3

In den vergangenen Tagen war Sham dem neuen Sicherheitsleiter gefolgt, als er die Nebenstraßen von Fegfeuer durchstreifte und – laut den Flüsterern – nach ihr suchte. Die Widersprüchlichkeit der Lage gefiel ihr, und sie hatte sonst wenig zu tun.

Weder ihr noch den Flüsterern war es gelungen, herauszufinden, wer oder was Maur getötet hatte, obwohl sie mehrere andere Opfer gefunden hatten, die von Adeligen bis hin zu Dieben reichten. Vor vier Tagen hatte ihr einer der Flüsterer mitgeteilt, dass Talbot nach ihr suchte. Und es hieß, es könnte durchaus interessant für sie sein, was er zu sagen hatte. Es mochte sich um Informationen über den Chen Laut handeln, vielleicht auch um etwas Unheilvolleres.

Da Maur tot war, hatte sie ihren Versuch, Vergeltung zu üben, nicht weiterverfolgt; irgendwie schien es keinen Sinn mehr zu haben. Den letzten Diebstahl hatte sie in der Nacht begangen, als Maur vor fast drei Monaten gestorben war. Und dennoch – wenn Talbot wollte, konnte er sie mit einer beliebigen Anzahl vergangener Verbrechen in Verbindung bringen und hängen lassen. Shamera glaubte zwar nicht, dass die Flüsterer ihm dabei helfen würden, allerdings galt der Hai als unberechenbar.

Sie beobachtete Talbot von einem verlassenen Gebäude in der Nähe der Docks aus, wie er mit einer alten Frau sprach, die gerade den Kopf schüttelte. Der Südwäldler hatte sich stark verändert. Was nicht an seiner Kleidung lag – Braun und Grau sahen immer ziemlich gleich aus, ganz egal, wie gut der Stoff sein mochte. Er hatte auch nichts an seinem angegrauten, hellbraunen Haar geändert, das er nach hinten zusammengebunden trug. Wenngleich Sham den Eindruck hatte, dass sein Bart ein wenig kürzer als zuvor gestutzt war. Talbots Züge strahlten immer noch eine Gutmütigkeit aus, die in ihr den Wunsch weckte, ihn trotz ihres argwöhnischen Wesens zu mögen.

Der Unterschied, so befand sie, bestand darin, dass er die ständige Furcht verloren hatte, die jeden heimsuchte, der in Fegfeuer zu leben gezwungen war: Furcht vor Hunger, Furcht vor dem Tod, Furcht vor dem Leben – und die Hoffnungslosigkeit, die damit Hand in Hand ging. Wie der Hai war Talbot zu einer gestaltenden Kraft statt zu einem weiteren hilflosen Vertreter des Gesindels geworden, das Fegfeuer bevölkerte.

Aber wenn sie ihre Angst, gehängt zu werden, außer Acht ließ, stellte sich immer noch die Frage: Würde jemand seines derzeitigen Ranges drei Tage mit der Suche nach ihr verbringen, nur um sie zu verhaften? Shamera war eine gute Diebin, doch sie verhielt sich auch vorsichtig. Sie stahl nie etwas Unersetzliches und verletzte nie jemanden, wenn es nicht sein musste – so vermied sie grundsätzlich alles, was ihre Ergreifung zu einer vordringlichen Angelegenheit machen könnte.

Sham traf unvermittelt eine Entscheidung, hörte auf, ihm zu folgen, und kletterte mühelos vom Dach auf eines der Gebäude in der Nähe. Vorsichtig huschte sie über die feuchten Schindeln und ließ sich in die Gasse hinter dem Haus hinab, womit sie mehrere zerlumpt gekleidete Jugendliche erschreckte. Bevor sie sich überlegen konnten, ob Sham es wert sei, angegriffen zu werden, hatte sie bereits das nächste Gebäude erklommen und glitt dann hinab auf die Straße dahinter.

Aufgrund der Wege, denen Talbot in den vergangenen Tagen gefolgt war, vermutete sie, dass er nun eine der Tavernen ansteuerte, die sie gelegentlich besuchte. Sie schlug einen Pfad entlang leerstehender Gebäude und über verschlungene Straßen ein, der ihr im Vergleich zu der Entfernung, die Talbot zurücklegen musste, mehrere Häuserblöcke ersparte. In der Nähe der Taverne fand sie eine Gasse, an der er bald vorbeikommen musste, und ließ sich dort nieder, um auf ihn zu warten.

Als Talbot schließlich an ihr vorbeiging, ohne sie zu bemerken, hätte beinahe ihre zögerliche Vorsicht dafür gesorgt, dass sie still blieb. Sham musste ihrem tief verwurzelten Selbsterhaltungstrieb unverhohlen trotzen, um sich bemerkbar zu machen.

»Meister Talbot.«

Sie freute sich, dass ihr theatralisches Flüstern den alten Seemann eine geduckte Verteidigungshaltung einnehmen ließ. Ein Lächeln zierte ihr Gesicht, als sie sich entspannt an die Ziegelsteinmauer eines verlassenen Gebäudes lehnte.

Er richtete sich auf und sah sie an. Ihr Vater hatte denselben Blick benutzt, wenn sie etwas getan hatte, das ihn verstimmte. Im Alter von zehn Jahren hatte sie sich unter einem solchen Blick förmlich gewunden; nun wurde ihr Grinsen nur noch breiter.

»Die Flüsterer munkeln, dass du nach mir suchst«, sagte sie.

Er nickte zur Erwiderung. »Das tue ich, Sham. Mir wurde gesagt, du könntest daran interessiert sein, für mich zu arbeiten.«

»Du weißt schon, was ich mache, oder?«, fragte Shamera und zog ungläubig die Augenbrauen hoch.

Wieder nickte er. »Aye. Deshalb suche ich ja nach dir. Wir brauchen jemanden, der sich in Häuser hinein- und wieder herausschleicht. Die Flüsterer haben uns eine Reihe von Leuten genannt, die sich dafür eignen könnten. Dein Name wurde besonders oft genannt …« Talbot grinste sie an. »Shamera.«

Sie lachte und lehnte sich noch lässiger an die Mauer. »Ich hoffe, du hast nicht zu viel Zeit damit verbracht, nach einem Dieb namens Shamera zu suchen.«

Der Hai hätte Talbot nichts erzählt, wenn er davon ausgegangen wäre, der alte Seemann würde verbreiten, wer sie war. Allerdings war sie nicht sicher, ob es sie überhaupt noch kümmerte; da der Alte Mann tot war, hielt sie nur noch sein Versprechen in Landsend. In Reth gab es keine Menschen aus dem Osten, und ein Zauberer könnte dort ein gutes Auskommen finden.

»Nein.« Unbeschwerter Frohsinn leuchtete in seinen blaugrauen Augen. »Aber ich muss gestehen, meine Geldbörse war schmerzlich leichter geworden, bis ich endlich herausgefunden hatte, nach wem ich eigentlich suche. Ich hätte nie gedacht, dass Sham, der Dieb, in Wirklichkeit ein Mädchen ist.«

Sie grinste. »Danke. Ich habe schon einige Jahre Übung in meiner Rolle, aber es ist gut zu wissen, dass ich sie überzeugend spiele. Ich vermute, du hast deine Auskünfte vom Hai – er genießt es, Leute zweimal für dieselbe Ware bezahlen zu lassen.«

Talbot nickte. »Geschäfte unmittelbar mit dem Hai abzuwickeln ist teurer, als dieselben Auskünfte von seinen Männern zu kaufen. Andererseits geht es schneller und ist umfassender. Es ist ja nicht mein Gold, das ich ausgebe, und der Vogt legt mehr Wert auf die Güte des Ergebnisses als auf den Preis.«

»Ich habe gehört, dass der Vogt mittlerweile an einen Stuhl gefesselt ist«, platzte Sham spontan heraus. Sie mochte den Vogt trotz seiner Abstammung und hoffte heimlich, das Gerücht sei falsch.

Doch Talbot nickte erneut. Ein Anflug von Besorgnis vertrieb dabei den vergnüglichen Ausdruck in seinem Gesicht. »Seit dem Kampf gegen Lord Hirkin. Er sagt, er habe eine alte Verletzung, die zunehmend schlimmer wird. Wochenlang geht es ihm unverändert gut, bis er einen Anfall bekommt, der ihn regelrecht verkrüppelt. Nach einigen Tagen lässt es zwar wieder nach, doch es wird nie mehr so gut wie zuvor.«

Als Tochter eines Soldaten wusste Shamera, was es bedeutete, an einen Stuhl gefesselt zu sein. Hauptsächlich benutzte man sie für die Alten, die Schwierigkeiten damit hatten, sich zu bewegen, aber gelegentlich hatte ein Kämpfer das Pech, mit einer Rückenverletzung zu überleben. Einem der Männer ihres Vaters war es so ergangen.

Er war im Kreuz von einer Keule getroffen worden, die ihm das Rückgrat zertrümmerte. Einen Sommer lang hatte er in seinem Stuhl gesessen und Sham Geschichten erzählt; hin und wieder rief sie sich selbst nach all den Jahren noch jene sanfte Tenorstimme und die Erzählungen über große Helden ins Gedächtnis.

Sie hatte belauscht, wie der Apotheker ihrem Vater erklärt hatte, dass es das Fließen der Lebenskräfte eines Mannes beeinträchtigte, wenn er die Beine nicht mehr bewegen konnte. Jeder, der längere Zeit an den Stuhl gefesselt blieb, steuerte frühzeitig dem Scheiterhaufen entgegen. Manche starben schnell, für andere jedoch wurde es ein langsamer und unerfreulicher Tod. Durch die Herbstwinde hatte der Soldat ihres Vaters eine Entzündung bekommen, gegen die zu kämpfen er zu schwach und mutlos war, sodass er schließlich daran verstarb.

Sie erinnerte sich an die geschmeidige Stärke des Vogts, als er das blaue Schwert geschwungen hatte, und sie gelangte zu dem Schluss, dass ihr der Gedanke an ihn als Krüppel in einem Stuhl nicht gefiel – das kam der mutwilligen Zerstörung eines wunderschönen Kunstwerks gleich.

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte sie.

»Seine Gesundheit ist einer der Gründe, warum wir dich brauchen, Mädchen«, gab Talbot schroff zurück.

»Du musst mir schon mehr darüber erzählen, was genau du von mir willst, bevor ich entscheide, ob ich die Arbeit annehme.«

Talbot nickte. »Das will ich gern tun. Wir haben hier in Landsend einen Mörder.«

Nüchtern erwiderte Sham: »Ich kenne mehrere Dutzend – möchtest du einen davon kennenlernen?« Sie verriet ihre schlagartige Aufmerksamkeit nicht durch das geringste Zucken.

»Ah, aber ich glaube, du kennst keinen wie diesen«, entgegnete Talbot und bewegte sich näher auf sie zu. »Die ersten Opfer schienen willkürlich zu sein – ein Grillspießjunge in einer Taverne in der Nähe des neuen Hafens, ein Böttcher, der Sandmann. Soweit ich es mir anhand von Hirkins Büchern zusammenreimen kann, begann es vor sieben oder acht Monaten.«

»Der Sandmann?«, hakte Sham überrascht nach. »Ich habe gehört, er hätte einige Leute verärgert, als er einen Auftrag annahm, den die Meuchlergilde nicht genehmigt hatte.«

»Das mag schon sein, aber ich glaube nicht, dass die Gilde etwas mit seinem Tod zu tun hatte. Er starb ohne ein Seufzen oder einen Mucks, während seine Mätresse neben ihm schlief. Als sie aufwachte, fand sie den Mann in Streifen geschnitten vor.« Talbot wartete.

»Wie beim Alten Mann«, sagte Sham, da Talbot selbst den Schluss bereits gezogen hatte.

»Ich dachte mir, dass dich das interessieren würde«, meinte Talbot zufrieden. »Die letzten fünf Opfer waren dann Adelige, und nun wird der Hof allmählich unruhig. Der Vogt glaubt, der Täter könnte selbst ein Adeliger sein, und er will, dass jemand die Häuser nach Beweisen durchsucht. Stünde es besser um seine Gesundheit, würde er die Untersuchung selbst durchführen; so hat er stattdessen mich losgeschickt, um einen Dieb zu finden, der die Aufgabe erledigt, ohne die Adeligen dabei völlig auszunehmen. Jemanden, der sich bei ihnen einschleichen könnte.« Talbot begegnete Shams Blick. »Du sollst ruhig wissen, dass ich die Anforderungen ergänzt habe, denn ich selbst glaube nicht, dass unser Mörder ein Adeliger ist – obwohl ich sehr wohl denke, dass er sich unter Adeligen zu Hause fühlt. Und wir haben eine Quelle« – auf das Wort ›Quelle‹ legte er eine merkwürdige Betonung –, »die behauptet, der Mörder halte sich zumindest manchmal in der Feste auf und sei nicht menschlich. Da der Vogt aus dem Osten stammt, hat er den letzten Teil als Unfug abgetan, aber vom ersten Teil ist er beinahe überzeugt.«

»Was glaubst du, wer der Mörder ist?«, wollte Sham wissen und senkte den Blick, damit er ihr nicht die Gedanken an den Augen ablesen konnte.

»Ich glaube, es ist ein Dämon«, sagte er.

Sham schaute auf und wiederholte leise: »Ein Dämon.«

»Aye«, bestätigte er und nickte langsam. »Ein Dämon.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Sham lächelnd, als hätte sie noch nie von dem Dämon namens Chen Laut gehört.

»Seemannsaberglaube«, antwortete er offenherzig. »Ich kenne die Geschichten, und die Morde passen dazu. Der letzte Adelige wurde in seinem versperrten Zimmer getötet. Die Tür musste mit einer Axt eingeschlagen werden, um zu ihm zu gelangen, und es waren keinerlei Geheimgänge zu finden. Wenn es ein Mensch ist, brauchst du nur die Häuser zu durchsuchen. Wenn nicht, hätte ich persönlich lieber eine Magierin, die sich der Kreatur annimmt.«

»Du überschätzt meine Fähigkeiten«, merkte sie an. »Offiziell bin ich noch nicht aus der Lehre entlassen worden.«

»Maur«, erwiderte der Seemann leise, »war ein Mann, der überall einen Eindruck hinterlassen hat, wo er hinging. Von Zeit zu Zeit kam er auf das Schiff, auf dem ich diente – er hat dafür gesorgt, dass ich lesen und schreiben gelernt habe. Nein, ich hätte lieber seinen Lehrling als irgendeinen Magiermeister. Außerdem hat mir der Hai versichert, dass du mindestens so fähig wie jeder andere Zauberer bist, der noch hier in Landsend übrig ist.«

»Ah.« Sham fragte sich, wie viele andere Menschen noch wussten, wer der Alte Mann einst gewesen war.

»Du bist dem Vogt für deine Rettung etwas schuldig«, fügte Talbot leise hinzu. »Auch wenn du Magierin bist, das waren neulich zu viele Gegner, um sie alleine zu besiegen. Der Vogt zahlt gut, und falls das nicht genügt, kommt außerdem noch die Befriedigung hinzu, den Mörder deines Meisters zu finden.«

Sham zog die Augenbrauen hoch und zuckte mit den Schultern, als spiele das keine große Rolle für sie – man durfte sich nie anmerken lassen, wie bereitwillig man manche Köder schluckte. »Vielleicht hast du recht. Auf jeden Fall bin ich dir etwas schuldig. Wann soll ich in die Feste kommen?«

Der ehemalige Seemann blickte mit zusammengekniffenen Augen zur frühmorgendlichen Sonne empor, die langsam aufstieg und den Himmel über den Dächern von Fegfeuer erhellte. »Ich glaube, seine Worte lauteten ›sobald du sie findest‹. Daher denke ich, jetzt gleich wäre ein guter Zeitpunkt.«


Die Cybeller hatten eine Vorliebe für Farben, die Südwäldleraugen fast schon als beleidigend empfanden. Die Bediensteten der Feste, Ostländler und Südwäldler gleichermaßen, trugen Edelsteinschattierungen, die von Saphir und Rubin über Topas bis hin zu Smaragd und Amethyst reichten. Talbot nahm sich dagegen in seinen Braun- und Grautönen geradezu schäbig aus.

Einer der Bediensteten mit den ausdruckslosen Mienen kicherte hinter ihnen, als Sham dem neuen Sicherheitsleiter durch die Eingangshalle folgte. Ohne innezuhalten, rieb sie auffällig an einem der kleineren Flecken auf der Vorderseite ihres Lederwamses. Dann spuckte sie laut darauf und rieb weiter, während sie nach einer besseren Möglichkeit zur Vergeltung Ausschau hielt. Die sorgsam platzierten, juwelenbesetzten Ziergegenstände, die jede verfügbare Fläche übersäten, erregten ihre Aufmerksamkeit.

Shamera ging geringfügig hinter Talbot, ergriff am Eingang eines langen, formellen Versammlungssaals einen aus Gold und Rubinen bestehenden Kerzenhalter und trug ihn quer durch den Raum mit sich. Vor der Tür auf der anderen Seite stellte sie ihn beiläufig auf einem kleinen Tisch ab und lächelte innerlich, als ein Lakai vor Erleichterung seufzte – wobei ihm entging, dass die kleine Figur, die auf diesem Tisch gestanden hatte, plötzlich in der Tasche ihres weiten, linken Ärmels steckte.

Die Figur strotzte vor grünen Edelsteinen. Aufgrund des flüchtigen Blickes, den Sham darauf geworfen hatte, bevor sie das gute Stück verschwinden ließ, hielt sie die Steine eher für Diamanten als für Smaragde. Falls sie damit richtiglag, stellte die Figur eines tanzenden Mädchens einen weit größeren Wert als der Kerzenhalter dar, den gerade jemand hastig an seinen ursprünglichen Platz zurückbrachte, wie sie hören konnte.

Die Alberei lenkte sie von der Tatsache ab, dass der Saal beim letzten Mal, als sie ihn durchschritten hatte, von Leichen übersät gewesen war, von denen sie viele gekannt hatte. Als sie an der Tür vorbeigingen, konnte sie immer noch den jungen Gardisten vor sich sehen, der dort als schlaffer Haufen gelegen und sie mit blinden Augen blicklos angestarrt hatte. Er war nur wenig älter als sie selbst gewesen und hatte sie einst an einem Abend zum Tanzen aufgefordert. Dabei hatte er von seinen Träumen von Abenteuern und Reisen erzählt.

Sham zwinkerte einer scheu wirkenden Dienstmagd zu, die den Burschen mit den zerlumpten Kleidern fassungslos anglotzte. Das Mädchen errötete erst, dann zwinkerte es zurück und strich mit schwieligen Händen das hellgelbe Kleid glatt.

Talbot führte Sham in die privaten Flügel der Feste. Der Unterschied wurde durch das Fehlen von Dienern, die prahlerisch in den Gängen standen, sofort augenscheinlich. In diesem Bereich der Feste kannte sie sich aus, und sie spürte, wie ein Teil ihrer Anspannung verflog.

Ebenso fehlten die kunstvoll gewobenen Teppiche, die in den öffentlichen Räumen die Böden zierten. Doch vielleicht war das auch erst unlängst geändert worden, um einem Rollstuhl das Vorankommen zu ermöglichen. Schließlich säumten auch keine kleinen Tischchen die Gänge wie überall sonst; es gab nichts, woran sich die Räder des Stuhls des Vogts verfangen konnten.

Sie biss sich auf die Unterlippe, als ihr die kleine Figur in ihrem Ärmel zunehmendes Unbehagen bereitete: Der Alte Mann hätte diesen Diebstahl nicht gutgeheißen. Der Vogt hatte auch so genug um die Ohren; den zusätzlichen Kummer, dass die Diebin, die er gezwungenermaßen um Hilfe bitten musste, so hinterhältig war, ihn selbst zu bestehlen, konnte er wahrlich nicht gebrauchen. Sie sah sich nach einem Tischchen um, auf dem sie das alberne Ding unauffällig abstellen konnte, allerdings schien sich Talbots Weg auf die sich hin und her schlängelnden kahl geräumten Korridore zu beschränken.

Schließlich gelangten sie zu einem schmalen Gang, der an die Außenmauer der Feste grenzte. Eine Seite bestand aus dem polierten Marmor, der im Bauwerk vorherrschte, die andere aus dem grob behauenen, weißen Granit eines früheren Zeitalters. Der Gang endete unverhofft an einer Wand mit einer schlichten Tür. Talbot blieb stehen und klopfte verhalten mit den Knöcheln an.

Er hob gerade die Hand, um ein zweites Mal zu klopfen, als sich die Tür lautlos öffnete. Zum Vorschein kam ein weiteres Exemplar jener Diener mit den ausdruckslosen Mienen, gegen die Sham bereits eine tiefe Abneigung entwickelt hatte – eine Abneigung, die durch die Tänzerin in ihrem Ärmel noch verstärkt wurde. Wenn dieser fade Gesichtsausdruck nicht gewesen wäre, der besagte ›Ich bin ein Diener‹, dann hätte sie das vermaledeite Ding überhaupt nie genommen. Mit finsterer Miene starrte sie den drahtigen Mann an, der die Tür aufhielt.

»Der Vogt erwartet dich schon, Meister Talbot. Komm herein.« Seine Stimme klang so nichtssagend, wie sein Gesicht aussah.

Sham gab einer inneren Regung nach, die ihr in der Vergangenheit schon oft Kummer bereitet hatte, ließ die Figur in ihre Hand gleiten und reichte dem Kammerdiener die kleine Tänzerin mit ihren funkelnden grünen Augen und dem juwelenbesetzten Kostüm.

»Das vermisst bestimmt schon jemand«, meinte sie in beiläufigem Tonfall. »Vielleicht willst du es in den ersten langen Raum rechts des Haupteingangs bringen und einem der Lakaien geben.«

Aus einer dunklen Ecke des Raumes drang das kurze Prusten männlichen Gelächters. »Dickon, bring das alberne Ding in den Smaragdraum, und gib es einem der Diener meiner Mutter, bevor sie vor Entsetzen verschrumpeln.«

Mit nur einem leichten, missbilligenden Nicken verließ der Hausknecht den Raum und trug die Figur dabei mit zwei Fingern, als könne sie ihn beißen.

Sham ließ den Blick durch das weitläufige Zimmer wandern, dem es trotzdem irgendwie gelang, überfüllt zu wirken. Teilweise lag es daran, wie die Möbel angeordnet standen, um für einen Rollstuhl gut zugänglich zu sein, aber größtenteils war es auf die bunte Fülle der Waffen und Rüstungen zurückzuführen, die sich über Wände, Bänke und Regale verteilten.

»Danke, Talbot. Wie ich sehe, hast du sie gefunden.« Als der Vogt sprach, rollte er ins Licht, das durch die bunten Glasscheiben der drei großen, hoch in der Außenwand eingebauten Fenster fiel. Wenngleich die ursprünglichen Erbauer das Gebäude als Befestigung geplant hatten, war von späteren Königen Südwalds eine zweite Ringmauer hinzugefügt worden, um Sicherheit mit Behaglichkeit und Licht zu kombinieren.

Sham war überrascht, dass der Vogt kaum verändert wirkte. Trotz des Stuhls, in dem er sitzen musste, ließ die Seide seiner dünnen Tunika die kräftigen Muskeln der Oberarme und Schultern erkennen. Auch ohne die Masse des Kettenhemds, das er in der Nacht der Geistebbe getragen hatte, war er ein überaus beeindruckender Mann. Über seinen Unterkörper ließ sich wenig sagen, weil der unter einer dicken Decke verborgen lag.

»Hast du deine Neugier befriedigt?« In seiner Stimme schwang Verbitterung mit, obwohl ihn seine angeborene Höflichkeit Südwäldisch statt seiner Muttersprache verwenden ließ.

Sham schaute in sein Gesicht auf und entdeckte darin die Veränderungen, die der Körper nicht erkennen ließ. Vor Schmerzen wirkten seine Augen beinahe schwarz, und seiner Haut verliehen sie einen Grauton anstatt des vorherigen, warmen Brauns. Tiefe Linien, an die sich Sham nicht erinnern konnte, erstreckten sich rings um seine Augen und von der Nase bis zu den Lippen.

Er war ein noch junger Soldat, der offensichtlich die Gesellschaft eines Kindes vorzog, das zu jung war, um seine Neugier zu verbergen, statt das Mitleid ehemaliger Kameraden zu ertragen. Deshalb fiel ihre Erwiderung anders aus, als es die Höflichkeit geboten hätte.

»Nein.« Ihr Tonfall klang unverbindlich. »Bedeckst du deine Beine, weil sie verunstaltet sind oder weil dir kalt ist?«

Sie wusste, dass sie sich richtig entschieden hatte, als sein schallendes Gelächter Talbots Japsen ob ihrer Dreistigkeit übertönte.

»Ein bisschen von beidem, würde ich sagen«, antwortete Kerim angesichts seiner vorherigen Verbitterung überraschend humorvoll. »Die vermaledeiten Dinger haben angefangen, sich zu krümmen. Da es selbst mir Unbehagen bereitet, sie anzusehen, möchte ich den Anblick auch niemand anderem zumuten.«

Sham beobachtete, wie er etwas unbehaglich das Gewicht im Stuhl verlagerte, und meinte: »Du solltest den Sitz dicker polstern lassen. Und wenn du einen Stellmacher fragst, wird er dir sagen, dass sich leichtere, größere Räder einfacher drehen lassen. Du könntest es mit so was wie Rennkarrenrädern versuchen.« Sie zuckte mit den Schultern und ließ sich auf der breiten Armlehne eines kostspieligen Stuhls nieder. »Wenn mehr Polsterung und größere Räder bei Pferdewagen etwas bringen, dann bestimmt auch bei dir.«

Der Vogt lächelte. »Ich werde darüber nachdenken. Nun denn, ich gehe davon aus, dass Talbot dir erklärt hat, wofür wir dich brauchen, richtig?«

Shamera grinste ihn an. »Er hat gesagt, dass ich die Häuser der Adeligen mit deiner Erlaubnis durchwühlen darf. Das wird mir meine Arbeit zweifellos erleichtern, auch wenn sie dann nicht so viel Spaß macht.«

Talbot räusperte sich warnend, aber Kerim schüttelte den Kopf und sagte: »Geh nicht darauf ein, sie ködert dich doch nur.«

»Wer wird sonst noch von mir wissen?«, erkundigte sie sich und stellte unverhofft fest, dass sie zum ersten Mal seit langer Zeit richtig Spaß hatte.

»Nur Talbot und ich«, antwortete der Vogt. »Ich weiß nicht, wem ich sonst vertrauen kann.«

»Was ist mit deiner Quelle?«

Der Vogt zog die Augenbrauen hoch.

»Du weißt schon, die Quelle, die behauptet, dass sich der Mörder hier herumtreibt.«

»Elsic«, warf Talbot ein. »Er weiß nichts von dir, und wir werden es ihm auch nicht sagen.«

Sham betrachtete die leicht betretene Miene des Vogts und Talbots unverbindlichen Gesichtsausdruck und entschied, dass sie gleich zu Beginn nach diesem Elsic suchen würde.

»Gibt es ein bestimmtes Haus, das ich als Erstes … erkunden soll«, fragte sie.

Kerim schüttelte den Kopf und brummte gereizt. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo wir anfangen sollen. Wenn du tatsächlich so regelmäßig in die Herrenhäuser von Landsend einsteigst, wie die Flüsterer behauptet haben, dann hast du wahrscheinlich eine bessere Vorstellung davon als ich.«

Sham schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin bei meinen Zielen ziemlich wählerisch. Von jemandem mit engen Beziehungen zur Feste habe ich schon seit … hm … mindestens einem Jahr nichts mehr gestohlen.« Sie log natürlich – aber erwarteten sie etwa wirklich, dass sie ihnen etwas Handfestes gab, das genügte, um sie hängen zu lassen?

Der Vogt grunzte; beinahe hoffte sie, er würde schon wissen, wie viel ihre Antwort wert war. »Talbot und ich haben uns darüber unterhalten. Wir dachten, es könnte hilfreich für dich sein, die Menschen am Hof kennenzulernen, bevor du entscheidest, welche Anwesen du … erkundest. Ich ermüde in letzter Zeit zu leicht, um mich über den neuesten Klatsch auf dem Laufenden zu halten, und Talbot hat keinen Zugang zum eigentlichen Hof, da er nicht nur ein Fremder und Bürgerlicher ist, sondern auch Südwäldler.«

»Das gilt für mich auch«, merkte Shamera an. »Eine Fremde, eine Bürgerliche und Südwäldlerin.«

Talbot brummte. »Aber du bist auch nicht der Sicherheitsleiter.«

Sie gestattete sich, belustigt die Lippen zu verziehen. »Wie wollt ihr mich denn am Hof einführen? ›Verzeiht, aber ich möchte Euch die Diebin vorstellen, die Euch regelmäßig um Euer Gold erleichtert. Sie wird sich ein wenig umsehen und versuchen herauszufinden, wer von Euch Menschen umbringt, also sagt ihr besser freiheraus, wer der Täter ist.‹«

Kerim lächelte zuckersüß mit einer solchen Unschuldsmiene, dass Shamera auf Anhieb wusste, ihr würde nicht gefallen, was er gleich vorschlagen würde. »Die ursprüngliche Idee sah so aus, dass du ein Mitglied meines Hausstabs wirst.«

Ungläubig zog Sham die Augenbrauen hoch. »Die Hälfte der Bediensteten weiß bereits, wer ich bin, und die andere Hälfte wird es wissen, bevor ich heute Vormittag hier weggehe. Der einzige Grund, warum mich die Häscher noch nicht geholt haben, ist, dass sie mir nicht nachweisen können, was ich tue. Und du hast den Ruf, Häscher zu bestrafen, die mit zu viel Eifer und zu wenigen Beweisen arbeiten. Wobei ich, wie ich hinzufügen möchte, ausgesprochen dankbar dafür bin, dass du dir diesen Ruf verdient hast.«

Kerims Lächeln wurde noch breiter, und die Unschuld wurde jäh durch eine Verschmitztheit und raubtierhaft anmutende Entschlossenheit ersetzt, die Sham erneut vor Augen führte, wie gut die Bezeichnung Leopard zu diesem Mann passte. »Als wir herausfanden, wer und was du bist, Fräulein, fiel Talbot und mir ohnehin eine wesentlich bessere Lösung ein. Man kennt dich als Sham, den Dieb – einen Jungen. Nun wirst du als Lady Shamera auftreten, meine Mätresse.«

Talbot hob die Hand an den Mund und hüstelte, als Sham einen unflätigen Fluch hervorspie, den sie von einem der erfindungsreicheren Männer ihres Vaters aufgeschnappt hatte.

»Ganz so weit brauchst du nicht zu gehen, Mädchen«, beruhigte der Vogt sie und ahmte dabei Talbots Seemannsakzent passabel nach. »Ich verlange nichts so … Anstrengendes von meinen Geliebten.«

Sham bedachte Kerim mit einem bösen Blick, verkniff sich aber eine Erwiderung. Er war beinahe so gut darin, sie aufzuziehen, wie sie es umgekehrt auch war, und sie weigerte sich, ihm eine weitere Vorlage zu liefern. Stattdessen holte sie tief und gleichmäßig Luft und ließ sich durch den Kopf gehen, was er da vorschlug, wobei sie mit dem Fuß verärgert auf den Boden tappte.

»Ich vermute mal«, sagte sie schließlich und hackte jedes Wort so ab, als schmerze es beim Aussprechen, »das soll heißen, dass ich die Rolle der Mätresse nur spielen soll, statt sie wirklich einzunehmen. Wenn das zutrifft, bin ich geneigt einzuräumen, dass eine solche Rolle ihren Vorteil hat.«

Darauf schlug ihr eine kurze Stille entgegen, als hätten weder Kerim noch Talbot damit gerechnet, dass sie so widerstandslos einwilligte. Bevor einer der Männer Gelegenheit hatte, etwas zu sagen, öffnete sich die Tür, und Dickon kehrte von der Rückgabe der Tänzerinnenfigur zurück. Sham schleuderte ihm einen missfallenden Blick zu, dem er mit Interesse begegnete.

Der Diener räusperte sich und wandte sich an den Vogt. »Als ich im Smaragdraum eintraf, war Ihre Ladyschaft bereits gerufen worden. Sie verlangte zu erfahren, wie ihre Figur in meine Obhut gelangt sei. Ich hatte keine andere Wahl, als ihr mitzuteilen, wie es dazu gekommen war. Sie wies mich an, Euch zu bestellen, dass sie gleich hier sein werde.«

»Dickon, warte vor der Tür, um sie hereinzugeleiten«, befahl der Vogt barsch, und der Diener reagierte auf seinen Tonfall, indem er flugs gehorchte.

»Höllenfeuer«, fluchte Kerim. »Wenn sie dich sieht, erkennt sie dich wieder, wenn du später als Lady auftrittst. Meine Mutter besitzt so scharfe Augen, dass sie denen eines Adlers zur Ehre gereichen.« Hastig fuhr er zum Kamin, der eine der Innenwände nahezu vollständig einnahm, und drückte auf eine Schnitzerei. Eine Platte der Holztäfelung an der Wand neben der Feuerstelle glitt lautlos nach innen und rollte zur Seite, sodass ein Durchgang zum Vorschein kam.

»Ah!«, kommentierte Sham. »Der Geheimgang am Kamin – wie überaus originell.«

»Da der Boden des Gangs jede zweite Woche gewischt wird, würde ich ihn wohl kaum als ›geheim‹ bezeichnen«, entgegnete der Vogt etwas höhnisch. »Trotzdem ermöglicht er es dir, eine Begegnung mit meiner Mutter auf den Korridoren zu vermeiden. Talbot, sorge dafür, dass sie eine Garderobe erhält und sauber gemacht wird, und komm hierher zurück, so bald du kannst.«

Sham verneigte sich vor dem Vogt, folgte anschließend Talbot in den Gang und schob die Tür hinter sich zu.


»Wir müssen dir Kleider besorgen, die standesgemäß für eine Mätresse des Vogts sind«, erklärte Talbot.

»Selbstverständlich«, pflichtete Sham ihm ungezwungen bei, ohne die Schritte zu verlangsamen.

»Lord Kerim hat mich aufgefordert, dich mit nach Hause zu nehmen. Meine Frau kann etwas für dich zum Anziehen auftreiben, bis eine Schneiderin etwas anfertigen kann.« Er räusperte sich. »Er meinte auch, wir sollten uns eine Woche Zeit nehmen, um etwas, äh … an deinem Hofgebaren zu arbeiten.«

»Ihr meint, es würde sich nicht schicken, wenn die Mätresse des Vogts wertvolle Figuren mitgehen lässt?«, fragte Sham in hoftauglichem Cybellisch, blieb stehen und sah Talbot an. »Ich bin mit Euch einer Meinung, guter Mann. Lord Kerims Ruf darf nicht unter derlei Possen leiden.«

»Na so was«, murmelte Talbot und rieb sich das Kinn. »Dann müssen wir uns wohl doch nur über die Garderobe den Kopf zerbrechen.«

Shamera nickte nur und setzte sich wieder in Bewegung. Nach etwa einer Meile räusperte sich Talbot. »Ach, Mädel, wo willst du hin? In Fegfeuer gibt es keinen Laden, der die Art von Seide und Samt führt, die du brauchst.«

Sie bedachte ihn mit einem schlitzohrigen Grinsen. »Sei dir da mal nicht so sicher. Wenn es etwas gibt, das Menschen kaufen, dann wird es in Fegfeuer auch verkauft.«

Talbot lachte und folgte ihr tiefer hinein in den Bezirk.


»Das Problem, mit dem wir es zu tun haben«, erklärte sie, als sie ihn über den geröllübersäten Boden eines kleinen, aufgegebenen Geschäfts in der Nähe der Küste führte, »besteht darin, dass die Mätresse eines hochrangigen Würdenträgers immer Kleider von einem bekannten Schneider tragen muss. Die meisten davon würden jemanden, der so wie ich angezogen ist, nicht einmal durch die Tür hineinlassen. Und wenn es uns gelänge, einen zu finden, der das doch täte, wäre das am nächsten Morgen das Stadtgespräch schlechthin.«

Sie blieb stehen und zog einen Abschnitt loser Bretter beiseite, wodurch eine Öffnung zu einem Kriechkeller zutage trat, den der ursprüngliche Besitzer des Gebäudes für Lagerzwecke verwendet hatte. Shamera hatte mehrere solcher Speicher über ganz Fegfeuer verteilt, und sie achtete darauf, nie in der Nähe eines solchen zu schlafen. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sie weniger von ihren Habseligkeiten einbüßte, wenn sie diese nicht bei sich trug.

»Du bist zu groß, um da reinzupassen, Talbot. Warte kurz.«

Sham schlüpfte mit der Mühelosigkeit langer Übung durch den Spalt und schlängelte sich durch den schmalen Kriechgang, bis sie zu einer Vertiefung gelangte, die jemand zu einem einigermaßen großen Hohlraum unter dem Gebäude nebenan ausgeweitet hatte. Hier wischte kein Mensch alle zwei Wochen den Boden, und der Staub brachte ihre Augen zum Tränen.

Sie beschwor ein Magierlicht und fand die große Holzkiste, die den Großteil ihrer Kleidung enthielt. Shamera hob den Deckel an und kramte durch die verschiedenen Verkleidungen, die sie hier eingelagert hatte, bis sie auf ein Bündel stieß, das sie sorgfältig in ein altes Laken gewickelt hatte, um den Inhalt vor Staub zu schützen. Aus einer Eingebung heraus nahm sie auch ihre zweitbeste Diebeskluft mit und fügte sie dem Bündel hinzu.

Wieder im Dunkeln, robbte sie durch den schmalen Tunnel zurück nach draußen. Sie rückte die Bodenbretter erneut an ihren Platz und scharrte mit den Füßen umher, bis der Staub neben ihnen genauso wenig aufgewühlt aussah wie im restlichen Raum.

»Wenn du dich kurz umdrehst, ziehe ich mir etwas an, das die Schneider annehmbar finden dürften.«

Talbot nickte und entfernte sich einige Schritte, blickte durch das dreckverkrustete Fenster hinaus auf die verschwommenen Gestalten von Menschen, die draußen auf der kopfsteingepflasterten Straße vorbeigingen, und meinte: »Für eine Diebin aus Fegfeuer weißt du eine ganze Menge über den Hof.«

Sham nahm ihren Gürtel ab und legte ihn beiseite, nachdem sie den kleinen Beutel gelöst hatte, der die wenigen Kupferstücke enthielt, mit denen sie durch die Straßen reiste. Das verschaffte ihr Zeit, um über ihre Erwiderung nachzudenken.

»Meine Mutter war eine Hofdame des Königs, mein Vater ein Kleinadeliger.« Damit deutete sie an, dass ihre Eltern Hofschmarotzer gewesen waren, verarmter niederer Adel mit Ansprüchen, aber wenig mehr; Leute, die sich nur der kostenlosen Unterkunft und Verpflegung wegen am Hof herumtrieben. Nicht besonders schmeichelhaft für sie, aber irgendwie widerstrebte es Sham, den Namen ihres Vaters zu beflecken, indem gemeinhin bekannt wurde, dass sich seine Tochter als Diebin verdingte. Sie legte das Geld beiseite und holte einen Kamm, einige Haarnadeln und ein sauberes Tuch hervor, bevor sie ihre Kleidung auszog.

»Konntest du denn nirgendwohin? Ich würde nicht wollen, dass ein junges Hoffräulein gezwungen ist, in Fegfeuer zu leben.« Als der Ehrenmann, der er war, ließ ihr Talbot den Rücken zugekehrt.

»Nachdem die Feste gefallen war? Nein. Meine Eltern starben, als die Tore geöffnet wurden. Sie hatten keine Verwandten, die den Einmarsch überlebten.« Es hatte damals niemanden gegeben, an den sie sich wenden konnte – nur einen blinden alten Mann, der ihr Lehrmeister gewesen war. Auch er hatte den Wunsch verspürt, zu sterben, doch das hatte sie nicht zugelassen. Vermutlich wäre er lieber damals verschieden, als die letzten zwölf Jahre blind und ohne Magie weiterzuleben.

»Wie hast du dich durchgeschlagen?«

»Nicht, indem ich meinen Körper verkauft habe«, gab sie nüchtern zurück und fand das Mitgefühl in seiner Stimme merkwürdig verstörend. Sie benutzte einen Hauch Magie, um das Tuch zu befeuchten, damit sie die Hände und das Gesicht reinigen konnte, so gut es ging. Der Rest ihres Körpers war sauberer als die der meisten Menschen, die in Fegfeuer lebten, aber saubere Hände und ein sauberes Gesicht wären zu auffällig gewesen. »Ich verstand ein wenig von Magie. Das Diebeshandwerk ist keine schlechte Möglichkeit, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, jedenfalls nicht nach dem ersten Mal – obwohl ich eine Hure kenne, die dasselbe über ihr Handwerk sagt. Meine Wahl ermöglicht aber eine längere Laufbahn.«

»Wenn du nicht gefasst wirst«, schränkte Talbot ein, wobei er sich ihres nüchternen Tonfalls bediente.

»Das stimmt natürlich«, pflichtete Sham ihm höflich bei.

Sie faltete das Laken auseinander und entnahm dem Bündel das blaue Unterkleid aus Musselin, schüttelte es aus, so gut sie konnte. Die verbleibenden Knitterfalten wurden rasch mit einem weiteren Hauch von Magie beseitigt. Unter gewöhnlichen Umständen vergeudete sie ihre Kraft nicht für etwas so Unbedeutendes, aber sie hatte keine Zeit, ein Bügeleisen zu erhitzen.

Als sie das Kleid angezogen hatte, steckte sie das Messer, das sich für gewöhnlich in ihrem Stiefel befand, in eine Scheide am Oberschenkel und schob die Hand durch das Loch im Rock, um zu überprüfen, ob sie den Griff gut erreichen konnte. Es gestaltete sich etwas schwierig, deshalb zog sie die Scheide über die schmalen Lederstreifen, die sie sich um den Oberschenkel gebunden hatte, bis sie die Hand auf natürlichere Weise um das Heft des Messers legen konnte.

Armscheide und den Dolch darin musste sie zwar weglassen, doch die lange, spitze Haarnadel war beinahe genauso gut. Das gelbe Überkleid verdeckte den schmalen Schlitz im Rock, war jedoch an den Seiten offen, sodass es ihren Zugriff auf das Messer nicht behinderte. Ein Paar flache gelbe Schuhe vervollständigte die Aufmachung.

»Du kannst dich jetzt umdrehen«, sagte sie und rollte die Kleider, die sie zuvor getragen hatte, in das Bündel, das aus dem Versteck stammte. Sie löste ihr Haar aus dem Zopf und zog den kleinen Holzkamm gnadenlos durch die dichten Strähnen, bis es ihr gelang, sie ordentlich auf dem Kopf einzudrehen und mit der gefährlichen Haarnadel zu sichern.

»Jetzt«, verkündete sie, »sind wir bereit, die Schneider zu besuchen und eine Garderobe anzuschaffen.«


Shamera stolzierte in die Feste und überließ es Talbot, sich um das Verstauen ihrer Einkäufe zu kümmern. Ohne einen Blick nach links oder rechts folgte sie dem Weg, den sie bereits zuvor an diesem Tag beschritten hatte.

Talbots Einwand, dass sich der Vogt keine Frau von fragwürdigem Geschmack als Mätresse nehmen würde, hatte sie vom Tisch gewischt. Jeder wusste, dass der Vogt noch nie eine Mätresse gehabt hatte, also musste sie außergewöhnlich sein. Angesichts ihrer herben Züge und ihres zierlichen Körpers blieb dafür nur ihre Aufmachung.

Das Kleid, das sie jetzt trug, war schwarz, eine Farbe, die sich Cybeller ausschließlich für Trauerfälle vorbehielten. Sie hatte von der Näherin den Ausschnitt vertiefen und die Ärmel abnehmen lassen, wodurch ein Großteil ihres Oberkörpers entblößt blieb. Kleine saphirblaue Blumen, die auf Shameras Verlangen hastig von einem anderen Kleid abgerissen worden waren, zierten hier und da den Satinrock ihres Kleids.

Ihre von den üblichen Bändern befreiten Haare hingen ihr in dichten, sanften Wellen über die Schultern, bis mitten auf den Rücken hinab. Die Lippen hatte sie mit einem zarten Rosa bemalt, die großen Augen nachgezogen, die Wimpern mit Kohlfarbe nachgedunkelt. Das Gesicht hatte sie gepudert, bis es noch weißer als sonst schimmerte und einen krassen Gegensatz zu den dunkelhäutigeren Cybellern bildete. Sogar ihre Körpersprache hatte sie angepasst und ihren üblichen, knabenhaften Gang gegen sinnlich wogende Schritte ausgetauscht, mit denen sie auf völlig andere Weise dieselbe Geschwindigkeit erzielte.

Als sie aus dem Ankleideraum der Schneiderei gekommen war, hatte Talbot zu lachen angefangen.

»Niemand, aber wirklich niemand, wird dich mit Sham, dem Dieb verwechseln.« Sogar die unverschämte Höhe der Rechnung, die infolge ihrer Wünsche angefallen war, hatte nicht ausgereicht, um das breite Grinsen aus seinem Gesicht verschwinden zu lassen.


Shamera verzichtete darauf, an die Tür des Vogts zu klopfen. Sie stieß sie einfach so kräftig auf, dass sie mit einem hohlen Laut gegen die Wand prallte.

»Liebling«, sprudelte es aus ihr auf Cybellisch mit deutlichem Akzent heraus. »Ich konnte es nicht glauben, als ich erfuhr, dass du krank bist. Ist das der Grund, weshalb du dich von mir getrennt hast?«

Nach einer dramatischen Pause an der Tür eilte Shamera an seine Seite, zog dabei eine teure Duftnote hinter sich her und schien nicht im Geringsten auf die verdutzten Mienen in den Gesichtern des Mannes und der Frau zu achten, die auf Stühlen neben Kerim saßen. Als sie den Raum durchquerte, warf sie jedoch aus dem Augenwinkel einen Blick auf die beiden.

Die Frau war zierlich und trotz der feinen Linien um ihren Mund und ihre Nase wunderschön. Sie besaß dieselbe Anmutung wie der Vogt: dichtes dunkles Haar, die Haut ein warmes Braun, ausdrucksstarke dunkle Augen. Als junge Frau musste sie außergewöhnlich schön gewesen sein – sogar noch in diesem Alter mit silbrigen Strähnen und etwas schlaff gewordener Haut am Hals hätte sie in jedem der besseren Freudenhäuser in Fegfeuer gut verdient.

Der Mann, der neben ihr saß, war ähnlich gutaussehend; seine Züge bestachen durch zierliche Knochen, eine feinere Ausgabe des Gesichts des Vogts. Die großen dunklen Augen besaßen lange Wimpern. Bei ihrem Erscheinen verzogen sich die Lippen zu einem herzlichen, anerkennenden Lächeln, wodurch ein Grübchen zum Vorschein kam.

Shamera erreichte den Stuhl des Vogts, beugte sich vor und drückte ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf den Mund, den sie länger als beabsichtigt andauern ließ, als er mit ebenbürtiger Inbrunst mitspielte. Etwas außer Atem löste sie sich von ihm, ehe sie noch vor den Augen der Frau, die dem Ausdruck moralischer Entrüstung nach nur seine Mutter sein konnte, auf seinem Schoß landete.

»Aber Liebster, was gibt man dir hier bloß zu essen?« Mit aufrichtigem Entsetzen betrachtete Sham den Brei auf einem Tablett, das auf dem Tisch neben Kerims Stuhl stand. Sie ergriff das Tablett und wandte sich an den im Schatten stehenden Diener, wo ein guter Diener lernte, sich zu Hause zu fühlen.

»Du, wie ist dein Name?«

»Dickon, Lady.«

»Dickon, bring das zurück in die Küche, und hol etwas, das sich für einen Mann zum Essen eignet.« Sie dehnte die Selbstlaute bei ›einen Mann‹ bewusst ein wenig, sodass es sich um einen Akzent handeln könnte.

Der Diener trat vor, um das Tablett entgegenzunehmen. Dabei versteifte sich sein Körper nur geringfügig, als er ihr Gesicht deutlich zu sehen bekam. Aber er ergriff das Holzbrett mit den Goldintarsien wortlos und verließ das Zimmer, bevor jemand Gelegenheit hatte, Einwände gegen Shameras Befehl zu erheben. Sie wandte sich wieder den drei im Raum Verbliebenen zu und stellte fest, dass Kerim die Herrschaft über sein unterdrücktes Gelächter verloren hatte.

Mit geweiteten Augen sah sie ihn an und fuchtelte dramatisch mit den Händen, als sie sagte: »Du schrecklicher Mensch – ich komme, um dich zu retten, und du lachst mich aus! Ich denke, ich sollte wieder gehen.« Damit machte sie auf dem Fuße kehrt und trat zwei Schritte auf die Tür zu.

»Shamera.« Kerims Stimme klang dunkel, und Sham fühlte sich, als hätte er ihr mit einer Hand über den Rücken gestreichelt. »Komm her.«

Mit einer Schmollmiene drehte sie sich wieder um und verschränkte die Arme unter den Brüsten. Damit bewirkte sie, dass dem anderen Mann im Raum ein leiser Fluch der Bewunderung entfuhr. Die Augenbrauen der tadellos gekleideten Frau schossen empor, als Shameras Kleid ein Stück tiefer rutschte. Sie mochte an sich zierlich sein – aber eben nicht überall.

»Shamera.« In der Stimme des Vogts schwang ein unterschwellig warnender Tonfall mit, aber Sham war froh, dass ihn gerade niemand außer ihr ansah. Keinem Menschen wäre der Ausdruck innerer Belustigung entgangen, der seine Augen umspielte. Sie spürte, wie ihre Lippen das Schmollen aufgaben und sich stattdessen zu einem aufrichtigen Lächeln verzogen.

»Es tut mir leid«, entbot sie mit leiser Stimme und durchquerte gehorsam das Zimmer, »aber du weißt, dass ich es nicht mag, wenn ich ausgelacht werde.«

Er ergriff die sich ihm entgegenstreckenden Hände und führte sie entschuldigend an seine Lippen. »Liebstes Herzblatt, deine Gegenwart ist wie ein Hauch des Sommers in diesen dunklen Gemächern.« Er sprach mit einer sinnlichen Stimme, die so manche junge Maid in Verzückung versetzt hätte.

»Unsere Gegenwart ist offensichtlich nicht länger erforderlich«, merkte der andere Mann an. »Komm, Mutter.« Die ältere Frau ergriff seinen Arm und ließ sich von ihm beim Aufstehen helfen.

»Wartet«, forderte der Vogt die beiden auf und hob gebieterisch eine Hand. »Ich möchte euch Lady Shamera vorstellen, die Witwe von Lord Ervan von Burg Steilwand. Lady Shamera, meine Mutter, Lady Tirra, und mein Bruder, Lord Ven.«

Shameras leichter Knicks wurde dadurch behindert, dass Kerim ihre Hand nicht losließ. Sie lächelte die beiden an und wandte sich wieder Kerim zu, ohne abzuwarten, ob sie den Gruß erwidern würden. Mit der freien Hand strich sie Kerim einige Strähnen aus den vergnügten Zügen.

Shamera hörte, wie Lady Tirra Luft holte, um etwas zu sagen, als Kerims Diener mit einem neuen Tablett aus der Küche zurückkam. Sham richtete sich auf, ergriff das Tablett und schenkte dem Diener für sein zeitgerechtes Auftauchen ein herzliches Lächeln. Schließlich konnte sie nicht sicher sein, wie weit sie den Bogen bei Lady Tirra spannen durfte, ohne Kerim zu schaden. Sie hielt das Tablett geschickt mit einer Hand und hob mit der anderen den Warmhaltedeckel an. Darunter kam gebratenes Hähnchen mit Gemüseallerlei zum Vorschein.

»Ah, das ist viel besser. Danke, Dickon.«

Der Diener verneigte sich und zog sich in den Winkel zurück, wo er zuvor gestanden hatte, während Sham das üppig verzierte Holztablett auf Kerims Schoß statt auf den nahen Tisch stellte. Sie kniete sich vor ihn, ohne auf den Schaden zu achten, den sie dadurch an dem von der Schneiderin so sorgfältig gebügelten Material verursachte.

»Iss, mein Leopard. Danach unterhalten wir uns«, gurrte sie im sinnlichsten Tonfall, den sie zustande brachte. Offenbar erzielte sie damit die gewünschte Wirkung, denn sie hörte das Rascheln von steifem Stoff, als Kerims Mutter vor weiterer Entrüstung den Körper versteifte.

Ohne den Blick von Shamera zu lösen, sagte Kerim: »Danke, Mutter, für deine Anteilnahme. Wie es scheint, werde ich heute Abend doch nicht alleine essen. Die Edelmänner des Hofes harren bestimmt schon ungeduldig deiner verspäteten Ankunft.«

Lady Tirra fegte aus dem Raum, ohne ein Wort zu verlieren, und ließ ihren jüngsten Sohn hinter sich hertrotten.

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