Sham öffnete vorsichtig die Tür zu ihrem Zimmer, doch es erwies sich als menschenleer. Mit einem Seufzen der Erleichterung trat sie ein und schloss die Tür hinter sich; sie hatte sich nicht gerade darauf gefreut, ihre staubige Tunika und ihre nicht minder schmutzige Hose Jenli erklären zu müssen.
Rasch zog sie die dreckigen Gewänder aus und stopfte sie in die Truhe. Der allgegenwärtige Wasserkrug neben dem Bett beseitigte den Schmutz von Händen und Gesicht, danach suchte sie erfolglos nach einem weiteren Kleid, das sie ohne fremde Hilfe anlegen konnte. Nach dem zweiten Durchsehen des Schranks zog sie willkürlich ein Kleid heraus und streifte es sich über den Kopf.
Mit mühsamen, linkischen Verrenkungen gelang es ihr, alle Knöpfe bis auf die obersten zu schließen. Sham betrachtete das Ergebnis mit zweifelndem Blick im polierten Bronzespiegel. Das aus hellgelber Seide gefertigte Kleidungsstück erinnerte mehr an ein Unterhemdchen denn ein Kleid. Feine Spitzen wie für das Gewand eines Kindes säumten den Kragen und die Schulterteile. Allerdings störte sie weniger das Kleid als vielmehr der Körper, den es bedeckte.
Shamera brachte einen Trugbann an, um die heilende Wunde an der Schulter sowie mehrere blaue Flecken, an deren Ursache sie sich gar nicht erinnern konnte, zu übertünchen. Nachdem sie ein, zwei Minuten lang noch einige Anpassungen vorgenommen hatte, gelangte sie zu dem Schluss, dass sie die ärgsten Verletzungen damit überdeckt hatte. Was verblieb, würde man eher Bettspielen der härteren Art zuschreiben als dem Zerlegen von Möbelstücken oder einer quer durch Fegfeuer führenden Hatz nach Zauberern. Dickon hatte versprochen, Abendessen in die Gemächer des Vogts zu bringen, und da sie bereits Frühstück und Mittagessen ausgelassen hatte, wollte sie das Abendessen auf keinen Fall verpassen.
Als sie sich mit einer Bürste durch die Haare fuhr, fiel ihr Blick auf den Truhendeckel, und ihr wurde bewusst, dass sie vergessen hatte, ihn zu versiegeln. Sham runzelte die Stirn, denn es war ihr an sich in Fleisch und Blut übergegangen, für den Schutz ihrer Besitztümer zu sorgen. Rasch kümmerte sie sich darum, bevor sie Kerims Zimmer betrat. Immer noch verwirrt über ihr ungewöhnliches Versäumnis, vergaß sie, sich zu vergewissern, dass Kerim allein war.
Auch der Vogt hatte sich die Zeit genommen, sich umzuziehen, und er ähnelte kaum noch dem harten Krieger, der es gewagt hatte, dem Herzen von Fegfeuer zu trotzen. Erhaben in seinem Stuhl gefangen saß er da und starrte mit kaltem Blick den Adeligen aus dem Osten an, der ihm gegenüberstand. Keiner der beiden schien Shams Anwesenheit zu bemerken.
»Hört Ihr immer auf klatschende Stallknechte, Lord?« Kerim klang gereizt.
»Selbstverständlich nicht«, entgegnete der Adelige in geziertem Tonfall. »Aber mein Vertrauensmann hat berichtet, dass in der Tat eine Leiche in den Stallungen gefunden wurde, und zwar bei Eurem merkwürdigen blinden Jungen.«
»Der Leichnam des Stallknechts bestand aus mehreren Teilen – dazu wäre kein Junge in Elsics Alter imstande gewesen.« Kerim senkte die Stimme zu einem warnenden Säuseln, das den Adeligen bewog, einen Schritt zurückzuweichen. »Ich schlage vor, Ihr überlegt Euch gut, was Ihr in der Öffentlichkeit wiederholt, damit Ihr am Ende nicht wie ein Narr dasteht – oder Schlimmeres. Beispielsweise könnte durchsickern, dass Eure Schatzkammer nicht so prall gefüllt ist, wie sie es zu sein scheint. Ich finde immer wieder bemerkenswert, wie aufmerksam die Händler solchen Gerüchten lauschen und wie viel sie darauf geben.«
Ohne den Blick von seinem Gegenüber abzuwenden, streckte der Vogt Shamera eine Hand entgegen. »Komm her, meine Liebste, Lord Arnson wollte gerade gehen.«
Ihr war nicht bewusst gewesen, dass er sie bemerkt hatte, aber sie erholte sich schnell von ihrer Überraschung und trat mit einem strahlenden Lächeln vor. »Kerim, würdest du wohl die restlichen Knöpfe für mich zumachen? Jenli war nicht da, und du hast die Schulter des Kleids zerrissen, dass ich vorher getragen habe – jetzt ist es entschieden zu freizügig.« Sie zuckte leicht mit den Schultern, wodurch das unzugeknöpfte Kleid noch ein Stück tiefer rutschte, dann bedachte sie den aus der Fassung gebrachten Adeligen mit einem breiten, aber hohlen Lächeln.
Sie schaute nicht zu Kerim, um zu sehen, wie er sich angesichts ihrer Lüge verhielt. Nachdem die Dienerschaft das heillose Durcheinander entdeckte hatte, das beim ersten Angriff des Dämons in ihrem Zimmer entstanden war, hatte Kerim begonnen, seinen neu erstarkten Ruf zu genießen, und sie zweifelte nicht daran, dass er ihrem Beispiel folgen würde.
»Selbstverständlich«, antwortete Kerim mit einer Stimme, die Shamera unwillkürlich erschaudern ließ – und das keineswegs vor Angst. Dieser Mann wusste seine Stimme genauso geschickt einzusetzen wie sein Schwert. »Komm her, und ich kümmere mich darum. Ihr wolltet doch gerade gehen, Lord, nicht wahr?«
Der Adelige zuckte zusammen und löste den Blick aus dem Ausschnitt von Shameras Kleid, der noch tiefer sackte, als sie sich vor den Vogt kniete. »Ja, natürlich.«
Kerim widmete sich den Knöpfen und wartete, bis sich die Tür hinter dem Adeligen schloss, bevor er seine Liebhabermaske abnahm.
»Ich kann Narren nicht ausstehen«, verriet Kerim knurrend. »Mir ist unbegreiflich, wie ein solcher Trottel so viele Schlachten gewinnen konnte.«
»Rücksichtslose Grausamkeit vermag manchmal genauso viel Wirkung wie Klugheit zu erzielen«, merkte Sham an und starrte mit leerem Blick die geschlossene Tür an. Zwar hatte sie das Gesicht nicht erkannt, aber Lord Arnson war in Südwald dafür bekannt, dass er das Abschlachten von Kindern in mehreren Dörfern im Norden angeordnet hatte. Vielleicht ließe sich irgendwo ein Treffen mit ihm einfädeln. In einem dunklen Winkel. Ein weiteres Opfer des Dämons …
Kerim musterte sie nachdenklich. »Ich denke, Lord Arnson sollte zurück zu seinen Ländereien beordert werden. Er besitzt ein großes Anwesen in Cybelle, und ich denke, die Rückkehr dorthin könnte sich als vorteilhaft für seine Gesundheit erweisen.«
Sham war nicht daran gewöhnt, so einfach durchschaut zu werden, und fand die Erfahrung beunruhigend. Sie bedachte den Vogt mit einem Augenaufschlag und fragte mit künstlich schwerem Akzent: »Empfindet der arme Mann unser Klima als ungesund?«
Bevor Kerim etwas erwidern konnte, öffnete Dickon die Tür für zwei Diener, die ein großes, duftendes Tablett hereintrugen. Es war abgedeckt, um das darauf angerichtete Essen warm zu halten. Außerdem befand sich verschiedenerlei Besteck auf dem Tablett. Dickon sah sich um, bis er einen Tisch fand, der Shameras Säuberung der Gemächer überlebt hatte. Er zog ihn herbei und wies die Diener an, ihn zum Essen zu decken.
Sham erhob sich und holte zwei Stühle, während Dickon die Küchenhelfer zur Tür hinausscheuchte. Sie legte die Abdeckung des Tabletts auf den Boden und griff sich eine dicke, knusprige Scheibe Brot. Nachdem sie es mit Butter bestrichen hatte, nahm sie genüsslich einen großen Bissen davon, kaute zufrieden und sah über Kerims belustigten Blick genauso unbekümmert wie über Dickons missbilligende Miene hinweg.
Kerim schob seinen Stuhl nach vorn zu einem der Gedecke, schnitt mit seinem Fleischmesser eine Scheibe vom Braten ab und legte sie gegenüber von Sham auf seinen Teller.
»Shamera«, ergriff Dickon zögerlich das Wort und nahm Platz, nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle Teller ordnungsgemäß gerichtet waren.
Sham lächelte ihn an und kaute weiter, während sie sich selbst ein wenig Fleisch nahm.
»Was hast du damit gemeint, ich sei mit Magie geboren?« Er benutzte Südwäldisch und sprach die zwei letzten Worte falsch aus – als würden sie dadurch etwas anderes bedeuten als das, was er glaubte.
»Nun …«, begann sie, als sie sicher war, nicht lachen zu müssen. »Nur ein mit Magie geborener Mensch konnte einen so starken Trugbann durchschauen, wie ihn der alte Zauberer gewoben hatte. Neun Zehntel der von den meisten Zauberern gewirkten Magie sind Trugbanne – wie der Frosch.« Wieder streckte sie den kleinen Frosch vor.
»Welcher Frosch?«, fragte Dickon.
Kerim runzelte warnend die Stirn. »Treib keine Spielchen mit ihm.«
Sham schüttelte den Kopf. »Tu ich nicht. Sieh genauer hin, Dickon.« Sie murmelte einige Worte, verstärkte die Kraft ihres Zaubers. »Sag mir, wann du einen Frosch statt eines Steins siehst.«
Shamera geriet vor Anstrengung ins Schwitzen. Die Kosten für das Weben des Bannes waren groß geworden, bevor sich Dickon plötzlich vorbeugte und scharf die Luft einsog. »Ich sehe ihn.«
Sham schloss die leere Hand. »Ein Trugbann«, erklärte sie schließlich mit nur einem Hauch von Heiterkeit, »nimmt die Erscheinungsform von etwas an, das er nicht ist. Es gibt drei Möglichkeiten, den Bann zu durchdringen. Eine besteht darin, Magie gegen ihn einzusetzen. Die zweite in einer Berührung – nur sehr wenige Magier sind in der Lage, Trugbanne zu erschaffen, die für mehr als einen Sinn gleichzeitig echt wirken. Die dritte Methode ist die schlichte Ungläubigkeit. Auf diese Weise kann jeder einen Trugbann durchbrechen, man muss kein Zauberer dafür sein. Aber die meisten von einem Zauberer beliebiger Macht gewobenen Trugbanne sind alleine mit Hilfe von Ungläubigkeit verflixt schwer zu durchschauen – es sei denn, man ist selbst ein Zauberer.« Sie musterte Dickons verwirrte Miene und empfand überraschend viel Mitgefühl für ihn; es war nicht einfach, mit anzusehen, wie seit Langem gehegte Überzeugungen zerbröckelten und vor die eigenen Füße rieselten. »Dein Unglaube an Magie ist dermaßen ausgeprägt, dass du die Trugbanne beim Betreten der Hütte des Magiers nicht einmal wahrgenommen hast. Ein solcher Fall ist mir noch nie zu Ohren gekommen. Die einzige mögliche Erklärung lautet, dass du mit Magie geboren sein musst.«
Dickon murmelte ein böses Wort, das bezeichnend für seine Abneigung gegen bildliche Umschreibungen war.
Shams Augenbrauen schossen angesichts der Wortwahl des sonst so peniblen Dieners in die Höhe, und sie merkte interessiert an: »Ich habe noch nie davon gehört, dass es jemand auf diese Weise gemacht hat. Ich hätte das nicht einmal für möglich gehalten.«
Dickon sah sie mit dem Gesichtsausdruck eines in die Enge getriebenen Keilers an.
Sie gelangte zu dem Schluss, dass er noch zu erschüttert wirkte, um ihn aufzuziehen. Also wurde sie ernst und berührte ihn sachte am Ärmel. »Es gibt Taschenspielertricks, Dickon, aber es gibt auch echte Magie. Trugbanne sind nur ein Teil davon. Warte – ich zeig es dir.«
In der Nähe ihres Tellers stand eine Fingerschale voll Wasser. Sie schob den Teller beiseite und stellte die Schale vor sich.
»Wasser wird verbreitet zum Wahrsagen benutzt, weil es einfach zu verwenden ist. Allerdings muss man sich dabei unbedingt vor Augen halten, dass Wasser ein Lügner und durch Gedanken leicht beeinflussbar ist. Wenn ich davon ausginge, dass der Dämon wie ein riesiger Schmetterling aussieht, und das Wasser ersuchte, mir den Dämon zu zeigen, würde ich vielleicht einen riesigen Schmetterling zu sehen bekommen. Unter Umständen würde ich aber auch etwas wahrnehmen, das dem Dämon wirklich nahekommt, doch vielleicht auch nur eine Küchenmagd, wie sie Gemüse putzt. Allerdings ist es kein Trugbann, also solltest du zumindest irgendetwas sehen können.«
Sham blickte in die Schale und murmelte einen leisen Zauberspruch und schwenkte dreimal die Hand über dem Wasser.
Als sie fertig war, stellte sie die Fingerschale vor Kerim und sagte: »Wir lassen es zuerst Kerim versuchen. Ich habe das Wasser dazu aufgerufen, den Menschen zu zeigen, der euch am liebsten ist – wahrscheinlich wird es nur das Gesicht des Menschen zeigen, von dem ihr denkt, dass euch am meisten an ihm liegt. Nehmt es nicht allzu ernst.«
Kerim beugte sich vor, bis er geradewegs in die Schale schaute; er nickte nachdenklich und schob sie über den Tisch weiter zu Dickon. Mit einem zweifelnden Blick auf Sham beugte sich auch Dickon vor. Er sah in die Schale, und sein Körper versteifte sich. Eine weiße Linie stieg seine Wangen hoch, als er die Zähne zusammenbiss, während er in das Wasser starrte.
»Nicht vergessen«, warnte sie angesichts seiner unübersehbaren Anspannung, »was du siehst, ist, was du zu sehen erwartest.«
Dickon schüttelte den Kopf und sagte leise: »Darum geht es nicht. Meine Frau wurde kurz nach unserer Hochzeit bei einem Überfall durch Banditen getötet. Ich habe ihr Gesicht seit zehn Jahren nicht mehr gesehen; ich hatte vergessen, wie wunderschön sie war.« Dickon sog scharf durch die Nase die Luft ein und wandte den Blick vom Wasser ab. Es schien ihm große Mühe zu bereiten.
»Das ist Magie?«, fragte er argwöhnisch.
»Ja.« Sham bewegte den Tisch zurück an seine ursprüngliche Position und tauchte die Finger ins Wasser – reinigte sie und löste die Magie auf.
Dickon musterte sie nach wie vor argwöhnisch, aber er schien über die Angelegenheit nachzudenken, was unter den gegebenen Umständen das Beste war, worauf sie hoffen konnte.
»Dann hätten wir das ja erledigt«, meinte Kerim und schnitt das Fleisch auf dem Teller mit dem Messer seines Bestecks. »Jetzt muss ich wissen, was du von dem … Zauberer hältst, dem wir heute Nachmittag begegnet sind, Shamera.«
Der Vogt war eindeutig zu dem Schluss gekommen, dass Dickon etwas Zeit brauchte, um allein über Magie nachzugrübeln. Shamera hatte nichts dagegen, und es störte sie keineswegs, das Thema zu wechseln.
Nachdenklich runzelte sie die Stirn. »Ja, Lord Halvok. Das war … interessant.«
»Warum bemüht er sich so sehr, zu verbergen, wer er in Wirklichkeit ist?«, wollte Kerim wissen.
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Wie würden sich die Lords aus dem Osten wohl verhalten, wenn sie wüssten, dass sie mit einem Zauberer verhandeln? Das würde seine Glaubwürdigkeit bei denjenigen zerstören, die nicht an Magie glauben. Und diejenigen, die schon an Magie glauben, würden ihm noch mehr misstrauen, weil sie seine Macht fürchten würden.«
Sie fuhr fort. »Von Halvoks persönlichem Ehrgeiz mal abgesehen, denke ich, es wäre schwierig, einen anderen Adeligen zu finden, der nicht von Verbitterung gegenüber euch aus dem Osten zerfressen ist und gleichzeitig die Achtung der anderen Adeligen aus Südwald genießt. Nur dem Umstand, dass er gegen Ende des Krieges die nördlichen Gefilde allein verteidigt hat, ist es zu verdanken, dass Halvok überhaupt verhandeln kann, ohne als Verräter bezeichnet zu werden und die Unterstützung der Südwaldgruppierungen zu verlieren.«
»Du denkst also, Halvok hat versucht zu helfen?« Kerim klang, als wäre das die Antwort, auf die er hoffte.
Sham zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn nicht besonders gut. Ich weiß nur, was ich gesehen und gehört habe. Obwohl er dich offenbar mag, scheint seine oberste Treue Südwald zu gelten. Ich glaube nicht, dass er seine Position gefährden würde, um dir zu helfen. Aber solange du keine Bedrohung für seine Ziele darstellst, dürfte er sich auch keine Mühe geben, dir in irgendeiner Weise zu schaden.«
»Also hat er nur versucht, uns Auskünfte zu geben? Hätte er das nicht auch durch die Flüsterer tun können?«, warf Dickon ein.
Sham seufzte und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich weiß es nicht.«
»Was würde er sonst noch tun?«, fragte Kerim.
»Mir fällt kein anderer Grund ein, warum uns Halvok dorthin bestellt haben könnte«, meinte sie zögerlich. »Angesichts der Güte seiner Trugbanne muss Lord Halvok ein meisterlicher Magier sein – wahrscheinlich besser als ich. Schwarze Magie ist verpönt, und ihre Anwendung kann mit ausgesprochen schlimmen Folgen bestraft werden, wenn der Magierrat davon erfährt. In den vergangenen zwei Jahrzehnten habe ich nur von drei Zauberern gehört, die schwarze Magie benutzt haben.«
»Und das bedeutet?«, hakte Kerim nach, als sie zögerte.
»Das bedeutet, es gibt so gut wie sicher weitere schwarze Magier«, antwortete Sham. »Wenn Lord Halvok selbst einer ist und den Dämon gerufen hat, könnte er uns die Geschichte erzählt haben, damit wir unser Augenmerk auf den Dämon richten, statt nach einem menschlichen Beschwörer zu suchen. Lady Tirra hat gesagt, die Männer, die gestorben sind, waren alle gegen deinen Schutz der angestammten Lords von Südwald – Lord Halvok würde sie also eindeutig als Bedrohung betrachtet haben.«
Kerim saß einen Atemzug lang schweigend da, bevor er den Kopf schüttelte. »Dafür sind die falschen Männer gestorben, Shamera. Die Verblichenen waren überwiegend Lords von geringer Bedeutung, die wenig Macht besaßen. Das gilt sogar für meinen Bruder.«
»Vielleicht war Halvoks Absicht aber auch genau das, was sie zu sein scheint«, meinte Shamera. »Ich besuche heute Nacht sein Haus und sehe mal nach, was ich herausfinden kann.«
Kerim nickte und sagte: »Ich bin ganz und gar nicht erpicht darauf, herauszufinden, dass ausgerechnet Halvok etwas mit einem Dämon zu tun haben könnte. Er ist einer der wenigen Lords aus Südwald, der bereit ist, das Wohl des gesamten Landes in Erwägung zu ziehen, statt nur zu versuchen, die Vergangenheit zurückzuholen. Aber ich möchte so rasch wie möglich Gewissheit darüber haben.«
»Wäre es nicht besser, mit einem, äh, Besuch bis morgen zu warten, wenn wir wissen, dass er am Hof sein wird?«, gab Dickon zu bedenken.
Sham schüttelte den Kopf. »Die heutige Nacht verbringt er mit Lady Fullbright, um Auskünfte über die Geschäfte ihres Ehemanns zu erlangen. Die Bediensteten haben die Nacht frei.« Sie grinste die anderen an. »Wie ich sehe, hat es das noch nicht in die Gerüchteküche geschafft – gut zu wissen, dass der Hai nichts verlernt hat.«
Die Nacht war dunkel, da sich der Mond hinter nieselnden Wolken versteckte. Sham hoffte, dass der Regen den Staub abwusch, den Fegfeuer und Kerims Zimmer in ihrer Arbeitskluft hinterlassen hatten.
Lord Halvoks Herrenhaus lag in einer ruhigen Gegend der Stadt ein Stück von der Feste entfernt. Der kürzeste Weg dorthin führte Shamera vorbei am Altis-Tempel. Obwohl immer noch daran gebaut wurde – was auch noch für mehrere Jahrzehnte so bleiben würde –, handelte es sich schon jetzt um ein eindrucksvolles Gebäude.
Dickon war nicht der Einzige, der feststellen musste, dass seine Überzeugungen abrupt auf den Kopf gestellt wurden. Seit Sham in ihre Rolle als Mätresse des Vogts geschlüpft war, hatte sie erkannt, dass sie Gefahr lief, ihren Hass auf die Menschen aus dem Osten zu vergessen. Ein eigenartiges Empfinden, nicht ständig wütend zu sein – sie fühlte sich nackt und schutzlos. Diese Verwundbarkeit ließ sie Altis umso mehr ablehnen. Die Dinge veränderten sich – und nur sehr wenige Veränderungen in Shameras Leben hatten eine Verbesserung herbeigeführt.
»Du gehörst hier nicht her«, sagte sie zu dem Gott.
Große Fenster zu beiden Seiten des gewaltigen Eingangs zeichneten sich gegen den hellen Stein düster funkelnd wie zwei riesige Augen ab. Als Sham den Weg fortsetzte, konnte sie beinahe spüren, wie jemand sie so lange beobachtete, bis sie sich ein gutes Stück vom Tempel entfernt hatte.
Für das Heim eines einflussreichen Adeligen erwies sich Lord Halvoks Anwesen als bescheiden. Dafür beeindruckte Sham, welche Menge an Gold er ausgegeben haben musste, um mitten in der Stadt zweihundert Ruten Landbesitz zu erwerben. Sie hatte reichlich Zeit, den Rasen zu betrachten, als sie vollständig um das Gebäude herumging, um sich zu vergewissern, dass keine Lichter brannten, die auf anwesende und wache Bedienstete hindeuteten.
Als sie das Gras betrat, richteten sich ihr die Nackenhaare auf: Falls sie noch Zweifel gehabt hatte, ob Halvok tatsächlich ein Zauberer war, lösten die sich gerade endgültig auf. Zwar hatte sie keinen offensichtlichen Schutzbann ausgelöst, doch das Kribbeln warnte sie eindringlich davor, dass sich in der Nähe einer befand.
Shamera rückte langsam vor, bis sie ihn fand. Es handelte sich um einen einfachen Bann, so gestaltet, dass er Lord Halvok warnen würde, wenn sich ein Dieb einzuschleichen versuchte, aber nicht dafür gedacht, Magier abzuwehren – ein solcher Bann wäre selbst mit Hilfe von Runen zu mühsam aufrechtzuerhalten. Vorsichtig und sachte stieg Sham über die Stelle hinweg, ließ den Bann unberührt.
Die Fensterläden im Untergeschoss erwiesen sich als verschlossen, im Obergeschoss hingegen standen sie offen. Sie erklomm die natürliche Felswand und kletterte durch ein Wohnzimmerfenster, das ihr kaum Schwierigkeiten bereitete. Dann stand sie in der Dunkelheit des kleinen Raumes und zog sich mit den Zähnen einen Span aus dem Daumen.
Orte, an denen Magie gewirkt wurde, nahmen mit der Zeit häufig eine bestimmte Aura an. Sogar Menschen, die unter gewöhnlichen Umständen keine Magie spürten, empfanden dann Unbehagen, als würden sie beobachtet oder verfolgt. Solche Orte neigten dazu, den Ruf zu erlangen, verwunschen zu sein. Die Aussichten standen gut, dass sich Halvoks Arbeitsraum in einem abgeschiedenen Bereich des Hauses befinden würde, um die Bediensteten nicht zu vertreiben.
Sham schloss die Augen und flüsterte einen Weissagungszauber, um herauszufinden, wo sich der Arbeitsraum befand. Die Erwiderung erfolgte sofort und fiel heftig aus. Hastig zog sie die Fensterläden zu und entfachte ein trübes Magierlicht, um sich umzusehen.
»Die Pest soll ihn holen«, murmelte sie gereizt.
Die Dunkelheit hatte das wahre Wesen des Raumes verborgen, in dem sie sich befand. Die finsteren Schemen, die sie für Bücherregale gehalten hatte, erwiesen sich als gefüllt mit einer ganzen Reihe verschiedenster Antiquitäten, jede einzelne ordentlich mit einem Stück Pergament beschriftet, das ein Stück Draht mit den Artefakten verband. Unter anderen Gegebenheiten wäre sie davon gefesselt und versucht gewesen, einiges davon an sich zu bringen – insbesondere die edlen, zur Schau gestellten Dolche.
Leider strahlten mehrere Gegenstände Magie aus, einige davon so stark wie ihre Flöte. Sie würde sich durch das dunkle Haus schleichen und hoffen müssen, dass niemand sie hörte, bis sie weit genug aus dem Einflussbereich der versammelten Artefakte gelangte, um irgendeine andere Magie zu finden.
Sham beschwor ihr Magierlicht, brachte die Läden wieder in ihre ursprüngliche Position und öffnete die einzige Tür des Raumes. Statt in einen Gang führte diese in ein großes Schlafzimmer. Das Bett war ordentlich zurückgeschlagen, und ein Bettwärmer fand sich in der Nähe der aufgehäuften Kohlen des Kamins.
Sie durchquerte den Raum und öffnete eine Tür, die in einen matt erhellten Gang führte; verwaist abgesehen von einem Kater mit gelben Augen. Die Katze starrte sie gleichgültig von ihrem Platz auf dem Sims eines offenen Fensters an, bevor sie den Blick wieder hinaus in die Nacht richtete.
Eine dunkle Treppe zweigte von dem Gang ab, zu schmal, um als etwas anderes denn als Aufgang für Bedienstete zu dienen. Sham duckte sich tief und horchte, ob etwaige Geräusche darauf hindeuteten, dass gerade jemand die Treppe benutzte.
Langsam zählte sie bis zwanzig, bevor sie leise die Holzstufen hinunterschlich, so dicht wie möglich am Rand, damit die Treppe nicht nachgab und knarrte. Nach einer kurzen Pause im Erdgeschoss entschied Sham, den Weg in den Keller fortzusetzen, bevor sie erneut versuchte, Magie aufzuspüren. Je weiter sie sich von dem Raum mit der kleinen Sammlung entfernte, desto besser standen ihre Aussichten, dass der Zauber das gewünschte Ergebnis erbrachte.
Sie bewegte sich mehrere Stufen nach unten, als sie plötzlich etwas zugleich Weiches und Scharfes behutsam am Nacken berührte.
Sham unterdrückte einen Aufschrei, sprang zwei weitere Stufen hinunter, wirbelte mit dem Messer in der Hand herum und wollte sich ihrem Angreifer stellen. Sie starrte in die Dunkelheit, erkannte jedoch nichts. Völlig regungslos verharrte sie und lauschte auf ein Atemgeräusch.
Die Katze, die auf einer schmalen Ablage an der Wand des Treppenhauses lag, schnurrte selbstgefällig. Sham konnte hören, wie sich das Tier in der Dunkelheit die Pfote leckte. Sham hatte es passiert, ohne es zu bemerken, und es hatte zart nach ihr gekrallt.
Sie verkniff sich ein erleichtertes Gelächter und setzte den Weg in den Keller fort. Die Temperatur fiel merklich, als das letzte trübe Licht hinter ihr zurückblieb. Sie hielt inne und suchte mittels Hellsicht erneut nach der bruchstückhaften Magie des Arbeitsraums, wenngleich sie diesmal nicht die Augen schloss – das wäre angesichts der völligen Schwärze, die im Keller herrschte, sinnlos gewesen. Sie konnte immer noch die mit der Sammlung der Antiquitäten verworrenen Banne spüren, aber diesmal lag das stärkere Ziehen vor ihr und etwas links.
Shamera entschied, das Wagnis, dass jemand ihr Licht sehen könnte, war geringer als jenes, dass jemand hörte, wie sie in der Finsternis über die Katze stolperte. Also beschwor sie erneut ihr Magierlicht. Sie ließ es trüb, um ihre Nachtsicht nicht zu zerstören. Von der Katze fehlte, ihrer Unberechenbarkeit entsprechend, jede Spur.
Die erste Tür, zu der Shamera gelangte, führte in einen mit Lebensmitteln gefüllten Lagerbereich. Beim zweiten Raum handelte es sich unübersehbar um eine Werkstatt – allerdings eine der falschen Art. Teile zerbrochener oder unfertiger Möbel verteilten sich in geordneter Weise über die Kammer. Eine dritte Tür gab es nicht, obwohl sie das Pulsieren von Magie ziemlich stark spüren konnte, als sie danach tastete.
Stirnrunzelnd klopfte sie ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden und starrte in die Werkstatt. Sie atmete ein und nahm unter dem Geruch von Zitronenöl und Beize den Duft von Kräutern sowie den beißenden Gestank verbrannter Haare wahr. Im Geiste verglich sie die Größe des Lebensmittellagerraumes und der Holzwerkstatt miteinander. Der Lagerraum war bedeutend schmaler.
Sie kehrte zum Lagerraum zurück und entdeckte hinter einem Regal mit getrockneter Petersilie und frischem Gemüse eine schlichte Tür, die zu Lord Halvoks wahrer Werkstatt führte – in der es nach Magie statt nach Beize roch. Das Betreten des Raumes bescherte ihr das eigenartige Gefühl, in der Zeit zurückzureisen. Genauso hatte die Werkstatt des Alten Mannes in der Feste ausgesehen.
Von schwarzer Magie fehlte hier ebenso wie in der Hütte in Fegfeuer jede Spur; doch Shamera hatte auch nichts anderes erwartet. Ein Magier, der den verbotenen Künsten frönte, würde das kaum in seinem eigenen Haus tun. Sie begann, seine Bücher durchzusehen.
Jede Magie besaß eine bestimmte Signatur, die sie einem Zauberer zuordnete. Aufgrund dieser Signatur ließ sich sagen, was ein Bann bewirken würde, auch wenn er dem Magier, der ihn betrachtete, nicht bekannt war. Statt Zeit damit zu vergeuden, jedes Buch zu durchstöbern, berührte Sham die Bücher nacheinander, indem sie ihre Magie benutzte, um jene Bände herauszuholen, die unter Umständen schwarze Magie enthalten mochten.
Nach zwanzig Minuten Arbeit hatte sie drei Bücher auf der glatten Oberfläche eines Marmortisches ausgebreitet. Beim ersten handelte es sich um eine alte Ausgabe eines noch älteren Textes. Es enthielt mehrere Zauber, die zur Verwendung verschiedener Körperteile aufriefen … ›den Zeigefinger eines Erhängten zur Frühlings-Tagundnachtgleiche‹, ›das Auge eines im Schlaf Verstorbenen‹. Genug, um die Banne als schwarze Magie zu bezeichnen, aber der damit gewirkte Weitsichtzauber war nicht, wonach Sham suchte. Sie legte das Buch beiseite.
Das zweite besaß einen butterweichen Ledereinband und wies als Prägung den aufschlussreichen Titel Majik Boke auf. Im Gegensatz zum Ersten war dies von einem Bann versiegelt, damit es nicht beiläufig von einem Ahnungslosen geöffnet werden konnte. Sham brauchte ein Weilchen, um die Schutzbanne aufzulösen, die sich als alt und mächtig erwiesen – und als vage vertraut. Kaum hatten die Banne ihre Wirkung verloren, öffnete sich das Buch mit flatternden Seiten, und die Signatur des Bösen verstärkte sich um das Zehnfache.
»Das habe ich in der Asche des Feuers gefunden, in dem die Bibliothek des Magiers des Königs verbrannt wurde«, sagte Lord Halvok leise hinter ihr.
Sham drehte sich zu ihm um und nickte mit einer Ungezwungenheit, die sie nicht empfand. Niemals Angst zeigen oder sich anmerken lassen, dass man überrascht worden war. »Ich dachte mir schon, dass ich die Arbeit des Alten Mannes in den Schutzbannen erkannt hätte. Ihr habt es noch nie geöffnet?«
Lord Halvoks plumpe Finger streichelten die Katze mit den gelben Augen, die sich schlaff um seine Schultern geschlungen hatte, hinter den Ohren. Das Tier schnurrte. »Nein, ich habe eines, das genauso ist – obwohl ich glaube, das Maurs Ausgabe etwas älter als meine sein könnte.«
Zwanglos trat er an den Tisch, auf dem die Bücher ruhten, und ergriff jenes, das zu untersuchen Shamera noch keine Zeit gehabt hatte. Er hob die Banne auf, die es geschlossen hielten, und öffnete das Exemplar, um ihr denselben Text zu zeigen, der sich auf der Seite des von ihr aufgeschlagenen Buches befand – wenngleich in einer anderen Handschrift verfasst. »Das ist meine Ausgabe. Da Ihr Maurs Lehrling wart, finde ich, dass jene, die Ihr geöffnet habt, Euch gehören sollte. Ich rate Euch, das Buch an einem Ort zu verwahren, wo es niemand finden kann. Texte, die sich mit schwarzer Magie befassen, sind verboten, Lady Shamera.«
Er schlug das Buch zu und begegnete ihrem Blick. »Sagt, woher habt Ihr gewusst, dass ich der Zauberer heute Nachmittag war? Mein Trugbann vom alten Zauberer hat schon viele Magier genarrt, die – verzeiht, wenn ich das sage – mächtiger als Ihr waren.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wie lange wisst Ihr schon, dass ich eine Hexerin auf der Suche nach einem Dämon statt die Mätresse des Vogts bin?«
»Nach all den Jahren erwählt Lord Kerim eine Mätresse – nicht bloß irgendeine Mätresse, sondern eine Einheimische.« Kurz schloss er die Augen. »Wir sind so lange ohne Hoffnung gewesen. Haben nur durch den dünnen Faden von Lord Kerims Ehre an unseren Ländereien festgehalten.« Er öffnete die blauen Südwald-Augen wieder und begegnete ihrem Blick. »Als mir klar wurde, dass irgendetwas vor sich geht, war es einfach, das mit Euch in Verbindung zu bringen. Warum sollte er eine unbekannte Lady aus Südwald auserwählen, die, wenn Ihr verzeihen wollt, mehr Stil als Schönheit besitzt, wenn er sich eine beliebige Hofdame hätte aussuchen können? Darunter auch Frauen aus Südwald wie Lady Sky, so denn sein Geschmack in diese Richtung geht.«
»Natürlich wegen meines sprühenden Geistes«, erwiderte sie in Lady Shameras gedankenloser Art.
Unwillkürlich lachte er. »Richtig. Aufgrund der Berichte meiner Pflegekinder hatte ich bereits begonnen, Eure Klugheit neu einzuschätzen. Siven meinte, seiner Meinung nach setzt Ihr Eure Dummheit mit großem Geschick und mit Gerissenheit ein.« Halvok schüttelte den Kopf. »Von all dem abgesehen musstet Ihr eine Magierin sein, um dem Vogt zu helfen, den Dämon aufzuspüren. Er hätte es in diesem politischen Klima niemals gewagt, sich für irgendetwas anderes mit einer Lady aus Südwald einzulassen. Und nun beantwortet meine Frage: Wie habt Ihr mich erkannt?«
»Maur hat immer gesagt, dass Trugbanne ein unzuverlässiger Zauber sind – sie sind die einzigen Banne, die ihre Wirkung verlieren können, ohne dass ihr Erschaffer es merkt.«
»Ihr wollt es mir nicht verraten.«
»Nein. Es ist nicht mein Geheimnis, und es steht mir daher nicht zu, es Euch zu enthüllen.«
Einen Atemzug lang starrte er sie eindringlich an, dann nickte er. »Na schön.«
Sham schürzte die Lippen und klopfte mit den Fingern leicht auf den Tisch. »Ihr klingt, als ob Ihr Lord Kerim schätzt. Tut Ihr das?«
Jäh runzelte er die Stirn und bedachte sie mit einem scharfen Blick. »Natürlich tue ich das. Warum fragt Ihr?«
Sie schaute vom Tisch auf und sah ihn mit zu Schlitzen verengten Augen an. »Weil irgendein Idiot den Vogt in den schlimmsten Winkel von Fegfeuer bestellt hat, nur um eine alte Geschichte zu erzählen, die genauso gut den Flüsterern hätte erzählt werden können.«
Beim Tonfall ihrer Stimme schossen Halvoks Augenbrauen in die Höhe. »Es war eine Gelegenheit, der ich einfach nicht widerstehen konnte. Fegfeuer gleicht einem schwarzen Loch, in dem unser Volk verschwindet. Die Ostländler vergessen gern, dass es überhaupt existiert – oder sie tun so, als wäre es nicht mehr als ein Elendsviertel, wie es sie in den meisten größeren Städten gibt. Mit dem Hai an eurer Seite wart ihr in Sicherheit. Niemand würde das Wagnis eingehen, sich seinen Zorn einzuhandeln …«
»Um den cybellischen Lord zu töten, der als hauptverantwortlich für das Verlöschen jeder Hoffnung gilt, die Südwald je hatte, Altis’ Joch abzuschütteln? Ihr seid derjenige, der Fegfeuer besuchen muss, wenn Ihr das wirklich denkt«, fiel Sham ihm knurrend ins Wort. »Auch wenn es der Hai glauben mag, er ist weder allmächtig noch allwissend, und es gibt eine ganze Reihe von Menschen in Fegfeuer, die mit Freuden ihr erbärmliches Leben opfern würden, um es zu beweisen.«
»Sprecht Ihr jetzt«, fragte Halvok leise, der sein Gemüt offensichtlich gut im Griff hatte, »als besorgte Bürgerin oder als Mätresse des Vogts?«
»Spielt das eine Rolle?«, gab sie rundheraus zurück. »Was Ihr getan habt, war dumm und unnötig. Der Vogt weiß über Fegfeuer alles, was er wissen muss; was glaubt Ihr denn, wo er mich gefunden hat?«
Halvok verstummte kurz. »Ihr wart in Fegfeuer?«
Sham nickte. »Der Vogt hat mir das Leben gerettet. Warum glaubt Ihr wohl, dass ich für ihn, einen Altis anbetenden Cybeller, arbeite?« Die Wahrheit zu verdrehen gehörte zu ihren zahlreichen Begabungen.
»Lord Ervan war wohl kaum so arm, dass seine Witwe …« Er zögerte, dann verkündete er im Tonfall eines Mannes, der etwas Offensichtliches ausspricht, das er zuvor übersehen hat: »Ihr seid nicht seine Witwe.«
»Ich«, verriet Shamera und büßte dabei genug von ihrer Verärgerung ein, um ihn angrinsen zu können, »bin eine Diebin und lebe schon in Fegfeuer, seit die Feste gefallen ist. Hört, Ihr müsst mir alles über Dämonen erzählen, was Ihr könnt.«
Plötzlich grinste auch er. »Weil ich mich jetzt schuldig genug fühlen sollte, um das Wagnis einzugehen, darüber zu reden? Na schön, ich gebe zu, es war ein dummer Einfall, darauf zu bestehen, dass der Vogt in meine Werkstatt kommt – vor allem angesichts seines geschwächten Zustands. Obwohl es ihm deutlich besser zu gehen scheint, seit Ven gestorben ist, nicht wahr?«
»Eigentlich«, erwiderte sie, »stimmt das nicht ganz. Es geht ihm besser, seit wir Vens Leichnam entdeckt haben, obwohl das eine wenig mit dem anderen zu tun hatte. In jener Nacht habe ich am Vogt selbst und in seinem Umfeld eine Reihe von Runen gefunden, die ihn an den Dämon banden. Anscheinend war der Dämon für Lord Kerims Krankheit verantwortlich. Ich bin nicht sicher, warum er das getan hat, ja ich habe nicht einmal eine Vorstellung davon, was genau er damit bewirken wollte. Die von der Kreatur verwendeten Runen waren merkwürdige Ausgestaltungen der Hauptmuster.«
Lord Halvok sah sich um, bis sein Blick auf zwei Stühle fiel. Er bot einen davon Sham an und nahm auf dem anderen Platz. »Warum erzählst du mir nicht, was du über diesen Dämon weißt, Diebin, und ich sage dir alles, was ich erzählen kann?«
»Na gut.« Sie setzte sich auf den ihr angebotenen Platz. »Der Dämon tötet alle sieben bis acht Tage Menschen und tut das bereits die vergangenen … nun ja, etwa seit einem Dreivierteljahr. Seit wenigen Monaten mordet er bevorzugt in der Feste. Wie ich schon sagte, hat er aber auch Maur in Fegfeuer getötet – wodurch ich ursprünglich in die Sache verwickelt wurde.«
»Also haben die Morde etwa um dieselbe Zeit wie die Krankheit des Vogts begonnen?«, hakte Halvok nach.
»Ja.«
Lord Halvok legte die Stirn in Falten. »Nach allem, was ich über Dämonen weiß, tötet dieser weit häufiger, als er das eigentlich tun müsste. Dämonen sind zwar darauf angewiesen, sich von Tod zu ernähren – aber angeblich nur einmal alle paar Monate.«
»Richtig«, pflichtete Sham ihm bei. »Aber ich glaube, damit sein Simulakrum einsatzfähig bleibt, muss er viel öfter töten.«
»Ein Simulakrum?« Halvok klang neugierig.
»Lord Ven war bereits seit mehreren Tagen tot, als wir seinen Leichnam fanden. Ich … habe ihn aufgefrischt, um eine Panik unter denjenigen zu verhindern, die ihn noch am Hof sahen, während sein Körper bereits in einem selten benutzten Raum der Feste vor sich hin rottete. Die letzte Gestalt, die der Dämon angenommen hat und von der ich weiß, war die eines toten Stallknechts.«
»Der Stallknecht, der tot in Gegenwart dieses Selkies gefunden wurde, der unter dem Schutz des Vogts steht?«
Sie nickte. »Der Dämon hat ihn getötet, um sich Vens Gestalt zu entledigen, und er hat Elsic – das Selkie – benutzt, um so viel Sand wie möglich über seine Spuren zu streuen.«
Halvok schüttelte den Kopf. »Bei den Gezeiten«, fluchte er. »Kein Wunder, dass er so schwierig zu fangen ist.«
»Könnt Ihr mir sagen, wie sich der Dämon finden lässt?«
»Nein.«
»Na gut. Könnt Ihr mir dann wenigstens sagen, wie man ihn tötet?«
Halvok zuckte mit den Schultern. »Finde heraus, wer er ist, und töte den Körper, der ihn beherbergt – nachdem du das Simulakrum zerstört hast. Der Dämon sollte etwa ein Jahrzehnt brauchen, bevor er einen Menschen findet, dessen Körper er stehlen kann. Weißt du, dazu sind sie in der Lage, wenn sie nicht bereits an einen Wirt gebunden sind. Der Dämon selbst kann nicht getötet werden … es sei denn …« Er versteifte den Körper, als sei ihm gerade ein neuer Gedanke gekommen. »Wenn du den Dämon findest und so versklavst, wie es die alten Magier getan haben, dann stirbt er, wenn du stirbst.«
Sham dachte darüber nach und schüttelte den Kopf. »Er ist jetzt frei, weil er den Magier getötet hat, von dem er gerufen worden ist, und der wusste weit mehr über Dämonen als ich. Gibt es eine Möglichkeit, ihn dorthin zurückzuschicken, wo er hergekommen ist?«
Lord Halvok nickte und erklärte dazu: »Du müsstest eine männliche Jungfrau finden, dem Opfer die Zunge herausschneiden und die Augen entfernen, ein paar Zeilen aufsagen, das Herz herausschneiden und es dem Dämon zu fressen geben, nachdem du selbst einen Bissen davon genommen hast. Der Tod kann gewaltige Kraft entfesseln, wenn man ihn richtig einsetzt. Ich habe einen jungen Vetter, der vielleicht geeignet wäre, wenngleich ich für seine Jungfräulichkeit die Hand nicht ins Feuer legen kann.«
Sham schnaubte. »Ich glaube, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, verzichte ich lieber. Ich werde mich damit begnügen, seinen Wirtskörper zu töten. Was ist mit dem Erzmagier, der Tybokk vernichtet hat? Wie hat er das gemacht?«
»Es ist ihm gelungen, den Dämon an den toten Körper zu binden, den er übernommen hatte, somit konnte er sich keinen anderen Wirt suchen. Dafür hat er einen Bann verwendet, der mit dem meisten anderen Wissen über Dämonen verloren gegangen ist – er steht auch nicht in Maurs Buch. Vielleicht findet sich etwas in der Bibliothek des ae’Magi. Ich werde dich nicht aufhalten, wenn du den ae’Magi fragen willst, ob er ein Buch über Dämonologie besitzt – obwohl er sich für ein solches Geständnis dem Rat stellen und sich danach hinrichten lassen müsste. Vielleicht würde es helfen, wenn du ihm sagst, dass du zwar ein Buch über Dämonenkunde hast, aber eine ganz bestimmte Auskunft brauchst.«
Sham lachte unwillkürlich und hob die Hand, um anzuzeigen, dass sie verstanden hatte. »Wäre es annehmbar, wenn ich noch einmal mit Euch rede, nachdem ich Gelegenheit hatte, das hier zu lesen?« Sie tippte auf das Buch, das er ihr gegeben hatte.
Der Adelige neigte zustimmend das Haupt. »Du sollst haben, was ich dir an Hilfe bieten kann. Ich werde Verbindung mit meinem alten Meister aufnehmen, um herauszufinden, ob er irgendwelche Vorschläge hat.«
»Das wüsste ich sehr zu schätzen.« Sham erhob sich vom Stuhl und ging zur Tür. Bevor sie diese öffnete, drehte sie sich jedoch noch einmal zu ihm um. »Lord Halvok, habt Ihr zufällig Bücher über Runen? Etwas, worin die Formen erwähnt sein könnten, die der Dämon benutzt?«
»Alte Runen?« Er überlegte kurz. »Unter Umständen habe ich da tatsächlich etwas, das sich als hilfreich erweisen könnte.«
Er kniete sich hin, zog einen dünnen Band aus dem untersten Fach des Regals und brachte ihn Sham. »Das habe ich vor etlichen Jahren auf dem Markt erstanden. Es ist deutlich älter, als es aussieht, und es enthält Runen, die ich davor noch nie gesehen hatte.«
»Danke«, sagte sie und nahm das Buch entgegen.
»Du kannst auch zur Vordertür hinausgehen, wenn du willst.«
Sie drehte sich ihm zu und bedachte ihn mit einem neckischen Augenaufschlag. »Und jeden sehen lassen, wie die Mätresse des Vogts nachts Euer Haus verlässt? Ich finde einen anderen Weg hinaus, Herr.«
»Also beschwört Halvok keine Dämonen?«, fragte Kerim und stopfte ein weiteres Kissen hinter seinen Rücken, um sich höher zu stützen.
Sham, so müde, dass ihre Knochen regelrecht schmerzten, hatte Mühe, klar zu denken. Nachdem sie Lord Halvoks Heim verlassen hatte, war sie unmittelbar hergekommen, ohne zuvor einen sicheren Ort für ihre frisch erlangten Bücher zu suchen – für ein Werk über schwarze Magie hätte es ohnehin kein wirklich sicheres Versteck gegeben.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie schließlich. »Wenn er Dämonen beschwört, ist er ein besserer Schauspieler, als ich es ihm zutraue, und er tut es nicht zu Hause.«
Kerim nickte. »Das genügt mir. Warum gehst du nicht schlafen, und wir sehen morgen weiter?« Sham salutierte verspielt und verließ sein Zimmer unter dem Wandteppich hindurch.
Allein in ihrer Kammer, verharrte Sham einen Atemzug lang in der Dunkelheit. Das Runenbuch bereitete ihr kein Kopfzerbrechen, doch sie wusste nicht recht, was sie mit dem anderen Band tun sollte. Obwohl sie den Schutzbann wieder daran angebracht hatte, sickerte die Signatur der schwarzen Magie heraus.
Seufzend legte sie das Buch auf der nächstbesten Fläche ab, die ihr unterkam, und packte das zweite, harmlosere Werk obenauf. Sie würde sich am nächsten Morgen darum kümmern. Dann zog sie die schmutzige Aufmachung aus – der Regen hatte die dicke Staubschicht in Matsch verwandelt – und warf die Kleidung in die Truhe. Als sie den Deckel schloss, ging ihr flüchtig der Schimmel durch den Sinn, den die Feuchtigkeit der Gewänder anlocken würde, doch sie fühlte sich zu müde, um sich damit zu befassen.