen.

»Klär mich auf.« Diesmal klang es nicht wie eine Bitte, und sie schleuderte ihm einen garstigen Blick zu.

»Bitte denk daran, auch wenn der äußere Anschein etwas anderes besagt, ich bin nicht deine Mätresse«, fauchte sie.

Der Anflug eines Lächelns umspielte Kerims Augen, als er seinen Wunsch in neue Worte kleidete. »Ich bitte Euch, holde Lady, erleuchtet diese unwürdigen Ohren mit der anderen möglichen Erklärung.«

Sham rieb sich seufzend das Kinn und murmelte: »Ich schätze, das war gut genug.« Dann räusperte sie sich und sprach weiter. »Ich habe noch nie davon gehört, dass Dämonen ihr Erscheinungsbild nach Belieben verändern können. Auch wenn Dämonologie zugegebenermaßen keine bedeutende Rolle bei der Ausbildung von Magiern einnimmt, sollte man meinen, dass eine solche Fähigkeit Einzug in Volksmärchen gehalten hätte.«

Kerim brachte leise einen Einwand an: »Was immer das Erscheinungsbild meines Bruders angenommen hat, klingt auch wie er, bewegt sich wie er und bedient sich derselben Redewendungen wie er. Ich habe mich heute Morgen mit ihm über einen Vorfall in unserer Kindheit unterhalten, und er hat Einzelheiten hinzugefügt, die ich vergessen hatte.«

»Es besteht immer die Möglichkeit, dass der Dämon dazu in der Lage ist«, räumte sie ein, »nur hoffe ich das nicht. Obwohl die zweite Möglichkeit nicht viel besser ist. Der Mörder, sei es ein Dämon oder ein Mensch, könnte Zugriff auf einen seltenen Golem haben – der als Simulakrum bezeichnet wird.« Sham hatte an sich Cybellisch gesprochen, allerdings benutzte sie die südwäldischen Wörter für ›Golem‹ und ›Simulakrum‹, da es keine cybellische Entsprechung dafür gab.

»Was ist ein Golem?« Kerim wechselte so ansatzlos ins Südwäldische, dass Sham sich unweigerlich fragte, ob es ihm überhaupt bewusst war.

»Ein Golem ist eine beliebige, leblose Kreatur, die durch Magie belebt wird«, antwortete Sham in derselben Sprache. »Häufig werden Marionetten für solche Zwecke verwendet, da sie sich gut dazu eignen. Aber es geht auch alles andere.«

Sie sah sich im Raum um und zeigte auf ein sorgsam auf dem Tisch ausgebreitetes Kettenhemd. Zwecks dramatischer Wirkung sagte sie: »Ivek meharr votra, evahncey callenahardren!«

Das Kettenhemd raschelte und bauschte sich, als stecke ein Mensch darin. Mit einem unscheinbaren Anflug von Shams Magie richtete es sich auf die unteren Glieder auf. Es handelte sich nicht um das Kettenhemd, das Kerim in der Nacht der Geistebbe getragen hatte; die Glieder schienen schwerer zu sein, unter der Kraft eines Hiebes waren sie schwieriger zu verbiegen. An der rechten Schulter wies das Metall eine geringfügig andere Farbe auf, wo es geflickt worden war.

»Heutzutage werden Golems fast ausschließlich für Unterhaltungszwecke herangezogen«, erklärte Sham und bewirkte eine Verneigung des Kettenhemds, bevor sie es mit einem Geräusch, das an ein erleichtertes Seufzen erinnerte, auf den Tisch zurücksinken ließ. »Es ist schwierig, einen zu erschaffen, der groß oder vielschichtig genug ist, um etwas Nützliches zu vollbringen. Golems verfügen nicht über ein eigenes Gehirn, was bedeutet, der Zauberer muss jede einzelne Bewegung lenken.«

Kerim starrte das Kettenhemd immer noch an. »Ich bin nicht sicher, ob ich das je wieder anziehen kann.«

Sie grinste. »Aber dafür wurde es gemacht. Wenn du es nicht benutzt, verletzt du seine Gefühle.«

Er bedachte sie mit einem tiefschwarzen Blick, den das Funkeln von Gelächter in seinen Augen Lügen strafte. »Zurück zum Golem.«

»Ich hab dir ja schon von den verbotenen schwarzen Künsten erzählt, die verwendet werden, um einen Dämon zu beschwören«, fuhr Sham nüchtern fort. »Golems waren nicht immer so nutzlos. Es gibt mehrere Arten, die man erschaffen kann, wenn der Magier bereit ist, auf schwarze Magie zurückzugreifen.«

»Schwarze Magie erfordert die Verwendung von Opfern«, warf Kerim ein.

»Oder von menschlichen Körperteilen«, gab sie ihm recht. »Beim Erschaffen von Golems allerdings sind in der Regel Menschenopfer erforderlich – manchmal sogar mehrere. Beispielsweise im Fall eines Simulakrums. Es kann für eine gewisse Zeit die Erscheinungsform von jedem Wesen annehmen, das es tötet. Soweit ich weiß, gebärdet sich der Golem in dem Fall genauso wie der Mensch, den er gemeuchelt hat, sofern er nicht unter der unmittelbaren Herrschaft seines Meister steht.«

Sham verschränkte die Arme vor der Brust, tippte sich mit einem Finger an den Bizeps und überlegte kurz. »Ich meine, mich zu erinnern, dass manche Zauberer Golems erschufen, die ihre Dämonen benutzen konnten, wenn sie die Wünsche ihrer Meister erfüllten. Ich glaube, der Grund für diesen Zauber bestand darin, den eigentlichen Wirtskörper zu schonen – der viel schwieriger zu erschaffen ist als ein Golem.«

»Ich hätte geschworen, dass der Mann, mit dem ich heute Morgen sprach, mein Bruder war«, meinte Kerim leise, einige Sekunden nachdem sie zu sprechen aufgehört hatte. »Besteht die Möglichkeit, dass der Leichnam, den wir gefunden haben, nicht der meines Bruders ist, sondern ein sorgsam angefertigtes Ebenbild?«

»Wozu sollte das gut sein?«, gab Sham zurück. »Mir fallen etliche Gründe ein, warum ein Dämon die Gestalt deines Bruders annehmen könnte; aber keiner, warum er jemanden töten und wie Lord Ven aussehen lassen sollte. Aber wenn du möchtest, kann ich den Leichnam eingehender untersuchen.«

Kerim schüttelte den Kopf und drehte sich wieder dem Feuer zu. Das über seine Züge flackernde Licht brachte die Besorgnis zur Geltung, die sich in sein Gesicht eingegraben hatte. Kurz schloss er die Augen.

»Du hast keine Ahnung, wie man das aufhalten kann?« Er sprach Cybellisch, als fiele es ihm in seiner Muttersprache leichter, seine Gefühle zu verbergen.

Sham schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich stehe mit den Flüsterern in Verbindung, aber mehr kann ich nicht tun. Selbst wenn ich einen Magier fände, der etwas über Dämonologie weiß, wäre der nicht scharf darauf, es zuzugeben – immerhin ist das verbotene Magie. Jeder Zauberer, der solches Wissen anwendet, würde von der Magiergilde hingerichtet, wenn er nicht bereits davor von einer aufgebrachten Meute erwischt würde. Der Hai hat ein paar Zauberer, die gelegentlich für ihn arbeiten und etwas wissen könnten, allerdings bewahrt niemand Geheimnisse besser als ein Magier.«

»Kannst du den Dämon töten, wenn du ihn findest?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete sie wahrheitsgemäß.

»Also …«, meinte er schwermütig. »Wir haben eine Kreatur, die wir nicht aufspüren können und die Menschen aus einem unbekannten Grund tötet. Und falls wir diesem Wesen durch Zufall über den Weg laufen, wissen wir nicht, was wir tun können.«

»Etwas ist da noch«, bot sie zögerlich an. »Der Dämon weiß nicht, dass wir von Lord Vens Tod wissen.«

»Wenn wir die Leiche meines Bruders noch etwas länger verstecken, könnte es uns gelingen, der Kreatur eine Falle zu stellen«, gab der Vogt ihr so bereitwillig recht, dass Shamera auf Anhieb wusste, dass er denselben Einfall gehabt hatte. »Nur was hilft uns das, wenn wir keine Ahnung haben, wie wir den Dämon töten können?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Shamera. »Ich weiß es nicht.«

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