15

Als sie von ihrem Gespräch mit Halvok zurückkehrte, hatte Kerim in seinem Zimmer Elsic, Dickon und Talbot versammelt.

»Lord Halvok glaubt nicht, dass es klappen wird«, berichtete sie unbekümmert, »aber ihm fällt auch nichts Besseres ein, deshalb hat er seine Hilfe zugesagt. Talbot, du musst mich morgen früh zur Schneiderin begleiten, wenn du so nett wärst.«

»Natürlich, Mädel.«

»Elsic, deine Hilfe brauche ich auch.«

»Was immer ich tun kann«, erwiderte er, wenngleich ihn offensichtlich überraschte, dass er zu etwas nütze sein sollte.

»Wir haben die Möglichkeit, dass Sky nicht der Dämon ist, noch nicht gänzlich ausgeschlossen«, meldete sich Kerim langsam zu Wort. »Falls sie es nicht ist: Wird sie durch das, was du vorhast, verletzt?«

»Nicht körperlich«, antwortete Shamera nach kurzer Überlegung. »Wenn sie menschlich ist, wird es sie höchstens erschrecken.«

Er dachte darüber nach. »Ich vermute, wir haben wohl keine andere Wahl.«


»Warum gerade ich als Begleitung?«, fragte Talbot, als sie durch den morgendlichen Verkehr ritten.

»Ich brauche dich, wenn wir nach Fegfeuer gehen«, erwiderte Sham und wich geschickt einem überladenen Wagen aus.

»Fegfeuer?«

Sie grinste. »Ich brauche auch den Hai.«

Sham verlagerte das Gewicht, und ihre kleine Stute hielt vor dem Laden der Schneiderin an. Talbot tat es ihr gleich und half ihr aus dem ungewohnten Damensattel. Dann holte er eine Münze aus seiner Geldbörse hervor und reichte das Kupferstück und die Zügel beider Pferde einem der Jungen, die auf der Suche nach Gelegenheitsarbeiten durch die Straßen streunten.

Sham hakte sich bei Talbot ein und ließ sich von ihm in den Laden der Schneiderin führen.

Das Garn zu erwerben nahm einige Zeit in Anspruch. Die Schneiderin musste erst überredet werden, bevor sie einwilligte, Sham ihren gesamten Vorrat an Goldgarn zu verkaufen. Es dauerte eine Weile, bis der Goldschmied Nachschub liefern konnte, und die Schneiderin hatte Kleiderbestellungen, für die sie das Garn brauchte. Erst Kerims Brief, der seiner Mätresse unbegrenzte Ausgaben zusicherte, überzeugte die Schneiderin davon, sich zu fügen.


Sie erregten eine Menge Aufmerksamkeit, als sie sich nach Fegfeuer hineinwagten. Sham hatte mit dem Gedanken gespielt, ihre Anwesenheit zu verbergen, letztendlich hielt sie es jedoch für unwahrscheinlich, dass sich Lady Sky die Mühe gemacht hatte, Spitzel anzuheuern. Sie hätte in die Feste zurückkehren und sich wieder in Sham, die Diebin verwandeln können, aber das silbergesprenkelte Seidenkleid – das in kostspieliger Vollkommenheit zu ihrem Pferd passte – würde sich vielleicht noch als nützlich erweisen.

Sie kannte die Verstecke des Hais und hoffte, ihn zu finden, bevor es jemand in der Erwartung einer vollen Geldbörse wagte, sich mit Talbot anzulegen. Und tatsächlich, als sie um eine Ecke bogen, wartete der Hai bereits im Schatten eines löchrigen Vordachs.

Eindringlich sah er eine dreckige Gestalt an, die Shamera und Talbot seit mehreren Minuten verfolgt hatte. Als der Schleicher die Aufmerksamkeit bemerkte, machte er auf dem Absatz kehrt und eilte in die entgegengesetzte Richtung davon.

»Gehen die Geschäfte schlecht, Sham?«

Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich finde ich, dass ich ziemlich erfolgreich geworden bin.«

Der Hai zog die Augenbrauen hoch. »Ach ja?«

»Ich werde dafür bezahlt, nicht zu stehlen. Ich glaube, du hast mir gesagt, dass man weiß, man ist auf seinem Gebiet erfolgreich geworden, wenn man von Leuten dafür bezahlt wird, seiner Tätigkeit nicht nachzugehen.«

»Willkommen im Reich des Erfolgs«, sagte der Hai und schloss ganz Fegfeuer in eine ausholende Geste ein.

»Ich muss mit Tallow reden.«

Der Hai schüttelte den Kopf. »Daraus wird nichts. Ihm wurde vor fünf, vielleicht sechs Tagen die Kehle aufgeschlitzt.«

»Wer beherrscht dann das Gebiet um die Klippen, wo früher der alte Glockenturm stand?«, fragte sie.

Er kratzte sich am Ohr und schürzte offensichtlich überfragt die Lippen. Sham seufzte genervt.

Talbot grinste. »Er sieht dümmer als ein gestrandeter Dorsch aus. Meinst du, ein wenig Gold könnte gegen diesen Gesichtsausdruck Abhilfe schaffen?«

»Nichts«, entgegnete Sham, »würde dagegen etwas ausrichten. Aber es könnte ihn zum Reden bringen.«

Der Hai bleckte die weißen Zähne. »Aber, aber, Sham, du weißt, du liebst mich – und Geschäft ist Geschäft.«

»Etwa so sehr, wie ich die Pest liebe«, murmelte sie.

Der Hai lachte und fing mühelos das Gold auf, das Talbot ihm zuwarf. Er gab den Fegfeuer-Dialekt auf und wechselte in die Ausdrucksweise eines Höflings. »Ein bezaubernder Fiesling, der sich ›Giftpilz‹ nennt, hat diese Hälfte von Tallows Gebiet übernommen. Brauchst du etwas von ihm?«

»Ich muss selbst mit ihm reden.«

Erneut schüttelte der Hai den Kopf. »Er verspeist junge Frauen wie dich zum Frühstück.«

»Und ich zermahle mir Giftpilze fürs Mittagessen«, gab Sham zurück. »Abends esse ich übrigens Haifischsteak.«

Der Hai seufzte und suchte bei Talbot nach Mitgefühl, als er in einen raueren Dialekt verfiel. »Das macht sie ständig mit mir. Ich werde sie auf keinen Fall ohne mich zum Giftpilz gehen und mit ihm reden lassen, und das weiß sie. Verhandlungsspielraum lässt sie einem trotzdem nie. Und sie zahlt nicht einmal für die Dienste, die ich ihr erweise.«

Talbot grinste. »Wenn das jetzt gerade das erste Mal ist, dass dich eine Frau an den …« Er schaute zu Shamera. »Äh … am Wickel hat, dann kannst du dich glücklich schätzen.«

Der Hai deutete in Talbots Richtung und nahm den schweren Akzent eines Hafenarbeiters an. »Siehst du, Mädel? Du zerstörst noch meinen Ruf. Bald wird niemand mehr den Hai ernst nehmen. Ein hübsches Mädel sagt, geh da lang, und ich frage nur, wie weit. Das wird sich rumsprechen. Demnächst wird kein Hai, sondern ein kleiner Giftpilz die Flüsterer anführen.«

Sham beugte sich vom Pferd, bis sich ihr Gesicht auf derselben Höhe mit seinem befand, und ahmte seinen Akzent nach. »Die werden bald von einem toten Hai reden, wenn du nicht anfängst, dich in Bewegung zu setzen. Wir sterben hier noch an Altersschwäche, und der Wind wird unsere Knochen zum Klappern bringen.«

Lachend trat er den Weg die Straße hinab an und ließ sie ihm über das geröllübersäte rissige Kopfsteinpflaster folgen, so gut sie konnten. Sham holte tief Luft und hustete. Komisch, wie schnell sie sich an die frische, salzige Luft der Feste gewöhnt hatte.

Der Hai führte sie zu einem grob aus Ziegeln und Stein errichteten Gebäude in der Nähe der alten Docks und schüttelte den Kopf, als Talbot dazu ansetzte, abzusteigen.

»Die wissen, dass wir hier sind. Lasst sie zu uns kommen.«

»Das werden sie als Beleidigung auffassen«, merkte Talbot an, dem die Spielchen der Straßen durchaus bekannt waren.

Erneut schüttelte der Hai den Kopf. »Sagt ihnen, ihr wolltet eure Pferde behalten. Das wird er nicht in den falschen Hals bekommen.«

»Hoffentlich«, meinte Sham. »Ich brauche seine Zusammenarbeit.«

Der Hai lächelte zuckersüß. »Die bekommst du.«

Shamera wandte sich an Talbot. »Du weißt, dass er nicht so nett ist, wie er tut, oder?«

»Das bin ich auch nicht«, gab Talbot selbstgefällig zurück.

Sie schnaubte gerade, als ein geschniegelt gekleideter, junger Mann die Tür des Gebäudes öffnete.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er in einem so reinen Cybellisch, dass Kerim ihn darum beneidet hätte. »Aber der Giftpilz hat mich geschickt, um mich nach dem Grund eures Besuchs zu erkundigen.«

Der Hai nickte mit ernster Miene. »Das sind Freunde von mir. Die hübsche kleine Stute hier« – er rieb Shams Pferd unter dem Wangenriemen das Gesicht, und das Tier schloss wohlig die Augen – »ist ein wenig unruhig, deshalb wollten wir sie nicht so gerne allein lassen. Könntest du den Giftpilz wohl dazu überreden, herauszukommen und kurz mit uns zu reden?«

»Über?«

»Ich möchte … von ihm eine Liegenschaft für heute Nacht mieten«, antwortete Shamera.

»Ich werde es ihm mitteilen.« Der Mitarbeiter des Giftpilzes kehrte ins Haus zurück.

Sie warteten. Shameras ›unruhige‹ Stute verfiel in ein leichtes Dösen und verscheuchte mit dem Schwanz halbherzig Fliegen.

Schließlich näherte sich ihnen ein Mann mittleren Alters mit einem leichten Schmerbauch und einem rundlichen, gutmütig wirkenden Gesicht aus einer Gasse, die mehrere Gebäude entfernt war von den Amtsräumlichkeiten des Giftpilzes.

»Ich wette, er ist auch nicht so nett, wie er sich gibt«, merkte Talbot leise an.

Sham brummte zustimmend.

»Mein Freund hat mir mitgeteilt, dass ihr eine Liegenschaft mieten möchtet«, sagte der beleibte Mann freundlich.

Sham nickte. »Ich muss den Ort in der Nähe der Klippen mieten, wo früher die alte Glocke hing, von jetzt bis zum Morgengrauen.«

Der Giftpilz schürzte die Lippen. »Ich kenne die Stelle. Heute Nacht ist Geistebbe, nicht wahr? Ein hübscher Ort für ein Stelldichein zweier Liebender.«

Sham bedachte ihn mit einem schiefen Lächeln. »Ganz genau.«

Er ließ den Blick abwägend über ihre Kleidung wandern, wie sie es erwartet hatte. Es wäre zwar sicherer gewesen, ihre Tunika und Hose zu tragen, aber dann hätte er vielleicht überhaupt keine Geschäfte mit ihr gemacht. Die Gebietsherrscher von Fegfeuer galten als wankelmütiger Menschenschlag.

»Zehn Goldstücke.«

»Für diesen Preis will ich die Gewähr, dass wir nicht gestört werden«, gab Shamera zurück.

»Elf Goldstücke, und ich stelle Wachen bereit.«

»Zehn Goldstücke«, beharrte sie ungerührt. »Ich habe eigene Leute. Du musst für mich nur verbreiten, dass sich deine Leute heute Nacht von den Klippen fernhalten sollen. Nur zu ihrer eigenen Sicherheit, du verstehst? Ich habe Feinde, und es wäre zutiefst bedauerlich, wenn einer meiner Männer versehentlich einen von deinen tötet.«

»Ah, verstehe«, willigte er herzlich ein. »Also zehn Goldstücke.«

Sham nickte Talbot zu, der Kerims Geldbörse öffnete und zehn Goldmünzen hervorholte.


Sham wartete, bis sie außer Sicht geritten waren, bevor sie sich zur Seite streckte und die Geldbörse ergriff. Sie zügelte ihr Pferd in der Nähe des Hais und warf ihm den schweren Lederbeutel zu.

»Hai, da sind weitere zehn Goldstücke. Ich weiß, dass du für gewöhnlich keinen Schutz bietest, aber ich brauche Leute, bei denen ich mich darauf verlassen kann, dass sie die Gegend frei von Menschen halten.«

»Hat das etwas mit dem Dämon zu tun, der Maur getötet hat?«

Sham nickte. »Es geht nicht um Rache. Aber es ist das Beste, was ich tun kann.«

»Na schön.« Er hob zwei Finger an die Lippen und stieß einen durchdringenden Pfiff aus.

Von irgendwo kam ein dünner Mann angetrabt, der Talbot, den er offensichtlich kannte, mit ernster Miene einen Gruß zunickte.

»Vawny wird euch zum gemieteten Ort begleiten, während ich ein paar Gefälligkeiten einfordere«, erklärte der Hai. »Gehe ich recht in der Annahme, dass du vorhast, sofort hinzugehen?«

»Ja«, bestätigte Shamera.


Vawny und Talbot blieben bei den Pferden, während Sham auf dem sandigen Untergrund oberhalb der Klippen ein Muster abschritt. Der Meeresspiegel war niedriger als sonst; nicht einmal die Gischt der Brandung reichte derzeit bis nach oben. Sie hatte den Ort sorgfältig ausgewählt. Den sandigen Bereich umgaben große Felsblöcke, manche so hoch wie ein zweigeschossiges Gebäude, und zusammen sahen sie wie schartige Haifischzähne aus. Dazwischen standen als Unterstände zusammengebastelte Holzhütten. Derzeit erwiesen sie sich als leer, weil der Giftpilz die letzten Bewohner für die Nacht vertrieben hatte. Die Hütten würden als Verstecke vor dem Dämon dienen, bis die Falle zuschnappte.

Nachdem Shamera die Rune einmal abgeschritten hatte, kletterte sie auf einen geeigneten Felsbrocken, um ihr Werk zu begutachten. Dann glitt sie zurück hinunter in den Sand, führte mehrere Verbesserungen durch und besah sich die Arbeit erneut.

Zufrieden ergriff sie einen Stock und begann von vorn, drückte ein Ende tief in den Untergrund, um ihre Schritte nachzufahren. Als das Muster fertig war, kramte Sham durch Talbots Satteltaschen, bis sie die Spule mit dem Goldgarn fand.

Wiederholt schaute sie zu Vawny und beschloss, seine Redlichkeit nicht unnötig auf die Probe zu stellen. Bevor sie das Garn aus der Satteltasche zog, färbte sie es mit einem leise gemurmelten Zauber schwarz.

Sie streckte sich einmal und fing an, das Metallgarn in das Muster auf dem Boden zu legen. Es dauerte eine geraume Zeit, und ihr Rücken wurde steif, während der anbrechende Abend den Himmel verdunkelte, lange bevor sie fertig wurde.

»Kann ich helfen?«, fragte Talbot leise und brachte ihr eine Flasche von seinem Sattel.

Sham nahm dankbar etwas zu trinken an und zuckte mehrfach mit den Schultern, um die angespannten Muskeln zu lockern. Mittlerweile zog sich das Meer von den Klippen zurück und hinterließ einen zunehmend breiteren Sandstreifen. In der Ferne konnte sie die Oberkante des Walls der Wellenbrecher erkennen, ein dunkler, zerklüfteter Umriss, der sich am Horizont abzeichnete. Das wellenlose Meer zwischen dem Wall und dem Strand präsentierte sich glatt wie schwarzes Glas.

Sham gab die Flasche zurück und nickte. »Ja, du musst für mich Elsic und Lord Halvok holen. Inzwischen sollten sie dich bereits bei dir zu Hause erwarten. Bevor du zurück bist, bin ich hiermit fertig.«


Endlich wurde sie tatsächlich fertig. Sham schloss die Augen und sandte einen zarten Hauch von Magie durch das Ende des Garns, das sie in der linken Hand hielt. Kurz darauf durchlief ein leichtes Kribbeln ihre rechte Hand, die das andere Ende des Garns berührte. Der Geschmack der Magie verriet ihr, dass sie das Muster richtig angefertigt hatte. Vorsichtig legte sie beide Enden auf den Boden und achtete darauf, dass sie sich nicht berührten.

Mit einer Geste versetzte sie den Sand so in Bewegung, dass er sowohl die Rune als auch die Spuren überdeckte, die ihre Knie zurückgelassen hatten. Schließlich stand Shamera auf und betrachtete die Überreste ihres Kleids. Sollte diese Nacht nicht wie geplant verlaufen, würde sie ihr Leben vermutlich in diesem zerlumpten, dreckigen Seidenkleid beenden.

Sie entfernte den Trugbann, den sie am Garn angebracht hatte. Da es nunmehr von Sand bedeckt war, brauchte sie ihn nicht mehr, und sie wollte nicht, dass auch nur ein Hauch von Magie den Dämon warnte. Als sie einen zerbrochenen Kopfstein in die Mitte der Rune legte, hörte sie, wie sich Reiter näherten. Es war zu dunkel, um sie zu sehen, aber es konnte sich nur um Talbot, Halvok und Elsic handeln. Andere Reiter hätte der Hai nicht durchgelassen.

Sham schloss die Augen und wirkte ein wenig Magie.


In der Feste beobachtete Kerim, wie die kleine Rune, die Sham auf seinen Stuhl gezeichnet hatte, kurz aufleuchtete. Demnach war es so weit.

Ungeachtet seiner beeindruckenden Selbstbeherrschung und seiner Zweifel verspürte er den Anflug eines Hochgefühls und Kampfrauschs. Er wackelte in den Stiefeln mit den Zehen, um sich zu beweisen, dass er es konnte, dann grinste er Dickon an.

»Mach die Pferde bereit«, sagte er. »Es ist so weit.«


Die Reiter stiegen ab und reichten die Zügel ihrer Pferde dem Mann, der Vawny vor etwa einer Stunde abgelöst hatte. Als der Gefolgsmann des Hais die Tiere wegführte, kamen die Neuankömmlinge auf Shamera zu.

Elsic trug in einer Hand Maurs Flöte und hielt sich mit der anderen an Talbots Arm fest. In seinem Gesicht prangte ein breites Grinsen. »Glaubst du wirklich, dass es klappen wird?«

»Nein«, gab Sham verhalten zurück.

Elsics Züge hellten sich durch ihre Antwort höchstens noch auf. Sie verstand ihn – es fühlte sich gut an, gebraucht zu werden. Wäre der Junge ein wenig älter gewesen, hätte er nicht halb so viel Vertrauen in den wilden Plan gesetzt, den sie ersonnen hatte.

»Ich auch nicht«, fügte Lord Halvok hinzu. »Wenn du deine Rune auslösen willst, kann ich immer noch Zauber wirken, die den Dämon zwingen, sich mir zu unterwerfen, jedenfalls während meiner Lebenszeit.«

»Während Eurer kurzen Lebenszeit, wenn es nach dem Dämon ginge«, erwiderte Sham ruhig – dieses Gespräch hatten sie bereits geführt, als sie ihn ursprünglich um Hilfe gebeten hatte.

»Falls Shameras Plan fehlschlägt, könntet Ihr dann versuchen, den Dämon zu beherrschen?«, fragte Talbot.

Sham schüttelte den Kopf und antwortete, bevor Halvok es tun konnte. »Nein. Ich muss die Rune auslösen, die den Dämon festhält, während ich gleichzeitig den Zauber wirke, der ihn nach Hause schickt. Wenn ich versage, wird er nicht gefesselt sein – und alles andere als erfreut über uns. Aber keine Sorge, wenn mein Zauber nicht wirkt, wird uns der Rückstoß wilder Magie töten und Fegfeuer bis auf die Grundfesten niederbrennen, bevor uns der Dämon etwas tun kann.«

»Danke«, sagte Talbot mit einem schiefen Grinsen. »Das ist gut zu wissen. Ich möchte wirklich nicht von einem Dämon getötet werden.«

Sham ließ Talbot mit Lord Halvok reden und ging zum Rand der Klippen. Unter ihr herrschte tiefe Schwärze. Obwohl der Mond nicht genug Licht spendete, um etwas erkennen zu können, wusste sie aufgrund der Ruhe, dass Ebbe herrschte. Die unnatürliche Stille wirkte erwartungsvoll.

Elsic setzte sich neben sie auf den Boden. Die blicklosen Augen geschlossen, atmete er die salzige Luft ein.


Kerim klopfte leise an die Tür, bereit, seine Rolle zu spielen. Obwohl er von Natur aus ein ehrlicher Mensch war, gehörte es zum Rüstzeug jedes Politikers, sich zu verstellen, und er hegte keine Zweifel an seinen Fähigkeiten in dieser Hinsicht. Allerdings bereitete es ihm Kopfzerbrechen, Sky zu verletzen, denn sie hatte bereits genug gelitten.

»Wer ist da?« Skys Stimme klang heiser vor Schläfrigkeit.

»Kerim.« Eine Pause entstand, und er konnte beinahe hören, wie sie nachdachte.

»Mein Lord?« Die Tür öffnete sich einen Spalt, und sie spähte heraus. Ihr Nachtgewand war dünn und einladend.

Kerim schenkte ihr sein bestes jungenhaftes Grinsen. »Weißt du, was für ein Tag heute ist?«

»Nein, mein Lord.« Sie lächelte mit einem Anflug von Schüchternheit.

Als er sie ansah, fiel es ihm noch schwerer zu glauben, dass Shams Verdacht zutraf. Er hatte das Gefühl, dass er sich noch vor dem Ende der Nacht bei Sky würde entschuldigen müssen.

»Es ist der Tag der Geistebbe. Hast du sie je bei Nacht gesehen?«

»Nein, mein Lord.«

»Tja, dann zieh dich an. Das musst du gesehen haben. Ich weiß, einem anstrengenden Ritt bist du noch nicht gewachsen, aber wir nehmen ein sanftmütiges Pferd für dich – ich habe eines, das läuft mit butterweichen Schritten … und ich glaube, ich schulde dir noch eine Entschuldigung für letzte Nacht.«

Sie straffte die Schultern. »Was ist mit Lady Shamera?«

Kerim ließ ein trauriges Lächeln über seine Züge wandern. »Ah, Lady Shamera … Vielleicht streifst du dir einen Morgenrock über, dann komme ich hinein und erzähle dir von ihr. Der Flur ist dafür nicht der richtige Ort – ich verspreche auch, ich behalte meine Hände bei mir.«

Kurz schloss sich die Tür. Als Sky sie wieder öffnete, hatte sie sich züchtig mit einem elfenbeinfarbenen Morgenrock aus Seide bedeckt. »Komm herein, mein Lord.«

Er trat an ihr vorbei, was sich mit den Krücken nicht anmutig bewerkstelligen ließ, aber trotzdem wesentlich einfacher als mit dem Rollstuhl war, und ließ sich auf einem ungemütlichen Holzstuhl nieder. Sie schaute von ihm zum einzigen anderen Sitz im Raum, einem gepolsterten Sofa, und lächelte ihn an, bevor sie darauf Platz nahm.

»Du wolltest mir von Lady Shamera erzählen?«

»Ja«, erwiderte er seufzend und blickte auf seine Füße, bevor er sie ansah. »Weißt du, ich bin nicht ihr erster Beschützer. Sie erfreut sich an Männern. Ich habe sie kennengelernt, kurz nachdem du hier eingetroffen bist, und ich glaube, es war das Wissen, dass ich dich in Ruhe lassen musste, das mich zu ihr hingezogen hat.

Aber ich war verkrüppelt, und es wurde schlimmer und schlimmer.« Er schluckte schwer und fuhr beinahe im Flüsterton fort. »Ich wusste, dass Ven dich geliebt hat und ein bewundernswerter Ehemann und Vater gewesen wäre. Das Kind … das Kind war von mir, nicht wahr?« Die Traurigkeit in seiner Stimme brauchte er nicht vorzutäuschen: das arme Kind, von Dämonen und längst verstorbenen Zauberern oder einem Missgeschick dem Tode geweiht – wovon genau spielte eigentlich keine Rolle. »Ich dachte, ich stürbe. Ich sah keinen Sinn darin, dich ein zweites Mal zur Witwe zu machen, also habe ich nach etwas gesucht, das ich zwischen uns schieben konnte – und dabei Shamera gefunden.« Er spielte am oberen Teil seiner linken Krücke herum. »Dann fing ich an, mich zu erholen.«

»Mir ist aufgefallen, dass es dir besser geht, mein Lord. Kannst du mir sagen, warum?«

Er zögerte, und es gelang ihm, frustriert und ein wenig schuldbewusst dreinzuschauen. »Das ist der wirklich eigenartige Teil, und ich bin nicht sicher, ob es mir zusteht, das Geheimnis zu verraten.«

»Mein Lord«, sagte sie und sah ihm unverwandt in die Augen. »Alles, was du mir anvertraust, bleibt bei mir allein.«

Er bedachte sie mit einem abwägenden Blick, dann nickte er, als habe er eine Entscheidung getroffen. »Spät eines Nachts, als einer der Krampfanfälle einsetzte, kam Shamera herein und … hat Magie gewirkt.« Er ließ einen Teil der Verwunderung, die er damals empfunden hatte, in seine Stimme einfließen. »Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Shamera hat mir erzählt, dass die Zauberer größtenteils von hier geflohen sind, aber ein paar verbergen, was sie in Wirklichkeit sind. So auch sie.«

»Hat sie herausgefunden, wer dir das angetan hat?«

Kerim nickte, während ihm die Bedeutung des Fehlers bewusst wurde, den Sky gerade begangen hatte. Er hatte nie erwähnt, dass Sham einen ihm auferlegten Bann aufgelöst hatte – nur dass sie Magie gewirkt hatte. »Sie scheint es zu glauben«, erwiderte er, ohne sich etwas anmerken zu lassen. »Das ist der seltsamste Teil, ich weiß gar nicht, ob ich es glauben würde, wenn Shamera nicht Bruder Fykall gehabt hätte, der ihre Aussage bestätigt. Wie auch immer. Nachdem der Hohepriester gestorben war, hat etwas dessen Körper oder sein Erscheinungsbild übernommen. Shamera meint, dass es ein Dämon war. Er hat den Fehler begangen, sich in Altis’ Tempel zu wagen, und Bruder Fykall hat ihn zerstört.«

Für einen Lidschlag verzog sich Skys Mund vor Zorn. Hätte Kerim sie nicht eingehend beobachtet, wäre es ihm vermutlich nicht aufgefallen. Die Schuldgefühle, die er bei dem Gedanken verspürt hatte, Sky zu hintergehen, schmolzen dahin.

»Ich verdanke Shamera eine Menge – meine Gesundheit und sogar mein Leben. Aber« – er senkte den Blick, als überkäme ihn ein Anflug von Schüchternheit – »ich liebe sie nicht. Vergangene Nacht ist mir klar geworden, dass ich mit ihr reden und ihr sagen musste, was ich empfinde. Ich hatte es bereits zu lange so laufen lassen und deshalb Angst, ich würde sie verletzen.« Plötzlich grinste er. »Fast wünschte ich, du wärst dabei gewesen. Ich hatte damit gerechnet, mich der Xanthippe stellen zu müssen, die mit einem zerbrochenen Krug in der Hand auf mein Bett gesprungen war – und bekam es stattdessen mit einem Feilscher zu tun. Sie ließ mich sagen, was ich zu sagen hatte, dann lächelte sie und zählte mir Bedingungen auf, die sie für erbrachte Dienste als angemessen erachtete.« Kerim lächelte verführerisch. »Komm heute Nacht mit mir, Sky. Ich bin schon so lange nicht mehr am Meer gewesen. Die Geistebbe ist etwas, woran du dich für den Rest deines Lebens erinnern wirst.«

»Ich …« Sie bedachte ihn mit einem Blick, aus dem zugleich Verlangen und Angst sprachen. »Ich weiß nicht, ob ich das wirklich sollte …«

»Komm mit mir.« Er senkte die Stimme weiter, bis er beinahe gurrte. Mit Shamera zu üben hatte seine Verführungskünste eindeutig verbessert.

Sie holte tief Luft und meinte übermütig: »Ja, das würde mir gefallen. Wenn du kurz im Flur wartest, ziehe ich mir meine Reitkleidung an.«

»Für dich warte ich gerne«, erwiderte Kerim leise, erhob sich auf die Beine und durchquerte den Raum zum Flur so leichtfüßig, wie man es von jemandem mit Krücken nur erwarten konnte. Lady Sky schenkte ihm ein kurzes, strahlendes Lächeln, bevor sie die Tür schloss.


Dickon wartete mit der Laterne in der Hand vor den Mauern der Feste. Er hatte drei Pferde dabei: eine braune Stute mit treuherzigem Gesicht, seinen eigenen kräftigen Wallach und Kerims Kriegshengst Brandmal.

Der Hengst sah mit den an den Schultern zu beiden Seiten des Sattels angebrachten Krücken recht merkwürdig aus, aber das Tier war an merkwürdigere Dinge als Krücken gewöhnt. Kerim rieb die schwarze Schnauze liebevoll.

Dickon hielt den gegenüberliegenden Steigbügel fest, damit der Sattel nicht verrutschte, als Kerim vorsichtig Sattelknauf und Hinterzwiesel ergriff, um sich hinaufzuhieven. Nicht anmutig, aber erfolgreich. Dickon reichte Kerim die Laterne und half Lady Sky beim Aufsteigen auf ihre Stute.

»Wir reiten nicht allein, mein Lord?«, fragte Lady Sky leise und mit vielsagendem Blick in Richtung Dickon.

Kerim verlagerte das Gewicht, bis sich sein Hengst seitwärts zu Lady Skys Stute bewegte. Er lehnte sich hinüber, erfasste mit behandschuhten Fingern ihre Hand und hob sie an seine Lippen. »Leider nein, meine Lady. Der beste Ort, um die Geistebbe zu beobachten, befindet sich hinter einer üblen Gegend der Stadt. Obwohl ich die richtigen Leute bezahlt habe, um einen sicheren Durchritt zu gewährleisten, wäre es blanke Torheit, einen solchen Ort mit nicht mehr als einem verkrüppelten Krieger als Schutz für dich aufzusuchen. Dickon versteht bestens mit dem Schwert umzugehen, das er da trägt.«

Lady Sky lächelte. »Also ist das gar kein spontaner Ausritt – du hättest mich ruhig früher vorwarnen können.«

Kerim bemerkte, wie Dickon hinter ihr missbilligend die Stirn runzelte. Er hatte Kerim davor gewarnt, zu sehr mit Sky zu schäkern und sie am Ende zu verletzen.

»Ach weh.« Kerim grinste. »Jetzt habe ich mich verraten. Es stimmt, meine Lady, ich habe den Ausflug den Großteil des Tages über geplant.« Er bedachte sie mit einem anzüglichen Blick. »Aber hätte ich dich vorgewarnt, hättest du mir nicht im Nachthemd die Tür geöffnet.«

Lady Sky lachte und folgte ihm, als er sein Pferd zu einem beschwingten Gang antrieb.


Ungeachtet der gefährlichen Gegend, die Kerim angesprochen hatte, verlief der Ritt durch Fegfeuer ohne Zwischenfall. Er konnte die Blicke spüren, die sie aus pechschwarzer Finsternis heraus fixierten, aber ihre Beobachter blieben, wo sie waren. Anscheinend hatte Shamera die richtigen Leute mit seinem Gold geschmiert. Kerim ließ sich Zeit, schäkerte und trödelte. Als sie die hölzernen Überreste des alten Glockenturms erreichten, schätzte er, dass ihnen nur noch eine kurze Weile blieb, bis die Flut einsetzte.

Kerim zügelte seinen Hengst in der Nähe eines Gebüschs, ein gutes Stück von den Klippen entfernt. Er übergab die Laterne wieder in Dickons Obhut und stieg eher zweckmäßig denn gekonnt ab. Trotzdem landete er auf den Füßen, was sich wie Balsam für seinen Stolz anfühlte.

Während Dickon Lady Sky beim Absteigen zur Hand ging, löste Kerim die Lederriemen, mit denen die Krücken befestigt waren. Zwar fühlte er sich nach wie vor wackelig auf den Beinen, aber dank der Krücken verfügte er über ausreichende Beweglichkeit auf dem rauen Untergrund.

»Komm«, sagte er und führte Lady Sky von den Pferden und Dickon weg. »Ich fürchte, die Laterne wirst du tragen müssen.«

Die umliegenden Gebäude erwiesen sich als nahezu völlig verrottet durch die salzige Meeresluft. Kerim schenkte ihnen keine Beachtung, als er sich den Weg zu einer kleinen sandigen Fläche in der Nähe der Klippen bahnte. Neben einem einsamen, zerbrochenen Kopfstein blieb er stehen. Irgendwann während des Ritts waren die Sterne in all ihrer Pracht hervorgekommen. Auch ohne das Licht des Mondes konnte man nun den Strand tief unter ihnen erkennen.

Sky holte Luft, als sie den Blick über die Klippen hinauswandern ließ. »Wie faszinierend.«

»Wunderschön«, pflichtete er ihr bei. »Ein unerwartetes Wunder der Natur – so wie du.« Er fasste in seinen Gürtelbeutel und suchte nach etwas, das sich nicht darin befand. »Verflixt«, fluchte er mit gespielter Verlegenheit. »Ich habe dir etwas mitgebracht, aber vergessen, es mir von Dickon geben zu lassen. Warte hier, ich bin gleich wieder da.«

Sie reichte ihm die Laterne. Er nahm sie unbeholfen entgegen, wandte sich ab und kehrte rasch zu den Pferden zurück, während Lady Sky wartete, das wunderschöne Profil dem Meer zugewandt, ein verhaltenes Lächeln im Gesicht.


Kaum hatte sich Kerim weit genug fortbewegt, schlich Lord Halvok so geräuschlos wie möglich um die Überreste des Gebäudes herum, hinter dem er sich versteckt hatte. Sham bekam eine Ahnung davon, wie er seinen Partisanenkrieg gegen die Ostländler so lange hatte aufrechterhalten können. Der Zauberer hielt an der Stelle an, wo sie die Enden des Goldgarns versteckt hatte.

Rasch führte er die Enden zusammen und verschweißte sie mit einem Hauch Magie miteinander, der sofort Lady Skys Aufmerksamkeit erregte. Verborgen in den Schatten eines anderen Gebäudes biss sich Sham auf die Unterlippe. Halvoks Schicksal hing von ihrem Runengeschick ab, und sie hatte noch nie eine Rune dieser Größe anfertigen müssen.

Als sich die Magie aufbaute, begann das goldene Garn zu leuchten und grell durch den darüberliegenden Sand zu schimmern. Unter anderen Umständen hätte die Rune gereicht, um ihre Gefangene schier ewig festzuhalten; ein Dämon allerdings war genauso in der Lage, eine Rune aufzulösen, wie Sham oder Halvok es konnten, deshalb blieb Halvok an Ort und Stelle knien und führte der Rune weiterhin Magie zu.

»Was macht Ihr da?«, fragte Lady Sky. Sie starrte Lord Halvok überrascht an und trat einen Schritt zurück. »Kerim?« Ihre Stimme schwoll ängstlich an. »Was macht er mit mir?«

Sham kam aus ihrem Versteck hervor und zuckte angesichts der Furcht in Skys Tonfall förmlich zusammen. Als Sham beobachtete, wie die Frau allein dort am Klippenrand stand, fiel es ihr schwer, sich an die Gründe dafür zu erinnern, weshalb sie Lady Sky verurteilt hatten. Instinktiv schaute Sham zu Kerim, da sie wusste, dass auch er Zweifel hegte. Kerim runzelte die Stirn, als er Dickons Arm packte. Er gestikulierte, während er redete – wenngleich Sham nicht zu hören vermochte, was er sagte.

Elsic kam hinter einem Felsbrocken hervor, die Flöte in einer Hand, die andere auf Talbots Schulter. »Ich kenne dich, Dämon«, sagte er und drehte Lady Sky sein Gesicht zu. »Ich habe dich in meinen Träumen gefühlt.«

»Wovon redest du? Kerim hat gesagt, der Priester hat den Dämon getötet«, erwiderte Lady Sky, die verängstigter als je zuvor wirkte. »Kerim?«

»Sie wird dich zurückschicken«, sagte Kerim mit sanfter Stimme, als er sich mit Dickon näherte. »Ist es nicht das, was du all die Jahre zu erreichen versucht hast? Es ist Zeit für dich, nach Hause zurückzukehren.«

»Nein …« Lady Skys Stimme verlor ihren kultivierten Klang, als sie verzweifelt aufheulte. »Du weißt nicht, was sie zu tun versucht!«

»Das weiß sie selber nicht«, meinte der Hai unmittelbar hinter Sham und ließ sie vor Schreck zusammenzucken. »Aber das hat sie noch nie von etwas abgehalten.«

»Was machst du hier?«, fragte Sham in einem Tonfall, der nur die Ohren des Hais erreichte.

Er grinste. »Glaubst du, ich lasse mir das Aufregendste entgehen, das in dieser Gegend seit dem Einmarsch der Ostländler je passiert ist?«

»Bleib zurück, geh zu Kerim«, warnte sie ihn. »Das hier könnte hässlich werden.«

»Shamera?«, fragte Lady Sky. »Warum tust du das? Ich dachte, du wärst meine Freundin.«

Sham trat vor, bis sie unmittelbar außerhalb der von Halvok aufrechterhaltenen Barriere stand. »Chen Laut«, sagte sie und vollführte eine Geste.

Zwar bestand keine Notwendigkeit, die wahre Gestalt des Dämons herbeizubeschwören, um ihn zurück in seine Welt zu schicken, aber Sham brauchte die Gewissheit, dass sie recht hatte. Also rief sie den Dämon bei dem Namen, den er seit Jahrhunderten getragen hatte. Es mochte nicht sein wahrer Name sein, dennoch besaß er Macht.

Der Sand zu Skys Füßen geriet in Bewegung, als hätte ihn ein starker Windstoß erfasst. Sky selbst begann zu zucken wie eine Marionette in den Händen eines Kleinkinds … Dann sackte ihr Körper schlaff zu Boden, und darüber ragte der Dämon auf.

Er war größer als ein Pferd, eine Kreatur aus Flammen in der Farbe der Magie. Acht dünne Gliedmaßen trugen seinen Rumpf über den nassen Sand, doch der Rest des Dämons hatte nichts Spinnenartiges an sich. Ein Schwanz aus goldenen und roten, sich stetig wandelnden Flammen traf den Rand der Rune mit einem Krachen und zwang Lord Halvok vor unerwarteten Schmerzen zu Boden.

Allerdings bestand kein Zweifel daran, wer dadurch schlimmer verletzt wurde: Der Dämon kreischte. Es war ein schauerlicher Laut, der die gesamte Bandbreite des hörbaren Schalls abdeckte. Gleichzeitig zuckte ein bläulich grünes Licht von der Rune in den Schwanz. Als der Schrei verstummte, kauerte der Dämon in der Mitte der Rune und schwankte hin und her.

»Halvok?«, rief Sham.

»Alles bestens«, gab er zurück, wenngleich er sich heiser anhörte. »Die Rune wird sie festhalten.«

»Dreimal war ich gebunden«, ergriff die Kreatur mit Lady Skys Stimme das Wort. »Drei tote Magier übersäen die kalte Erde. Auch deine Bindung werde ich in besserem Zustand als du überstehen, Magierin. Nimm dir an Macht, so viel du willst und so lange du es kannst, denn schon bald bist du tot.«

»Ich werde sterben«, räumte Sham bereitwillig ein. »So wie alles, was sterblich ist. Aber davor schicke ich dich nach Hause. Talbot, wie steht es mit der Flut?«

»Wenn du mich vernichtest«, fuhr der Dämon fort, »suche ich dich und deine Kinder heim, bis eines geboren wird, das ich benutzen kann, Hexe. Ich werde mir den Körper nehmen und damit jagen, bis keiner deiner Nachkommen mehr auf dieser Erde wandelt.«

»Noch nicht«, antwortete Elsic, der dem Meer lauschte, während er die Flöte betastete, »aber bald.«

Talbot bedachte den blinden Jungen mit einem neugierigen Blick. »Ist noch im Anrollen.«

»Treibgut«, schnarrte der Dämon und drehte den anmutigen Hals, bis er Elsic ansah. »Ausgestoßener Selkie-Müll. Falls du an meiner Bindung mitwirkst, spüre ich dich auf, sobald ich wieder frei bin, und werfe dich zurück ins Meer. Dort wird dein eigenes Volk dich zerreißen und an die Fische verfüttern.«

Elsic lächelte zuckersüß. »Ich wirke an keiner Bindung mit.«

Der Dämon lief innerhalb der Grenzen der Halterune auf und ab und achtete darauf, nicht die Ränder zu berühren.

»Jetzt«, sagte Elsic.

Leise vernahm Sham das gedämpfte Tosen der zurückkehrenden Wellen. Elsic setzte die Flöte an die Lippen und blies eine einzelne, klare Note, die durch die Nacht schnitt wie ein Pfeil. Dann wechselte er zu ein paar Tonleitern und ging schließlich zu einem Sham nicht bekannten Lied in Moll über.

Sham spüre, wie sich die Magie zu sammeln begann. Sie holte tief Luft und hielt sich stumm vor Augen, dass ein Großteil der Magie, die sie wirken würde, aus Zaubern bestand, die sie bereits kannte. Die halbe Nacht hatte sie damit verbracht, sich den einzigen Zauberspruch einzuprägen, der neu für sie war, bis sie in der Lage gewesen wäre, ihn im Schlaf rückwärts aufzusagen. Sollten ihre Konzentration oder ihr Selbstvertrauen versagen, würde die gesamte Macht der Geistebbe in Form von Flammen freigesetzt werden, die sie und ganz Fegfeuer verschlingen würden. Das wäre selbst für die schlechtesten Schüler ein hinlänglicher Ansporn gewesen, und dazu hatte sie nie gehört.

In der ursprünglichen Fassung verlieh der Tod des Opfers dem Zauber seine Macht. Die mitfühlende Magie des Todes schickte den Dämon dorthin zurück, wo er hingehörte, wenn die Seele des Opfers nach Hause reiste. Sham hatte vor, beides durch die Geistebbe zu ersetzen, die nun als Flut zu den Klippen heimkehrte.

Die Magie, die aus den Gezeiten entstand, wurde vom Meer geformt, und Menschen arbeiteten nur mit ungeformter Magie. Wie Kalkstein und Marmor wurden die zwei Arten von Magie aus demselben Material gebildet, allerdings mit völlig unterschiedlichen Ergebnissen.

Elsic bündelte die grüne Magie des Meeres, und die Flöte verwandelte sie in ihre rohe Form. Sham musste die sich auftürmenden Kräfte bis zum letzten Augenblick halten, bevor sie den abschließenden Zauber wirkte.

Einen zweiten Versuch würde es nicht geben.

Schweiß rann ihr von der Stirn, und sie schwankte vor Anstrengung, als die Magie mit dem Fortschreiten der gewaltigen Wasserwand anschwoll, die begonnen hatte, den Sand zu verschlingen. Jemand packte sie kurz an den Schultern und stützte sie.

Immer noch mehrte sich die Magie. Die beiden ersten Zauber waren einfach, Sham hatte sie schon mindestens hundertmal gewirkt. Sie begann, sich der Magie zu bedienen.

Zuerst galt es, das Ziel festzulegen.

Der Dämon schrie auf, als sie den Zauber wirkte und ihn rings um die Kreatur wob.

Als Zweites musste der wahre Name genannt werden.

Dämon, Chen Laut, Todbringer, verschlagener Durchbrecher der von habgierigen Menschen geschaffenen Bindungsbanne. Rächer, Mörder, einsamer Verbannter. Sham verstand den Dämon und flocht dieses Wissen in den Zauber ein. Es genügte – sie wusste es. Sie konnte fühlen, wie der Dämon aus dem Namensbann auszubrechen versuchte. Vergeblich.

»Südwald-Lord«, rief der Dämon. »Binde mich an dich, und ich helfe dir, die Ostländler aus Fegfeuer zu vertreiben. Wenn du ihr gestattest, mich zu vernichten, werden sie nie verschwinden.«

Halvoks Körper versteifte sich wie der eines Hundes, der einen Fuchs wittert.

»Wenn Shamera beschließt, mich zu binden, statt zu zerstören, wird sie die Fremdlinge nicht vertreiben«, fuhr der Dämon überzeugend fort. Skys Stimme tönte klar und deutlich durch das anschwellende Tosen von Meer und Wind. »Sie ist in den Vogt verliebt. Sie ist zu jung, um sich wirklich daran zu erinnern, wie es einst war. Sie versteht nicht, wie es sich anfühlt, seine Lieben festzuhalten, während sie sterben. Aber du erinnerst dich daran, nicht wahr? Du erinnerst dich an deine Frau. Sie war nicht wunderschön, oder? Nur wenn sie lächelte. Sie war so bezaubernd gutherzig. Weißt du noch, wie sehr sie eure Kinder geliebt hat? Dann sind die Menschen aus dem Osten gekommen, während du woanders gekämpft hast. Du bist nach Hause zurückgekehrt und hast nur das vorgefunden, was die Soldaten übrig gelassen hatten. Sie hat gekämpft, um die Kinder zu beschützen, deine Frau, selbst nach dem, was sie ihr angetan hatten.«

»Halvok«, sagte Sham. Ihre Stimme zitterte von der Anstrengung, die es sie kostete, zu sprechen und gleichzeitig sowohl die Magie als auch den Dämon zu halten. Wenn Halvok die Rune zum falschen Zeitpunkt losließ, würde das eine Katastrophe zur Folge haben. »Halvok, diese Welt gibt es nicht mehr. Die Ostländler aus Südwald zu vertreiben wird die Zeit nicht zurückdrehen. Es kann dir weder deine Frau noch sonst jemanden zurückbringen, den du gekannt hast, bevor die Eindringlinge aus dem Osten gekommen sind.«

Sie hatte Kerim gesagt, was der Dämon wollte, war, nach Hause zurückzukehren. Sie wusste, wie sich die Kreatur fühlte. Denn als sie Vergeltung an den Männern geübt hatte, von denen Maur verkrüppelt worden war, war ihr insgeheim klar gewesen, dass es sich dabei nur um einen Ersatz handelte. Denn was sie wirklich wollte, war, zu dem zurückzukehren, was sie einst besaß: Heimat. »Nach Verlorenem zu trachten kann nur den Tod bringen, Halvok. Nicht nur namenlose Ostländler würden sterben – auch deine Freunde und Gefährten. Menschen, die du kennengelernt hast und an denen dir etwas liegt. Und wenn das Töten beginnt, wird nicht allein das Blut der Menschen aus dem Osten die Erde tränken. Hat es nicht schon genug Tod gegeben?«

»Ja«, sagte Halvok. »Ich habe genug von …«

Der Dämon schlug auf die Rune.

Halvok fiel schlaff in den Sand, und das stete Leuchten, das von der Rune ausging, schlug in ein wildes Flackern um.

Keine Zeit für Fragen. Sham rannte zu der Stelle, wo Halvok lag, zog ihr Messer, ritzte sich die Handflächen auf und legte beide Hände auf das Goldgarn. Macht strömte infolge der Berührung durch sie, und sie schrie auf. Die Magie der Flut bäumte sich auf, und die Haut ihrer Hände rötete sich, schlug Blasen durch die wilde Kraft, die über die Grenzen ihrer Herrschaft hinausschwappte. Aber das Blut bewirkte den von ihr erhofften Effekt. Es ließ die Rune wieder zu der ihren werden, ganz gleich, wie stark die Magie brandete und dagegen ankämpfte.

Bis kurz vor dem Auftreffen der Wellen auf die Klippen durfte sie nicht zulassen, dass die Rune versagte, sonst würde es ihr nicht gelingen, das Portal zum Reich des Dämons zu öffnen, und wenn sie noch so viel Macht hätte. Sie würde die Rune zerbrechen müssen, um das Brechen der Bande zu versinnbildlichen, die den Dämon in dieser Welt hielten. Es hätte nicht schwierig sein sollen. Halvok hätte es tun können, indem er die zwei Enden des Garns getrennt fallen gelassen hätte – Sham jedoch war jetzt mit Blut an die Rune gebunden.

Sie brauchte Halvok, doch der lag stumm am Boden. Talbot kniete neben ihm. Sie hoffte, dass der adelige Magier noch lebte.

Nach wie vor schwoll die Magie an. Shamera konnte die Geistebbe nicht sehen, aber das Geräusch des Wassers, wie es über den Sand raste, war ohrenbetäubend. Ohne auf den Geruch von versengter Haut zu achten, bündelte sie die Magie weiter um sich.

»Jetzt«, brüllten Kerim und Talbot gleichzeitig.

Sham zerbrach die Rune. Infolge der Blutsbindung schmerzte der Tod der Rune und sorgte dafür, dass sich ihre Arme verkrampften, bis sie sich auf die Füße kämpfen musste, damit ihr das Garn nicht aus den Händen gezogen wurde. Die Schmerzen stellten nicht das eigentliche Problem dar oder zumindest nicht das gesamte Problem: Was wirklich zählte, war, wie sich die Schmerzen auf ihre Konzentration auswirkten.

Sie brauchte einen langen Augenblick, um die Herrschaft über die von ihr gebändigten Kräfte zurückzuerlangen.

Als sie mit dem letzten Zauber begann und bevor der Dämon erkannte, dass er nicht mehr von der Rune gehalten wurde, traf die mächtige Wellenwand ein, und die Klippen erzitterten. Wasser überzog alles, als es in riesigen, schweren Schauern hoch aufspritzte. Elsic geriet ins Stocken, und die Magie flammte wild auf, bis Shamera die ihre nicht mehr von der unterscheiden konnte, die in den Wellen war. Sham wusste nur, dass Elsic wieder zu spielen anfing, weil sie es in der durch sie fließenden Magie spürte; hören konnte sie die Musik über dem Tosen des Wassers nicht.

Ihre Stimme ging in dem Gebrüll unter, das Fegfeuer erbeben ließ, als sie aufschrie und den letzten Zauber weiterwirkte.

Durch den ersten ihrer Banne konnte sie den Dämon wahrnehmen, deshalb wusste sie es, als dieser lossprang. Sie sprach schneller und war gerade fertig, als der heiße, scharfe Schwanz des Dämons über ihre Seite kratzte.

Etwas waberte im Geflecht der Nacht, und der Dämon erstarrte, als sich die Spalte weitete. In jenem Lidschlag erkannte Sham, dass der Ort, an den sie den Dämon schicken wollte, nicht existierte, jedenfalls nicht so, wie sie den Begriff verstand. Einen Augenblick lang, der genauso gut eine Ewigkeit hätte sein können, stand sie am Portal und begriff Dinge über die Magie, die ihr nie zuvor klar gewesen waren. Kleine Dinge …

Eine zweite Wellenwand prallte auf. Sie war nicht so groß wie die erste, brachte aber viel weiteres Wasser mit sich, noch mehr Lärm, noch mehr von der Flöte beschworene Magie.

Von Schmerzen, Ehrfurcht und einem neuen Aufbranden der Magie erfüllt, verlor Sham die Kontrolle. Sie wurde von den Qualen der Berührung des Dämons und vom Feuer wilder Magie verzehrt. Das Portal flackerte, dann festigte es sich und wurde von jemand anderem aufrechterhalten.

Gib mir die Macht, Hexe, forderte Skys Stimme und tauchte zwischen den Wogen des Schmerzes hindurch, als Sham ihre zerbrechliche Herrschaft über die Magie zurückerlangte. Du hast meinen Namen, gib mir die Macht! Wenn du es nicht tust, tötet es dich und alle, die heute Nacht hier sind.

Krampfhaft dachte Sham nach. Mit der Macht, die sie in Händen hielt, konnte der Dämon ganz Landsend zerstören. Vermutlich wäre nicht einmal der ae’Magi in der Lage, ihn aufzuhalten. Da Sham nunmehr gezeigt hatte, wie es ging, konnte die Kreatur jederzeit nach Hause zurückkehren; wann immer sie wollte. Dämonen waren magische Wesen; im Gegensatz zu Sham mussten sie keine ungeformte Magie verwenden.

Elsic spielte weiter, und die Magie steigerte sich unablässig, als eine dritte Wellenwand heranrauschte. Sham konnte nicht einmal genug Aufmerksamkeit entbehren, um dem Jungen zuzurufen, er solle aufhören.

Du dumme Hexe – der Hass auf deinesgleichen bedeutet mir nicht so viel, dass ich dafür einen weiteren Augenblick hierbleiben würde. Gib mir die Magie, und lass mich nach Hause gehen!

»Nimm sie«, sagte Shamera, da sie wusste, dass sie die Magie ohnehin nicht mehr lange halten konnte.

Macht strömte schneller aus ihr, als sie gekommen war, und der Dämon fing sie mit schier grenzenloser Aufnahmefähigkeit auf. Als er alles hatte, was Sham geben konnte, brach sie auf dem sandigen Boden zusammen und krümmte sich angesichts der Schmerzen in ihrer Seite. Sie beobachtete, wie der Dämon das Portal zu seiner Heimat festigte.

Er drehte sich der Spalte zu, die Sham geöffnet hatte, dann zögerte er.

Sham blieb ein Atemzug lang Zeit, sich zu fragen, was sie tun sollte, falls die vermaledeite Kreatur beschloss, doch nicht zurückzukehren. Dann streifte der Schwanz erneut ihre Seite, diesmal federleicht. Die Schmerzen, die sich darin eingenistet hatten, wurden von einer kühlen Taubheit ersetzt.

Tut mir leid, sagte der Dämon mit einer Stimme so leise wie das Flüstern des Windes.

Dann war er verschwunden.

Das Portal hing offen über den zerbrochenen Teilen des Goldgarns. Sham mühte sich auf die Knie. Sie hatte ihre gesamte Magie dem Dämon gegeben, hatte nichts mehr übrig. Wenn sich das Portal nicht schloss …

Da schnappte es mit einem peitschenden Laut zu, der das donnergleiche Branden eines weiteren Wasserschwalls übertönte. Einen Augenblick lang herrschte Stille in der Nacht – dann setzten die Feuer ein.

Sie entzündeten sich in der Dunkelheit wie tausend Kerzen, verbrannten zuerst die Salzschwaden, wo sich das Portal befunden hatte, und breiteten sich dann schneller als ein natürliches Lauffeuer durch den feuchten Pflanzenwuchs aus. Als die nächsten Wellen gegen die Klippen brandeten und feine Gischt hoch in die Luft spritzen ließen, erfassten Flammen die im Wasser lebenden Algen und ließen die Tröpfchen der Gischt golden und orangefarben in der Nacht funkeln.

»Zurück!«, brüllte Shamera und rappelte sich schnellstmöglich auf die Beine. »Verdammt noch mal, geht zurück.«

Die Magie, die sie dem Dämon gegeben hatte, stammte von dieser Welt. Was der Dämon nicht verbraucht hatte, war zurückgekehrt, als sich das Portal schloss. Ein Klumpen Treibholz verwandelte sich unter einem Feuerstoß zu Asche, als die Magie nahe daran vorbeistrich.

»Shamera, geh weg von dort!« Sie meinte, es war Kerim, der gerufen hatte, doch sie war zu sehr damit beschäftigt, die spärliche ihr verbliebene Magie zu beschwören, um sich zu vergewissern.

Kalte Hände schlossen sich um ihre Schultern. »Was kann ich tun?«, fragte Dickon.

»Unterstütze mich«, erwiderte sie mit einer Stimme, die sogar in ihren eigenen Ohren zerbrechlich klang. »Gib deine Magie für mich frei.«

Wie sein Magierlicht flackerte die Macht, die er ihr zuführte, unstet und willkürlich. Trotzdem half sie. Der alte Glockenturm ging in grellen Flammen auf, aber es gelang Sham, die wilde Magie davon abzuhalten, überall nach Lust und Laune zu wüten. Wie ein Hirtenhund griff ihre Macht bald hier, bald dort ein und drängte die schlimmsten Auswüchse der Magie gegen die Klippen zurück, wo das Wasser den Schaden begrenzen würde.

Kerim stand mit den anderen im Hintergrund und wünschte vergeblich, er hätte die Möglichkeit, irgendwie zu helfen. Der Hai befand sich zu seiner Rechten und sah so aus, wie sich Kerim fühlte. Talbot kauerte auf dem Boden, der Kopf des bewusstlosen Halvok ruhte auf seinem Knie. Der Blick des einstigen Seemanns war eindringlich auf Shamera und Dickon gerichtet. Elsic saß neben ihm, die Lippen vor Anspannung verkniffen – Kerim vermutete, dass Elsic, auch wenn er blind sein mochte, wahrscheinlich eine bessere Vorstellung von dem Kampf hatte als der Rest der Anwesenden.

Shamera wurde von einem schauerlichen Leuchten erhellt, das an das schillernde, im Meer treibende Plankton erinnerte, nur viele Male heller. Grelle Funken rieselten vereinzelt über Dickons Haare und auf seinen Rücken, tropften wie flüssiges Licht von seinen Fingern auf den Boden, wo sie zu seinen Füßen weiterschimmerten. Die Luft war erfüllt von Brandgeruch und einem knisternden Gefühl wie unmittelbar vor einem Blitzschlag.

Erneut prallten Wellen gegen die Klippen, doch diesmal wurden sie nur matt von dem seltsamen Flackern erhellt, das sich über die vorherigen Wogen ausgebreitet hatte. Als das Wasser wieder ins Meer abfloss, blieb nichts als Dunkelheit zurück. Dickon schwankte auf den Beinen, als bedürfe es all seiner Kraft, sich aufrecht zu halten. Sham sackte schlaff zu Boden.

Der Hai war nur deshalb vor Kerim bei ihr, weil die Krücken die Bewegungsfreiheit des Vogts einschränkten. Kerim zögerte an Dickons Seite und berührte ihn leicht an der Schulter.

»Es geht mir gut, Herr«, sagte Dickon. »Ich bin nur müde.«

Kerim nickte und ließ seine Krücken fallen. Er sank neben Sham auf die Knie, die mit dem Gesicht nach unten auf dem nassen Sand lag. Der auf ihrer anderen Seite kauernde Hai hielt die Hand an ihren Hals.

»Sie lebt«, verkündete er.

Eingedenk der Feuer, die über Shamera gezüngelt hatten, berührte Kerim sie äußerst vorsichtig und drehte mit der Hilfe des Hais ihr Gesicht aus dem Sand. Elsic und Talbot schlossen sich der stillen Versammlung an, Halvok lag zwischen ihnen eingekeilt.

Halvok vollführte eine Geste, und eine trübe Lichtkugel erschien in seiner Hand. Der Adelige aus Südwald wirkte müde, und er bewegte sich mit der qualvollen Trägheit eines sehr, sehr alten Mannes.

Im Schimmer seines Lichts ließ sich erkennen, dass Sham mit dem leichten Keuchen eines müden Kindes atmete, und ein Teil der Anspannung floss aus Kerims Brust ab. Er begann, Sham mit einer in zahlreichen Schlachten erlernten Gründlichkeit auf Verletzungen zu überprüfen, fand jedoch nur Blasen. Die meisten hatte sie an ihren Händen, sonst waren lediglich vereinzelte zu sehen. Blut verschmierte ihre Seite, aber Kerim konnte dort nur einen sich ausbreitenden blauen Fleck entdecken.

Er hatte mit viel Schlimmerem gerechnet.

Behutsam zog er sie auf seinen Schoß und wickelte sie in seinen Mantel, um zu verhindern, dass sie unterkühlte. Dabei erschien es ihm unmöglich, dass diese zerlumpte, verdreckte Diebin die Magierin war, deren grell schillernde Gestalt noch vor wenigen Augenblicken die Nacht erhellt hatte. Der Hai beobachtete ihn mit kühler Miene.

»Er ist weg«, brach Halvok das Schweigen. Er schüttelte den Kopf voll verhaltener Belustigung. »Gar nicht schlecht gemacht für einen Lehrling. Ich werde mit dem Rat der Magier reden und mich dafür einsetzen, sie in den Rang eines Meisters zu erheben. Einen Dämon zurück in die Hölle zu schicken sollte als Meisterstück durchgehen.«

»Nicht in die Hölle«, berichtigte ihn Elsic mit einem verträumten Lächeln. »Es war wunderschön – habt Ihr es nicht gesehen?«

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