13

Fykall seufzte erschöpfter, als es am Ende des Tages notwendig gewesen wäre. Er stellte fest, dass er sich zunehmend unzufriedener mit seinem Rang als rechte Hand des Hohepriesters fühlte. Sogar die Freude darüber, den Vogt bei Lord Vens Bestattung überlistet zu haben, hatte nicht lange gewährt.

Als Junge hatte er Altis’ Ruf vernommen und ihm treu mit aller Kraft gedient, die sein drahtiger kleiner Bauernkörper zu bieten hatte. Im Verlauf der Jahre hatte sich seine Hingabe bezahlt gemacht – der zierliche Priester war rasch durch die Ränge von Altis’ Dienerschaft aufgestiegen. Einmal – und er erinnerte sich an die Gelegenheit als den erhebendsten Augenblick seines Lebens – war ihm gestattet gewesen, die Hand von Altis’ Stimme zu küssen. Der Prophet hatte ihn angelächelt, kurz über Fykalls Dienste gesprochen und ihn nach Landsend geschickt.

Abermals seufzte der kleine Mann. Fykall verscheuchte die Tempelkatze vom Betpult, die seine Gemächer zu ihrem persönlichen Hoheitsgebiet erklärt hatte, kniete sich hin und neigte das Haupt.

Er war mit so großen Hoffnungen nach Landsend gekommen – und nicht nur, weil die Stimme ihn persönlich hergeschickt hatte. In Cybelle erzählten sich die Priester Geschichten über den Leoparden und die Wunder, die er im Namen Altis’ wirkte. Fykall war bereit gewesen, sich in Ehrfurcht vor einer Legende zu verneigen – stattdessen hatte er einen Mann kennengelernt, obendrein einen, der sehr wenig Liebe für die Tempelpriester erkennen ließ. Wenngleich, so dachte Fykall, der Umgang mit Brath für ein Jahrzehnt vermutlich jeden eine Abneigung gegen die Priesterschaft entwickeln ließe. Aber trotz allem – manchmal fragte sich der kleine Geistliche, ob der Vogt Altis überhaupt anbetete.

Hatte sich der Leopard als Enttäuschung erwiesen, so entpuppte sich der Hohepriester als Mühsal einer völlig anderen Größenordnung. Wie konnte ein Mann seines Ranges in der Kirche das Licht von Altis’ Geleit dermaßen aus den Augen verlieren? Der Hohepriester gierte nach Reichtum und Ruhm – die Gesinnung des Tempels kümmerte ihn weniger als das Gold an der Tür seiner Amtsräumlichkeiten.

Fykall schloss die Augen und murmelte ein seiner Zunge dermaßen vertrautes Gebet, dass es keines bewussten Zutuns bedurfte. »Gesegneter, gewähre mir das Begreifen deiner Weisheit und die Geduld, das Ergebnis deiner Wünsche abzuwarten. Ich danke dir für dein Verständnis für meine Unzulänglichkeiten. Amen.«

Ein warmes Kribbeln durchströmte ihn, und er wusste, wenn er die Augen öffnete, würde er den Schein von Altis’ Malen an seinen Händen sehen. Aber er wartete und lauschte, wie es ihm beigebracht worden war. Erst als das Kribbeln der Macht vollständig verschwunden war, schlug er die Lider auf.

Mit einem Seufzen erhob er sich und strich seine weißen Gewänder penibel glatt, bis sie in tadellosen Falten bis zur Mitte seiner Waden hinabhingen. Er zog seinen grünen Gürtel fest, trat von dem kleinen Altar zurück und griff nach dem Glas Orangensaft, das er aus Gewohnheit vor dem Schlafengehen trank.

Fykall, säubere mein Haus.

Erschüttert fiel der kleine Priester auf die Knie, ohne die Schmerzen zu bemerken, als er auf dem harten Boden aufprallte. Er hatte Altis’ Stimme seit seinem Übertritt als Junge nicht mehr gehört, aber das tiefe Grollen klang genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Es dauerte einen Augenblick, bis ihn seine Ehrfurcht die Bedeutung der Worte verstehen ließ.

Das Haus säubern? Wie konnte das sein? Natürlich wies seine derzeitige Position darauf hin, dass er die Gunst seines Gottes verloren hatte, doch er hätte nie mit einem solchen Verweis gerechnet. Reinigungsarbeiten übernahmen die Tempeldiener, sodass sich die Priester wichtigeren Aufgaben widmen konnten.

Fykall, säubere mein Haus.

Fykall verließ seine Kammer. Schliefe er vorher, war zu befürchten, dass seine Entschlossenheit ihn im Verlauf der Nacht verlassen könnte. Vielleicht hatte Altis in seinem Herzen das Körnchen Stolz entdeckt, das darin gewachsen war, seit sich seine Pflichten von banalen Dingen zu Höherem weiterentwickelt hatten. Wenn Altis wollte, dass er Böden wischte, würde er sich einen Besen suchen und damit anfangen.

Nach kurzer Überlegung gelangte er zu dem Schluss, dass er einen solchen Behelf am wahrscheinlichsten in der Nähe der Küche finden würde, die sich derzeit auf der anderen Seite des Tempels befand. Mit demütig vor dem Willen seines Gottes geneigtem Kopf ergriff der Priester eine Fackel von der Wand und trat den Weg durch die langen, dunklen Gänge an.

Er nahm eine Abkürzung durch den Altarraum, den die Arbeiter für den Tag bereits verlassen hatten. Die Marmorfliesen bildeten ordentliche Stapel, und Fykall, der kurzzeitig von seiner Mission abgelenkt wurde, stellte voll Zufriedenheit fest, dass die Arbeiten in dem Bereich rasch voranschritten.

Das flackernde Fackellicht erfasste einen rauen Besen, der an der gegenüberliegenden Wand des Altarraums in der Nähe einer der Türen lehnte. Fykall durchquerte die dunkle Halle und ergriff den schäbigen Gegenstand mit zweifelndem Blick. Die Strohborsten waren weiß und mit Mörtelrückständen von den Fliesen verklebt. In dem Versuch, das pulvrige Material zu lösen, klopfte er damit gegen die Wand.

Als Fykall bestürzt den Dreck betrachtete, der dadurch entstand, geriet ihm ein ungewöhnlicher Lärm aus dem Flur zu Bewusstsein, der an den Altarraum grenzte. Von einem Urinstinkt zu Verstohlenheit getrieben, löschte er die Fackel auf einem Bereich des Bodens, in dem noch keine Fliesen verlegt worden waren. Mit dem Besen in der Hand ging er leise zum Durchgang und spähte den langen Korridor entlang, den einige Fackeln in Wandhalterungen spärlich erhellten.

Von seinem Standort aus konnte Fykall den Eingang zum Speisesaal erkennen, wo zwei Männer standen: Mitglieder der Leibgarde des Hohepriesters in grauen Roben mit blauen Gürteln. Die Gardisten waren gut ausgebildete Söldner, bezahlt aus der persönlichen Tasche des Hohepriesters, da sie eher eine Vorliebe des Priesters als eine Notwendigkeit seines Amtes darstellten.

Fykall runzelte angesichts ihrer Anwesenheit die Stirn. Er hatte nichts von einem offiziellen Treffen gehört, das sie um diese späte Stunde hätte herführen müssen.

Jemand im Speisesaal grunzte erst und fluchte dann, und die sorgfältig gezupften Augenbrauen des kleinen Priesters sanken noch tiefer, teils vor Abscheu, teils vor Verwirrung. Das Grunzen hatte sich unwillkürlich angehört, als wäre jemand in den Bauch geschlagen worden.

Säubere mein Haus.

Fykall wartete darauf, dass die Gardisten beim Klang der Stimme, die durch seinen Körper hallte, aufschauen würden. Sollten sie sich in seine Richtung drehen, würden sie ihn sehen, aber sie blickten stur geradeaus. Er verstärkte seinen Griff um den Besen.

Vom anderen Ende des Flurs ertönte das Geräusch gemächlicher Schritte. Es handelte sich um denselben Weg, dem Fykall gefolgt wäre, wenn er sich nicht aus einer Eingebung heraus für die Abkürzung durch den Baustellenbereich entschieden hätte. Irgendwie überraschte ihn nicht, dass die Schritte vom Hohepriester stammten. Die falkenähnlichen Züge des älteren Mannes stellten friedliche Freundlichkeit zur Schau; es handelte sich um einen der Gesichtsausdrücke, die er regelmäßig verwendete, wenn er die Massen mit seiner Weisheit und Gläubigkeit beeindruckte.

Als Fykall den Hohepriester beobachtete, veränderte sich etwas. Für einen Atemzug wurde ihm schwindlig, und ein anderes Bild überlagerte das Antlitz des Hohepriesters, als dieser anhielt, um mit den Wachen zu sprechen. Fykall blinzelte, und die Vision verblasste allmählich, doch es blieb das Gefühl, dass etwas nicht stimmte – dass etwas Böses den höchsten Vertreter Altis’ in Südwald überschattete.

Fykall, säubere mein Haus.

Wenngleich die Stimme nichts von ihrer Macht verloren hatte, war ein Teil der Eindringlichkeit geschwunden, und Fykall begriff endlich, worin seine wahre Aufgabe bestand.

»Habt ihr sie?«, fragte der Hohepriester.

Einer der Wächter nickte. »Sie war allein, wie Ihr es gesagt hattet, Herr. Wie befohlen, erwartet sie Euch.«

»Hervorragende Arbeit. Du kannst gehen und deine Männer mitnehmen.« Noch im Sprechen schritt der Hohepriester an den Wachen vorbei und betrat den Speisesaal.

»Ja, Herr.« Der Söldner verneigte sich kurz und rief seine Männer mit einem knappen Pfiff zu sich.

Fykall hätte den ihm am nächsten befindlichen Mann zum Stolpern bringen können, als die Wächter den Flur entlang zum unfertigen öffentlichen Zugang marschierten, doch keiner von ihnen bemerkte seine Anwesenheit nahe der Tür zum Altarraum. Wie es schien, hatte Altis in dieser Nacht andere Schlachten für ihn vorgesehen, die er zu schlagen haben würde.

Kaum waren die Männer um die erste Ecke gebogen, trat Fykall verwegen hinaus auf den Flur.


Sham krümmte und wand sich. Es gelang ihr, die gefesselten Füße mit befriedigender Wucht in den Bauch eines Mannes zu rammen, bevor ihre Entführer sie mit Seilen an einem robusten Stuhl festbinden konnten. Sie war nicht sicher, wo sie sich befand, da sie über einer harten Schulter liegend und mitten auf einem ihr unbekannten Gang aus dem Schlafbann erwacht war.

Die Fesseln, die man ihr angelegt hatte, bestanden aus etwas, das Magie verschluckte. Sosehr sie sich bemühte, sie fand keinen Weg, sie abzuschütteln. Sie holte tief Luft. Ihr gesamter Körper zitterte unter der Gewalt ihrer Wut. Ein jäher Pfiff aus dem Flur zog die Wachen ab, als der Hohepriester eintrat.

Lord Brath betrachtete sie voll Befriedigung. »Ah, eine Ungläubige, eine Handlangerin des Bösen.«

Sham starrte ihn finster an. Der Knebel, den man ihr angelegt hatte, ließ ihr keine Möglichkeit zu erwidern, was sie nur zu gerne losgeworden wäre. Das Beste, was ihr gelang, war ein gedämpftes Knurren.

Der Hohepriester lief auf und ab und rieb sich dabei vergnügt die Hände. »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, dich als gefährliche Ketzerin verbrennen zu lassen, die unseren Vogt verhext hat. Aber ich habe beschlossen, keine Märtyrerin aus dir zu machen.«

Er drehte sich um und blickte sie an. Ihre Augen weiteten sich vor Grauen angesichts dessen, was er ihr gestattete, in seinem Gesicht zu sehen. Für sie bestand kein Zweifel daran, dass der Dämon ihr seinen Golem bewusst offenbarte, denn kaum war die Kreatur überzeugt davon, dass Sham ihre wahre Natur erkannt hatte, wurde sie wieder zum bloßen Hohepriester. Shamera ging durch den Kopf, dass sie sich geirrt hatte, als sie zu dem Schluss gelangt war, der Dämon würde es nicht wagen, Altis’ Tempel zu betreten. Eine Kreatur, die Lord Brath getötet hatte, fürchtete sich nicht vor Altis – was sich irgendwie alles andere als beruhigend anfühlte.

»Stattdessen«, fuhr der Golem leise fort, »habe ich ein anderes Schicksal für dich gewählt. Als Mätresse des Vogts wird es wesentlich einfacher für mich werden, meine Ziele zu erreichen.«

»Du wirst im Hause Altis’ überhaupt nichts tun, widerwärtige Kreatur«, verkündete von der Tür eine Stimme mit einem Hauch Melodramatik – woran Sham in ihrer gegenwärtigen Lage nicht das Geringste auszusetzen hatte.

Sie streckte den Hals und erblickte Fykall. Er trug das kurze Haar ordentlich gekämmt, und die Falten seiner Leinengewänder wirkten geradezu unnatürlich sauber angeordnet. In einer Hand hielt er einen ziemlich staubigen und verschlissenen Besen. Der kleine Priester sah seinen Vorgesetzten so ruhig an, als begegne er jeden zweiten Tag gefesselten Frauen. Ihre Meinung von Lord Brath verbesserte sich durch diese Einsicht nicht unbedingt.

Der Golem, der Braths Erscheinungsbild angenommen hatte, drehte sich ohne Eile um und runzelte die Stirn. »Fykall, du überspannst den Bogen.«

Weder seine Stimme noch seine Züge ließen erkennen, dass Fykall bei etwas Geheimem störte.

»Wieso das?«, erkundigte sich Fykall in mildem Tonfall und wischte mit dem Besen leicht über den Boden.

Sham fiel auf, dass sich vom Strohende bröcklige Mörtelrückstände lösten und den Boden übersäten.

»Ich spreche später mit dir«, erwiderte der Hohepriester und entließ seinen Untergebenen damit unüberhörbar. »Im Augenblick bin ich beschäftigt.«

Der Besen verharrte.

»Mit einer Entführung?«, hakte der kleinere Mann leise nach und klang dabei fast gefährlich.

Sham schüttelte wild den Kopf, aber Fykall sah das Wesen an, das er für Lord Brath halten musste. Sie wünschte, sie könnte Fykall irgendwie davor warnen, womit er es tatsächlich zu tun hatte, denn sie verspürte kein Verlangen, mit anzusehen, wie ihr kleiner, besenschwingender Verteidiger starb.

»Sie ist eine Ketzerin, Fykall«, erklärte der Hohepriester vernünftig. »Sie hat in der Feste das Böse gewirkt. Ich habe Grund zu der Annahme, dass sie in die jüngsten Todesfälle verwickelt ist.«

»Ah ja. Aber das hat ein formelles Gericht zu entscheiden.« Während der kleinere Mann sprach, trat er weiter in den Raum und brachte sich zwischen Sham und dem Hohepriester in Stellung.

Irgendwie fühlte sie sich dadurch allerdings keineswegs sicherer.

»Ich fürchte, sie beeinflusst jeden im Umfeld des Vogts«, erläuterte der Hohepriester. »Hätte sie ihre Magie nicht auch bei mir versucht, hätte ich vielleicht nie bemerkt, was sie tat. Kannst du dir vorstellen, wie irgendjemand dem Leoparden mitteilt, dass seine Mätresse eine böse Hexerin ist? Oder wie sich jemand gegen den Vogt stellt, falls er sich weigert, es zu glauben? Dann könnte sie weiter ungehindert ihrem schlimmen Treiben nachgehen. Es ist notwendig, sie zu beseitigen, bevor sie noch mehr Schaden anrichten kann.«

Das klang überzeugend – sogar für Shams Ohren. Sie hoffte, der kleine Priester würde darauf hören und den Raum verlassen.

»Wer bist du?«, fragte Fykall leise.

Sham versteifte auf dem Stuhl den Körper.

Der Hohepriester zog aufgeblasen die Augenbrauen hoch. »Ich bin der Hohepriester von Südwald, kleiner Mann. Ernannt von Seiner Exzellenz, der Stimme von Altis.«

Fykall schüttelte den Kopf, noch bevor sein Gegenüber zu Ende gesprochen hatte. »Nein. Du bist nicht Brath.«

Die Züge des Hohepriesters wurden ausdruckslos, als hätte sich schlagartig die gesamte Persönlichkeit verflüchtigt, die der Golem von dem Mann gestohlen hatte. Sham fragte sich, ob es an einer Entscheidung des Dämons oder an etwas lag, das der kleine Priester getan hatte.

»Du besitzt ein wenig Macht, Priester – davon würde ich mich allerdings nicht verblenden lassen.« Wie das Gesicht hatte auch die Stimme des Golems jene Sprachmelodie verloren, die sie zu der des Hohepriesters hatte werden lassen.

Fykall schüttelte den Kopf, und Sham nahm einen Anflug von Freude in seiner Stimme wahr, als er erwiderte: »Es ist nicht meine Macht.«

Sham vermutete, dass er eines der Rauschmittel genommen hatte, die in Fegfeuer wie Gold gehandelt wurden – vielleicht Taverkraut, denn Bettlersegen verursachte in der Regel keine Wahnvorstellungen von Unverwundbarkeit.

»Du besitzt nicht genug Wissen«, meinte der Golem in einem Tonfall, in dem er sich genauso gut über das Wetter hätte unterhalten können. Sham fiel auf, dass er immer weniger menschlich und mehr und mehr wie das auszusehen begann, was er in Wirklichkeit war.

»Es geht nicht um Wissen«, entgegnete der kleine Mann friedlich, »sondern um Glauben, und davon besitze ich in Hülle und Fülle.« Er straffte die Schultern und streckte einen Arm mit der Handfläche voraus von sich. Eine gebieterische Stimme hallte durch den Speisesaal, als er sprach: »Du wirst die Essenz aufgeben, die du dir unrechtmäßig angeeignet hast.«

Der Golem zuckte. Die Haut der Kreatur schwärzte sich und wurde rissig. Ihre Züge verloren Geschmeidigkeit und Form, verblassten zu den groben Ansätzen, die bei ihrer Erschaffung aus Lehm gebildet worden waren. Außerdem schrumpfte sie ein wenig und wirkte dadurch in den Gewändern des Hohepriesters merkwürdig – wenngleich keineswegs weniger bedrohlich.

»Höre meine Worte«, fuhr der Priester fort, ohne die Hand zu senken. »Du hast durch deine Gegenwart diesen Tempel besudelt und unseren Hohepriester getötet. Der Hohepriester hatte seiner Berufung schon vor langer Zeit entsagt und somit kein Anrecht darauf, sich auf die Macht von Altis zu berufen. Über deine Entweihung dieses Tempels jedoch wird nicht einfach so hinweggesehen.«

»Ich bin nicht unbewaffnet, Priester«, fauchte die Kreatur, duckte sich tief und ließ mit einer Drehbewegung die Hand vorschnellen.

Es war ein Zauber, den Sham noch nie zuvor gesehen hatte, und er traf Fykall mit einer Wucht, die ihn zwang, einen Schritt zurückzuweichen. Aus ihrer Position hinter ihm konnte sie die Auswirkungen des Zaubers nicht sehen, aber der kleine Priester schwankte wie eine vom Wind gebeutelte Spinne.

Die Kraft ihrer Fesseln ließ ein klein wenig nach; ein Anzeichen dafür, dass der Dämon seine Aufmerksamkeit anderen Dingen widmete. Sie versuchte es mit einem anderen Zauber, einem einfachen Feuerbann, um die Fesseln zu verbrennen, sich zu befreien und ihr die Möglichkeit zu gewähren, helfend einzugreifen. Noch während sie den Zauber wirkte, wurde ihr klar, dass ihre Magie nicht reichte, um die Fesseln zu zerstören … dann berührte etwas ihre Macht und verstärkte sie. Die Fesseln fielen als Asche von ihren Händen und Füßen ab.

Als sie sich erhob, setzte der Golem zu einem zweiten Bann an. Dies war einer, den sie schon einmal gesehen hatte, und fast ohne nachzudenken, begann sie, ihm entgegenzuwirken. Bei den Gezeiten, ging ihr durch den Kopf. Der Dämon war wirklich mächtig. Das Beste, was ihr gelang, war, den Bann davon abzuhalten, Fykall oder sie zu berühren.

Der kleine Geistliche ergriff mit heiserer, aber steter Stimme das Wort. »Wir entziehen dir die Macht, die du durch den Tod unseres Hohepriesters erhalten hast.«

Der Golem schrie auf, und der gehärtete Lehm, aus dem der Großteil seines Körpers bestand, fing an zu bröckeln und zu zerbrechen. Ganze Teile fielen von dem hölzernen Skelett ab. Als die Trümmer auf dem Steinboden landeten, zerbröselten sie zu gelbem Staub und gaben das innere Gerüst des Golems frei. Grob geformte Stöcke wurden von einem dünnen, beschlagenen Silberdraht zusammengehalten und erinnerten an den Abklatsch eines menschlichen Skeletts. Der Kopf bestand aus einem Holzklotz mit einem kleinen gelben Stein an der Stelle, an der sich das linke Auge eines Menschen befunden hätte.

Sham achtete argwöhnisch auf einen neuen Zauber, doch es kam keiner mehr. Das Holz begann zu altern, wurde erst grau, dann weiß. Als das brüchige Material zu Splittern verdorrte, schwebten die Gewänder des Hohepriesters zu Boden. Der gelbe Edelstein löste sich aus seiner Holzfassung und kullerte über den glatten Untergrund, bis er mehrere Schritte von dem Stoffhaufen entfernt zum Liegen kam.

Fykall stellte seinen Besen auf den Boden und betrachtete den kümmerlichen Haufen, der gerade noch den Hohepriester verkörpert hatte. Sham arbeitete daran, den Knoten zu lösen, der den Knebel in ihrem Mund hielt. Dabei musste sie ein Geräusch von sich gegeben haben, denn Fykall drehte sich ihr zu, erkannte ihre Schwierigkeiten und bot ihr ein Besteckmesser von seinem Gürtel an.

Als sie die stumpfe Klinge vorsichtig zwischen den Stoff und ihre Wange schob, drang das Geräusch einer Gruppe von sich mit raschen Schritten nähernden Männern durch die Gänge in den Raum. Fykall stellte sich zwischen Sham und die Tür. Er bezog mit seinem schmuddeligen Besen Stellung, als handle es sich um eine Waffe. Sham war sicher, dass sie das unter anderen Umständen lustig gefunden hätte, doch nach dem, was der Priester vor ihren Augen mit dem Golem des Dämons angestellt hatte, wäre sie nicht überrascht gewesen, wenn Fykall mit nichts als dem Kehrwerkzeug eine Armee ausgeschaltet hätte.

Dennoch fühlte sich Sham keineswegs unglücklich, als Talbot in den Saal gestürmt kam, gefolgt vom Hauptmann der Garde, einer Schar Gardisten der Feste und einem Dickon, der eine ziemlich grimmige Miene zur Schau trug.

Als Talbot eine Hand hob, brüllte der Hauptmann einen Befehl, der die Gardisten in der Nähe des Eingangs innehalten ließ. Talbot musterte sie beide mit argwöhnischer Miene. Ihr kam der Gedanke, dass Talbot keine Möglichkeit hatte festzustellen, ob der Dämon sie getötet und durch den Golem ersetzt hatte oder nicht. Da er nicht wusste, wessen Gestalt der Dämon angenommen hatte, musste sich Talbot zwangsläufig fragen, wen er vor sich hatte.

Fykall trat einen Schritt vor, aber Sham, die beobachtete, wie Talbots Hand den Griff um das Heft seines Schwertes verstärkte, packte den Priester an der Schulter. »Ruhig, Lord Fykall. Diese Männer wissen etwas darüber, womit wir es hier zu tun hatten – und sie haben keine Möglichkeit festzustellen, ob wir diejenigen sind, die wir zu sein scheinen.«

Talbot nickte ihr anerkennend zu. Das tat jedoch seinem Argwohn keinen Abbruch, und er deutete mit dem Kopf rasch in die Richtung des Priesters.

»Warum erklärt Ihr uns nicht, wie ihr in den Tempel gelangt seid, Lady Shamera?«, sagte Talbot schließlich, denn er war Südwäldler, und Sham wusste, dass der Anblick von Altis’ Macht für ihn beinahe so zweifelhaft sein musste, wie es Magie für Dickon gewesen war. »Und weg mit dem Messer, während wir reden, ja?«

Sham grinste und warf das Messer so, dass es mit der Spitze voraus auf einem der mehrere Meter entfernten Esstische landete. Zu spät fiel ihr ein, dass es sich dabei um eine Fähigkeit handelte, die eine Mätresse des Vogts nicht besitzen sollte. Ach, was soll’s, dachte sie, vielleicht bemerkt es inmitten all dieses Treibens ja niemand. Die meisten Gardisten, bis auf den letzten Mann Ostländler, starrten unbehaglich auf den Berg Kleidung des Hohepriesters auf dem Boden.

»Es war schiere Dummheit«, gestand Sham mit verschämter Miene. »Ich habe mich daran gewöhnt, mit Geschenken von Leuten überhäuft zu werden, die Einfluss auf den Vogt haben wollen. Ein Bote brachte mir eine Kassette mit einem Ring und bestand darauf, dass ich ihn anprobierte, bevor er ging. Jemand, wahrscheinlich der Dämon, hatte den Ring so verzaubert, dass jeder, der ihn aufsetzt, einschläft. Als ich aufwachte, war ich hier.«

Sie ging zu den Gewändern des Hohepriesters und suchte darin, bis sie den Ring mit dem Sternrubin fand. Kurz betrachtete sie ihn, denn warf sie ihn Talbot zu. »Ich würde ihn nicht anprobieren. Es ist niemals klug, mit Magie herumzuspielen, mit der man nicht vertraut ist.«

Während Talbot den harmlos wirkenden Ring in Augenschein nahm, besah Sham den gelben Topas, den sie ebenfalls aufgehoben hatte.

Er hatte die Größe eines Kirschkerns – etwas klein für einen Topas. Der Stil seines Schnitts zeugte von hohem Alter: Er war geschnitzt und nicht geschliffen worden. Durch die aufwendige Bearbeitung wirkte der Stein stumpf und leblos; ein hübsches Schmuckstück, aber heutzutage bei einem Edelsteinhändler weniger wert als ein ungeschliffener Stein gleicher Größe. Als das Licht richtig auf den Topas fiel, konnte Sham erkennen, dass die Schnitzerei die Rune bildete, die den Golem belebt hatte.

Sham warf ihn in die Luft und flüsterte einen Zerstörungszauber. Als der Topas auf dem Boden landete, zerfiel er zu Pulver; dieser Stein würde keinen weiteren Golem mehr mit Leben erfüllen. Sie schaute auf und sah, dass Fykall sie mit ernster Miene beobachtete.

Sham wandte sich an Talbot. »Fykall hat die Kreatur vernichtet, die Brath übernommen hatte. Dann seid ihr hereingekommen, bevor wir Gelegenheit hatten, durchzuatmen.« Sie richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Priester. »Was mich daran erinnert, dass ich Euch noch gar nicht für Euer rechtzeitiges Eingreifen gedankt habe.«

Der kleine Mann schüttelte den Kopf. »Als Altis’ Diener hätte ich nichts Geringeres tun können.«

Sie zögerte sichtlich, denn die Worte schienen ihr im Hals festzustecken – aber sie erinnerte sich an das Gefühl der Macht, die ihren Zauber zur Zerstörung der Fesseln des Dämons so sehr verstärkt hatte. »Dann ergeht mein Dank an Altis.«

Fykall lächelte höflich. »Gelobt sei sein Name.«

»Wärt Ihr wohl daran interessiert, Euch des Dämons anzunehmen, der die Handlungen des Golems lenkte?«, fragte Sham. So wenig sie Altis mochte, sie hatte gerade erst entdeckt, wie nützlich er sein konnte.

Der Priester schwankte leicht, als lausche er jemandem, den sonst niemand hören konnte. Dann lächelte er und schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, das könnte ich, aber auf dieser Welt gibt es neben Altis noch andere Kräfte, und sie alle gehorchen bestimmten Regeln. Als der Dämon versucht hat, Altis’ Tempel für seine Untaten zu missbrauchen, hat er meinem Herrn die Freiheit verschafft, den Handlanger der Kreatur zu vernichten. Wollte Altis den Dämon an einem anderen Ort angreifen, wäre der Weg frei für einen genauso starken Gegenangriff einer Kraft des Bösen. Ich wünschte, ich könnte mehr tun.« Dann lächelte er mit echtem Humor. »Und sei es nur, damit der Vogt noch tiefer in meiner Schuld stünde.«

Sham grinste zurück und wandte sich Talbot zu. »Nun, Talbot, ich würde sagen, Ihr habt die Wahl. Entweder ist einer von uns der Dämon und der andere der Golem, oder es sind wirklich nur der Priester und ich.«

Hauptmann Lirn fasste unter seine Tunika und zog eine Kette über seinen Kopf. An deren Ende baumelte in Silber die Katze Altis’ samt grüner Augen.

»Ich bin zwar nicht sicher, ob ich dem folgen kann, was hier vor sich geht«, sagte der Hauptmann, »aber wenn wir sicher sein müssen, dass Bruder Fykall der ist, der er zu sein scheint, dann sollte es damit klappen.« Er reichte die Kette Fykall und sprach: »Gesegnet sei der Name Altis’.«

»Gesegnet seien jene, die das Symbol seines Dienstes tragen«, gab der Priester zurück.

Als er sprach, begannen die Smaragdaugen der Katze zu leuchten, bis ein fahlgrünes Licht den Raum erhellte. Als Fykall Lirn die Halskette zurückgab, verflog der Schimmer.

»Herr«, sagte Lirn zu Talbot, »das ist Beweis genug für mich.«

Talbot nickte, wenngleich er nicht vollends glücklich wirkte.

»Und für mich auch«, stimmte Dickon zu, doch er klang beinahe so argwöhnisch, wie sich Sham angesichts des Beweises für Altis’ Anwesenheit im Raum fühlte. »Wir sollten in die Feste zurückkehren. Mein Herr war gerade dabei, das Gebäude auf der Suche nach Euch in seine Einzelteile zu zerlegen. Für den Fall, dass sich der Hauptmann geirrt hätte.«

»Geirrt?«, hakte Sham nach und sah Lirn an.

Der Hauptmann zuckte mit den Schultern. »Mir ist aufgefallen, dass einer der Tempelmänner mit einem Körper mehr gegangen ist, als sie hätten mitnehmen sollen. Darauf habe ich den Vogt aufmerksam gemacht, als wir feststellten, dass Ihr verschwunden wart, Herrin. Lord Kerim hielt es für das Beste, uns hierher zu schicken, während er eine unauffällige Durchsuchung der Feste in die Wege leiten wollte.«

»Dann solltet Ihr besser gehen, bevor er noch in Raserei verfällt«, meinte Fykall.

Sham setzte sich hinter den Männern durch die Tür in Bewegung, aber der Priester berührte sie an der Schulter, um sie zurückzuhalten.

»Lady Shamera, Altis ersucht Euch darum, äußerst vorsichtig darauf zu achten, keinen seiner Altäre für Eure Rache zu verwenden. Er wird in Zukunft nicht mehr so nachsichtig sein, wie er es in der Vergangenheit war.«

Sham nickte langsam. »Altis’ Priester Brath hat daran mitgewirkt, dass ein Freund von mir verkrüppelt wurde. Ich habe jenen eine Bezahlung abverlangt, die dem Hohepriester dabei geholfen haben.« Kurz verstummte sie und wählte ihre Worte mit Bedacht, damit sie ihrer Rolle entsprechend förmlich klangen. »Durch Eure Taten heute habe ich überlebt. Damit ist die Schuld getilgt, und ich werde seine Altäre nicht noch einmal entweihen.«

Dickon kehrte durch die Tür zurück. »Kommt Ihr, Lady Shamera?«

Aus einer Eingebung heraus drehte sie sich um und küsste den Priester auf die Wange, bevor sie ihre Röcke anhob und geziert vorwärtsschritt, um sich bei Dickon einzuhaken.


»Also hat der Dämon seinen Golem verloren?«, fragte Kerim.

Bei ihrer Ankunft in der Feste hatte Kerim sowohl Sham als auch Dickon und Talbot zu einer ›Gesprächsrunde‹ in den an seine Gemächer grenzenden Besprechungsraum gerufen. Sham erzählte den anderen das von der Entführung, woran sie sich erinnerte. Im Gegensatz zu Talbot, der sie immer noch argwöhnisch beäugte, gab sich Kerim mit dem Beweis des Hauptmanns ohne Fragen zufrieden.

Sham fuhr sich frustriert mit den Händen durch die Haare. »Sofern das der einzige Golem war, den er hatte, ja.«

»Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es mehr gibt?«, fragte Talbot.

»Dieser Golem war alt; vermutlich wurde er geschaffen, als der Dämon gerufen wurde.« Sie zuckte mit den Schultern. »Der einzige Topas, den ich je so geschliffen gesehen habe, war Bestandteil einer Halskette, die angeblich über achthundert Jahre alt gewesen ist. Der Dämon konnte den Golem beleben und durch ihn Magie wirken, ohne den Verlust des eigenen Körpers zu riskieren. Einen geeigneten Wirtskörper für den Dämon zu finden ist erheblich schwieriger, als Golems zu erschaffen, denn der Wirt muss mit Magie geboren worden sein. Um einen Golem wie jenen anzufertigen, den der Priester zerstört hat« – die Gezeiten sollten sie holen, wenn sie die ganze Anerkennung dafür Altis zugestünde, »sind sowohl Macht als auch Zeit erforderlich.«

»Also müssen wir den Dämon rasch finden, bevor er einen weiteren erschafft«, folgerte Kerim. »Das scheint mir der geeignete Zeitpunkt für Mutmaßungen zu sein. Hast du irgendwelche Vermutungen, wer der Dämon sein könnte?«

Müde rieb sich Sham die Augen. »Jemand mit einer bemerkenswerten Vergangenheit – ohne lebende Bekannte aus der Kindheit.«

»Das wäre an sich hilfreich, nur hat hier ein Krieg stattgefunden. Es gibt etliche Menschen, deren Familien umgekommen sind«, merkte Talbot an. »Mich zum Beispiel. Meine Eltern sind im ersten Monat der Kampfhandlungen gestorben, und meine drei Schwestern sind in den Straßen verschwunden. Mein Bruder ist auf dem Meer verschollen, als ich fünf oder sechs Jahre alt war. Ich könnte keine einzige Seele benennen, die mich schon gekannt hat, bevor ich erwachsen wurde.«

»Shamera, kann der Dämon sein Erscheinungsbild verändern?«, wollte Talbot wissen.

»Das glaube ich nicht. Maurs Buch zufolge altert der Wirtskörper des Dämons nicht, sobald der Dämon davon Besitz ergriffen hat. Wenn er das Aussehen seines Wirts verändern könnte, würde das bestimmt auch im Buch erwähnt, vermute ich.«

»Fällt dir sonst noch etwas ein, das uns helfen könnte, ihn aufzuspüren?«, erkundigte sich Kerim.

Sham setzte dazu an, den Kopf zu schütteln, als ihr ein Gedanke kam. »Es könnte ein Diener sein. Niemand würde daran denken, das Vorleben eines Dieners zu hinterfragen. Ein solcher Mensch könnte sich überall in der Feste frei bewegen und würde zudem weder an einem Ort wie Fegfeuer noch in einem der Adelshäuser in der Stadt fehl am Platz wirken.«

»Was ist mit Lord Halvok?«, fragte Dickon.

Sham schüttelte den Kopf. »Falls der Dämon unter der Herrschaft eines Zauberers steht, könnte er sein Meister sein, aber er ist nicht selbst der Dämon. Ich habe von den Flüsterern eben erst erfahren, dass Halvok über ein Jahrzehnt lang beim Zauberer Cauldehel von Reth gelernt hat. Cauldehel hat den Posten des Erzmagiers abgelehnt, als der letzte ae’Magi verschwand. Er ist mehrere Hundert Jahre alt und sehr mächtig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Dämon diesen Mann so lange zum Narren halten könnte.«

»Dann fange ich mit den Bediensteten an – nachdem ich damit fertig bin, die Hofaufzeichnungen durchzusehen«, sagte Talbot mit einem Seufzen. Sham beneidete ihn nicht um diese Aufgabe. Die Zahl der Bediensteten in der Feste belief sich auf Hunderte, wenn nicht sogar Tausende.

»Ich geh mich jetzt in meinem Zimmer verstecken und versuche, ein wenig zu schlafen«, verkündete sie erschöpft.

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