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Sham saß auf einer niedrigen Steinmauer in den Schatten einer Gasse und zog sich die Stiefel an. Hier in der Dunkelheit, die nicht vom Mondlicht erhellt wurde, strich ihr eine Brise vom Meer durch die Haare. Tief atmete sie die frische Luft ein.

Sogar das Meer roch im hügeligen Gebiet von Landsend anders. Die Eroberer aus Cybelle hatten so wie die Adeligen aus Südwald vor ihnen entschieden, sich fernab der Kais niederzulassen. In Fegfeuer, dem westlichen Elendsviertel, in dem Sham lebte, roch die Meeresluft nach totem Fisch, altem Unrat und Verzweiflung.

Sie stand auf und fuhr mit den Händen zart über die Seide ihrer Kuriertunika, um sich zu vergewissern, dass der schwarze und graue Stoff ordentlich saß. Zweimal musste sie die blickdichten Ärmel aufplustern, damit sie die ungewöhnlichen Ausbuchtungen nicht erkennen ließen, wo sie die Werkzeuge ihres Handwerks versteckte.

Es war noch früh im Winter, deshalb würde die Seide warm genug sein, wenn sie in Bewegung blieb, dennoch war sie froh, dass die Hose aus dickerem Stoff bestand. Nachdem sie ihre Kleider zusammengeschnürt hatte, verstaute sie das Bündel außer Sicht im niedrigen Geäst eines Baums, der den Garten hinter dem Haus eines wohlhabenden Händlers zierte.

Boten waren ein vertrauter Anblick auf den Straßen von Landsend, Südwalds Hauptstadt, sogar in der Düsternis des frühen Morgens. Das galt zwar nicht unbedingt für weibliche Boten, doch Sham besaß einen zierlichen Körperbau und ging daher auf den Straßen mühelos als Knabe durch – seit zwölf Jahren schon. Sogar der lange Zopf, der ihr bis auf den Rücken hing, wirkte nicht fehl am Platz. Die Männer Südwalds hatten erst unlängst begonnen, sich wie jene aus dem Osten, von denen sie erobert worden waren, die Haare zu stutzen.

Als sie die menschenleere, vom Mondlicht beschienene Straße entlangschritt, bemerkte sie einen Wachmann, der in der Nähe einer Querstraße stand und sie beobachtete.

Die Wächter der Oststadt unterschieden sich von jenen Fegfeuers so sehr wie der Geruch von Süßsalz von dem eines fauligen Fischs. Bei den meisten handelte es sich um die jüngeren Söhne cybellischer Händler und Kaufleute, nicht um die selbstherrlichen Strolche, die in den weniger wohlhabenden Gegenden der Ortschaft für Ruhe und Ordnung sorgten.

Der Wächter begegnete Shams Blick, und sie winkte ihm zu. Er antwortete mit einem Nicken und wartete, bis ihr Weg sie näher zu ihm führte.

»Ziemlich spät«, merkte er an.

Mit unterdrückter Belustigung fiel ihr auf, dass er noch jünger war, als sie gedacht hatte – und gelangweilt, wenn er mit einem bloßen Boten redete.

»Ziemlich früh«, erwiderte sie vergnügt auf Cybellisch und gab sich keine Mühe, ihren Südwald-Akzent zu verbergen. Aufgrund ihres hellblonden Haars konnte sie ohnehin nicht behaupten, von cybellischer Geburt zu sein – zumindest nicht, wenn sie es offen trug.

Er lächelte zustimmend, und sie setzte ihren Weg an ihm vorbei fort. Dabei achtete sie darauf, flott und in gerader Linie zu laufen, ohne nach links oder rechts zu schauen, bis sie mehrere Häuserblöcke hinter sich hatte.

Das Haus, nach dem sie suchte, befand sich am Ende eines Blocks, und Sham wartete, bis sie um die Ecke gebogen war, bevor sie es mit mehr als einem beiläufigen Blick bedachte. Die Hecke wuchs zu hoch, um das gesamte Gebäude zu erkennen. Doch zumindest im oberen Stockwerk gab es keine Anzeichen darauf, dass sich jemand im Haus aufhielt. Nachdem sich Sham vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, sank sie zu Boden und robbte unter dem Pflanzenwall hindurch, der ihr Ziel des Abends umgab.

Die tadellos gepflegte Rasenfläche erwies sich als winzig: Land galt in diesem Teil der Stadt als ungemein teuer. Das hohe Grün rings um das Grundstück hielt die schwache Beleuchtung von den Straßenfackeln sowie das etwas hellere Licht des Mondes fern. Kniend beobachtete Sham aufmerksam das dunkle Anwesen und achtete auf Bewegungen, die als Indiz dienten, dass sich jemand darin aufhielt.

Das dreigeschossige Gebäude war neuer als die es umgebende Hecke. Der Adelige aus dem Osten, den sie ausrauben wollte, hatte ein altes Herrenhaus erworben, abreißen lassen und in cybellischem Stil neu errichtet, sobald die Kampfhandlungen geendet hatten. Die unverglasten Fenster im zweiten und dritten Stock mochten im heißen, trockenen Klima von Cybelle nützlich sein, aber in Landsend wurde es trotz der südlichen Lage in den Wintermonaten feucht und frostig, weil die Meeresströmungen kaltes Wasser von der anderen Seite der Welt an die Gestade von Südwald beförderten.

Sham begrüßte den neuen Stil der Architektur aus ganzem Herzen; schließlich hatte sie nicht vor, in dem Haus zu leben. Die unverglasten Fenster würden ihre Aufgabe trotz der geschlossenen Läden erheblich einfacher gestalten, als es bei den verglasten, kleinen Fenstern des heimischen Stils der Fall gewesen wäre. Während sie das Gebäude beobachtete, wärmte sie sich die Hände am Körper. Die Nachtluft war kühl, und warme Hände hielten Dinge besser fest als kalte.

Laut ihrem Gewährsmann genossen die Besitzer dieses Hauses derzeit eine Woche in den heißen Wasserbecken einen Tagesritt von Landsend entfernt. Ein geschäftstüchtiger Cybeller hatte die verwaisten Gebäude dort übernommen und in einen Pilgertempel für Altis verwandelt, den Gott der Cybeller.

Die Cybeller glaubten nicht an die rastlosen Geister, die verantwortlich dafür waren, dass man die alte Siedlung aufgegeben hatte. Sie bezeichneten die Einheimischen als ›rückständig‹ und ›abergläubisch‹. Sham fragte sich, ob der Schutz durch Altis die Geister im Zaum halten konnte – und hoffte, dass dem nicht so sein würde.

Allerdings hatte sie nicht vor, darauf zu warten, dass die Geister der Heilbecken die Cybeller angriffen. Auf ihre eigene bescheidene Weise setzte sie den Krieg fort, der vor zwölf Jahren gegen die gottbesessenen Cybeller und ihre Verbündeten aus dem Osten verloren wurde, als die den Großen Sumpf überquert hatten, um die Welt zu erobern.

Sie begann die Außenwand zu ersteigen. Indem sie Halt fand, wo es keinen zu geben schien, zog sie sich die Mauern hoch. Sie verkeilte schwielige Finger und die harten, dünnen Sohlen ihrer kniehohen Stiefel in den engen Spalten, wo der Mörtel die Steinblöcke trennte, kletterte vorsichtig zu einem Fenster im zweiten Geschoss und setzte sich auf den schmalen Sims, um es eingehender zu untersuchen. Die vorstehende Leiste eines Flügels der Fensterläden verdeckte die Öffnung in der Mitte, um es einem Dieb schwieriger zu machen, den Riegel im Inneren zu öffnen.

Ihr Gewährsmann, der jüngere Bruder der einstigen Geliebten des Besitzers, hatte gesagt, dass die Holzläden mit einem einfachen Hakenriegel gesichert seien. Ein recht verbreiteter Verschluss, allerdings nicht die einzige Möglichkeit. Sham musste genau wissen, womit sie es zu tun hatte, um den Riegel öffnen zu können.

Sie schloss die Augen, legte einen Zeigefinger auf die Holzläden und murmelte einige Worte in einer Sprache, die seit Menschengedenken nicht mehr benutzt wurde. Die Läden waren zu dick, um das leise Klicken zu hören, als der Haken des Riegels gegen das Holz fiel, doch sie wusste, dass genau dies geschehen war, als sich die Flügel einen Spalt öffneten.

Sham rutschte auf eine Seite des Simses und benutzte die Fingerspitzen, um einen der Fensterläden aufzuziehen. Verstohlen betrat sie das Gebäude, zog den Laden hinter sich zu und hakte den Riegel wieder ein. Magie stellte ein nützliches Werkzeug für eine Diebin dar, vor allem, wenn ihre Opfer größtenteils nicht daran glaubten.

Sie stand in einem kleinen Wohnzimmer, in dem es nach Leinsamenöl und Wachs roch. Dank der geschlossenen Läden beherrschten Schatten den Raum. Ohne sich zu rühren, denn sie fürchtete, sie könnte etwas umstoßen, bezog sie Magie von einem Ort, der nicht ganz zu dieser Welt gehörte. Sie schob eine vertraute Barriere beiseite und löste nur ein kleines Stück, gerade genug für ihre Zwecke. Sham hielt es fest und brachte es in die gewünschte Form, benutzte Gesten und Worte, um es geschickt zu bearbeiten. An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit hätte sie die Gewänder eines Magiermeisters getragen.

Magie hatte sich für Sham von jeher so angefühlt, als hielte sie eine unglaubliche und eiskalte Substanz, die ihre Hände nichtsdestotrotz wärmte. Mit einer Geste, als schiebe sie etwas von sich, schleuderte sie die Magie fort und beobachtete ihren weiß glühenden Schein mit der Gabe eines Magiers. Falls sich doch jemand im Haus befand, würde sie es in Kürze erfahren. Als nichts geschah, nachdem sie bis zwanzig gezählt hatte, war sie überzeugt davon, dass sie tatsächlich allein war.

Das von ihr beschworene Magierlicht war matt, dennoch erhellte es ihren Weg durch die karg eingerichteten Gänge ausreichend. Sie wanderte durch das Gebäude, bis sie den Raum fand, den ihr der Junge als das Arbeitszimmer des Hausherrn beschrieben hatte.

Sham zog ein Goldstück aus einer ihrer Taschen hervor, murmelte der Münze etwas zu und warf sie dann hoch. Sie wirbelte durch die Luft und landete klirrend auf dem harten Boden. Die Münze drehte sich auf der Kante, bevor sie zum Liegen kam – hoffentlich direkt auf dem in den Boden eingelassenen Tresor, in dem der Herr des Hauses sein Gold verwahrte.

Sham zog ihr Magierlicht tiefer und untersuchte das Parkett eingehend. Im kühlen Lichtschein konnte sie ausmachen, dass eine Gruppe von Bodenplatten kaum merklich höher als der Rest aufragte. Zu offensichtlich, schalt sie den abwesenden Hausherrn in Gedanken. Überzeugt davon, den Tresor gefunden zu haben, begann sie, nach dem Hebel zu suchen, mit dem er sich öffnen ließ.

Unter dem Mahagonischreibtisch ragte eine der Holzplatten deutlich höher auf als die anderen ringsum. Sham versuchte draufzudrücken. Damit erzielte sie keine Wirkung, doch als sie sie anhob, gelang es ihr mühelos, die Platte hochzuziehen. Dabei ertönte ein Klicken, dem ein ganz ähnliches Geräusch vom Tresor her folgte.

Sham hob die lose Holzplatte an und spähte darunter. In der kleinen Vertiefung befanden sich mehrere Lederbeutel, die eine ordentliche Reihe neben einem Stapel Schmuckkästchen bildeten. Sie nahm einen der Säcke heraus und stellte fest, dass er voller Goldmünzen war. Mit einem zufriedenen Lächeln zählte sie dreiundzwanzig in einen Beutel, den sie unter ihrer Seidentunika trug. Als sie damit fertig war, stellte sie den Sack zu seinen Gefährten zurück und ordnete sie so an, dass sie genau wie vor Shams Zugriff aussahen.

Die Schmuckkästchen zu durchstöbern kam ihr nicht mal in den Sinn. Was nicht daran lag, dass sie etwas gegen Diebstahl hatte – immerhin verdiente sie sich damit ihren Lebensunterhalt. Aber in dieser Nacht trachtete sie nach Vergeltung, und dabei gab es keinen Platz für gewöhnlichen Raub. Nachdem sie den Tresor geschlossen hatte, setzte sie die Bodenplatte unter dem Schreibtisch wieder ein.

Damit verließ sie das Arbeitszimmer, um ihre Erkundung des Hauses fortzusetzen. Das Geld stellte nur ein Drittel der Gründe dar, weshalb sie in dieser Nacht hergekommen war.

Für ihre den Südwald gewohnten Augen sah das Haus eigenartig aus. Sie fand die Räume, die durch Vorhänge anstatt Türen abgeteilt waren, zu groß und schwierig zu heizen. Die Böden präsentierten sich kahl und poliert und nicht mit Binsen bestreut. Kein Wunder, dass die Bewohner ihre Häuser verließen, um sich in Dampfbädern zu aalen – verwunschen oder nicht. Die frostige Luft kroch durch dieses Gebäude, als handle es sich um eine jahrhundertealte, zugige Burg und nicht um ein neu errichtetes Herrenhaus.

Sie erklomm die hintere Treppe zum dritten Geschoss, wo sie eine Kinderstube, die Unterkünfte der Bediensteten und einen Lagerraum vorfand. Sham kehrte in den ersten Stock zurück und setzte ihre Suche fort. Dieser besondere Adelige sammelte Instrumente aller Art, und sie hatte von den Flüsterern gehört, dass er unlängst eines erworben hatte, das mehr war, als es zu sein schien.

Schließlich entdeckte sie neben der Haupttreppe das Musikzimmer, einen kleinen Raum, den eine große Harfe beherrschte, die in der Mitte stand. Mehrere andere sperrige Instrumente befanden sich auf Ständern, die kleineren hingegen verteilten sich über verschiedene Tische und Regale entlang der Wände.

Die Flöte, nach der sie suchte, ruhte unscheinbar auf einer Ablage neben einer Schoßharfe, als wäre sie nicht mehr als das kunstvoll gefertigte Instrument mit den acht Löchern, das sie zu sein schien. Das helle, geschnitzte Holz war mit kleinen Splittern eines blauen Halbedelsteins besetzt und sah so uralt aus, wie es das auch in Wirklichkeit war. Vielleicht war sie ein wenig abgenutzter, als Sham die Flöte in Erinnerung hatte. Mehrere Stückchen des Steins fehlten, und über eine Seite zog sich ein tiefer Kratzer. Dennoch wusste sie, dass es sich um die Flöte des Alten Mannes handelte: Die ihr innewohnende Magie war unverkennbar.

Sham schüttelte den Kopf darüber, wie ahnungslos man sein musste, um einen solchen Gegenstand in Reichweite eines jeden Menschen zu verwahren, der daran vorbeischlenderte. Es bildete einen Bestandteil der Magie der Flöte, dass sie all jene anzog, die in der Lage waren, ihre Macht zu nutzen. Dass dieses Haus noch stand, bewies, dass die Menschen aus dem Osten keine Magie in ihren Seelen hatten. Aus einer Eingebung heraus hob sie die Flöte an die Lippen und blies einmal kurz hinein. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als die misstönende Note gespenstisch durch das Haus hallte.

Sham fragte sich, ob der Adelige schon versucht hatte, auf dem Instrument zu spielen, und enttäuscht vom platten, leblosen Klang gewesen war. Sie blies erneut hinein und ließ den einzelnen Ton das leere Haus erfüllen. Die von der Flöte heraufbeschworene Magie brachte ihre Fingerspitzen zum Kribbeln, und der Ton schwoll an, bis er klar und satt klang.

Lächelnd löste sie das Instrument von den Lippen und hielt die Magie für einen Augenblick fest. Dann gab Sham sie ungeformt frei. Sie spürte, wie kurzzeitige Wärme ihr Gesicht streifte, bevor sie von dem kalten Raum verschluckt wurde.

Einmal hatte sie gehört, wie der Alte Mann mit wahrem Können auf der Flöte gespielt hatte. Allerdings hatte er sie selten hervorgeholt, da er zum gewöhnlichen Üben alltäglichere Instrumente bevorzugte. Bis sie vom Verkauf der Flöte erfuhr, hatte sie geglaubt, sie sei zusammen mit dem Rest seiner Habseligkeiten verbrannt, als die Cybeller die Feste eingenommen hatten.

Ehrfürchtig schob sie das Instrument in eine verborgene Tasche an der Innenseite des Ärmels ihres Unterhemds und vergewisserte sich, dass sich die Ausbuchtung von außen betrachtet nicht zu offensichtlich abzeichnete. Eine Aufgabe verblieb noch.

Die Huldstätten für Altis – die es im Haus jedes Menschen aus dem Osten gab – wurden für gewöhnlich in der Nähe des Eingangs errichtet, wo die allsehenden Augen die Bewohner beschützen konnten. Sham verzichtete darauf, den Rest des ersten Stockwerks zu erkunden, und huschte die Treppe hinab.

Den Altar fand sie noch schneller als zuvor das Musikzimmer. Am Fuß der Stufen befanden sich goldene Samtvorhänge. Die Bewegung des schweren Stoffes entfesselte eine Staubwolke, die sie in dem Heiligtum des Gottes der Menschen des Ostens zum Husten brachte.

Der Altarraum maß nicht mehr als ein großer Schrank und wurde von einem muffigen Geruch beherrscht. Ungeachtet der offensichtlichen Anzeichen für eine allenfalls spärliche Verwendung des Schreins wog dieser seinen Mangel an Größe durch schieren Pomp mehr als auf.

Gold und Edelsteine überzogen die hintere Wand als glitzerndes Mosaik und bildeten das Katzensymbol, das für den Gott Altis stand. Die als funkelnde Augen der Katze dienenden Smaragde beobachteten gleichgültig, wie Sham drei der Münzen, die sie zuvor gestohlen hatte, auf ihre Handfläche legte.

Als sie dies zum ersten Mal getan hatte, hatten ihr die Augen der Katze Angst eingejagt. Sie hatte damit gerechnet, gleich vom Blitz getroffen zu werden, als sie ihren Zauber wirkte, aber es war damals nichts geschehen und seither auch nie. Trotzdem konnte sie sich des kalten Schauders nicht erwehren, der ihr über den Rücken kroch. Wie ein Krieger, der auf dem Schlachtfeld dem Feind Anerkennung zollt, nickte sie den grünen Augen zu, die sie beobachteten, dann wandte sie sich ihrer Arbeit zu.

Mit Gold ließ sich am einfachsten von allen Metallen Magie wirken, deshalb brauchte sie nicht lange, um Altis’ Katze aus der Rückseite der Münzen zu schmelzen. Zwei der Münzen ließ sie leer, doch auf die dritte zeichnete sie eine Rune, die Pech in das Haus einlud.

Sie hielt die dritte Münze über den Stern an der Stirn der Katze und bedeckte die grünen Augen mit den anderen zwei, beraubte so die Katze der Sicht. Während sie mit den Daumen auf die Augen und mit den Zeigefingern auf den Stern drückte, murmelte sie leise etwas vor sich hin, bis die goldenen Münzen verschwanden und das Katzenmosaik scheinbar unverändert zurückblieb.

Sham trat zurück und rieb sich unbewusst die Hände. Die von ihr benutzte Runenmagie war nicht schwarz; jedenfalls nicht ganz. Aber man konnte sie auch nicht gerade als gut bezeichnen, und sie fühlte sich immer ein wenig unsauber, nachdem sie damit gearbeitet hatte.

Viel Schaden würde der Bann nicht anrichten – für richtiges Unglück benötigte man eine besonders schwierige Rune. Der Alte Mann hätte dennoch vermocht, die Wirkung mehrere Jahre lang andauern zu lassen. Das Beste, was Sham bisher geschafft hatte, waren zehn Monate; aber sie wurde besser.

Beim Gedanken an den Mann, der ihr Lehrmeister gewesen war, legte Sham widerwillig die Hände auf die unsichtbaren Münzen und begrenzte den körperlichen Schaden, den die Rune verursachen konnte, damit durch den Zauber niemand dauerhaft verletzt wurde. Da sie dies für ihn tat, musste sie sich auch an seine Regeln halten.

Sham hatte Jahre gebraucht, um herauszufinden, wer die Schöffen gewesen waren, die ihren Lehrmeister zu Finsternis und Schmerz für den Rest seiner Tage verurteilt hatten. Die Aufzeichnungen, die in den frühen Tagen der Besatzung geführt wurden, waren lückenhaft und selbst für den einfallsreichsten Dieb schwierig zu beschaffen. Der Alte Mann selbst wollte es ihr nicht sagen – er war ein sanftmütiger Mensch, der nichts von Vergeltung hielt.

Eines Nachts jedoch hatte er einen Namen hervorgestoßen, als er im Schlaf Dinge aus der Vergangenheit nacherlebte. Sham benutzte den Namen, um einen alten Gerichtsschreiber zu befragen. Von ihm erfuhr sie drei weitere Namen. Sie erkundigte sich bei anderen und bot Geld für Auskünfte, bis sie die Namen aller fünfzehn Mitglieder des Gerichts hatte, das einstimmig entschieden hatte, die Hände des Hexenmeisters zu verkrüppeln und ihn zu blenden. Die Cybeller, die den Magier des Königs kämpfen gesehen hatten, konnten ihren Unglauben an magische Kräfte nicht aufrechterhalten, und sie hatten aus blanker Angst zurückgeschlagen. Erst später, nachdem die Magier Südwalds gelernt hatten, sich zu verbergen, konnten die Menschen aus dem Osten die Zauberei wieder als Aberglauben und Einbildung abtun.

Hätte Sham die Namen der Peiniger des Alten Mannes von Anfang an gekannt, hätte sie zweifellos alle vernichtet, doch die Sanftmut des Alten Mannes hatte ihr Werk verrichtet. Bestimmt wäre er sogar über das bisschen aufgebracht, das ihr zu tun gelungen war – sollte er je davon erfahren.

Ihr genügte, dass sie sich eine Bezahlung von ihnen geholt hatte, wenngleich sie es vielleicht auch nie bemerkten. Das Pech, das diese Leute eine Zeit lang verfolgen würde, war nichts im Vergleich zu den Schmerzen, unter denen der Alte Mann für den Rest seines Lebens zu leiden haben würde. Die Betroffenen würden es letztlich einfach abschütteln und ihr Leben weiterführen, aber Sham würde wissen, dass sie bezahlt hatten.

Das Gold, das sie raubte, hielt sie gut versteckt, und schon bald würde sie über die Mittel verfügen, die sie brauchte, um ein kleines Gehöft auf dem Land zu kaufen. Der Alte Mann war im Gebiet der Felder des nördlichen Südwalds geboren und aufgewachsen, und er weilte nur notgedrungen in der Stadt. Er hatte ihr einen Grund zum Weiterleben gegeben, nachdem ihre Eltern getötet worden waren, als die Feste fiel. Das konnte sie ihm mit der unfreiwilligen Hilfe seiner Zerstörer zurückgeben.

Sie verließ das Herrenhaus durch die Vordertür und benutzte ihre Magie, um die Schlösser hinter sich zu verriegeln. Nachdem sie sich wieder unter der Hecke hindurchgezwängt hatte, vergewisserte sie sich, dass sich niemand auf der Straße befand, bevor sie den Schutz der Schatten endgültig verließ. Mit etwas Glück würde es Monate dauern, bis jemand den Diebstahl bemerkte. Sham hoffte, dass niemand einen armen, unschuldigen Diener beschuldigen würde, doch das war deren Angelegenheit, nicht ihre.

Diesmal winkte sie dem Wächter nur zu, als sie an ihm vorbeitrottete, und tat so, als wäre sie ganz darauf bedacht, so schnell wie möglich ihrem Auftraggeber eine Antwort zu überbringen. In einer Woche würde der Mann sich überhaupt nicht mehr an sie erinnern.

Sham holte ihr Kleiderbündel und hielt in der Gasse an, die den Rand der zwar inoffiziellen, aber gemeinhin bekannten Grenzen von Fegfeuer kennzeichnete. Rasch tauschte sie die kostspielige Seide gegen eine Baumwollhose, ein weites Hemd und ein fleckiges Lederwams; eine Kluft, die ihr Geschlecht wesentlich zuverlässiger verschleierte als die Botenaufmachung. Das Unterhemd mit den Taschen behielt sie an.

Für die meisten Menschen stellte es ein gefährliches Unterfangen dar, nachts durch Fegfeuer zu wandeln. Aber Shams Gesicht kannte man, und es galt als sicher, dass es Dieben Pech bescherte, einen Magier zu bestehlen. Das genügte zum Schutz vor Südwalds Einheimischen, die bereits mehr Pech hatten, als sie brauchten.

Wie der Rest der Menschen aus dem Osten, die nach dem ursprünglichen Angriff auf Südwald hergekommen waren, glaubten die cybellischen Gossenstrolche gemeinhin nicht an Magie. Aber sie wussten genug über Shams Geschick im Umgang mit Messer und Dolch, dass sie gar nicht erst versuchten, an ihre ohnehin bekanntermaßen leeren Taschen oder ihre Geldbörse zu kommen. Hätten sie gewusst, dass Sham eine Frau war, hätten sie es sich vielleicht anders überlegt.

Shamera lief eine Weile vor sich hin, um sich zu vergewissern, dass sie nicht verfolgt wurde, nickte unterwegs einem Bekannten beiläufig zu und tauschte mit einem anderen herzliche Beleidigungen aus. Als sie den Hang hinunter zu den alten Docks gelangte, benutzte sie ihre Magie, um Schatten um sich zu scharen, die ihren Körper vor zufälligen Blicken verbargen.

Ohne das stete Murmeln, das die Wellen für gewöhnlich sogar in ruhigsten Zeiten verursachten, lag eine eigenartige Stille über den Docks. Auf dem Meer herrschte gerade die Geistebbe, die einen etwa eine Meile breiten Streifen von nassem geröllübersäten Sand unterhalb der niedrigsten Klippenspitzen zurückließ. Die alltäglichen Gezeiten ließen den Wasserpegel bloß wenige Fuß an den Pfählen der Docks absinken und setzten nur die Spitzen der Klippen der Luft aus. Aber einmal im Monat legte die Geistebbe den fahlen Strand für ein Zehntel des Tages frei. In dem einen Monat geschah es nachts, in einem anderen tagsüber.

Die Stützpfeiler der Docks ragten hoch in die Luft und zeichneten sich gegen das Mondlicht ab. Die Seepocken, die das Holz überzogen, trockneten während der wenigen Stunden der Ebbe. Jahre des Salzwassers und der Gezeiten hatten den dicken Pfeilern zugesetzt, und durch Vernachlässigung strotzten die Stege vor fehlenden und morschen Bohlen.

Der Abfall der See übersäte den langen Streifen des Strands. Fässer und zerbrochener Unrat lagen zwischen gesprungenen Muscheln und den aufgedunsenen Überresten von Meeresbewohnern. Hin und wieder bekam man auch das geborstene Holz eines Schiffes zu sehen, das sich die See geholt hatte, bis es bei der nächsten Flut weggespült wurde. Einst, so hieß es, sei ein uralter, mit Gold beladener Kahn auf den von Seetang überzogenen Sand geschwemmt worden, und der König von Südwald habe das Edelmetall verwendet, um daraus die großen Pforten der Feste zu schmieden.

Man erzählte sich auch Geschichten von Toten, die den Strand entlangspukten und unter dem Knarren des trocknenden Holzes der Dockpfeiler nach ihren Angehörigen suchten. Darin verbarg sich genug Wahrheit, um nachts alle bis auf die verzweifeltesten Gossenplünderer fernzuhalten. Bei Tag bot sich der Sand des Geiststrandes als vielversprechendes Jagdgebiet für all jene an, die bereit waren, mit anderen Strolchen um die Schätze zu kämpfen, die das Meer zurückließ.

Als die westlichen Docks noch in Betrieb gewesen waren, hatte die riesige Glocke auf den Klippen geläutet, wenn das Wasser zurückzuweichen begann, und die wenigen Schiffe, die sich auf ein Wettrennen mit den Gezeiten eingelassen hatten, setzten hastig die Segel. Ihre Kapitäne konnten dann nur hoffen, nicht zu lange gewartet zu haben und gestrandet zu sein. Ihre Schiffe wurden zerstört, sobald die Flut einsetzte und ungewöhnlich heftige, allzu oft zerstörerische Wellen die Bucht binnen weniger Augenblicke zurückeroberten.

Manche behaupteten, es sei Magie, die bewirkte, dass eine so dramatische Ebbe das Wasser der Bucht fast vier Faden tief absinken ließ, doch der Alte Mann hatte es anders erklärt. Es hatte etwas mit dem Zusammentreffen von Tiefseeströmungen und den mächtigen Wellenbrechern zu tun, die diese Bucht von Landsend schützten, wie Sham sich erinnerte.

Es war lange her, seit die Glocke zuletzt geläutet hatte, denn die cybellischen Oberherren bevorzugten die seichte Bucht auf der Ostseite der Halbinsel, auf der Landsend lag. Ihnen widerstrebten die Gefahren der Geistebbe, und Fegfeuer, früher lediglich ein kleiner Makel in der Mitte der Stadt, hatte seinen aussätzigen Mantel rasch über die aufgegebenen westlichen Docks ausgebreitet. Die schwere Glocke hatte sich vor vielen Jahren aus ihrer Halterung gelöst, war im Meer gelandet und vom Sand verschluckt worden, aber der Rahmen, in dem sie gehangen hatte, stand immer noch.

In der Nähe der Docks ragten jetzt höhere Klippen auf, die wesentlich größer wirkten als während der gewöhnlichen Gezeiten. Sham bahnte sich den Weg durch die Felsen und legte sich schließlich auf den Bauch, um einen Vorsprung unter den Klippen zu erreichen.

Dort hing gut verborgen eine verrottete Leiter, die ihren Fortbestand eher Shams Magie als dem verbliebenen Zusammenhalt von Holz und Seil verdankte. Sham benutzte die Leiter, um die schleimüberzogenen Klippen fast ganz hinunterzuklettern. Von der letzten Sprosse hing sie an den Armen, bevor sie sich zwei Körperlängen tief auf den weichen Sand darunter hinabfallen ließ.

Prüfend ließ sie den Blick über den Strand wandern und hielt nach etwaigen Raubtieren Ausschau, die hier manchmal jagten. Allerdings herrschte im Schatten der Klippen solche Dunkelheit, dass sie ohnehin kaum etwas hätte erkennen können, bis es sie bereits erreicht hatte. Zwar war sie selbst noch nie auf jagende Wesen gestoßen, aber sie war oft genug über Stellen gestolpert, wo eindeutige Spuren zurückgeblieben waren.

Sie zog die Schatten enger um sich und fand schließlich den Eingang zu dem Höhlensystem, das die uralten Kalksteinfelsen zerklüftete, entstanden in unzähligen Jahren, während derer das Wasser auf die Felswand eingewirkt hatte.


»Was ist das?«, fragte sie und streckte sich, um die Finger auf die Ränder der Runen zu legen, die eine der Öffnungen kennzeichneten.

Maur, dessen kastanienbraunes Haar an den Schläfen ergraut war, lächelte auf sie herab. »Schutzbanne, Kind. Um Menschen fernzuhalten.«

Kurz dachte sie darüber nach. »Sie sind nicht vollständig, oder?«

Erfreut kauerte sich der Magier neben sie. »Wie würdest du sie fertigstellen?«

Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die Muster vor ihr und zeichnete eine Rune unter der letzten vorhandenen. Als sie fertig war, flammte Magie auf, und sie riss die Finger zurück. Die Öffnung verfestigte sich, bis sich Shamera einer Wand gegenübersah – dort wo zuvor eine Höhle gewesen ist.

»Gutes Mädchen«, meinte Maur lachend. Er stand auf, zerzauste ihr mit einer Hand die Haare und hob mit der anderen die Abwehrzauber auf.

»Wer hat sie hier angebracht, Meister?«, wollte sie wissen.

»Also, das ist eine hörenswerte Geschichte«, erwiderte er und ging in den Tunnel voraus. »Zum ersten Mal bin ich als junger Mann auf diese Höhle gestoßen. Hast du je die Geschichten über Gold-Jo gehört?«

Sie legte den Kopf schief und grinste. »Wer hat das nicht? Es gibt nicht viele Diebe, die so …« – hastig verwarf sie das Wort, das sie von den Männern ihres Vaters aufgeschnappt hatte, und ersetzte es durch ein weniger unanständiges – »… äh … unbesonnen sind, den König in seinen eigenen Gemächern zu berauben.« Sie verstummte und dachte darüber nach, was sie gerade gesagt hatte. »Hier hast du die verlorene Krone des Königs gefunden?«

Maur lächelte.

»Ich dachte, das hättest du mit Magie vollbracht.« Einen Augenblick lang war sie enttäuscht, zumal der Fund der Krone in ganz Südwald als Beweis für Maurs magische Kräfte angepriesen wurde.

»Magie«, erwiderte Maur und tippte auf die Runen, »Scharfsinn und ein wenig Glück sind immer mächtiger als Magie allein. Vergiss das nie. Außerdem fand ich die Reste von Gold-Jo neben der Krone; nach all den Jahren war nicht viel von ihm übrig. Es hat so ausgesehen, als hätte er sich zu viel Zeit dabei gelassen, die Krone einzulagern, und saß dann in der Höhle fest. Angesichts der Brandmale in der Höhle und seiner Knochen würde ich sagen, er hat zu teleportieren versucht und dabei mehr Magie angesammelt, als er bewältigen konnte – die Geistebbe kann in dieser Hinsicht manchmal eigenartig sein. Alles in allem ist es aber ein besserer Weg abzutreten, als zu verdursten.«

»Er hatte demnach Glück und verfügte über Magie«, meinte Sham langsam, »aber an Scharfsinn hat es ihm gefehlt, wenn er sich hier versehentlich eingeschlossen hat.«

Maur nickte. »Vergiss das nicht, Kind. Vertraue nie auf nur einen der drei Teile. Und halte dich nie zu lange in den Höhlen auf.«


Sobald sie den Eingang durchquert hatte und einige Schritte in die Höhle dahinter getreten war, beschwor sie ihr Magierlicht. In dessen Schein bahnte sie sich den Weg durch die feuchten Tunnel nach oben, bis sie die Flutmarke passierte. Die kleine Grotte, in der sie ihre Schätze verwahrte, lag deutlich höher als die höchste Marke, die das Wasser je erreicht hatte.

Sie legte die Münzen in dem geölten Lederbeutel zu dem beträchtlichen Haufen, der sich bereits angesammelt hatte. Auch andere Dinge befanden sich in der Höhle. Sham kniete sich hin und löste eines der Wachstücher, die ihre Schätze vor Feuchtigkeit schützten. Als sie damit fertig war, hielt sie einen kleinen Schemel in den Händen.


Große Füße in sauber gestopften, feuchten Wollsocken ruhten auf dem abgenutzten Schemel in der Nähe des Feuers im Arbeitszimmer ihres Vaters. Die Wärme ließ leichten Dampf von der Wolle aufsteigen, als ihr Vater mit den Zehen wackelte und den mit Krumen übersäten Holzteller beiseitelegte.

Sein blondes Haar, vom selben Farbton wie das ihre, wurde von einer roten Schleife des Lieblingskleids ihrer Mutter zurückgehalten. Sein Kettenhemd, das er nicht abgelegt hatte, galt als das beste seiner Art, wie es sich für den Hauptmann der Leibgarde des Königs geziemte. Über den Metallgliedern trug er einen weinrotfarbenen Waffenrock aus Samt; ein Ärmel zerrissen, wo ein Schwert den Stoff durchtrennt hatte. Unter dem Riss konnte sie den fleckigen Rand eines Verbands erkennen.

»Danke, Liebes, obwohl ich nicht damit gerechnet hätte, dich zu sehen. Ich dachte, der Hexer hätte dich mit Arbeit eingedeckt.«

Shamera grinste. »Maur hat mich heute von meinen Lehrlingspflichten entbunden, weil Mutter auf Verlangen des Königs dafür benötigt wird, die Damen des Hofs mit Zuckerbrot und Peitsche dazu zu bringen, sich zu benehmen.«

Ihr Vater lachte und schüttelte den Kopf. »Wenn jemand diese aufgescheuchten Hennen im Zaum halten kann, dann Talia. Während einer Belagerung gibt es nichts Schlimmeres als ein Rudel hilfloser Damen, die schnattern und …«

Seine Worte wurden durch einen Ruf des Gefechtshorns unterbrochen. Das Gesicht ihres Vaters erbleichte und nahm grimmige Züge an.

Er packte sie an den Schultern und stieß mit belegter Stimme hervor: »Du suchst dir einen sicheren Ort – einen der Tunnel, in denen die Kinder spielen – und gehst dort sofort hin! Hast du verstanden?«

Verängstigt durch die Furcht im Antlitz ihres Vaters nickte Shamera. »Was ist denn los?«

»Tu, was ich sage«, gab er herrisch zurück, zog die Stiefel an und griff nach seinen Waffen. »Geh und versteck dich, bis ich dich holen komme.«

Doch er war nie gekommen.


Behutsam wickelte Sham das Wachstuch wieder um den Schemel und stellte ihn beiseite. Das nächste Bündel, das sie auspackte, war erheblich größer – eine kleine, grob gearbeitete Truhe. Sie hob den Deckel hoch und gab so den Blick auf den Inhalt frei. Sham holte ein ausgebleichtes, scharlachrotes Band heraus, verschiedene Schmuckstücke, eine handflächengroße Glaskugel, die der Alte Mann benutzt hatte, damit seine Hände gelenkig blieben, und ein Kissen, feinsäuberlich mit Sternen und dem Mond bestickt – das Ergebnis ihres letzten Versuchs einer Näharbeit.

Unter dem Kissen befand sich eine weitere Holzkiste. Sham hob sie auf ihren Schoß und löste die Magie auf, die dafür sorgte, dass der Deckel geschlossen blieb. In der Kiste befanden sich mehrere Gegenstände, auf die sie im Zuge ihrer Tätigkeit als Diebin gestoßen war. Sie gehörten weder ihr noch dem Alten Mann, doch wie die Flöte verwahrte man sie besser außerhalb der Reichweite von Narren: eine Schale aus Gold und Porzellan, die jeden schleichend vergiften würde, der daraus aß, ein abgewetztes Armkettchen aus Silber, das seinen Träger vom Schlafen abhielt, und ähnliche Dinge. Sie setzte dazu an, die Flöte hineinzulegen, dann jedoch hielt sie inne.

Der Alte Mann besaß nichts aus der Zeit davor – nur die Flöte, die sie gerade in der Hand hielt. Das Gehöft würde warten müssen, bis sie das Geld beisammenhätte, aber die Flöte wollte sie ihm sofort geben. Sham steckte sie zurück in die verborgene Tasche. Dabei verspürte sie ein Aufflackern von Magie, das die Rückkehr der Flut ankündigte.

Sie zwang sich, das Siegel an der größeren Truhe sorgsam wieder anzubringen, doch kaum war sie damit fertig, wickelte sie hastig das Wachstuch darum und verließ die Grotte im Laufschritt. Schlitternd und rutschend raste sie durch die Tunnel hinaus zum Strand. Weit draußen konnte sie als Linie die weiße Gischt des zurückkehrenden Meeres erkennen.

Der Sand war weich vor Feuchtigkeit und sog an ihren fliehenden Füßen, brachte sie zum Stolpern und verlangsamte ihren Lauf. Das kurze Stück zur Leiter schien sich ewig hinzuziehen, und der Boden begann bereits zu zittern. Als sie an der Klippe unter der Leiter eintraf, konnte sie das Tosen des Meeres hören.

Die Seite der Klippe erwies sich als glitschig vor Nässe, und ohne den Strang aus Magie, der verhinderte, dass ihre Finger vom Fels abrutschten, hätte sie die Leiter nie erreicht.

»Magie«, stieß sie hervor, als sich ihre Hand um die unterste Sprosse der Leiter schloss, »und Glück als Ausgleich für mangelnden Scharfsinn – hoffe ich.«

Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren – sollte die Wand aus Wasser eintreffen, während sie sich noch auf der Leiter befand, würde sie gegen die Klippen geschmettert. Die Leiter erbebte unter der Wucht der zurückkehrenden Wassermassen, und Sham verstärkte ihre Bemühungen. Sie achtete nicht auf das Brennen der Muskeln ihrer Arme und Oberschenkel.

Der Wind schlug zuerst zu und schleuderte sie heftig gegen die harte Klippenwand. Sham erübrigte einen Blick über die Schulter zu dem auf sie zurasenden Wasser. Die weiß schäumende Masse ragte so hoch auf wie die Klippe, die sie erklomm, und rauschte schneller als ein Rennpferd über den Sand hinweg. Das Trommeln der Brandung glich dem Takt ihres Herzens. Sie konnte sich nicht gegen das breite Grinsen wehren, das ihre Lippen verzerrte, als sie hastig versuchte, außer Reichweite der Wellen zu klettern. Die Erregung, die das Wettrennen ums Überleben in ihr auslöste, half dabei, ihren Aufstieg zu beschleunigen.

Mit pochendem Herzen hievte sie sich auf den Gipfel der niedrigen Klippe, von der die Leiter nach unten führte. Dann drehte sie sich um und beobachtete, wie die mächtigen Wellen über die letzten Meter des Strands fegten. Der Lärm war gewaltig. Es wurde so laut, dass sie die Schwingungen in der Brust spürte, und sie atmete tief ein, um das Gefühl zu genießen.

Unwillkürlich sprang sie zurück, als das Meer mit einem hohlen Tosen, das den Boden erschütterte und Gischt hoch in die Luft spritzen ließ, gegen die Klippe brandete. Lachend zog sie den Kopf ein, um ihre Augen zu schützen. Das Salzwasser regnete ihr harmlos auf Haar und Schultern, als die Wellen zurückschwappten und erneut heranrollten.

Magie wirbelte über ihr und brachte Shams Herz vor Freude zum Jauchzen. Sie wurde vom Ozean selbst geformt und heraufbeschworen, und kein menschlicher Magier wäre in der Lage gewesen, ihre Macht zu verwenden, um daraus Banne zu bilden – aber Sham konnte sie fühlen und weidete sich an ihrer Herrlichkeit.

Sie war nicht sicher, was sie bewog, sich von den Wellen abzuwenden, aber sie erstarrte, als sie sah, dass noch jemand beobachtete, wie sich das Wasser an den Klippen brach. Der Mann hatte sie noch nicht bemerkt, da sie auf dem verborgenen Vorsprung unterhalb seiner Position kauerte. Das ohrenbetäubende Tosen der Brandung hatte jegliche Geräusche ihres fluchtartigen Aufstiegs übertönt. Wenn sie blieb, wo sie war, konnte sie wahrscheinlich verhindern, dass er überhaupt auf sie aufmerksam wurde. Doch die Magie des Wassers ließ sie unbesonnen werden. Sie schob sich weiter zum Rand des Vorsprungs und gestattete sich einen genaueren Blick auf den Reiter, der es wagte, Fegfeuer bei Nacht zu trotzen, um die Geistebbe zu sehen.

Im Gegensatz zu Sham befand sich der Mann auf offenem Gelände und zeichnete sich deutlich im silbrigen Mondlicht ab. Ein cybellischer Krieger, so glaubte sie, ausgestattet mit Waffenrock, Schwert und einem Schlachtross.

Für einen verwirrenden Atemzug schnürte ihr blankes Grauen die Luft ab, während sie ihn aus den Schatten anstarrte und keinen einzelnen Mann sah, sondern die blutigen Krieger, die einst die Feste eingenommen hatten. In dieser Nacht schien ihr die Vergangenheit zu nahe zu kommen. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und ließ die Hände über die verschiedenen, an ihrem Körper versteckten Waffen wandern. Solchermaßen beruhigt warf sie einen genaueren Blick auf den Mann.

Das Kettenhemd, das an den Handgelenken und am Kragen unter dem Waffenrock hervorragte, war von höchster Güte. Die Glieder wirkten so fein, dass sie aus Stoff statt aus Metall gefertigt zu sein schienen. Der Waffenrock selbst wies eine dunklere Farbe auf. Der Mann stand leicht von Sham abgewandt, weshalb sie nicht erkennen konnte, welches Wappen er vorne trug. Ein wohlhabender Krieger also – und ein Narr.

Es war lange her, seit sie die Tochter des Hauptmanns der Wächter der Feste gewesen war, aber nicht so lang, dass sie vergessen hätte, wie man ein Pferd beurteilt. Sie ließ einen geübten Blick über dieses Tier wandern: ein edles Ross, von den geblähten Nüstern bis hin zu den langen, dunklen Haaren, die von den Knien zu den Hufen die Beine bedeckten. Nur ein Narr würde ein so offenkundig wertvolles Tier nachts durch Fegfeuer führen.

Der Hengst schnaubte und tänzelte zur Seite, als ihm der Geruch der salzigen Luft in die Nase stieg. Er verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiß darin zu sehen war, und schüttelte wild die nasse Mähne. Dem Drang, verborgen zu bleiben, gab Sham nicht nach. Der Krieger verkörperte hier den Außenseiter, es gab für sie keinen Grund, unbemerkt bleiben zu müssen.

Auf ein nahezu unsichtbares Zeichen des Reiters wirbelte das Pferd auf den Hinterbeinen herum, als der Mann Ausschau nach der Ursache für das Unbehagen des Tieres hielt. Der Hengst prustete feucht und ungeduldig und drehte sich einmal vollständig im Kreis, wodurch Sham das Wappen des Mannes endlich sehen konnte.

Beim Anblick des in die Seide gestickten silbernen und goldenen Leoparden stieß sie einen leisen Pfiff aus und berichtigte ihre Einschätzung des Mannes. Ein wohlhabender Krieger war er durchaus, aber kein Narr. Selbst die wackerste Gruppe von Strolchen würde es sich zweimal überlegen, den Leoparden von Altis anzugreifen, den Vogt von Südwald.

Lord Kerim, genannt der Leopard, herrschte über den Großteil von Südwald, und das im Namen der Stimme von Altis und des cybellischen Bunds, über den die Stimme den Vorsitz hatte. Bereits im zarten Alter von achtzehn hatte der Leopard eine Elitekampfeinheit, als Vorausabteilung des Einmarsches, durch den Großen Sumpf und einen beträchtlichen Abschnitt der Gebiete zwischen dem Sumpf und dem Westmeer geführt. Die Menschen redeten immer noch im Flüsterton über die Gerissenheit und das Können, die er dabei unter Beweis gestellt hatte.

Vor acht Jahren, als die Cybeller die Aufstände in Südwald so gut wie vollkommen niedergeschlagen hatten, hatte die Stimme von Altis Kerim dazu aufgerufen, ihr Vogt zu werden, verantwortlich allein dem Propheten höchstpersönlich gegenüber.

Kerim war weniger als ein Vierteljahrhundert alt gewesen, als er die Herrschaft über Südwald übernahm und daraus wieder ein blühendes Land formte. Mit einer Mischung aus Bestechung und Nötigung hatte er die Adeligen Südwalds und die Cybeller dazu gebracht, miteinander zusammenzuarbeiten – auf Gewalt musste er dabei nur ein- oder zweimal zurückgreifen.

Ob als Staatsmann oder Krieger, es gab sehr wenige Menschen, die sich mit dem Leoparden angelegt hätten, ohne es sich zuvor sehr gründlich zu überlegen. Sham hatte gerade entschieden, doch zu versuchen, unbemerkt zu entkommen, als sein Blick dem ihren begegnete.

»Ich sehe gern dabei zu, wenn die Nippflut einsetzt«, sagte er auf Südwäldisch. Fast ein Jahrzehnt in Südwald hatte den abgehackten Akzent, den Cybeller in der Regel in die Sprache einbrachten, so sehr abgeschwächt, dass man ihn ohne Weiteres für einen Einheimischen hätte halten können.

Sham wartete einen Augenblick, ohne sich zu rühren, überrascht von dem vom Vogt angeschlagenen geselligen Tonfall – immerhin sprach er mit einem derb gekleideten, nassen Gossenkind. Als sie schließlich befand, dass es sicher genug sei, kletterte sie die Felsen hinauf, bis sie sich auf einer Höhe mit ihm befand. Dabei kam ihr der Gedanke, dass dies eine vermutlich nie wiederkehrende Gelegenheit darstellte, den Cybeller anzugreifen. Sie sah den Vogt an und erinnerte sich an die Toten, die das Gelände der Feste übersät hatten, nachdem sie von den eindringenden Streitkräften eingenommen worden war. Unauffällig ließ sie die Hand zu dem an ihrem Unterarm befestigten, schmalen Dolch wandern.

Doch nicht nur die Vermutung, dass er durch und durch in der Lage sein würde, sich gegen einen solchen Angriff zu verteidigen, sorgte dafür, dass die Klinge blieb, wo sie war. Es lag auch an der Traurigkeit in seinen Augen und an den gequälten Linien um seine angespannte Kieferpartie – das helle Mondlicht brachte beides deutlich zur Geltung.

Einbildung, dachte sie verärgert bei sich, als sich der Winkel seines Kopfes änderte und Schatten seine Züge verbargen; doch der Eindruck blieb. Resignierend schüttelte sie den Kopf – wie ihr schon zuvor aufgefallen war, färbte die Sanftmut des Alten Mannes auf sie ab. Der Leopard war nicht bei der Armee gewesen, die in die Feste eingedrungen war, und Sham trug nicht genug Hass in sich, um jemanden zu töten, der ihr nichts getan hatte – auch wenn es sich um einen Altis anbetenden Cybeller handelte.

»Die Geistebbe ist schon beeindruckend«, gab sie ihm in unverbindlichem Tonfall und derselben Sprache recht, die er benutzt hatte, »aber wohl kaum wert, sich alleine durch Fegfeuer zu wagen.« Ihr Tonfall mochte unverbindlich sein, doch ihre Worte zeugten nicht von der Achtung, die er von anderen gewohnt sein musste.

Der Vogt zuckte nur mit den Schultern und wandte den Blick wieder den schaumgekrönten Wellen zu. »Manchmal werde ich der Menschen überdrüssig. Ich sah keine wirkliche Notwendigkeit dafür, eine Begleitgarde mitzubringen. Die meisten Bewohner hier stellen kaum eine Bedrohung für einen bewaffneten Reiter dar.«

Sham zog eine Augenbraue hoch und schnaubte in Richtung seines Profils; sie fühlte sich ein wenig beleidigt. »Typisch für einen hochmütigen Cybeller«, merkte sie an und beschloss, so weiterzumachen, wie sie begonnen hatte. Zu sehr widerstrebte es ihr, mehr als unbedingt notwendig zu katzbuckeln. »Nur weil du das behauptest, stimmt es noch lange nicht. Schakale reisen in Rudeln, und zusammen können sie einem Beutetier die Gedärme herausreißen, das viele Male so groß und stark wie ein Einzelner ist.«

Er drehte ihr das Gesicht wieder zu und bedachte sie mit einem Grinsen, das überraschend knabenhaft wirkte. »Schakale sind bloße Aasfresser.«

Shamera nickte. »Und nichtsdestotrotz wild. Bring ihnen nächstes Mal lieber nicht so viel Verachtung entgegen. Dein Pferd könnte jeden Halsabschneider in der Stadt ein Jahr lang ernähren.«

Er lächelte und tätschelte liebevoll den kräftigen Hals des Tieres. »Nur wenn es ihnen gelänge, es zu töten, und wenn sie beschlössen, es zu essen. Es würde ihnen nicht gelingen, es lange genug festzuhalten, um es zu verkaufen.«

»Zu deinem Leidwesen würden sie das aber nicht wissen, bis sie es versuchten.« Unwillkürlich ließ der Herrscher von Südwald Sham neugierig werden. Sie war noch nie einem Adeligen begegnet, ob aus Cybelle oder Südwald, der sich nicht beleidigt gefühlt hätte, wenn ihm jemand widersprach, der im besten Fall ein Bürgerlicher und wahrscheinlicher noch ein Verbrecher war.

»Warum bist du so besorgt um mein Los, Junge?«, fragte Kerim in mildem Tonfall.

»Bin ich nicht.« Sham grinste vergnügt und schauderte, als die Brise ihre nasse Kleidung erfasste. »Ich bin bloß besorgt um unseren Ruf. Wenn sich herumspricht, dass du Fegfeuer ohne einen Kratzer durchquert hast, wird jeder denken, er könnte dasselbe tun. Obwohl«, fügte sie nachdenklich hinzu, »das vielleicht gar nicht so schlecht wäre. Ein paar auszunehmende Adelige könnten die Wirtschaftslage in der Gegend verbessern.«

Das Geräusch einer weiteren gegen die Felsen krachenden mächtigen Woge lenkte Kerims Aufmerksamkeit wieder auf das Meer, und Sham nützte die Gelegenheit, um den Herrscher über Südwald genau zu mustern; nun, da sie wusste, wer er war.

Obwohl sein Spitzname ›Leopard‹ lautete, hatte er wenig Katzenhaftes an sich. Da er auf seinem Pferd saß, ließ sich seine Größe schwer schätzen, doch er hatte einen Körperbau wie ein Stier – ungewöhnlich breite Schultern, vollgepackt mit Muskeln. Sogar seine Hände sahen kräftig aus – einer seiner Finger war größer als zwei von Sham. Wie bei seinem Pferd verschleierte die düstere Nacht auch die wahre Farbe seiner Haare, aber sie hatte gehört, dass sie dunkelbraun waren, wie die der meisten Cybeller. Seine Züge – Mund, Nase und Kieferpartie – präsentierten sich so breit wie sein Körper.


Während Kerim über das aufgewühlte Wasser starrte, wunderte er sich über seine Offenheit gegenüber diesem Südwaldjungen, der sich so unübersehbar unbeeindruckt von seinem Vogt zeigte. Derart freizügig hatte er sich mit niemandem mehr unterhalten, seit er das Militär aufgegeben und die Herrschaft über Südwald für den Propheten übernommen hatte. Die Einzige, die es wagte, ihn so zu schelten wie dieser Junge, war seine Mutter. Und der Junge tat es wenigstens ohne ihre Boshaftigkeit – wenngleich Kerim die anfängliche Handbewegung des Burschen hin zu seiner Armscheide keineswegs entgangen war. Auch den vornehmen Akzent des Jungen hatte er bemerkt, und er fragte sich, welcher Adelige aus Südwald einen Sohn haben mochte, der sich nachts in Fegfeuer herumtrieb.

Die Neuartigkeit eines solchen Gesprächs lenkte ihn vorübergehend von dem vertrauten Krampf der Muskeln in seinem Kreuz ab. Bald, so fürchtete er, würde er das Reiten völlig aufgeben müssen. Brandmal verwirrte es zunehmend, wie häufig und linkisch sein Reiter im Sattel das Gewicht verlagerte.

Der Leopard wandte sich vom Meer ab, doch der Junge war verschwunden. Kerim blieb allein mit einem Feind zurück, den er mehr fürchtete als alle Gegner, gegen die er je in die Schlacht gezogen war. Er wusste nicht, wie er gegen die lähmenden Krämpfe in seinem Rücken oder gegen die noch beunruhigendere Taubheit kämpfen sollte, die von seinen Füßen stetig höher kroch.


Sham ging mit schnellen Schritten durch die schmalen Straßen, um sich warm zu halten. Die Hütte, die sie für den Alten Mann gefunden hatte, lag in der Nähe der Ausläufer von Fegfeuer, in einem Gebiet, wo sich die Stadtgarde noch hinwagte. Die Unterkunft war alt und klein, grob zusammengeschustert, aber sie hielt den Regen und den ab und zu fallenden Schnee ab.

Sham wohnte nicht dort mit ihm, obwohl sie ihre unredlich erlangten Einkünfte benutzt hatte, um das Haus zu kaufen. Die Flüsterer sorgten mit ihrem Schutz für seine Sicherheit, und Sham war den Gardisten in Fegfeuer als Diebin wohlbekannt. Ihre Gegenwart hätte höchstens bewirkt, dass sie den hart erkauften Frieden des Alten Mannes störte, also besuchte sie ihn nur hin und wieder.

Der Alte Mann fand sich damit genauso ab, wie er sich mit der von ihr gewählten Arbeit abgefunden hatte. Die sich in Fegfeuer bietenden Beschäftigungsmöglichkeiten waren begrenzt und neigten dazu, Leben zu verkürzen. Aber gute Diebe lebten länger als schlechte und länger als Bandenmitglieder.

Sham verlangsamte die Schritte, als der Mangel an Unrat auf den Straßen darauf hinwies, dass sie sich der Hütte des Alten Mannes näherte. Sie wollte nicht außer Atem bei ihm eintreffen – der Alte Mann machte sich Sorgen, wenn er glaubte, sie sei mit knapper Not Verfolgern entronnen.

Es war die in Fegfeuer zum Überleben notwendige besondere Aufmerksamkeit, die sie erkennen ließ, dass irgendetwas nicht stimmte. In der Straße, in der die Hütte des Alten Mannes stand, fehlte all das unscheinbare Treiben in den Schatten, das sogar zu den besseren Gegenden gehörte. Irgendetwas hatte bewirkt, dass sich die zähen kleinen Bewohner in ihre Löcher verkrochen hatten.

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