Elsic schmiegte den Kopf an die seidig-weiche Schulter von des Vogtes Schlachtross. In einer Hand hielt er eine Bürste, während er den angenehmen Duft von Pferd und frischem Stroh einatmete.
Der Hengst trug einen langen Namen in der Sprache der Menschen aus dem Osten, aber Kerim nannte das Pferd einfach ›Brandmal‹, weil es an allen Enden so schwarz wie ein versengtes Stück Holz war. Doch Elsic mochte es, die Zunge um den merkwürdigen Namen zu schlingen, wenn er mit dem Tier redete.
Seit Kerim ihm die Erlaubnis erteilt hatte, mit dem Pferd zu arbeiten, war Elsic damit betraut worden, es zu striegeln und den Standplatz sauber zu halten. Da er sich dabei auf seinen Tastsinn statt auf seine Sicht verlassen musste, brauchte er dafür länger als die anderen Stallknechte; aber der Stallmeister meinte, er verrichte die Arbeit genauso gut wie Jab, der den Hengst des Vogts vor ihm betreut hatte. Das Lob hatte Elsic nicht unbedingt beliebter bei Jab oder dessen Spießgesellen werden lassen, erst recht nicht, nachdem Jab wegen der Verwendung von Bettlersegen entlassen worden war. Aber Elsic störte die ablehnende Haltung der anderen Stallknechte nicht weiter. Er redete ohnehin nicht gerne, außer mit Brandmal und gelegentlich mit dem Stallmeister oder Kerim.
Die meiste Zeit verbrachte Elsic in der Isolationsscheune, wohin Kerims Schlachtross verbannt worden war, nachdem es aus seinem Abteil ausgebrochen war und einen der anderen Hengste übel zugerichtet hatte. In der Scheune gab es vier Abteile, alle mit dicken Wänden und vergitterten Fenster, aber Brandmal stellte den einzigen Bewohner dar.
Als der Hengst rastlos das Gewicht verlagerte, striegelte Elsic weiter, um auch das letzte bisschen Schweiß zu beseitigen, das vom Laufen an der langen Leine verblieb, mit dem der Stallmeister Brandmal zweimal täglich in Form hielt. Für gewöhnlich genoss das große Tier die Aufmerksamkeit und stand regungslos da, solange Elsic die Bürste bewegte, aber an diesem Tag wich Brandmal einen halben Schritt davon zurück und begann, schnaubende Laute von sich zu geben, als er die Luft kraftvoll durch die Nüstern ausstieß.
Elsic streckte eine Hand aus und berührte das Pferd an der Schulter. Die samtene Oberfläche war schwitzig von der unruhigen Besorgnis des Tiers, und die Muskeln darunter hatten sich kampfbereit gespannt. Der Junge versuchte, zu wittern, was das Tier so beunruhigte – er hatte vor geraumer Zeit festgestellt, dass er eine fast genauso gute Nase besaß wie das Pferd. Als er tief die Luft einsog, hörte er, wie etwas gegen Holz streifte und die Scheune betrat. Einem Bauchgefühl folgend stand Elsic so still wie möglich, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Wie Elsic verhielt sich das Schlachtross ruhig, tat dem Eindringling in sein Gebiet keinerlei Herausforderung kund. Elsic grub zur Beruhigung eine Hand in die Mähne des Pferdes, als er im Abteil auf der anderen Seite des Mittelganges ein Rascheln und Poltern vernahm.
Die Erscheinung verschwand so plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Er hörte nicht, wie sie ging, dennoch war sie auf einmal wieder weg. Brandmal wieherte durchdringend und bäumte sich halb auf, bis Elsics Füße vom Boden gehoben wurden. Auch der Junge roch es – Blut.
Zögerlich löste er den Griff und trat aus dem Abteil, schloss die Tür hinter sich, aber verriegelte sie nicht. Er dachte daran, den Stallmeister aufzusuchen, doch ein seltsames Gefühl der Beklommenheit lockte ihn stattdessen durch den Gang zum nächsten Abteil.
Die Tür erwies sich als verriegelt; er musste einen Augenblick umhertasten, um sie zu öffnen. Als sein linker Stiefel etwas berührte, kniete er sich hin und streckte eine widerwillige Hand aus, aber er ahnte bereits, dass der Mann tot war.
Als sie sich den Stallungen näherten, vernahm Sham ein zorniges Gemurmel und das schrille Wiehern eines wutentbrannten Hengstes. Der Großteil der Unruhe schien von einer kleinen Scheune abseits des Hauptgebäudes auszugehen.
Sie verspürte einen kleinen Anflug von Selbstzufriedenheit darüber, wie mühelos der neue Stuhl des Vogts über die Furchen und Steinchen auf dem Stallhof rollte, doch die Meute zornig murrender Stallknechte, die sich am Ostende der Scheune in der Nähe des Eingangs versammelt hatte, riss sie jäh aus diesem Gedanken.
Der Stallmeister stand vor der Menge und hielt drohend eine lange, verheerend aussehende Peitsche in der Hand, während er versuchte, sich über das Knurren der Leute Gehör zu verschaffen.
Sham hatte schon genug aufgebrachte Menschenmengen gesehen, um zu wissen, wann die Gemüter überzukochen drohten; ein Gefühl von Unbehagen hieß sie, die Hand um ihren Dolch zu legen.
Als der Stallmeister bemerkte, dass sein Vogt sich näherte, gab er den Versuch auf, sich an die Meute zu wenden, und begnügte sich damit, sie zurückzuhalten. Sein Blick strich über Sham hinweg, ohne zu verharren; er tat sie so beiläufig ab, als wäre sie nicht mehr als ein gemeiner Diener. Abgelenkt vom Erfolg ihres Bannes erkannte Sham erst, als sie sich bereits ziemlich genähert hatten, dass mehr als nur die Peitsche des Stallmeisters die Horde davon abhielt, das Gebäude zu betreten.
Ein großer, dunkelbrauner Hengst lief rastlos hin und her, schnaubte und warf den Kopf hoch, trat vereinzelt mit einem der flinken, kräftigen Vorderbeine aus. Weißer Schaum sprenkelte die breite Brust und die Flanken. Die Ohren hatte das Tier angelegt, was ihm ein bösartiges Aussehen verlieh, dem die wild rollenden Augen nur zusätzlichen Vorschub leisteten. Es sah aus wie das Pferd, das Kerim in der Nacht ihrer ersten Begegnung geritten hatte, aber Sham war nicht sicher.
Als sie sich dem Menschenauflauf bis auf wenige Schritte genähert hatten, hielt Kerim an und blies in das Kriegshorn, das er aus seinen Gemächern mitgenommen hatte. Das schwermütige Geheul schnitt mühelos durch das leisere Rumoren der Meute. Als der letzte Widerhall des Tons verklang, herrschte Stille auf dem Stallhof; sogar der Hengst hatte innegehalten.
Zufrieden damit, sich die Aufmerksamkeit der Versammelten gesichert zu haben, rollte Kerim weiter vorwärts. In der Menge öffnete sich eine Schneise, und Sham, die in ihrer staubigen Kluft geschlechtslos und ohne Gesicht blieb, folgte dem Vogt, bis er sich neben dem Stallmeister befand.
Kerim wandte sich an die Umstehenden. Er sprach zuerst Südwäldisch und wiederholte die Worte danach auf Cybellisch. »Ich glaube, ihr alle habt woanders Aufgaben zu erledigen.«
Unter seinem kalten Blick löste sich der Großteil der kleinen Menschenansammlung auf, bis nur noch eine Hand voll sturer Männer verblieb.
Kerim zog voll gespielter Überraschung die Augenbrauen hoch. »Ist das so zu verstehen, dass keiner von euch in meinen Stallungen arbeitet?«
Die Männer verlagerten unbehaglich das Gewicht von einem Bein aufs andere, einer jedoch trat vor. Er nahm seine Mütze ab und richtete den Blick zu Boden. »Ich bitt’ recht um Verzeihung, Herr, aber der Mann, der was gestorben is’, der is’ mein Bruder Jab. Er hat zu mir gesagt, dass ich mich mit ihm in der Scheun’ treffen sollt, wenn ich’s mit meine Pferd’ fertig bin. Er hat gesagt, dass er mir was zeigen will. Und wie ich reinkomm, da seh’ ich’s den Komischen …« Er räusperte sich, vermutlich weil ihm einfiel, dass der Vogt bekannt dafür war, Elsic zu mögen. »Tschuldigung, Herr. Ich seh’s also Elsic, wie er neben der Leich’ von mein’ Bruder knien tut. Da is’ kein Kopf am Körper gewesen, Herr. Ich hab’s nur wegen die Stiefel gewusst, dass es überhaupt der Jab is’.«
Kerim betrachtete die Sichel mit der scharfen Klinge, die der Stallknecht hielt, und erwiderte ruhig: »Also hast du beschlossen, selbst für ein wenig Gerechtigkeit zu sorgen, richtig?«
Das gerötete Gesicht des Stallknechts erbleichte, und seine Freunde begannen, sich unscheinbar davonzustehlen.
»Das is’ nur für mein’ Schutz, Herr. Dieser dämonische Gaul hat sein Abteil aufg’macht und mich aus der Scheun’ rausg’scheucht, bevor ich’s Elsic packen und für die Gardisten hab festhalten können.«
Kerim schüttelte angewidert den Kopf. »Genug. Bring die Sichel dorthin zurück, wo sie hingehört. Du hast den restlichen Tag frei. Um deinen Bruder kümmern sich die Priester des Tempels. Falls du andere Vorkehrungen für ihn wünschst, so rede mit einem von ihnen.« Damit schwenkte er die Hand, um die verbliebenen Männer zu entlassen.
Als der Letzte gegangen war, richtete Kerim seine Aufmerksamkeit auf die Scheune. Der große Hengst schnaubte und bäumte sich langsam auf. Das Tier hob beide Vorderbeine hoch in die Luft und hielt diese Pose einen ausgedehnten Augenblick lang, bevor er auf alle viere zurücksank.
»Ihr nehmt Euch besser zuerst des Pferdes an«, schlug Talbot vor, der eingetroffen war, als sich die Meute gerade aufgelöst hatte.
Kerim nickte und rollte vorwärts. Als er den Eingang passierte, schnaubte ihm der Hengst zu, löste jedoch die Aufmerksamkeit keinen Lidschlag lang von Sham, dem Stallmeister und Talbot. Als Kerim aus den Schatten der Scheune einen lauten, kurzen Pfiff ausstieß, folgte ihm Brandmal zögerlich.
»Kommt«, rief Kerim nach wenigen Atemzügen.
In der Scheune war es kühl und düster. Als sich Shams Augen nach der Helligkeit der Spätnachmittagssonne an die neuen Verhältnisse angepasst hatten, rollte Kerim gerade rückwärts mit seinem Stuhl aus einem Abteil gegenüber jenem, in das er sein Schlachtross geführt hatte. Stumm bedeutete er Talbot, hineinzugehen. Die Schatten verbargen, welcher Ausdruck in Talbots Gesicht trat. Nach wenigen Augenblicken kam er zurück heraus und schloss die Tür des Abteils hinter sich.
»Ist dir etwas Merkwürdiges aufgefallen?«, fragte Kerim.
Der einstige Seemann nickte verkniffen. »Zu wenig Blut. Sicher, es ist schon ganz schön blutig, aber wenn er hier getötet worden wäre, müsste es noch eine Menge mehr Blut sein. Jemand hat den Körper hergebracht, nachdem er bereits tot gewesen ist.«
»Elsic«, rief Kerim leise.
Die Tür zum Abteil des Hengstes öffnete und schloss sich hinter dem dünnen blassen Jungen wieder. Er hatte verschmiertes Blut an den Händen und an der Kleidung, wo er sich die Finger abgewischt hatte.
»Stallmeister«, sagte Kerim leise, ohne den Blick von Elsic abzuwenden. »Schick einen Reiter zum Tempel, und lass die Priester wissen, dass es eine weitere Leiche abzuholen gilt. Außerdem muss jemand Lirn suchen, den Hauptmann der Garde, und ihm Bescheid geben, dass ich hier zwei Gardisten brauche, die mir die Leute fernhalten, bis die Priester kommen.«
»Ja, Herr.« Der Mann ging und klopfte Elsic im Vorbeigehen auf die Schulter.
Kerim wartete, bis er sicher war, dass der Stallmeister die Scheune verlassen hatte, bevor er sich Elsic näherte.
»Es war Jab, oder?«, fragte Elsic kleinlaut.
»Ja«, antwortete Kerim. »Weißt du, wer ihn hierher gebracht hat?«
Elsic schüttelte den Kopf und lehnte sich an die Abteiltür, als wäre sie das Einzige, was ihn aufrecht hielt. Der Hengst schob den Kopf über die Tür und begann, Elsic mit den Lippen die Haare zu zausen.
»Es ist sehr leise hereingekommen«, erklärte Elsic und rieb mit einer Hand über den ausgeprägten Wangenknochen des Tieres.
»Es?«, hakte Talbot neugierig nach.
»Es hat Brandmal auch Angst eingejagt«, fügte Elsic hinzu.
Kerim nickte und verstand, was Elsic mit der Anmerkung meinte. »Brandmal hätte sich nicht gefürchtet, wenn das ein Mensch gewesen wäre.«
»Es hat eine andere Form gebraucht«, warf Sham ein.
»Was?«, fragte Talbot und sah sie verdutzt an, als hätte er ihre Gegenwart gerade erst bemerkt. Sie lächelte verkniffen und entfernte den Verschleierungszauber. »Der Golem hat eine andere Form gebraucht. Die von Lord Ven konnte er nicht noch einmal benutzen, also hat er sich jemand anderen gesucht.«
Kerim schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Dieses Wesen muss doch vermuten, dass wir wissen, es hat einen Golem. Warum den Leichnam des Stallknechts dann so unübersehbar zur Schau stellen? In weniger als einer Stunde wird jeder in der Feste wissen, dass Jab tot ist. Er ist schon länger hier als ich, und jeder kennt ihn.«
»Trotzdem ist er im Wesentlichen ein Namenloser«, merkte Talbot an. »Er sieht nicht anders aus als unzählige Burschen, die sich in Landsend tummeln. Wenn der Dämon nicht in der Feste bleiben will, erlangt er durch Jab Namenlosigkeit.«
Inzwischen waren Shams Gedanken weiter fortgeschritten. »Ich wette, er hat inzwischen noch jemand anderen getötet – und dann dafür gesorgt, dass man Jab findet. Obendrein an einem Ort, der Argwohn auf einen offensichtlichen Verdächtigen für die geheimnisvollen Todesfälle lenken würde. Talbot, schau dir Elsic an, und sag dem Vogt, was ein Südwäldler sieht.«
Talbot nickte begreifend und begann zu Shams Überraschung, leise zu singen.
»… Zart stand sie da mit holdem Gesicht,
die Augen so schwarz wie das tiefe Meer,
Haar lang und hell, wie’s ihrer Art entspricht,
für mich war ihr Lied, zu mir trieb es her …«
Talbot zögerte und wirkte verlegen, obwohl sein volltönender Tenor die Töne durchaus getroffen hatte. »Das ist ein altes Seemannslied. Schon als ich ihn zum ersten Mal gesehen hab, musste ich daran denken. Ich hatte davor noch nie ein Selkie zu Gesicht bekommen, nicht einmal weiße Seehunde, in die sich Selkies ja angeblich verwandeln. Aber Elsic erinnert zu sehr an die alten Geschichten, als dass ein Südwäldler mit Seemannsblut in den Adern etwas anderes vermuten könnte. Ich denke, das ist auch der Grund, weshalb es für ihn so schwierig ist, sich hier einzugliedern.«
»Selkies«, erklärte Shamera für Kerim, »stehen im Ruf, gnadenlos und blutrünstig zu sein.« Ihr fiel auf, dass Elsic mittlerweile noch verstörter dreinschaute, deshalb fügte sie hinzu: »Dabei sollte man nicht übersehen, dass ihr Ruf von Menschen stammt, die sich den Lebensunterhalt damit verdienen, zu fischen und die Säugetiere des Meeres zu jagen – von Menschen also, die wohl nicht besonders beliebt bei einer Rasse sein dürften, die sich in Seehunde verwandeln kann. Mich überrascht, dass du noch nicht aufgefordert worden bist, ihn nur deshalb vor Gericht zu stellen, weil er ein Selkie ist.«
»Selkie?« Elsic murmelte das Wort leise. »Ich träume manchmal vom Meer.« Wenngleich sich sein Gesichtsausdruck nicht veränderte, schwang in seiner Stimme eine Schwermut mit, die sogar Shams durch Fegfeuer abgehärtetes Herz anrührte.
»Ich sag dir was, Junge«, ergriff Talbot gedehnt das Wort. »Nicht mal Altis’ Leopard kann dafür sorgen, dass die Stallungen ein freundlicher Ort für dich bleiben, bis wir den Dämon fangen. Meine Frau und ich haben acht Mädchen, und sie wollte immer einen Jungen – was auch der Grund dafür ist, dass wir acht statt sechs Kinder haben. Sie würde deine Gesellschaft für einige Tage sehr genießen, falls du bei uns wohnen möchtest, bis das hier vorüber ist.«
Kerim warf Talbot einen dankbaren Blick zu. »Ich denke, das wäre das Beste, Elsic.«
Der Junge nickte und tätschelte ein letztes Mal das Pferd, bevor er sich von Talbot wegführen ließ.
»Genau das hat der Junge gebraucht«, brummte eine tiefe Stimme auf Südwäldisch hinter Sham. »Ein Haus voller Frauen macht mich auch immer glücklich.«
Sham drehte sich um und erblickte einen Mann, der ungezwungen auf einem Fass an der hinteren Wand der Scheune saß. Er war deutlich überdurchschnittlich groß und besaß einen Körper, der jedem Lustknaben einer Adeligen zu Ehre gereicht hätte. Samt und Seide, die er trug, ließen auf zumindest bescheidenen Wohlstand schließen. Das gewellte blonde Haar kennzeichnete ihn als Südwäldler, und die großen, geistlos wirkenden Augen mit den halb geschlossenen Lidern deuteten einen entsprechend geistlosen Verstand an – eine Vermutung, die schon angesichts seiner Größe aufkam. Das Einzige, was völlig fehl am Platz wirkte, war der abgewetzte Griff des schweren Entermessers, das er an der Hüfte trug.
Kerim fragte sich wahrscheinlich, wie es dem Mann gelungen war, sich an ihnen vorbei in die kleine Scheune zu schleichen, ohne dabei von jemandem bemerkt zu werden. Sham stellte sich die Frage nicht, denn diesen kleinen Trick – sowie einige andere – hatte sie ihm beigebracht.
»Mein lieber Vogt«, ergriff Sham übertrieben förmlich das Wort, »so du ihn noch nicht kennengelernt hast, gestatte mir bitte, dir den Hai vorzustellen.«
Der Hai richtete sich zu seiner vollen außergewöhnlichen Größe auf und vollführte einen Hofknicks. Sham fiel auf, dass er noch dümmer als sonst aussah, und sie fragte sich, was er im Schilde führen mochte. »Wir hatten bisher nur über Dritte Umgang miteinander. Seid gegrüßt, mein Lord.«
Kerim nickte und bedachte den Herrn der Flüsterer mit einem abwägenden Blick. »Gleichfalls. Du musst schon verzeihen, wenn ich dich frage, warum du hier bist.« Kerim deutete mit ausholender Geste auf die Scheune im Allgemeinen.
Der Hai hob die unbewaffneten Hände, um seine Harmlosigkeit zu unterstreichen. »Ich? Oh, ich halte mich lediglich an eine Vereinbarung, die Sham und ich hinsichtlich gewisser Auskünfte haben. Dass ich Sie in Eurer erlauchten Gegenwart antreffe, ist bloß ein glücklicher Zufall.«
Wenngleich die Worte und Floskeln, die der Hai benutzte, des Hofes würdig waren, klang sein Fegfeuerakzent mit der typischen Betonung der Selbstlaute deutlich durch und bildete einen krassen Gegensatz zu seinen feinen Kleidern. Da Sham wusste, dass er mit jedem beliebigen Akzent sprechen und so schnell von einem zum anderen wechseln konnte, wie ein Fuchs einen Haken zu schlagen vermochte, konnte die jetzt zur Schau getragene Derbheit nur für den Vogt gedacht sein.
»Hast du etwas über den Chen Laut herausgefunden?«, fragte Sham ansatzlos dazwischen. Sein Gebaren verwirrte sie.
Der Hai verneigte sich vor ihr, ohne den Blick vom Vogt abzuwenden. »Ich habe jemanden gefunden, der behauptet, etwas darüber zu wissen, aber reden will er nur, wenn der Vogt dabei ist.«
»Warum denkt er, der Vogt könnte sich für die Angelegenheit interessieren?« Sham starrte dem Hai ins Gesicht, bis er ihrem Blick schließlich begegnete.
»Ich habe keine Ahnung. Der Mitarbeiter, der ihn aufgespürt hat, schwört, dass der Zauberer die Bedingung von sich aus gestellt hat.«
Shamera konnte zwar keinerlei Anzeichen dafür erkennen, dass der Hai log, allerdings wusste sie, dass er mit dem dümmlichen Gesichtsausdruck, den er sich angeeignet hatte, auch viel zu verbergen vermochte. Sie musterte ihn mit gerunzelter Stirn, bis er mit den Schultern zuckte und die Hände hob, um seine Arglosigkeit zu unterstreichen.
»Beim Grab meiner Mutter, Sham, ich weiß nicht, warum er entschieden hat, dass der Vogt dich begleiten muss. Auf der Straße hat sich nicht herumgesprochen, wo du dich derzeit aufhältst, und keiner meiner Leute ist nach dir gefragt worden. Der Zauberer ist gestern an einen meiner Mitarbeiter herangetreten. Die Flüsterer bedienen sich dieses Magiers gelegentlich, und wir hatten ihn schon mehrmals auf den Chen Laut angesprochen. Aber er hat immer behauptet, nichts darüber zu wissen. Jetzt will er sich heute Nachmittag in seiner Werkstatt in Fegfeuer mit dir treffen … und mit dem Vogt.«
Sham schüttelte den Kopf. »Und wie erwartet er, dass wir den Vogt mit diesem Rollstuhl nach Fegfeuer schaffen sollen, ohne jeden Möchtegerndieb und Entführer im Umkreis von hundert Wegstunden anzulocken? Will er etwa ein Publikum von mehreren hundert Dieben haben? Selbst wenn wir es hin und wieder zurück schaffen könnten, ohne dabei getötet zu werden, würde sich jeder Mensch in der Stadt fragen, was den Vogt geritten hat, sich nach Fegfeuer zu begeben.«
Die Lippen des Hais zuckten angesichts ihrer Vorwürfe. »Ich habe nicht mit dem Mann gesprochen, um ihn zu fragen, was er sich dabei denkt. Dieser Teil liegt dann wohl bei dir. Ich kann nur gewährleisten, dass es die Flüsterer nicht in alle Winde tragen werden.«
»Ich kann reiten«, warf Kerim verhalten ein. Bei dem hitzigen Wortwechsel hatte Sham ihn beinahe vergessen. »Da ich wieder Gefühl in den Beinen habe und die Muskelkrämpfe zurückgegangen sind, sollte ich in der Lage sein, mich im Sattel zu halten. Sobald wir dort sind, kann mir Dickon in die Behausung des Zauberers helfen.«
Sham richtete einen abwägenden Blick auf ihn. »Das Wagnis ist zu hoch. Wenn du mit einem in der Feste gezüchteten Pferd durch Fegfeuer reitest, könntest du dir ebenso gut eine Zielscheibe auf den Rücken malen.«
»Dieser Dämon hat meinen Bruder getötet«, erinnerte Kerim sie. »Wenn meine Gegenwart dazu beitragen kann, ihn zu fangen oder herauszufinden, was wir mit ihm machen sollen, wenn wir ihn erst haben, dann lass uns auf jeden Fall nach Fegfeuer reiten. Hier gibt es nicht nur edle Zuchtrösser, sondern auch Karrenpferde. Ich bin sicher, wir können geeignete Tiere finden.«
Sham wandte sich an den Hai. »Wann heute Nachmittag?«
»Sofort.«
»Ich hole Dickon.«
Die zwei Männer blieben stumm, bis Shamera hinter den Mauern der Feste verschwand, bevor sie sprachen.
»Also«, meinte der Hai und wiegte sich auf die Fersen zurück, »hat sie wieder einen gefunden.«
Kerim wartete höflich, längst an das Austragen verschiedenster Arten von Schlachten gewöhnt.
»Einen weiteren hilflosen Welpen, den sie bemuttern kann«, klärte ihn der Hai mit einer Beiläufigkeit auf, die Kerims Misstrauen schürte. »Ich hab mich schon gefragt, wie lang es nach dem Tod des Hexers dauern würde, bis sie wieder jemanden findet, den sie umhegen kann.«
»Ich sehe hier keine Milchzähne«, gab Kerim zurück und bleckte das weiß aufblitzende Gebiss. »Und was die Frage angeht, wer sich um wen kümmert, denke ich, dass bislang ein recht ausgeglichenes Verhältnis herrscht.«
Der Hai wandte sich ab und beobachtete, wie sich die Schatten in der Ecke der Scheune verdichteten. »Seid vorsichtig, was Ihr tut, Katzenfreund. Diejenigen von uns, die in Fegfeuer leben, sind gut darin, zu hassen, und wir fressen unsere Feinde. Sham genauso wie ich.«
»Wen hasst sie denn?«, erkundigte sich Kerim leise.
»Ah, meine Sham hasst viele Menschen, aber sie lenkt ihre Gefühle in geordnete Bahnen und beherrscht sie. Sham hält sich an Regeln. Sie wählt ihre Opfer sorgsam aus. Durch die Regeln bewahrt sie sich ihre geistige Gesundheit, während der Rest von uns im eigenen Hass und in der eigenen Verzweiflung verrottet.« Als sich der Hai wieder Kerim zudrehte, beraubte eine alte Wut seine Augen der Ausdruckslosigkeit, die den Eindruck von Dummheit hatte entstehen lassen. »Aber ich schulde ihr meinen Schutz – und mein Hass folgt keinen Regeln. Wenn Ihr sie verletzt, finde ich Euch.« Kerim fiel auf, dass auch der starke Akzent verschwunden und das Cybellisch des Hais so tadellos wie das eines Höflings war.
Kerim nickte bedächtig. »Und dein Schutz beinhaltet, dass du sie uns vorgeschlagen hast, obwohl du – wie ich vermute – wusstest, dass sie diese Ermittlungen zu einem Aufeinanderprallen mit einem Dämon führen würden?«
Der Hai zuckte mit den Schultern und setzte wieder die Miene auf, die besagte: Frag mich nichts, ich bin ein Idiot. »Sie hat mich darum ersucht, ihr zu helfen, den Dämon zu finden. Da es den Anschein hatte, dass die Kreatur in irgendeiner Weise in Verbindung mit dem Hof steht – schien es mir das Beste zu sein, beide Anforderungen auf einmal zu erfüllen.«
Der Magier unterhielt seine Arbeitsräumlichkeiten in einem abgelegenen Teil von Fegfeuer, wo die ärmsten Menschen lebten. Das Gelände präsentierte sich übersät von den kartenhausähnlichen Überresten alter Lagerhäuser, die eine Generation salziger Seeluft regelrecht in den Boden hinein hatte verrotten lassen. Hier und da standen grobe Unterstände, die die Leute aus erbeuteten Brettern gebastelt haben mussten.
Dichter Meeresnebel hing in der Luft, klammerte sich hartnäckig in den niedrigeren Gefilden fest und beraubte die Umgebung jeglichen Anscheins von Farbe. Es war ein Nebel, der vor Verzweiflung und unerzählten Tragödien strotzte; Sham hatte dieses Gebiet noch nie ohne ihn gesehen.
Die Diebin schauderte, und sie schlang den fadenscheinigen Mantel, den sie sich in den Stallungen geliehen hatte, enger um sich. Diese Gegend wurde von einem der gnadenlosesten Bandenanführer Fegfeuers beherrscht, und sie wusste, dass seine Handlanger in wenigen Tagen hier einfallen, die Zufluchten niederreißen und die spärlichen Habseligkeiten rauben würden, die den Bewohnern noch verblieben. Auf dem Boden lag ein einsamer menschlicher Oberschenkelknochen, eine stumme Warnung für diejenigen, die geneigt waren, sie zu beherzigen.
Schon merkwürdig, dachte sie mit einem Anflug von Verbitterung, dass Menschen größeres Grauen erschaffen konnten, als sie von Dämonen oder Ghulen ausgingen. Der Alte Mann hatte erzählt, dass sich dieselbe Stimmung selbst nach Jahrhunderten auf alten Schlachtfeldern hielt. Orte, die zu viel Gewalt aufnehmen mussten, neigten dazu, Geister zu beherbergen. Wenn sie sich gestattete, aufmerksam zu lauschen, konnte sie das Stöhnen der Toten im Wind hören. Das Pferd, auf dem sie ritt, zog den Kopf ein und bewegte sich näher zu den anderen Tieren aus den Stallungen des Vogts, als könne es ebenfalls den Widerhall des Elends an diesem Ort vernehmen.
Sie bildeten eine merkwürdig anmutende Gruppe, fügten sich aber gut ins Bild der wenigen zerlumpten Seelen, die sich in den Schatten herumdrückten. Die bunten Samtgewänder des Hais dienten ebenso sehr als Warnung wie als Bekleidung. Nur ein Narr oder ein äußerst gefährlicher Mann würde eine solche Aufmachung tragen – und ein Narr hätte es nicht so weit geschafft. Sham erübrigte einen Gedanken dafür, sich zu fragen, wo er das Reiten gelernt haben mochte; soweit sie wusste, hatte er nicht den Vorzug genossen, der Spross eines Hauptmannes der Garde zu sein.
Kerim ritt ohne jegliche Schwierigkeiten und sah durch und durch wie der Krieger aus, der er war. Jemandem, der nach leichter Beute Ausschau hielt, würde nicht entgehen, wie unbeschwert und selbstsicher seine Hand auf dem Heft seines in der Scheide steckenden Schwertes ruhte. Am überraschendsten hatte Sham gefunden, mit welcher Leichtigkeit sich Dickon zusammen mit seiner zivilisierten Kleidung auch seines zivilisierten Gebarens entledigt hatte – er wirkte genauso gefährlich wie die anderen. Mit einem leichten Anflug von Belustigung erkannte sie, dass sie das am wenigsten beeindruckende Mitglied der Gruppe sein musste.
Während sie weiterritten, wurden die Gebäude nach und nach wieder höher, errichtet aus wiederverwendetem Holz und Ziegelstein, verfugt mit Schlamm, befestigt mit Seilresten und rostigen Nägeln. Eine Dirne beobachtete sie mit stumpfsinnigem Blick und dem ernüchterten Wissen, dass eine so gut gekleidete Gesellschaft bis nach Einbruch der Dunkelheit warten würde, ehe sie sich dem hingäbe, was sie verkaufte.
Der Hai zügelte sein Pferd an der Front eines hastig zusammengeschusterten Bauwerks mit Decken vor den Fenstern und einigen der größeren Löcher in den Wänden. Sham verspürte kurzzeitig Überraschung darüber, dass niemand die Decken gestohlen hatte, bis sie den magischen Schutz bemerkte, der das Gebäude umgab.
Als sich der Hai aus dem Sattel schwang, strömte eine kleine Schar von Gossenkindern aus der Sicherheit der Schatten hervor, um sich der Pferde anzunehmen. Sie erwiesen sich als nicht so mager wie der Rest der Kinder in dieser Gegend, weshalb Shamera davon ausging, dass der Hai sie hergebracht hatte. Wenn er so weit vorausgedacht hatte, dann hatte er wahrscheinlich in der Nähe noch andere, tödlichere Schergen versteckt. Zuversichtlicher als zuvor, dass sie es ohne Zwischenfall zurück zur Feste schaffen könnten, stieg auch Shamera ab.
Den Vogt vom Pferd zu bekommen gestaltete sich einfacher, als es gewesen war, ihn in den Sattel zu hieven. Als Sham sein Gesicht betrachtete, fürchtete sie jedoch, dass er noch für die ungewohnte Tätigkeit des Reitens würde bezahlen müssen. Mit Dickon auf einer Seite und dem Hai auf der anderen bewältigte der Vogt den Weg von seinem Pferd zum Gebäude und trug dabei einen Großteil des eigenen Gewichts selbst.
Im Inneren erwartete sie eine Kammer mit festgestampftem Erdboden, leer abgesehen von zwei Stühlen und einer durchsichtigen Kristallkugel, die in Hüfthöhe ohne sichtbaren Halt mitten im Raum schwebte. Der Anblick der Stühle veranlasste Shamera, ihre Stirn in Falten zu legen; sie hatte höchstens mit einer Bank gerechnet. Stühle waren für Adelige, die sich die hohen Preise von Holzhandwerkern leisten konnten und an Orten lebten, wo solche Dinge nicht gestohlen wurden.
Der Vogt ließ sich behaglich auf einem der Stühle nieder, und Dickon und der Hai stellten sich neben ihn. Der andere Stuhl stand dem Vogt zugewandt und war offensichtlich für den Zauberer gedacht. Shamera wich einen Schritt zurück, um sich gegen die Wand zu lehnen, doch bevor sie dazu kam, krachte ihr Hinterkopf hörbar gegen irgendetwas.
Sie rieb sich die wunde Stelle, drehte sich um und betrachtete argwöhnisch den vermeintlich leeren Raum hinter ihr. Als sie stirnrunzelnd die Wand betrachtete, bemerkte sie ein kaum wahrnehmbares Flimmern um die Ränder einer Leerstelle – sie flüsterte einige geheime Worte.
Der Anschein, dass da nichts war, platschte zu Boden wie Wasser. Zurück blieben mehrere Regale mit einigen Büchern und geheimnisvollem Krimskrams, eine Bank an einer Wand und ein Zauberer, der eine Kutte mit Kapuze trug und sie aus dem gegenüberliegenden Winkel des Raumes beobachtete. Shamera verneigte sich vor ihm und nahm auf der Bank Platz. Die Gestalt mit der Kapuze kicherte vergnügt und kam mit schlurfenden Schritten aus seiner Ecke hervor. Sham spürte ein kurzes Kribbeln seiner Macht, als die schwebende Kugel zur Decke aufstieg und Licht abzustrahlen begann.
Sie schnaubte verächtlich. »Nicht alle von uns sind Wilde aus dem Osten, die sich mit einem Magierlichttrick beeindrucken lassen, den ich schon konnte, bevor ich reden gelernt habe.«
»Oh«, krächzte der Magier heiser und stützte sich schwer auf seinen schwarzen Stab, als er weiter ins Licht tappte. »Eine Hexerin. Ich habe gehört, dass eine nach dem Dämon sucht.«
»Ich habe dir das gesagt, Zauberer. Und ich lüge nicht«, warf der Hai mit frostiger Stimme ein.
»Ja.« Die Schultern des alten Mannes zitterten vor Vergnügen, und er wandte sich Kerim zu. »Siehst du, wie einfach es ist, einen stolzen Mann zu verärgern? Hüte dich vor Stolz, Junge, denn Stolz wird dich zu Fall bringen.«
»Ist das eine Weissagung oder der Versuch einer Unterhaltung, Alterchen?«, wollte Sham wissen.
Der Zauberer bewegte sich auf sie zu; der durchdringende Geruch der zwar prächtigen, aber dreckigen Pelzrobe trieb ihr regelrecht Tränen in die Augen. »Unterhaltung, Kind. Für Weissagungen werde ich bezahlt. Bist du deshalb hergekommen? Ich dachte, du suchst nach einem Dämon.«
»Weissagungen sind ein zweischneidiges Schwert«, entgegnete Sham. »Beim Versuch, einem schlechten Los zu entgehen, kann man nur allzu leicht ein noch schlimmeres finden. Wir sind wegen deines Wissens hier, nicht wegen deiner Magie. Ich muss alles erfahren, was du mir über den Chen Laut erzählen kannst.«
»Und du …« Die krumme Gestalt drehte sich Dickon zu. »Weshalb bist du hier?«
Sham vermeinte, einen Anflug von Verwirrung in Dickons sonst so reglosen Zügen zu erkennen, doch der Eindruck verflog zu schnell, um sicher sein zu können.
»Ich gehöre zum Vogt.«
»Ich verstehe.« Der Alte wiegte sich auf den Fersen zurück. Sham trat einen Schritt vor, weil sie fürchtete, er könnte das Gleichgewicht verlieren und nach hinten überkippen, aber er fing sich rechtzeitig.
Langsam humpelte der Magier zu dem unbesetzten Stuhl und ließ sich draufplumpsen. Er schüttelte den Kopf. »Dämonen sind keine angenehme Gesellschaft, meine Liebe.«
Sham vermutete, dass er mit ihr sprach, wenngleich er den Blick eindringlich auf die Wand etwas links von ihr gerichtet hatte. »Er hat uns auserkoren, nicht wir ihn – er benutzt Landsend als Jagdgefilde. Er hat den Bruder des Vogts ebenso getötet wie meinen Meister, den früheren Zauberer des Königs, Maur.«
»Den Zauberer des alten Königs?« Der von der Zeit schwer gezeichnete Magier straffte die Schultern und flüsterte wie zu sich selbst: »Und du warst sein Lehrling? Ich dachte, er wäre vor langer Zeit gestorben – ich habe die Berührung seiner Magie nicht mehr gespürt, seit die Feste eingenommen wurde.«
»Mittlerweile ist er tot«, erwiderte Sham, wenngleich ihr Tonfall nicht so scharf wie beabsichtigt ausfiel. »Die letzten Worte, die seine Lippen verließen, waren die Warnung vor einem Dämon namens Chen Laut. Ich muss diesen Dämon finden und vernichten.«
Der Zauberer nickte, wiegte sich ein wenig auf dem Sitz vor und zurück. »Der Chen Laut ist der Dämon der Feste. Schon lange bevor die derzeitige Festung auf ihrem Hügel stand, kam der Dämon von Zeit zu Zeit und nährte sich, bevor er wieder für Jahrzehnte oder Jahrhunderte verschwand. Die Geschichte seines Ursprungs verhüllt der Schleier der Zeit, und ich kenne nur Bruchstücke mit Gewissheit.«
»Wir hören dir zu«, meldete sich der Hai zu Wort.
»Ja, das tut ihr«, pflichtete der Zauberer ihm bei. »Nun denn. Vor langer, langer Zeit – lange vor den Magierkriegen – gab es einen Zauberer, Harrod, den Grauen. Er war reich an Magie und arm an Weisheit, denn nur ein Tor würde einen Dämon als Diener an sich binden, ganz gleich, wie viel Kraft man auch besitzen mag. Die Zauber sind schwierig, und in Augenblicken der Leidenschaft oder des Schmerzes ist es allzu leicht, die Herrschaft über sie zu verlieren.
Der Dämon, den er an sich band, war geduldig; er besaß die Geduld aller unsterblichen Wesen. Er diente seinem Meister gut, bis der Mann ihn nicht mehr nur als Sklaven, sondern auch als Freund betrachtete. Als der Dämon seine Gelegenheit gekommen sah, tötete er den Zauberer – und saß dadurch hier fest, für immer von seinesgleichen getrennt. Der Zauberer nannte ihn ›Chen Laut‹ – was in der alten Sprache ›begabter Diener‹ bedeutet.«
»Weißt du, wie man ihn finden kann?«, fragte Sham.
»Ja.« Der Greis starrte einen Atemzug lang mit verschwommenem Blick auf den geschnitzten Griff seines Stabs. »Vielleicht findet er aber auch dich, so wie Maur.«
»Gibt es noch andere Geschichten?«, meldete sich Kerim zu Wort. »Jeder Südwäldler, dem ich je begegnet bin, kennt Geschichten über die eine oder andere Art von magischen Geschöpfen.«
Der Zauberer prustete vor überraschtem Gelächter. »Hast du schon vom Dämon der Feste gehört? Nein? In Wirklichkeit ist es eine undurchsichtige Geschichte; allerdings ist das eher auf die Bemühungen der Herrscher von Landsend zurückzuführen als auf einen Mangel an Beweisen oder Interesse, hmm. Die Adeligen wären sonst längst in Scharen von hier abgerückt. Es sei denn natürlich, es wären Ostländler, zu vermeintlich kultiviert, um an derlei irrigen Unfug zu glauben.« Eine Weile kicherte er vor sich hin.
»Würde es Aufzeichnungen geben?«, fragte Sham. »Wenn das schon früher geschehen ist, dann ist vielleicht irgendjemand der Lösung schon mal näher gekommen als wir.«
Kerim schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Als ich hier eintraf, war vieles zerstört. Was noch übrig war, habe ich zur Aufbewahrung in den Tempel geschickt – Talbot kann es von einigen seiner Leute durchsehen lassen.«
»Wenn wir den Dämon finden«, sagte Sham gedehnt, »was können wir dann gegen ihn unternehmen?«
»Zauberer, die von Dämonen und dergleichen wissen, werden von ihrer eigenen Art gejagt. Ich habe dir über den Dämon erzählt, was ich kann.« Mit einem Schwenk seines Stabs füllte sich der Raum mit öligem, übel riechendem Rauch.
Hustend rannte Sham zur Tür und zog sie auf, damit der stinkende Qualm aus der missgestalteten kleinen Hütte entweichen konnte. Als er sich gelichtet hatte, war der Magier verschwunden, und ein Trugbann verhüllte erneut das Innere der Werkstatt.
»Also«, meinte Shamera, als Dickon und der Hai Kerim auf dessen Pferd halfen, »die guten Neuigkeiten sind, dass wir etwas über den Chen Laut wissen. Allerdings hat er, wenn der Magier richtigliegt, mindestens tausend Jahre überlebt, und das in Zeiten, als Magier mit meinen Fähigkeiten in Landsend so verbreitet waren wie Kirchenmäuse. Außerdem wissen wir immer noch nicht, wie wir die Kreatur aufspüren können – oder sie töten, wenn wir sie finden.«
»Glaubst du, er hat uns alles gesagt, was er weiß?«, fragte Kerim.
Es war der Hai, der mit einem schiefen Grinsen darauf antwortete. »Ihr habt Sham noch nicht lange um Euch gehabt, oder? Eine klare Antwort aus einem Zauberer herauszubekommen ist so, als warte man darauf, dass ein Fisch blinzelt – es wird nicht passieren. Er weiß wahrscheinlich eine Menge mehr, das er nicht verrät – aber man bräuchte eine Streckbank, um es aus ihm herauszubekommen.«
Dickon war still hinter dem Vogt hergeritten und hatte auf den Boden gestarrt. Er räusperte sich und ergriff das Wort. »Überrascht es denn sonst niemanden, festzustellen, dass sich Lord Halvok für einen Zauberer hält?«
»Was?«, hakte Kerim in scharfem Tonfall nach.
»Ich fragte«, wiederholte Dickon langsam, als spräche er mit jemandem, der ausgesprochen schwer von Begriff war, »ob es nicht seltsam ist, dass sich Halvok für einen Zauberer hält.«
»Du glaubst, der alte Magier war Halvok?«, fragte Shamera.
Der Diener sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Ich gebe zu, dass seine Verkörperung eines Greises gut war, aber unter der Kapuze seiner Robe hat eindeutig Lord Halvok gesteckt.«
Kerim schaute zu Sham. »Ich habe Lord Halvok nicht gesehen.«
Der Hai hatte den Ansatz eines Lächelns im Gesicht und betrachtete Dickon. »Ein Ostländler? Wie seltsam. Ich dachte, man hätte die Magie aus euch allen herausgezüchtet.«
Sham schenkte dem Hai keine Beachtung, murmelte stattdessen einige Worte und streckte die Hand aus. »Was halte ich hier, Dickon?«
Der Diener legte erneut die Stirn in Falten und sah sie an, aber er antwortete. »Einen Stein.«
Sie betrachtete den Frosch auf ihrer Hand, der zweimal träge blinzelte und dann verschwand. Zurück blieb ein kleiner, rund geschliffener Stein.
»Was hat das zu bedeuten?«, warf Kerim nachdenklich ein.
Sham zuckte mit den Schultern, steckte den Stein zurück in die Tasche und drängte ihr Pferd zurück in die Richtung der Feste. »Ich vermute, es bedeutet, dass Lord Halvok ein Zauberer ist – ein ziemlich gerissener.«
»Und?«, hakte Kerim nach, während Dickon unbehaglich dreinschaute.
Der Hai kicherte. Als Sham ihm einen strengen Blick zuwarf, verstummte er und setzte eine nüchterne Miene auf, aber seine Schultern zitterten weiter vor Belustigung. »Wer hätte das gedacht?«, murmelte er. »Ein im Osten geborener Zauberer.«
»Maur«, sagte Sham leise, »hat immer behauptet, dass Ostländer und Südwäldler unter der Haut dieselben sind. Anscheinend hatte er recht. Dickon ist mit Magie geboren, mein lieber Vogt, und anscheinend besitzt er eine Begabung für Trugbanne.«