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»Vermutlich wäre es klüger, bis zur nächsten Abendsitzung zu warten«, erklärte der Vogt, als er sie durch die Korridore führte, »aber dann werden so viele Leute da sein, dass man die eigenen Gedanken nicht mehr hören kann. Außerdem würde ich die Wirkung dieses Kleids nicht vergeuden wollen.«

Sham brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er lächelte. »Ich hoffe, du erinnerst dich noch daran, wie sehr es dir gefällt, wenn du von der Schneiderin die Rechnung dafür bekommst.«

Er lachte. »Für gewöhnlich gibt es am Hof Unterhaltungsangebote verschiedenster Art – Musik zum Tanzen, einen Barden oder Ähnliches.« Er verstummte, und sein Stuhl wurde langsamer, als er ihr einen gehässigen Blick zuwarf. »Mir wurde gesagt, dass es heute Nachmittag eine Zaubervorstellung geben wird.«

»Ich freue mich schon darauf«, erwiderte Sham trocken, und Kerim lachte erneut.

Als sie sich dem öffentlichen Bereich näherten, wurden die Gänge breiter und waren auch kostspieliger eingerichtet. Kerim nickte den Lakaien zu, die eine breite Doppeltür für sie öffneten. Als Sham und Kerim den Raum dahinter betraten, scharten sich sofort Leute um sie. Sie blieben stetig in Bewegung, während er jeden Einzelnen, der sich näherte, begrüßte und Sham vorstellte. Sie nickte und lächelte strahlend. Dann fiel ihr Blick auf die Stelle, an der sie die Leiche ihrer Mutter gefunden hatte.

Shamera legte dem Vogt die Hand auf die kräftige Schulter und umfasste sie mit festem Griff, als sie sich der Flut von Erinnerungen entgegenstemmte. Sie hoffte, er würde es dem Lampenfieber zuschreiben. Nach wenigen Augenblicken verblasste die Eindringlichkeit der Erinnerungen, und der Saal wurde lediglich zu einem auf Hochglanz polierten Raum voll schillernd gekleideter Menschen.

Als Mätresse des Vogts verkörperte sie eine unbekannte Größe in der Politik am Hof, die drohte, bestehende Einflussverhältnisse aus dem Gleichgewicht zu bringen. Shamera achtete darauf, sich dumm zu geben und ihre Aufmerksamkeit auf Kerim zu bündeln – was viel zur Belustigung beitrug, die in seinen Augen schimmerte.

»Kerim«, sprach Lady Tirra, die von hinten auf sie zukam. »Du hast mir gesagt, du würdest dafür sorgen, dass Lady Sky ihre Ländereien und ihr Besitz übergeben werden. Sie hat mir mitgeteilt, dass ihr der Bruder ihres Gemahls nach wie vor das Recht auf das Landgut in Fahill verweigert.«

Kerim nickte. Ein Großteil des Frohsinns floss aus seinen Zügen ab, als er sich umdrehte und seine Mutter anschaute, wenngleich er dabei sorgsam darauf achtete, eine höfliche Miene zu bewahren. »Ich verhandle derzeit mit ihm. Es wäre ausgesprochen hilfreich gewesen, wenn du nicht selbst eine Nachricht an Johar geschickt hättest. Jetzt ist er so wütend, dass unter Umständen eine vollwertige Belagerung nötig ist, um ihn dazu zu bringen, das Anwesen aufzugeben. Er hat sich sogar die Beschuldigung einfallen lassen, Lady Sky hätte Fahill ermordet.«

»Lächerlich«, entgegnete Lady Tirra ansatzlos. »Er ist bloß habgierig, und du bist zu besorgt darüber, du könntest seine Spießgesellen verärgern, um ihm die Flügel ordentlich zu stutzen.«

Der Vogt lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich gebe dir recht, dass Lady Sky nichts mit Fahills Tod zu tun hatte, Mutter. Das ist ein offensichtlicher Vorwand in dem Versuch, die Ländereien zu behalten. Wir werden ihr nicht den gesamten Landbesitz verschaffen können, aber wenn du aufhörst, mir zu ›helfen‹, kann ich einen vernünftigen Kompromiss zustande bringen.«

»Mit ihrem Besitz und dem deinen vereint hättest du genug Vermögen, um deinen Rang unangreifbar zu machen«, legte Lady Tirra angriffslustig nahe und ließ Sham zu dem Schluss gelangen, dass sie dies schon öfter vorgeschlagen hatte.

Der Vogt schäumte sichtlich vor Wut. »Der Einzige, der mich von meinen Pflichten entbinden kann, ist Altis’ Prophet, Mutter. Er lässt sich nicht vom Vermögen und der Macht derer beeinflussen, die Einwände gegen meine Herrschaft haben. Darüber hinaus werde ich Lady Sky nicht heiraten. Sie war die Gemahlin meines teuersten Freundes –«

»Der seit acht Monaten tot ist«, fiel sie ihm forsch ins Wort. »Es ist an der Zeit, dass ich Enkelkinder bekomme. Ich hätte nichts dagegen, Lady Skys Kind als das Erste anzunehmen.«

»Dann verheirate sie doch mit meinem Bruder«, gab er ungeduldig zurück. »Sie und er sind ohnehin seit geraumer Zeit Geliebte. Hätte er ihr einen Antrag gemacht, hätte sie ihn schon vor drei Monaten geheiratet.« Er holte tief Luft und senkte die Stimme, um von niemandem gehört zu werden, den es nichts anging. »Du weißt, dass Ven und Johar immer gut miteinander ausgekommen sind. Ven hat mich ersucht, eine Schlichtung auf der Grundlage seiner Vermählung mit Sky anzustreben.«

Der Geräuschpegel im Saal hatte im Verlauf des Gesprächs zunehmend nachgelassen. Sham hatte den Eindruck, dass ein jeder im Raum darauf bedacht war, den Wortwechsel zwischen dem Vogt und seiner Mutter zu belauschen – ein Eindruck, den die abrupte Stille bestätigte, die einkehrte, als eine junge Frau durch eine nahe Tür eintrat. Nach dem Verhalten der Höflinge zu urteilen, konnte es sich nur um ebenjene Lady Sky handeln, über die der Vogt mit seiner Mutter gesprochen hatte.

Wie Sham besaß die Frau die für Südwäldler bezeichnende Färbung, doch während Shamera ihre Anziehungskraft dem Kleid und Schminke verdankte, erwies sich diese Frau als natürliche Schönheit. Sie war klein, zierlich und sehr schwanger.

Ah, dachte Sham. Das erklärte die Bemerkung über das ›erste Enkelkind‹. Ven hatte ihr nicht den Eindruck eines Mannes vermittelt, der eine Frau in anderen Umständen als anziehend empfinden würde; dass er sich dennoch mit ihr eingelassen hatte, ließ verborgene Tiefen erahnen, die sie aufgrund ihrer ersten Begegnung nicht in ihm vermutet hätte. Oder, was wahrscheinlicher anmutete: Er hatte es lediglich auf ihr Vermögen abgesehen.

Lady Sky behielt ein freundliches Lächeln im Gesicht, als sie sich den Weg zum Vogt bahnte. Ohne Sham zu beachten, küsste die Frau den Vogt auf die Wange und sagte in akzentfreiem Cybellisch: »Guten Morgen, Kerim. Ich vermute, du und Lady Tirra haben wieder über Fahill gesprochen, richtig?«

Der Vogt lächelte, allerdings wirkte sein Gesichtsausdruck dabei verhalten. Was eigenartig war, denn Lady Sky war neben Lady Tirra die bislang Einzige, die Shamera den Vogt mit Vornamen anreden gehört hatte. Sie fragte sich, ob zwischen Kerim und der Witwe seines Freundes etwas gewesen sein mochte.

»Wir haben über Fahill gesprochen«, erwiderte er wahrheitsgemäß. »Meine Mutter sah sich genötigt, deinen angeheirateten Bruder für seinen unnatürlichen Hass gegen Frauen zu rügen.«

Lady Tirra presste vor Zorn die Lippen aufeinander. »Ich habe lediglich angedeutet, dass er, wenn er auch nur einen Funken Achtung vor der Frau hätte, die ihn geboren hat, nicht eine werdende Mutter aus ihrem eigenen Haus vertreiben würde.«

Lady Sky lachte und schüttelte den Kopf. »Danke dafür, Lady Tirra, aber mein Schwager weiß, dass ich mich immer auf Eure Großzügigkeit verlassen kann, wenn ich eine Unterkunft benötige. Er erhebt lediglich Anspruch auf meinen Besitz, tut mir aber nichts zuleide.« Sie wandte sich wieder dem Vogt zu und meinte in leicht scheltendem Tonfall: »Aber wir sind unhöflich. Würdest du mich wohl deiner Gefährtin vorstellen, mein Lord Kerim?«

Kerim hatte es genossen, den Hof und seine Mutter vor den Kopf zu stoßen, aber Sham hörte das Zögern in seiner Stimme, als er sie Lady Sky vorstellte. Sham nickte der anderen Frau zu und begann, mit einer Naht von Kerims Tunika zu spielen.

»Ich habe vor mehreren Jahren von Lord Ervans Tod gehört«, sagte Lady Sky in dem offensichtlichen Versuch, Sham entgegenzukommen. »Ich kannte ihn nur dem Namen nach, aber er stand im Ruf, ein freundlicher Mensch zu sein. Mir war nicht bewusst, dass er verheiratet war.«

Sham senkte bescheiden den Blick, zerstörte diesen Eindruck jedoch dadurch, dass sie die Hand von Kerims Samttunika löste und zur nackten Haut an seinem Schlüsselbein hob. Sie konnte beinahe hören, wie Kerims Mutter, die ihr bis dahin beharrlich keinerlei Beachtung geschenkt hatte, vor Empörung erzitterte. Kerim ergriff fest ihre Hand und führte sie zu seinen Lippen, bevor er sie zurück auf den Stuhl legte.

»Wir haben in der Tat erst kurz vor seinem Tod geheiratet«, räumte Sham abwesend ein. Dann fuhr sie in wesentlich lebhafterem Tonfall fort: »Kerim, diese Tunika sitzt an den Schultern nicht richtig. Überlass sie heute Abend mir, dann passe ich sie für dich an.«

Er hob eine Hand und tätschelte damit die ihre. »Wie du willst, meine Liebe.«

»Du siehst müde aus, Kerim.« Lady Skys Besorgnis wirkte aufrichtig, und Sham spürte, wie sie sich ein wenig für die Frau erwärmte. »Wenn du möchtest, stellte ich Lady Shamera den Mitgliedern deines Hofes vor, dann kannst du dich ausruhen.«

Kerim schüttelte den Kopf. »Tatsächlich fühle ich mich heute besser als seit geraumer Zeit. Sonst hätte ich noch damit gewartet, Shamera in diese Schlangengrube zu führen – ihr fehlt es an der nötigen Erfahrung, um sich selbst zu beschützen. Ervan war ein Einsiedler, sogar er selbst hat das zugegeben. Und er hat sie zusammen mit sich abgekapselt.« Kerim wandte sich an Lady Tirra und lenkte das Gespräch auf weniger persönliche Belange. »Dickon hat mir mitgeteilt, dass du für heute ein rechtes Spektakel geplant hast.«

»Würdest du wohl Abstand davon nehmen, den Klatsch der Dienerschaft wiederzugeben? Das geziemt sich nicht.« Lady Tirras Schelte erfolgte ohne Leidenschaft; offensichtlich handelte es sich dabei um einen alten Kampf, den sie längst verloren gegeben hatte. »Allerdings trifft das Gerede in diesem Fall zu. Der Mann wurde von nicht weniger als drei meiner Hofdamen wärmstens empfohlen.«

»Ich freue mich schon darauf. Und nun, meine Damen, werdet ihr uns entschuldigen müssen, während Lady Shamera und ich uns weiter den Weg durch diese Meute bahnen.« Kerim setzte seinen Stuhl in Bewegung.

Als sie sich von einer kleinen Gruppe zur nächsten vorarbeiteten, spürte Sham die ihr folgenden Blicke: Empörte Frauen und neugierige Männer ließen ihr Kleid, ihre Anwesenheit und ihre wahrscheinliche Position auf sich wirken, bevor sie sich dem Vogt zuwandten.

Shamera fiel auf, dass er bei den meisten Höflingen aus dem Osten nicht allzu beliebt zu sein schien. Zwar verschleierte deren Gebaren ihr Empfinden beinahe genauso gut, wie Shams bauchfreies Kleid ihren Mangel an Schönheit überspielte – aber es schwang kaum Herzlichkeit in den Stimmen mit, während sie sich in blumigen Begrüßungsfloskeln ergingen. Kerim, so vermutete sie, bezahlte für seine Versuche, das Land zu einen.

Doch was ihm die Ostländler an Ablehnung entgegenbrachten, wogen die wenigen Adeligen aus Südwald im Saal wieder auf. Sie standen in einer losen Gruppe an einem Ende des Raumes beisammen. Als sich Kerim näherte, unterbrachen sie ihr Gespräch, und ein Adeliger trat vor, um sich tief zu verbeugen.

Seinen Gesten haftete eine geringfügige Wachsamkeit an, die jedoch der Herzlichkeit seiner Begrüßung keinen Abbruch tat. »Mein Lord, wir haben uns gerade darüber unterhalten, ob es mehr Vorteile bietet, die Felder im Frühling oder im Herbst zu brandroden. Da sich das Gespräch ohnehin zu einem bloßen Vortrag statt zu einer anregenden Erörterung entwickelt hat, kommt uns die Ablenkung gerade recht.«

Kerim lächelte, und Sham sah in seinem Gesichtsausdruck eine ebenso herzliche Gewogenheit. »Klingt, als wärt Ihr im Begriff gewesen, das Zwiegespräch zu verlieren, Halvok.«

Mehrere der Südwäldler hatten sich von der Gruppe entfernt, doch nach Kerims Bemerkung entspannten sich die Verbliebenen und tauschten freundschaftliche Neckereien mit dem Mann aus, den Kerim als Halvok angesprochen hatte.

»Gestattet mir, Euch meine Gefährtin vorzustellen: Lady Shamera, Witwe von Lord Ervan«, sagte Kerim. »Lady Shamera, das sind die Lords Halvok, Levrin, Shanlinger und Chanford.«

Sham bedachte sie alle mit einem ungewissen Lächeln. Die Namen klangen alle vertraut, und Chanford erkannte sie auch wieder, wenngleich er inzwischen deutlich älter geworden war. Er hatte in den letzten Tagen des Einmarsches zu den Verteidigern der Feste gehört – sie bezweifelte, dass er sich an die magiebegabte Tochter des Hauptmannes der Garde erinnerte. Und falls doch, dürfte er Lady Shamera kaum mit ihr in Verbindung bringen.

Lord Halvok war offensichtlich der Anführer der Gruppe, was sowohl aus seiner Rangordnung bei Kerims Vorstellung als auch aus der Hochachtung hervorging, die ihm die anderen Lords entgegenbrachten. Er war jünger als Chanford, aber ein gutes Jahrzehnt älter als Kerim. Da er für einen Südwäldler eher klein war, besaß er in etwa die Größe eines durchschnittlichen Cybellers. In seinem Haar überwog das Silber gegenüber dem Gold, und sein gestutzter Bart war vollkommen weiß. Als er ihre Hand ergriff und sich darüberbeugte, bemerkte sie flüchtig einen abwägenden Ausdruck in seinen Augen. Als schätze er einen neuen Jagdhund ein.

Kerim sprach mit ihnen über mehrere kleine Angelegenheiten, bevor er mit Sham an der Seite weiterzog. Sie waren noch nicht weit gekommen, als jemand Glocken läutete und die Aufmerksamkeit der Menge auf einen Bereich des Saales lenkte, in dem eine Plattform errichtet worden war. Auf dieser Bühne, vom Boden aus gut zu sehen, stand ein Mann in einer schwarzen Robe mit einer Kapuze, die sein Gesicht verhüllte.

Mit einer dramatischen Geste hob er die Hände, und an beiden Enden der Bühne stieg blauer Rauch aus silbernen Urnen auf. Infolge einer zweiten Geste schossen Flammen hinterher, begleitet vom anerkennenden Gemurmel der Menschenmenge. Nachdem sich der Magier so die Aufmerksamkeit gesichert hatte, wartete er geduldig darauf, dass sich sein Publikum einfand. Kerim suchte sich ein Plätzchen weit vorne, wodurch Sham das Geschehen deutlich im Blickfeld hatte.

»Herzlich willkommen, meine wackeren Herren und holden Damen.« Die Stimme des Magiers klang dunkel und geheimnisvoll. Sham konnte beobachten, wie mehrere feine Damen wohlig erschauderten. »Ich danke Euch für die Gelegenheit …«

»Tabby? Tab-by!«, unterbrach ihn die schrille Stimme einer Frau vom nächstgelegenen Eingang.

Wie die meisten Anwesenden schaute Sham hinüber und erblickte eine der Dienerinnen, die den Magier ungläubig anstarrte, der ihren Blick mit derselben Verblüffung erwiderte. Die aus den Urnen aufsteigenden Flammen gerieten ins Stocken und erloschen.

»Tabby, was machst du denn da? Weiß Meister Royce, was du treibst?« Die Frau stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf, als er von der Bühne sprang und mit eindringlichen Gesten, sie möge schweigen, zu ihr eilte. Im Rennen klappte seine Kapuze zurück und entblößte das rundliche, sommersprossige Gesicht eines jungen Mannes.

»Sei still, Bess«, flüsterte er weithin vernehmlich und warf einen unruhigen Blick zur Menschenmenge. »Meister Royce ist …« Erneut schaute er zu den gebannt lauschenden Versammelten, beugte sich näher zu der Frau und tuschelte etwas in ihr Ohr.

»Was hast du gesagt?«

Der Magier räusperte sich und tuschelte erneut.

Sie lachte und wandte sich an das Publikum. »Er sagt, Meister Royce hatte gestern Abend ein paar zu viel. Ihr werdet Euch mit seinem Lehrling begnügen müssen.«

Die Anwesenden spendeten tosenden Beifall, als sie begriffen, dass es sich um einen Bestandteil der Aufführung handelte. Der Magier bahnte sich verlegen den Weg zurück zur Bühne und betrachtete stirnrunzelnd die Silberurnen. Jene, die sich ihm am nächsten befand, rülpste entschuldigend eine kurze Flamme hervor.

»So schlecht bin ich nun wirklich nicht«, erklärte der Lehrling in ernstem Tonfall. »Ich habe sogar Meister Royces Hausgeist mitgebracht, um Hilfe zu haben, falls ich die Zaubersprüche vergesse.« Er zeigte auf einen mit einem schwarzen Tuch bedeckten Tisch, den man unauffällig hinter ihm aufgestellt hatte. Das Tuch wies verschiedene Buckel auf, und eine dieser Erhöhungen schien sich nun Richtung der Vorderkante des Tisches zu bewegen. Der Buckel richtete sich für einen Augenblick weiter auf, bevor er wieder etwas zusammensank.

Die Menge lachte, was den Magier zu freuen schien. Sham beobachtete in anerkennender Stille, wie dieser Meister der Fingerfertigkeit eine Fassade gespielter Stümperhaftigkeit benutzte, um sein Publikum abzulenken.

Er zog ein kleines Kaninchen unter der Tunika eines Adeligen hervor und betrachtete es mit kummervollem Blick. »Das sollte eigentlich eine Goldmünze sein. Lasst es mich noch einmal versuchen.«

Er steckte das Kaninchen zurück unter das Kleidungsstück des peinlich berührten Adeligen, dessen Kameraden ihn bereits zu hänseln begannen, doch auch diesmal wurde es keine Goldmünze. Die Menge tobte, und der cybellische Adelige errötete, wenngleich auch er lachte. Stumm hielt der Magier ein hauchdünnes Nichts aus Musselin in den Fingern, das sich mühelos als Unterwäsche einer Dame erkennen ließ.

Der Adelige riss es ihm aus der Hand und rief im Tonfall eines Feldbefehlshabers: »Also, wie ist das nur dahin gelangt?« Dann öffnete er seine Lederbörse, stopfte das spitzenbesetzte Kleidungsstück hinein, holte eine Münze hervor und sagte: »Hier ist deine Goldmünze, Junge.«

Der Magier nahm sie entgegen und schüttelte den Kopf. »So also macht das Meister Royce.«

Während die Zuschauer jubelten, kehrte der Magier zur Bühne zurück und zog das Tuch weg, das den Tisch verhüllte. Das Publikum wurde still, als er mit den Requisiten, die er mitgebracht hatte, Wunder zu wirken begann. Ohne den Einsatz eines Funkens echter Magie gelang es ihm, die abgebrühten Anwesenden in Staunen und Ehrfurcht zu versetzen – jedenfalls die meisten.

Obwohl Lord Kerim die Vorführung genauso zu genießen schien wie die anderen, richtete er einen steten Strom erklärender Worte an Sham, die in der Regel mit »Dickon sagt …« begannen.

»Dickon sagt, dass es zwei Gläser sind, eines innerhalb des anderen«, murmelte er, als der Magier Wasser erscheinen und wieder verschwinden ließ, indem er ein Glas durch eine breite Lederröhre bewegte. »In der Röhre sind Haken eingenäht, die das innere, mit Wasser gefüllte Glas abfangen, und das äußere Glas, das er uns jetzt zeigt, ist leer. Sieh nur, wie sorgsam er darauf achtet, dass die Röhre aufrecht bleibt.«

Es hätte Sham normalerweise durchaus interessiert, welcher Mittel sich der Magier mit seinem tadellosen Können bediente; die Behauptung, er sei ›lediglich ein Lehrling‹, konnte man jedenfalls getrost als Lüge bezeichnen. Aber andererseits war sie davon überzeugt, dass es sich bei der Vorstellung vor allem um einen unverhohlenen Angriff auf ihren Begriff von Magie handelte.

»Der Deckel des Topfs hat einen doppelten Boden«, erklärte Kerim weiter und nickte in Richtung des leeren Topfs, den der Magier nun hochhielt, um ihn allen zu präsentieren.

Der Unterhaltungskünstler ergriff einen kleinen Zweig vom Tisch hinter ihm und steckte ihn mit einem Atemzug in Brand. Das brennende Holzstück legte er in den Topf.

»Er zeigt uns den leeren Topf«, fuhr Kerim fort, »setzt den Deckel drauf, und der federgelagerte doppelte Boden wird in den Topf gedrückt und löscht das Feuer zwischen den zwei Metallplatten. Dickon sagt, dass zwischen dem doppelten Boden und der Oberseite des Deckels genug Platz für ein, zwei kleine Tiere ist – vielleicht ein paar Tauben. Sie nehmen weniger Raum ein, als man meinen möchte, wenn man sieht, wie sie mit den Flügeln flattern.«

Sham lächelte, und da sie genug von Kerims lehrmeisterhaftem Vortrag hatte, begann sie, ihre Magie zu wirken. Die Vorstellung ging so weiter, wie Kerim es vorhergesagt hatte. Als der Topf geöffnet wurde, war das Feuer erloschen – und wurde ersetzt durch zwei gurrende Tauben … und einen Fischadler.

Der Raubvogel streckte sich, stellte seine beeindruckende Flügelspannweite zur Schau und ließ einen Blick aus feindseligen Augen über die Menge wandern. Die Tauben ergriffen währenddessen verängstigt die Flucht.

Die Zuschauer, denen der Ausdruck sprachloser Verblüffung im Gesicht des Magiers entging, fingen zu klatschen an; der Fischadler stieß einen Schrei aus und erhob sich in die Luft. Er kreiste zweimal durch den Saal, bevor er auf den mittleren Flügel des Buntglasfensters zuflog, das sich über die halbe Höhe zwischen der gewölbten Decke und dem polierten Boden erstreckte.

Ein Keuchen entfuhr der Menge, als der Vogel das Glas erreichte und hindurchglitt, ohne die wertvolle Scheibe zu beschädigen. Während der Beifall anschwoll, fand der ›Magier‹ sein sicheres Auftreten wieder und verneigte sich tief.

Sham schüttelte den Kopf. »Schon unglaublich, wie der Mann den Fischadler in den Deckel des Topfs gequetscht hat. Und was glaubst du, wie hat er das mit dem Fenster gemacht?«

Mit großen Augen sah sie Kerim unschuldig an. Dessen verdrossene Miene war ihr die Mühe der Zauberei allemal wert.

Der Unterhaltungskünstler beschloss klugerweise, seine Vorführung zu beenden, obwohl er einige Requisiten noch nicht benutzt hatte. Er warf die Hände hoch, und blauer Rauch erfüllte die Luft. Als sich der Qualm lichtete, war er verschwunden. Das falsche Dienstmädchen sammelte Münzen von den Versammelten ein, während mehrere dunkel gewandete Männer die Habseligkeiten des Magiers zusammenpackten.

Als sie sich von der Bühne entfernten, spürte Sham, wie sich Kerims Schulter leicht versteifte. Sie schaute auf und erblickte einen groß gewachsenen, hageren Mann in roten und goldenen Klerikergewändern, der sich zielstrebig einen Weg durch das Gewirr der Menschen bahnte, die zwischen ihm und Kerim standen. Wie viele der Cybeller besaß auch dieser Mann dunkle Haut, wenngleich sein Haar eine goldene Farbe aufwies, die man bei einem Ostländler selten zu Gesicht bekam. Seine adlergleichen Züge und seine Haltung verliehen ihm eine fesselnde Ausstrahlung, die von einer friedlichen Selbstsicherheit verstärkt wurde, mit der nur Glaubenseiferer oder Wahnsinnige gesegnet waren.

Links neben ihm befand sich ein kleiner, schlanker Mann, der so strahlend weiße Gewänder trug, dass Sham unwillkürlich Mitleid für seine Wäscherin empfand. Er hielt das Haupt geneigt und hatte einen entschieden friedlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Die Hände ruhten gefaltet über dem grünen, zweifach um seine Mitte gewickelten Gürtel.

Sham blieb hinter Kerims Stuhl stehen. Sie erkannte den vorderen Mann an seinen Amtsroben; es handelte sich um Lord Brath, Altis’ Hohepriester. Shamera musterte ihn mit zu Schlitzen verengten Augen, bevor sie den Blick zu Boden senkte – dieser Mann hatte zu jenen gehört, die ihren Meister verurteilt hatten. Er war bei ihren Rachediebstählen noch nicht an der Reihe gewesen; doch vielleicht sollte sie ihre Bemühungen bei ihm fortsetzen.

»Lord Kerim«, sprach er mit einer volltönenden Stimme, die für das Singen von Lobliedern wie geschaffen zu sein schien. »Wie ich höre, habt Ihr mein Gesuch um zusätzliche Mittel für die Errichtung des neuen Tempels abgelehnt.«

»Ja«, bestätigte Kerim unumwunden und in so erhabenem Tonfall, dass Sham ihn voller Respekt ansah.

»Das ist nicht hinnehmbar. Die Gilde der Glaser hat einen Entwurf für die Eingangshalle vorgelegt, der perfekt ist, aber es bedarf der von mir ersuchten Mittel, um mit den Arbeiten zu beginnen. Das Rubinglas ist besonders kostspielig, und der Vorrat reicht kaum aus.«

»Dann werden die Arbeiten nicht beginnen. Für das Staatssäckel gibt es Angelegenheiten, die dringender sind als ein weiteres Buntglasfenster. Falls Ihr mit meiner Entscheidung unzufrieden seid, könnt Ihr das in Euer nächstes Schreiben an den Propheten aufnehmen.« Kerim schob seinen Stuhl vorwärts.

Der Hohepriester stellte sich ihm in den Weg. »Das habe ich bereits. Er hat mir einen Brief für Euch geschickt.«

Hinter seinem Rücken verdrehte der kleinere Priester die Augen und zuckte hilflos mit den Schultern.

»Na schön«, sagte Kerim. »Kommt in meine Gemächer, nachdem das Abendessen aufgetragen und abgeräumt worden ist.«

»Verlasst Euch darauf, Lord Kerim«, erwiderte der Hohepriester düster.


»Der ist dir nicht wohlgesonnen«, merkte Sham an, als sich die Männer der Kirche außer Hörweite hinter ihnen befanden.

»Er bereitet mir kein Kopfzerbrechen.« Kerims Stimme verlor den hochmütigen Tonfall genauso mühelos, wie sie ihn zuvor angenommen hatte. »Brath ist zu sehr mit Fenstern und Altären beschäftigt, um eine echte Bedrohung zu sein. Seine rechte Hand Fykall hingegen – der kleine Priester in Weiß und Grün – ist eine andere Geschichte. Er hat sich für mich als unbezahlbar erwiesen. Allerdings vermute ich, das liegt nur daran, dass er meine Auffassung dessen teilt, was Südwald braucht. Also mussten wir einander nicht bekriegen – noch nicht. Falls es je dazu kommt, bin ich nicht sicher, wer am Ende die Oberhand behalten wird.«

Sham nickte und bemerkte einen Mann, der neben einer der Türen stand und wie eine Henne wirkte, die sich in einen Fuchsbau verirrt hatte. Im Gegensatz zur Seide und dem Satin der Adeligen trug er dunkle, schlichte Kleidung und die Stiefel eines Reiters, der sich nicht davor scheute, selbst den Stall auszumisten.

Sie übte mit ihren auf Kerims Schulter ruhenden Fingern einen leichten Druck aus, und der Vogt drehte den Kopf. Als er sah, wohin sie schaute, hob er eine Hand, um dem anderen Mann zu bedeuten, er möge warten, während er sich einen Weg zur Tür bahnte.

Kerim hielt nicht an, um sich zu unterhalten, sondern rollte einfach weiter durch den Bogendurchgang in den Korridor dahinter. Der andere Mann folgte Shamera und zog die Tür hinter sich zu.

»Wieder Elsic?«, fragte der Vogt in niedergeschlagenem Tonfall.

»Aye, Herr«, erwiderte der Stallknecht.

Elsic, dachte Sham, die ›Quelle‹ von Talbots Theorie über Dämonen. Sie fragte sich, wie viel er darüber wusste.

In bemerkenswertem Gegensatz zu den anderen Gängen der Feste verlief dieser Korridor gerade. Es gab keine Öffnungen, bis sie das Ende erreichten, wo eine grob gearbeitete Tür offen stand. Ein dicker Balken lehnte an der Wand und konnte offensichtlich benutzt werden, um die Tür zu verbarrikadieren, wenn es sein musste. Sham trat hindurch und kniff die Augen gegen das grelle Sonnenlicht zusammen.

Große, steinummauerte Koppeln beherbergten Stuten mit dicken Bäuchen und deren seidig glänzende Fohlen. Der schmale Pfad, der zwischen der Mauer der Weide und der Burg verlief, schien erst unlängst mit Holzlatten ausgelegt worden zu sein. Da der Bereich nicht aussah, als würde er allzu stark frequentiert, vermutete Shamera, dass man den Bretterweg für den Rollstuhl des Vogts errichtet hatte.

Der Pfad folgte den Mauern der Feste, die sich in einem nur wenigen und längst verstorbenen Baumeistern bekannten Muster krümmten, und endete nach einer jähen Kurve auf einem Hof mit angrenzenden Stallungen.

Shams Aufmerksamkeit heftete sich sofort auf ein Gebilde mit hohem Dach, gefüllt mit hohen Heuhaufen. Davor hatte sich eine kleine, aufgeregte Menschenmenge eingefunden. Und auf dem Dach befand sich ein Mann. Sham verwirrte das ein wenig, zumal er dort nichts Nützliches zu tun schien.

»Ich hab ihn geholt, Stallmeister!«, brüllte der Mann, der sie aus dem öffentlichen Saal hergeführt hatte.

Ein drahtiger alter Mann löste sich aus der Schar der Stallknechte, deren Mehrheit mittlerweile die Aufmerksamkeit auf den nahenden Vogt gerichtet und sich von der Ursache des Tumults abgewandt hatte.

Als der Vogt Sham näher zu der Heuscheune führte, erkannte sie, dass es sich bei der Gestalt auf dem Dach gar nicht um einen Mann handelte, sondern um einen Knaben, der vielleicht zehn oder elf Sommer alt sein mochte. Haut und Haare waren so hell, dass sie weiß zu sein schienen. Er saß da, als nähme er den Lärm unter ihm überhaupt nicht wahr. Seine Füße baumelten über den Rand des Daches, und er stützte das Kinn in die Hände – der Inbegriff des Trübsinns.

»Danke, dass Ihr gekommen seid, Herr«, sagte der Stallmeister auf Cybellisch. Dabei schwang in seiner Stimme ein so schwerer Ostländerakzent mit, dass Sham Mühe hatte, ihn zu verstehen.

»Warum ist er da raufgeklettert?«, fragte Kerim mit gerunzelter Stirn.

Der Mann legte seinerseits die Stirn in Falten. »Wegen mir, Herr. Ich hab den Burschen schon wieder mit Eurem Hengst erwischt.«

»Nachdem ich letztes Mal mit ihm geredet habe?«, hakte der Vogt nach.

Der Stallmeister nickte. »Der Hengst ist in letzter Zeit übler Laune; gestern hat er seinen Pfleger getreten. Brandmal ist ja nie ein einfaches Pferd gewesen, und er bekommt heutzutage nicht mehr so viel Arbeit wie früher. Niemand von uns will, dass der Bursche noch verletzt wird, und ich vermute, ich bin wohl härter mit ihm umgesprungen, als ich es hätte tun sollen.«

Kerim nickte und setzte sich wieder in Bewegung. Der Hof erwies sich als uneben, und die Räder des Stuhls blieben in der groben Erde stecken. Sham trat hinter ihn und unterstützte seine Bemühungen mit ihrem Gewicht. Kerim wartete, bis er sich unmittelbar unter dem Jungen befand, bevor er das Wort ergriff.

»Sofern du dir keine Flügel wachsen lassen kannst, Elsic, ist dein Sitzplatz ein wenig zu hoch für meinen Geschmack«, merkte der Vogt in beiläufigem Tonfall an.

Der Knabe erschrak. »Herr?«

»Komm runter, Junge.« Kerims Stimme ertönte zwar sanft, aber mit genug Befehlsgewalt, dass der Knabe nach unten fasste, sich an einem großen Balken unter dem Dach festhielt und mit einem Überschlag vom Rand sprang.

Jemand in Shams Nähe stieß einen Fluch aus. Mit dem geübten Blick der Expertin beobachtete sie, wie geschmeidig und mühelos der Junge herabkletterte. Sie besaß genug Erfahrung mit ähnlichen Tätigkeiten, um zu wissen, dass es bei ihm wesentlich einfacher aussah, als es in Wirklichkeit war. Mit Leichtigkeit schwang er sich von einem Querbalken zum anderen, bis er einen lotrechten Pfeiler erreichte, an dem er herabrutschte.

Als er geschickt auf den Füßen landete, stellte Sham fest, dass der Junge nicht der Albino war, der er auf den ersten Blick zu sein schien – seine Augen waren sehr dunkel, beinahe schwarz. Außerdem korrigierte sie ihre Schätzung seines Alters. Wie die meisten Straßenkinder, die sie kannte, war er lediglich klein für die Zahl seiner Lebensjahre. Sein eigenartiges Verhalten ließ sie nachdenklich die Stirn in Falten legen.

»Komm her«, forderte der Vogt ihn auf.

Sham warf ihm einen Seitenblick zu: Der Junge war doch bereitwillig heruntergeklettert, er brauchte keine weitere Aufforderung. Erst als Elsic die Hand ausstreckte, um den Stuhl des Vogts zu berühren, und sich dann auf die Fersen kauerte, begriff Sham, dass Kerims Worte kein Befehl, sondern eine Orientierungshilfe gewesen waren: Der Junge war blind – wie der Alte Mann.

»Wie ich höre, bist du schon wieder in Schwierigkeiten geraten«, sagte Kerim in verständigem Tonfall.

Elsics Züge wirkten noch trauriger als zuvor. »Er wird mir nicht wehtun. Er ist einsam, und er mag mich.«

Der Vogt saß einige Augenblicke lang still da und rieb sich das Kinn. Schließlich meinte er: »Unter den meisten Umständen würde ich dir zustimmen, aber da ich an diesen Stuhl gefesselt bin, bekommt er nicht die Ertüchtigung, die er haben sollte. Der Stallmeister tut, was er kann, aber Brandmal ist ein Schlachtross. Gestern hat er seinen Pfleger getreten.«

Elsic runzelte die Stirn, zögerte und erwiderte dann: »Sein Pfleger kaut Bettlersegen, wenn der Stallmeister nicht hinschaut. Pferde mögen es nicht, wenn sich Menschen komisch verhalten.«

»Der Pfleger kann von Glück reden, dass ihm Brandmal nicht den Kopf abgerissen hat, wenn er Bettlersegen im Blut hatte«, gab Kerim ihm recht. »Hast du das gehört, Stallmeister?«

Der alte Mann brummte. »Ich hab ihn einmal dabei erwischt. Wenn er’s immer noch tut, kann er’s künftig in jemand anderes Stall tun.«

Diese Haare, diese Haut, die Augen … Sham streckte den Arm aus und berührte den Jungen zart an der Schulter. Die Kraft seiner Magie fühlte sich beinahe schmerzhaft an in ihren Händen.

Er richtete sich auf und legte den Kopf schief. »Wer bist du?«

Sham sah sich auf dem überfüllten Stallhof um. »Ich bin eine Freundin des Vogts«, antwortete sie schließlich. Dann fügte sie mit so leiser Stimme hinzu, dass es nur Elsic und der Vogt hören konnten: »Und ich bin Magierin.«

Elsic lächelte aufrichtig.

»Mein Lord«, sagte sie, »ich denke, ihm kann mit deinem Schlachtross nichts passieren. Ich bezweifle, dass der Hengst ihn verletzen würde.«

Der Vogt musterte sie eine Weile nachdenklich, dann richtete er den Blick auf den Knaben. Langsam nickte er. »Dann sei zumindest vorsichtig, Junge.«

Elsic grinste breit. »Ja, Herr.« Er schluckte und fügte leise hinzu: »Manchmal ist es gut, mit einem Geschöpf zusammen zu sein, das so hochmütig und selbstsicher ist. Dadurch fühle ich mich beschützt.«

Der Vogt beugte sich vor: »Hat dich irgendjemand belästigt?«

»Niemand, Herr«, entgegnete Elsic rasch. »Es ist nur … Irgendetwas stimmt hier nicht. Hier treibt sich etwas sehr Altes und Böses herum.« Aus dem Gesicht des Jungen entwich jeglicher Ausdruck, als er sprach, und er drehte sich Sham zu. Mit geradezu unheimlicher Präzision begegnete er ihrem Blick und senkte die Stimme so sehr, dass ihn nur Sham und der Vogt hören konnten. »Es weiß, wer du bist, Magierin, und welche Bedrohung du für seine Absichten bist. Es will den Vogt mehr, als es seit tausend Jahren etwas begehrt hat. Sei sehr vorsichtig.«

»Mache ich«, versprach sie und spürte, wie ihr ein kalter Schauder über den Rücken kroch. Nachdem Shamera ihn sprechen gehört hatte, fragte sie sich, wie der Vogt eine Warnung in den Wind schlagen konnte, die Elsic ausgesprochen hatte – aber so waren die Ostländler nun mal.

Der Junge nickte, wandte sich ab und verschwand ohne ein weiteres Wort in den Stallungen. Der Vogt sah Sham einige Atemzüge lang an, dann wendete er seinen Stuhl, und sie trat hastig dahinter, um ihm zu helfen. Beide sprachen kein Wort, bis sie sich allein auf dem schmalen Weg befanden.

»Ich habe ihn vor etwas mehr als einem Jahr gefunden, auf dem von der Geistebbe entblößten Sand.« Kerim verstummte kurz. »Er saß regungslos da, summte ein wenig vor sich hin, trug nichts als einen feinmaschigen Kilt.«

Wieder verstummte er eine Weile, blieb mit dem Rollstuhl stehen und betrachtete eine Stute und deren geflecktes Füllen. »Ich vermute, dass ihn jemand dort zum Sterben ausgesetzt hat, weil er blind ist. Die Menschen hier sind von einer unnatürlichen Angst vor Blindheit beseelt – sie betrachten sie als Anzeichen böser Magie.« Kerim lächelte freudlos. »Lange Zeit hat er überhaupt nicht geredet. Ich glaube, seine Muttersprache ist weder Cybellisch noch Südwäldisch, aber er hat beides sehr schnell erlernt. Elsic hat mir gesagt, dass er sich an nichts erinnern kann, was vor dem Zeitpunkt liegt, als er hier aufgewacht ist.

Anfangs behielt ich ihn bei mir in der Feste, aber es nahm mich stark in Anspruch, die Geschicke Südwalds zu lenken. Ich bekam nicht mit, dass einige der Adeligen den Jungen quälten, bis Dickon mich darauf hingewiesen hat.« Seufzend schüttelte Kerim den Kopf. »Elsic hat ein Händchen für Tiere, und der Stallmeister ist ein freundlicher Mann, der seine Burschen uneingeschränkt im Griff hat, weshalb ich Elsic seiner Obhut übergab. Ich hoffe, er wird in die Gemeinschaft der Stallungen so eingegliedert, dass …« Unwillkürlich krampften sich die Hände des Vogts um die Armlehnen des Stuhls, dennoch fuhr er einigermaßen ruhig fort. »… dass ihm, wenn ich nicht mehr da bin, niemand wehtut, nur weil er so ist, wie er ist.«

»Ich werde ein Auge auf ihn haben«, versprach Sham leise. »Falls Probleme auftreten, gibt es Orte, an denen er in Sicherheit wäre. Zauberer sind an seltsame Geschöpfe gewöhnt und würden ihm nichts tun.«

»Woher weißt du, dass ihm mit Brandmal nichts passieren kann?«, wollte Kerim wissen.

Sham zuckte mit den Schultern. »Selkies sind gut im Umgang mit Tieren.«

Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an.

Sham lächelte und fuhr im Plauderton fort. »Selkies gehören zu den Meeresvölkern. In der Regel treten sie in Form von weißen Seehunden mit dunklen Augen auf. Ich würde meinen, dass das wohl eine besser zum Schwimmen geeignete Gestalt als der menschliche Körper ist. Keinem Seemann, der lange leben möchte, fiele es auch nur im Traum ein, je einen weißen Seehund zu erlegen – frag Talbot. Angeblich sind sie eine Kriegerrasse, zu ihrer eigenen Art genauso gnadenlos wie zu anderen. Wird einer zu alt oder verwundet, greifen sie ihn an, vertreiben ihn oder töten ihn nach Lust und Laune. Ich hätte nicht gedacht, dass sie ein blindes Kind länger als die ersten Stunden am Leben gelassen hätten – seine Mutter muss sehr schlau gewesen sein.«

Der Vogt schien all das recht gefasst aufzunehmen, also fuhr sie fort. »Sein Volk benutzt keine menschliche Magie. Es hat Zugang zu Wissen, das mir verwehrt ist. Ich würde eine Warnung, die er dir bereitwillig gibt, sehr, sehr ernst nehmen.«

Kerims Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, und er schüttelte den Kopf. »Ich denke, eigentlich sollte ich diese Frage jetzt nicht stellen – wäre Dickon hier, würde er mich glatt verleugnen. Aber was hat Elsic damit gemeint, als er sagte, der Dämon wolle mich?«

»Wenn wir davon ausgehen, dass es Magie wirklich gibt?«, fragte Sham mit hochgezogenen Augenbrauen.

Kerim seufzte theatralisch und nickte.

Sham schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ist dir irgendetwas Besonderes widerfahren, als die Morde angefangen haben?«

»Hmm … es muss vor etwa acht Monaten gewesen sein. Ungefähr zu dieser Zeit habe ich Elsic zu den Stallungen umgesiedelt. Und ein guter Freund von mir ist an der Schwindsucht gestorben.« Kurz schloss er die Augen und lehnte sich zurück. »Meine Mutter hat den Koch entlassen. Meine Lieblingsstute hat gefohlt. Mein Rücken fing zu schmerzen an.«

»Zu der Zeit haben deine Rückenprobleme begonnen?«

Kerim nickte. »Ich hab ihn mir auf dem Rückweg von Fahills Bestattung verrenkt.«

»Lady Skys Ehemann?«

Der Vogt nickte knapp, dann setzte er sich wieder mit dem Stuhl in Bewegung. »Komm. Wenn wir uns beeilen, haben wir noch Zeit, um zu essen, bevor Brath und sein Gefolge in meine Gemächer einfallen.«


Tatsächlich hatte Dickon kaum die Tabletts hinausgetragen, als es bereits an der Tür des Vogts klopfte.

»Ich öffne«, bot Sham an.

Der Hohepriester wartete auf dem Gang. Der schöngeistig wirkende Fykall stand einen Schritt hinter ihm. Brath nickte ihr zu, als er eintrat. »Ihr könnt uns jetzt verlassen, Lady Shamera.«

Sie schaute zu Kerim, der mit der Hand eine ablehnende Geste machte. Shamera schloss die Tür, nachdem Fykall eingetreten war, und sagte freundlich: »Tut mir wirklich leid, Lord Brath, aber mein Lord hat Kopfschmerzen, und ich habe versprochen, etwas dagegen zu unternehmen, sobald Ihr gegangen seid.« Sie schob sich an den beiden Kirchenvertretern vorbei und nahm anmutig auf dem Stuhl neben Kerim Platz, wodurch den Besuchern nur die Stühle ihm gegenüber blieben.

»Ihr habt gesagt, Ihr habt einen Brief für mich?«, fragte Kerim.

Lord Brath gab Fykall ein Zeichen, der daraufhin einen versiegelten Kurierumschlag aus seinem Ranzen zog und Kerim reichte. »Wie Ihr seht, habe ich die Siegel nicht gebrochen.«

Kerim schaute auf und zog eine Augenbraue hoch. »Ich bezweifle auch, dass Ihr das vermocht hättet, Lord Brath. Die Stimme hat Wege und Mittel, um zu verhindern, dass Briefe in falsche Hände geraten.« Mit einem Finger berührte er das Siegel, das sich bereitwillig öffnete, ohne dass ein Brieföffner gebraucht wurde.

Sham beugte sich zur Seite und las schamlos über die Schulter des Vogts mit. In dem Umschlag befanden sich zwei Bögen Papier. Beim Ersten handelte es sich um ein schlichtes Blatt mit einer hastig gekritzelten Botschaft, die lediglich besagte:

Tut mir leid, dass ich ihn dir antun musste, aber der alte Narr genießt die Gunst von Altis. Mir ist niemand eingefallen, der besser mit ihm zurechtkäme als du. Ich hoffe, das hilft.

Terran

Das zweite Blatt wies eine offizielle Prägung auf. Der Verfasser hatte die Kunst der Schönschrift dermaßen ausgelebt, dass Sham aufstehen und sich unmittelbar hinter Kerim stellen musste, um die Nachricht entziffern zu können. Der Brief war gefaltet, weshalb sie das oberste Drittel nicht sehen konnte, aber den wesentlichen Inhalt des Schreibens konnte sie lesen.

Hiermit sei verkündet, dass Altis’ oberstes Begehr lautet, dass all seine Untertanen in Frieden leben. Zu diesem Behufe soll der Vogt von Südwald solche Urteile nach eigenem Ermessen fällen. Alle, die da leben in Südwald, haben sich seinen Entscheidungen zu fügen.

Gezeichnet am heutigen Tage von

Terran, der Stimme und den Augen von Altis

Als Sham den Terran aus dem ersten Schreiben mit der Stimme von Altis verknüpfte, begann Kerim, das offizielle Schreiben laut zu verlesen. Als er fertig war, schaute er zum Hohepriester auf.

Seine Stimme legte den förmlichen Tonfall ab, mit dem er den Brief vorgelesen hatte. »Natürlich werde ich das Original behalten. Wenn Ihr eine Abschrift haben möchtet, kann Fykall gerne bleiben und sie für Euch anfertigen.«

Der Hohepriester stand stocksteif da und wirkte deutlich älter als beim Betreten der Gemächer. »Das wird nicht nötig sein, Lord Kerim. Komm, Fykall, im Tempel gibt es Verschiedenes zu erledigen.«

Der kleine Priester nickte, doch bevor er seinem von dannen ziehenden Vorgesetzten folgte, streckte er die Hand aus und klopfte Kerim noch zweimal mitfühlend auf die Schulter.

Sham wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann meinte sie: »Sieht einem Kirchenmann ähnlich, dass er einem den ganzen Spaß daran verdirbt, ihn in die Schranken zu weisen.«

Kerim bedachte sie mit einem wenig erfreuten Blick. »Mach dich niemals über den Schmerz eines Mannes lustig.«

Sie warf den Kopf zurück. »Was wir da gesehen haben, war kein Schmerz, sondern vereitelter Ehrgeiz. Ich habe kein Mitgefühl für Lord Brath übrig – er kennt auch keine Gnade für jene, die seiner Macht unterstehen.«

Kerim musterte ihre Züge; er hatte schon zu oft miterlebt, wie blinder Hass Menschen zum Verhängnis wurde, um tatenlos dabei zuzusehen, wie er ein weiteres Opfer verschlang. »Mag sein, dass du recht hast, und er verdient unser Mitgefühl nicht. Aber Shamera, wenn wir es gar nicht erst empfinden – inwiefern sind wir dann besser als er?«

Sie schnaubte abschätzig und ging zu einem kleinen Tisch, auf dem ein Krug Wasser und mehrere Becher standen.

Als sie einen davon mit Wasser füllte, schien sie das Thema zu wechseln. »Weißt du, ich habe mich immer gefragt, warum es nie eine offizielle Verfügung gegen Magie gegeben hat, obwohl Altis sie so sehr ablehnt.«

»Und mir wirfst du grobe Unwissenheit vor«, murmelte er nachdenklich.

Shamera drehte sich mit dem Becher in der Hand um und sagte: »Wie bitte?«

»Selbst wenn Magie echt wäre, würde es keine Verfügung dagegen geben. Soweit ich weiß, hat Altis nie eine Anordnung dafür oder dagegen erlassen.«

Sie runzelte die Stirn. »Nach dem Fall der Feste hat Lord Brath Magie zu einem Frevel an Altis erklärt und die Soldaten dazu angestiftet, jeden zu töten, der vielleicht ein Magier sein könnte.«

»Angst kann uns alle manchmal zu Dummköpfen machen. Brath wurde für seine Rolle bei den Gräueln nach der Eroberung von Landsend offiziell gemaßregelt.«

Shamera stellte den Becher ab, ohne daraus zu trinken, und wanderte ziellos in der Kammer umher. »Ich mag ihn nicht.«

»Brath? Ich auch nicht. Er ist ein hochmütiger, selbstgerechter, eigennütziger Wurm«, gab er ihr leichthin recht.

Sie streckte das Kinn vor. »Sähe ich, wie er ertrinkt, so würde ich ihm kein Seil zuwerfen.«

»Die Frage ist«, meinte Kerim langsam, »würde er dir eines zuwerfen?«

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