12

Das donnernde Hämmern an Kerims Tür war so laut, dass sich Sham jäh im Bett aufsetzte und einen leisen Fluch ausstieß. Dem Gewicht ihrer Lider nach schätzte sie, weniger als eine Stunde geschlafen zu haben. Sie spielte ernsthaft mit dem Gedanken, dem Lärm keine Beachtung zu schenken und sich wieder hinzulegen, doch es schien ihr wert zu sein, der Sache auf den Grund zu gehen, wenn es sich um etwas handelte, das offenbar wichtig genug war, den Vogt zu einer solch unanständig späten Stunde der Nacht zu wecken.

Da sie wusste, dass ihr Eindringen unter Umständen nicht willkommen wäre, streckte sie sich auf dem Boden aus und hob den unteren Rand des Wandteppichs an, bis sie in Kerims Zimmer sehen konnte.

Kerim hatte bereits seinen Morgenrock übergestreift und benutzte seinen Kampfstab, um sich damit abzustützen, als er gequält durch den Raum humpelte.

»Ja?«, rief er, bevor er die Tür öffnete.

»Herr, Lady Tirra schickt mich, um Euch zu sagen, dass Lady Sky in Gefahr schwebt.«

Sham hörte, wie Kerim den Riegel seiner Tür aufschloss und die Angeln einmal kurz quietschten. Eine Truhe versperrte ihr die Sicht, weshalb sie sich auf ihre Ohren verlassen musste.

»Die genauen Umstände sind mir nicht bekannt, aber Lady Tirra scheint das Gefühl zu haben, es könnte etwas mit Lady Skys kürzlicher Fehlgeburt zu tun haben.« Der Stimme nach handelte es sich um einen äußerst jungen Boten.

Kerim tauchte wieder in Shams Blickfeld auf. Mit einem Grunzen ließ er sich in seinem Rollstuhl nieder und warf den Kampfstab aufs Bett. Ohne Zeit zu vergeuden, verließ er das Zimmer.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, sprang Sham auf die Beine, öffnete ihre Truhe und kramte durch die Unordnung, bis sich ihre Hand um feuchten Stoff schloss. Sie gab ihrer nassen Diebeskluft den Vorzug gegenüber einem Hofkleid. Erst als sie sich mit dem widerspenstigen Stoff abmühte, wurde ihr klar, dass sie die Truhe nicht hatte entriegeln müssen. Kaum hatte sie sich ordentlich angezogen, ließ sie die Hand auf den Deckel aus Leder und Holz niedersausen und versiegelte ihn mit einem Bann, statt sich mit dem Riegel zu plagen.

Dann öffnete sie rasch den Abschnitt der Täfelung, der zu den Geheimgängen führte, und huschte hindurch. Mittlerweile kannte sie diese Wege der Feste besser als die Korridore, durch die sich gewöhnlichere Menschen in dem Bauwerk von einem Ort zum anderen begaben. Nur dreimal musste sie Hauptgänge queren. Entweder Glück oder die späte Stunde bescherten ihr dabei menschenleere Flure, und es war weit und breit niemand zu sehen, als sie auf dem Weg zu Lady Skys Gemächern von einem Geheimgang zum nächsten huschte.

Wie bei den meisten bewohnten Räumlichkeiten erwies sich auch das Guckloch zu Lady Skys Schlafzimmer als versiegelt. Allerdings brauchte Sham kaum einen Hauch von Magie, um das Brett von der Wand zu ziehen. Bevor sie es vollends entfernte, löschte sie ihr Magierlicht. Zum Glück wohnte Lady Sky im dritten Stockwerk, wo alle unverheirateten Damen untergebracht waren. Hier oben gab es mehrere Fenster, die Mondlicht in den Raum scheinen ließen.

Beinahe hätte man meinen können, Lady Sky posiere für einen Künstler. Das silbrige Licht des Mondes spielte auf ihrem hellen Haar und liebkoste ihre zierliche Gestalt, die sich so schlank präsentierte, als wäre sie nie in anderen Umständen gewesen. Ihr weißes Nachtgewand aus Musselin ließ sie jünger erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett und starrte auf einen Dolch hinab, den sie in beiden Händen hielt.

Sham konnte von ihrem Gesicht nur eine Ecke des Unterkiefers erkennen, dafür hatte sie freien Blick auf Lady Skys feingliedrige Hände, die den Dolch drehten und drehten, als untersuche sie das Messer auf einem Markt nach Makeln.

Sham begann, nach einer verborgenen Tür Ausschau zu halten, durch die sie in den Raum gelangen konnte. Fegfeuer hatte jegliches Mitgefühl beseitigt, das sie für Menschen gehabt haben mochte, die sich für den einfachen Ausweg entschieden, aber Lady Sky hatte als Ausrede zumindest ihre kürzliche Fehlgeburt: Es galt als allgemein bekannte Tatsache, dass Frauen unter solchen Umständen sehr gefühlsbetont wurden. Sky war von all den weiblichen Vertretern des Hofes, die Sham kennengelernt hatte, das, was einer Freundin noch am nächsten kam, und sie wollte nicht, dass ihr etwas zustieß. Sie untersuchte gerade einen Bereich, der aussah, als könnte er eine Öffnung verbergen, als sie Kerims Stimme vernahm. Schnell huschte sie zurück zum Guckloch und hielt ein Auge daran.

»Gib mir den Dolch, Sky.«

Die Tür konnte nicht verriegelt gewesen sein, denn Kerims Rollstuhl hatte im Raum unmittelbar hinter der Schwelle angehalten. Lady Sky hob den Dolch an, bis das Mondlicht auf der Klinge tänzelte.

»Der hat meinem Ehemann gehört«, verriet sie in geselligem Tonfall. »Er hat immer sorgfältig darauf geachtet, dass all seine Waffen scharf sind.«

»Sky, weißt du eigentlich, wie hart es ist, sich mit einem Dolch das Leben zu nehmen? Wenn man nicht genau weiß, was man tut, kann es Tage dauern, bis man an einer solchen Wunde stirbt. Ungeachtet Fahills lobenswerter Grundsätze sind Dolchverletzungen ausgesprochen schmerzhaft … und eine ziemliche Sauerei.« Kerim benutzte haargenau den gleichen Plauderton, als er seinen Stuhl mit einem leichten Stoß auf ihr Bett zurollte.

Vom Fenster wehte eine frische Brise herein, die den bescheidenen weißen Musselinstoff von Lady Skys Nachtgewand sanft gegen ihre Haut flattern ließ. Die Räder des Stuhls berührten den Rand des Bettes. Kerim wartete geduldig auf eine Erwiderung.

»Alle sterben sie«, sagte Lady Sky schließlich mit der leisen Stimme eines verwirrten Mädchens. »Meine Kinder, meine Eltern, mein Ehemann, Ven – einfach alle. Vielleicht bin ich verflucht. Hier sterben so viele Menschen – vielleicht hört das ja auf, wenn ich auch tot bin.«

»Sky, das Sterben hört niemals auf.« Kerims Stimme ertönte zwar sanft, aber unerschütterlich. »Die einzige Gewissheit, die das Leben zu bieten hat, ist der Tod. Würden deine Eltern, würden Fahill oder Ven wollen, dass du ohne Grund stirbst? Sollte wirklich ein Mensch weniger um sie trauern und ein Mensch mehr zu betrauern sein? Fahill hat dich geliebt. Ich habe Seite an Seite mit dem Mann gekämpft, und er war ein zurückgezogen lebender, verbitterter Krieger, bis du zu ihm gekommen bist. In den wenigen Monaten, die er dich hatte, war er glücklicher als je zuvor. Es würde ihm nicht gefallen, dass du seinen Tod als Grund dafür heranziehst, etwas zu zerstören, das er so sehr geliebt hat.«

Im Geheimgang wich Sham vom Guckloch zurück. Hier bestand keine Gefahr für Kerim, und irgendwann hatte Sham begonnen, Vertrauen in die Fähigkeiten des Leoparden zu setzen – er würde Lady Sky diese Torheit auch ohne ihre Hilfe ausreden.

Shamera musste sich von Skys Stimme lösen. Nicht der Tod oder das Sterben waren so hart, obwohl, bei den Gezeiten, beides schlimm genug sein konnte – wirklich hart war es, einen Grund zum Weiterleben zu finden. Sie wünschte Lady Sky Glück dabei.

Aus dem Zimmer der Frau hörte Sham das Geräusch eines Dolches, der zu Boden geschleudert wurde, gefolgt von gedämpftem Schluchzen an der Schulter eines Mannes. Sham hielt inne und wandte sich noch einmal dem Guckloch zu.

Kerim hielt Sky auf seinem Schoß fest, streichelte zärtlich ihr Haar, während ihre Schultern vor Gram zitterten. Sham biss sich auf die Unterlippe und drehte sich weg. In jenem dunklen Gang, wo sie den Lauten des Kummers einer anderen Frau lauschte, gestand sie sich etwas ein, das sie bei Tageslicht niemals zugegeben hätte: Sham, die Diebin, liebte den Vogt von Südwald.

Müde kehrte sie zurück in ihr Zimmer. Sie warf ihre Kleidung wieder in die Truhe und suchte ihr Nachtgewand. Dann kroch sie ins Bett, zog sich die Decke über den Kopf und wartete darauf, dass der Schlaf über sie kam.


Die Tür zu Shams Zimmer prallte mit lautem Knall gegen die Wand. Unvermittelt erwachte sie und fand sich in undamenhaft kauernder Haltung am Rand des Bettes wieder, den Dolch mit einer Hand umklammert. Schlaftrunken runzelte sie die Stirn und spähte den Eindringlingen entgegen.

Talbots hochgezogene Augenbrauen erinnerten sie daran, was die Mätresse des Vogts als Nachtgewand trug, und sie hechtete schnell zurück unter die Decke. Elsic war natürlich gegen den Anblick gefeit.

»Tut mir leid, Euch zu stören, meine Lady«, sagte Talbot und unterdrückte ein Lachen, »aber der Vogt ist in einer Besprechung, und ich habe Arbeit zu erledigen. Ich muss die Aufzeichnungen durchsehen, die aus dem Tempel hergeschickt worden sind. Ich habe gewartet, so lange ich konnte, da Kerim gesagt hat, du warst bis spät in die frühen Morgenstunden unterwegs. Mittlerweile haben wir es nach Mittag, und jemand muss dafür sorgen, dass der Bursche hier« – Talbot klopfte dem Jungen mit schwerer Hand auf die Schulter – »nicht von der Meute verspeist wird.«

Sham bedachte Talbot mit einem finsteren Blick. »Es ist Sitte, anzuklopfen, bevor man eine Tür aufreißt.«

Er grinste sie an. »Du legst also Wert aufs Anklopfen, Diebin? So was hab ich auch noch nie gehört.«

Lachend hob Shamera die Hände, um ihre Niederlage einzugestehen. »Willkommen, Elsic. Schieb ab, Talbot. Wir halten uns gegenseitig aus Schwierigkeiten heraus. Ich halte uns aufgebrachte Menschenmengen vom Leib, und Elsic kann sich der Adeligen annehmen.«

Elsic grinste. »Für Euch, meine Lady, tue ich alles.«

Sham schüttelte den Kopf in Talbots Richtung. »In einer Nacht vom Stallburschen zum Höfling. Schäm dich dafür, unschuldige Jugend zu verderben.«

»Ich?«, gab Talbot entrüstet zurück. »Das waren die Frauenzimmer. Ich bin mit einem Rudel Töchter geschlagen, die jedes nicht mit ihnen verwandte männliche Geschöpf als Freiwild betrachten, erst recht einen so hübschen und geheimnisvollen Burschen wie diesen.«

»Ah«, sagte Sham wissend. »Da haben wir ja den wahren Grund, aus dem du Elsic heute mit in die Feste genommen hast.«

Talbot grinste sie an und ging. Sham setzte dazu an, aus dem Bett zu steigen, dann zögerte sie mit einem Blick auf Elsic.

»Ich kann dich wirklich nicht sehen«, beteuerte er mit einem listigen Lächeln. Offensichtlich hatte ihm ein mit Talbots Familie verbrachter Abend gutgetan – er sah wesentlich weniger verloren als am Vortag in den Stallungen aus.

»Ich denke, du kannst in Kerims Zimmer warten, bis ich angezogen bin, mein Freund. Wenn du vier Schritte geradeaus gegangen bist«, sagte sie und wartete, bis er ihrer Aufforderung nachkam, »machst du einen Schritt nach links, dann sechs Schritte auf die Wand zu. Dreh dich nach rechts, und geh vorwärts, bis du den Wandteppich ertastest. Unter dem Wandteppich ist ein Durchgang zu Kerims Schlafzimmer.«

Als er ihr Zimmer verlassen hatte, warf Shamera die Decke zurück und zog wahllos ein Kleid heraus. Es handelte sich um ein geblümtes Teil aus Seide in flammendem Orangegold und tiefem Indigoblau mit Schlitzen an beiden Seiten des Rocks, die bis nach oben zu den Hüften reichten. Sie musste weiter herumkramen, um den Unterrock zu finden – wenig mehr als bunte Seidenstreifen auf einer Schnur. Es beruhte auf einigen der Kleider, die Frauen der Händlerclans trugen, war jedoch wesentlich aufreizender – außerdem wies es vergleichsweise wenige Knöpfe auf, und die einzigen, die Sham nicht erreichen konnte, ließen das Kleid auch nicht offenherziger werden, als es bereits war.

Als sie sich in Richtung von Kerims Zimmer in Bewegung setzte, fiel ihr Blick auf die zwei Bücher, die geduldig auf dem Nachttischchen warteten, das auf wundersame Weise als Ersatz für das von ihr zerstörte aufgetaucht war. Sie würde eine Möglichkeit finden müssen, Elsic zu beschäftigen, während sie den Wälzer über schwarze Magie durcharbeitete – und einen besseren Ort, um das Buch zu verwahren, wenn sie sich nicht in ihren Gemächern aufhielt. Ihre Truhe mochte zwar verhindern, dass der Band in unschuldige Hände gelangte, aber sie würde ihn nicht vor jemandem verbergen können, der etwas von Magie verstand.

Sham hörte die leisen Geräusche einer Harfe, die gestimmt wurde. Sie duckte sich unter dem Wandteppich hindurch und stellte fest, dass Elsic inmitten all der im Raum verstreuten Waffen eine kleine Bardenharfe entdeckt hatte. Er saß am Fußende des Bettes des Vogts und stimmte das Instrument. Die Bettwäsche wies einen Fleck auf, der verdächtig danach aussah, als hätte er den Stoff benutzt, um die Harfe abzustauben.

Elsic schaute auf, als sie den Raum betrat, und löste die Finger von den Saiten. »Kerim lässt mich damit spielen, wenn ich hier bin. Es ist ein feines Instrument.«

Sham betrachtete die Harfe mit zweifelndem Blick. Auf dem Markt würde sie nicht mehr als drei Kupferstücke einbringen, und das nur, wenn jemand sie vorher putzte und polierte; das Holz war alt, die Oberfläche zerkratzt, als hätte ein Barde sie auf den Wanderungen mehrerer Lebzeiten mit sich geführt.

»Hat er dir beigebracht, wie man spielt?«, fragte sie, weil sie lieber keine Äußerung zur Güte der Harfe abgeben wollte.

Elsic schüttelte den Kopf und begann, die Hände erneut über die Saiten wandern zu lassen. »Nein. Ich wusste bereits, wie man spielt, auch wenn ich mich nicht daran erinnern konnte, bis ich die Harfe gehalten habe. Lord Kerim sagt, seine Finger sind zu klobig für die Saiten, aber er singt manchmal mit mir.«

Die Weise, die er spielte, hörte sich unvertraut an, aber ihr tief bewegender Klang jagte Sham einen Schauder über den an sich unempfindsamen Rücken. Sie hatte immer den Alten Mann für einen Meister der Musik gehalten, doch er war dem Können, das Elsic unter Beweis stellte, als er der alten, abgewetzten Harfe Töne entlockte, nie auch nur nahegekommen. Die Saiten weinten geradezu vor der Wehmut seines Liedes.

Da Sham keine Worte einfielen, die sich nicht abgedroschen angehört hätten, suchte sie sich einen Platz zum Sitzen, schloss die Augen und ließ sich von der Musik erfassen. Nach einigen Refrains tauschte Elsic die wehmütige Stimmung gegen die bekanntere Melodie eines Festtagsliedes. Er spielte die beschwingte Strophe einmal durch, bevor er den Klängen der Harfe seinen Gesang hinzufügte.

Sham lächelte wohlig und zog die nackten Füße auf die Samtpolsterung ihres Stuhls hoch. Bei ihrem Rock war das eine alles andere als züchtige Haltung, aber es befanden sich ja nur Elsic und sie im Raum. Nach dem letzten Refrain legte er die Harfe beiseite, beugte die Finger und lachte verlegen, als Sham ihm Beifall spendete.

»Es liegt an der Harfe«, erklärte er. »Jeder könnte ein solches Instrument gut klingen lassen.«

»Ich nicht«, widersprach Sham. »Und auch mein Meister, der mit Verlaub ein begabter Musiker war, hätte es nicht gekonnt. Ich muss ein wenig lesen. Wenn du weiterspielen möchtest, hole ich mein Buch hierher, wo die Stühle gemütlicher sind.«

Statt ihre Frage mit Worten zu beantworten, ergriff Elsic neuerlich die Harfe. Sham duckte sich zurück in ihr Zimmer und holte das Buch, das sie von Lord Halvok erhalten hatte. Als sie in Kerims Gemächer zurückkehrte, ließ sie sich behaglich auf einem Stuhl nieder und begann, die Schutzbanne des Buches aufzuheben.

Elsic hörte zu spielen auf und legte den Kopf schief. »Was machst du da?«

Sie löste den ersten der Banne und hielt inne, um ihm zu antworten. »Magie.«

Er runzelte die Stirn. »Fühlt sich … irgendwie merkwürdig an. Nicht wie die Magie, die ich kenne.«

Sham dachte kurz darüber nach und versuchte zu entscheiden, inwiefern sich die von der Geistebbe erzeugte Magie von der unterschied, die sie verwendete.

»Sie ist anders als das, was du tust«, meinte sie schließlich. »Ich verstehe deine Art von Magie nicht besonders gut; und ich weiß nicht, ob irgendein Mensch viel darüber weiß. Manchmal, wenn sie stark genug ist, kann ich sie so fühlen, wie du spüren kannst, was ich tue. Die Magie, die du verwendest, ist bereits von den Gewalten der Natur geformt – zum Beispiel von den Gezeiten des Meeres. Die Magie, die ich benutze, ist ungeformt. Ich erlege sie dem Buch oder sonstigen Dingen auf, die ich beeinflussen möchte.«

»Da ist noch etwas anderes«, fügte Elsic nach einer Pause in verhaltenem Tonfall hinzu. »Etwas, das mir nicht gefällt.«

»Ach das«, sagte Shamera. »Das Buch, das ich gerade lese, enthält einen ziemlich umfassenden Abschnitt über Dämonologie. Es gibt Magie, die schürt man mi …«

»Mit Tod«, fiel er ihr ins Wort und wirkte auf ein Mal so wachsam wie ein edler Jagdhund.

»Richtig. Ich wirke die Zauber selbst nicht einmal, aber schon über solche Dinge zu schreiben besudelt die Seiten.«

»Ach so«, meinte Elsic dazu und ahmte recht gut ihren vorherigen Tonfall nach. Er nickte knapp und spielte wieder weiter. Dabei wirkte er nicht unglücklich, nur nachdenklich, also überließ ihn Shamera seiner Musik.


Es gestaltete sich interessant, die ausführlichen Erklärungen zum ordnungsgemäßen Zeremoniell der Beschwörung von Toten begleitet von Liedern der Art »Wie die Kuh das Dach fraß« oder »Der Maid Umarmung« zu lesen. Die Auswahl hätte wohl schlimmer sein können, fand Shamera, doch irgendwie ließen die schlichten ländlichen Melodien die Opferung dreier Ferkel auf besonders grausame Weise noch verstörender erscheinen. Sie empfand es als Erleichterung, als jemand an ihre Tür klopfte und ihr damit einen Vorwand lieferte, mit dem Lesen aufzuhören.

Sham duckte sich unter dem Wandteppich hindurch und warf das Buch in die Truhe, die sich auf unerklärliche Weise erneut unversiegelt zeigte, als sie auf dem Weg zur Tür daran vorbeiging. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Truhe, dann setzte das Klopfen jedoch wieder ein.

»Ich komme«, rief sie und öffnete die Tür.

Talbot ließ den Blick über ihre befremdliche Aufmachung wandern und schüttelte den Kopf. »Und ich habe gehört, du seist bei der Wahl deiner Kleider unter die alten Jungfern gegangen. Wäre das erste Mal, dass ich eine alte Jungfer in Orange sehe.«

Sham bedachte ihn mit einem neckischen Augenaufschlag und gurrte: »Oh, aber mein Herr, Frauen mögen es, unberechenbar zu sein.«

Talbot lachte und betrat den Raum, als sie ihn mit einer Geste dazu einlud. »Und wo hast du den Burschen versteckt, hm? Unter dem Bett?«

»Eigentlich haben wir uns eher die gemütlichere Einrichtung in Kerims Gemächern zunutze gemacht.«

Talbots Augenbrauen kletterten in die Höhe. »Wüsste ich es nicht besser, würde ich glatt meinen, du schläfst mit ihm, so ungehemmt, wie du seine Räumlichkeiten verwendest.«

Sham bedachte ihn mit dem geheimnisvollsten Lächeln der Mätresse des Vogts, ohne auf die echte Frage in seinen Augen zu antworten. Elsic kam unter dem Wandteppich hervor und bahnte sich den Weg durch den Raum, als hätte er das schon hunderte Male getan.

»Fertig mit der Arbeit, Meister Talbot?«, fragte er.

»Vorläufig, Junge.« Der Sicherheitsleiter wandte sich wieder Shamera zu. »Es gibt genug Hinweise darauf, dass die Geschichte des alten Magiers stimmt, um einen genaueren Blick zu rechtfertigen, allerdings habe ich noch nichts Interessantes gefunden. Morgen habe ich einige Besprechungen, und ich traue mich nicht, Elsic bei meinen Mädels zu lassen – die fressen ihn noch mit Haut und Haaren.«

»Dann bring ihn meinetwegen mit hierher. Im Augenblick tue ich nichts anderes, als zu lesen. Und angesichts des Inhalts schadet es nichts, jemanden dabei zu haben, damit ich mich nicht vor Angst um den Verstand lese«, gestand sie wahrheitsgemäß.

Talbot lachte. »Verstehe. So, und jetzt muss ich uns schnell nach Hause schaffen, sonst wirft die Frau noch die letzten Reste vom Abendessen dem Nachbarshund vor. Komm mit, Elsic.«

Talbot steckte sich Elsics Hand in die Armbeuge und wandte sich zum Gehen. Bevor sie die Tür schlossen, hörte Sham, wie Talbot in väterlichem Tonfall meinte: »Also, die Frau hat gesagt, sie hätte eine schöne fette Ente zum Braten. Die Soße solltest du vermeiden, wenn es irgendwie geht, aber eine bessere Füllung findest du nirgendwo in ganz …«


Die Luft draußen erwies sich als kühl und frisch, und Sham zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Die Stallknechte hatten sie in beiden Verkleidungen gesehen, daher hoffte sie, dass sie durch den Mantel mit der Kapuze und mithilfe der Dunkelheit des späten Abends wie eine Lady auf dem Weg zu einem geheimen Treffen mit ihrem Liebhaber wirken würde. Sie hatte die Nachricht der Flüsterer auf ihrem Abendessentablett erhalten, aber weil sie einige Zeit gebraucht hatte, um sich unbemerkt aus dem Gebäude zu stehlen, konnte sie nicht sicher sein, ob der Bote noch warten würde.

»Ah, solch ein liebliches Antlitz sollte niemals wie ein verborgener Schatz versteckt werden.« Die Stimme des Hais grollte aus der Finsternis der Heuscheune hervor.

Sham wich in die Schatten, wo der Hai wartete. Aufmerksam beobachtete sie den Stallhof, bis sie sicher war, dass ihr niemand auffällige Beachtung schenkte, bevor sie ungeduldig sagte: »Lass den Mist, im Stall ist auch so schon genug davon. Warum hast du nicht einfach einen weiteren Brief geschickt?«

Er sank auf einen Heuhafen und zog einen Halm hervor, um darauf zu kauen. »Ich hielt es für besser, nach dir zu sehen und dafür zu sorgen, dass du dich nicht zu sehr an dein neues Gefieder gewöhnst« – er nickte in Richtung ihrer Kleidung – »und nicht vergisst, dass du kein Pfau, sondern ein Fuchs bist.«

Sham verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. »Was hast du für mich, Sir Fuchs?«

»Halvok hat zwölf Jahre lang Magie bei Cauldehel von Reth studiert. Ich weiß nicht, warum diese kleine Tatsache bei all den anderen Malen, als ich Erkundigungen über ihn eingeholt habe, durch die Lappen gegangen ist, aber ich habe es höchstpersönlich von einer von Halvoks Halbschwestern erfahren.«

Sham zog die Augenbrauen hoch. »Du gibst dich schon wieder als Adeliger aus? Das ist ein Vergehen, das mit dem Strick geahndet werden kann.«

Der Hai schenkte ihr ein gefährliches Lächeln. »Ah, aber ich habe ein wenig Einfluss beim Vogt. Zufällig bin ich sehr gut mit seiner Mätresse befreundet.«

»Und wer hat mich gerade eben daran erinnert, dass der Vogt in Wirklichkeit gar keine Mätresse hat?«, fragte Sham mit einem breiten Grinsen.

»Schuldig«, gab er mit einer schwungvollen Verbeugung zurück. »Ich habe mich auch nach der Geschichte des Dämons der Feste umgehört. Anscheinend gibt es tatsächlich eine solche Erzählung, wenngleich in nichts, was mir zu Ohren gedrungen ist, der Name Chen Laut auftaucht. Ich habe zwei oder drei verschiedene Fassungen zu hören bekommen, aber ein Großteil der wesentlichen Punkte stimmt mit dem Bericht des Zauberers überein.«

Sham nickte. »Gut. Talbot sieht gerade die alten Aufzeichnungen durch. Scheint, als gäbe es genügend Hinweise, um die Geschichte zu bestätigen, die Halvok uns erzählt hat.«

Der Hai spuckte den Heuhalm auf den Boden. »Die dritte interessante Neuigkeit, die ich aufgeschnappt habe, könnte der Grund dafür sein, warum der Dämon den Alten Mann angegriffen hat. Anscheinend hatte Maur eine Auseinandersetzung mit einem Dämon, bevor er zum Magier des Königs wurde. Er wurde in ein Dorf zu Hilfe gerufen, in dem eine Reihe merkwürdiger Morde stattgefunden hatte. Dort entdeckte er einen Dämon, der sich unter einer Gruppe von Spielleuten versteckte, die im Dorf überwinterten. Er konnte ihn zwar vertreiben, aber nicht zerstören.«

»Der Chen Laut?«, fragte Sham.

»Das wusste meine Quelle nicht. Falls ja, wäre Maur vielleicht in der Lage gewesen, ihn wiederzuerkennen.«

»Der Alte Mann war blind«, erinnerte ihn Sham.

»Wenn er wusste, wie die menschliche Gestalt des Dämons aussah, hätte er ihn gut genug beschreiben können, um herauszufinden, wer er ist. Das würde erklären, weshalb der Dämon ihn angegriffen hat.«

»Ich kann spüren, dass sich das Muster allmählich zusammenfügt«, meinte sie bedauernd, »aber ich habe das Gefühl, das Gesamtbild von der falschen Seite zu betrachten.«

»Ich hoffe, du findest diesen Dämon, bevor er erneut töten kann. Ich habe das Gefühl, auf der Liste der Menschen, die er mag, stehst du nicht besonders weit oben.«

Sham lachte. »Der Gedanke ist mir in letzter Zeit schon mehrfach gekommen. Ich werde vorsichtig sein.«

Der Hai schnaubte höhnisch. »Und ich werde demnächst Fischer. Sei einfach gerissener, als er es ist.«


Mit Elsics Musik in den Ohren las Sham zum fünften Mal den Zauber, den man anwenden musste, um den Dämon zu seinen Ursprüngen zurückzusenden. Irgendwo unter dem sauber dargelegten Rezept gab es eine Philosophie, die ihn beherrschen würde. Dem Tod des Opfers schien eine besondere Bedeutung beizukommen, die über die Macht von Todesmagie noch hinausging.

Als sie den Zauber erneut las, breitete sich eine Gänsehaut über ihre Arme aus. Zunächst achtete sie nicht weiter darauf und hielt es für eine natürliche Reaktion auf die Art des Zaubers, den sie da erkundete. Erst nach und nach wurde ihr klar, dass ihre Nerven aufgrund der sehr realen Gegenwart von Magie kribbelten. Sie schaute von ihrem Buch auf und bemerkte, dass sich Elsic nicht bei ihr im Raum befand. Seine Musik wehte aus ihrem Zimmer herüber – und er spielte keine Harfe.

Ein eiskalter Schauder lief ihr über den Rücken, als sie die klaren Töne von Maurs Flöte hörte. Sie musste die Truhe schon wieder unverschlossen gelassen haben … obwohl es ihr gar nicht ähnlich sah, zu vergessen, ihre Truhe zu versiegeln. Und doch hatte sie genau das bei mindestens zwei Gelegenheiten und nun anscheinend einer dritten getan. Verflixte Flöte …

Sie klemmte sich das Buch unter den Arm und duckte sich unter dem Wandteppich hindurch. In ihrem Zimmer herrschte so dicht geballte Magie, dass sie das Gefühl hatte, daran zu ersticken. Sham hatte von der garstigen Angewohnheit der Flöte gewusst, jemanden zu sich zu rufen, der sie zu benutzen wusste. Angesichts seiner Magie und seiner musikalischen Fähigkeiten musste Elsic besonders empfänglich für den Ruf gewesen sein.

Er spielte die Flöte leise, kauerte mit einem verträumten Ausdruck im Gesicht auf der Kante ihres Bettes und ging so in der Musik auf, dass er Shams Vermutung nach wahrscheinlich keine Ahnung von dem Sturm der Magie hatte, der zunehmend anschwoll. Weil es grundsätzlich als gefährlich galt, jemanden zu unterbrechen, der Magie wirkte, setzte sich Sham neben Elsic aufs Bett und hatte die Absicht, seine Konzentration ganz langsam von der Musik abzulenken.

Leider hörte er schlagartig zu spielen auf.

»Es tut mir leid …« Ihm blieb keine Gelegenheit, weiterzusprechen, bevor die sich verdichtende Magie die Fesseln der Musik der Flöte abschüttelte und begann, sich zu Feuer zu formen – wie es jede wilde Magie tat. Rauch kräuselte sich vom unteren Rand des Wandteppichs empor, und kleine Flammen leckten hier und da über die Läufer, die Polsterungen und alles, was sonst auch nur ansatzweise brennbar war.

Instinktiv versuchte Sham, die Kontrolle darüber zu übernehmen, bevor die Vernunft ihr mitteilte, dass sie nie und nimmer grüne Magie wirken könnte. Sie setzte gerade dazu an, sich zurückzuziehen und nach einer anderen Möglichkeit zu suchen, den Schaden aufzuheben, den die Magie verursachte, bevor der Rauch im Raum gefährlich werden konnte, als ihr zwei Dinge klar wurden.

Das Erste war, dass nur Menschenmagie dazu neigte, sich in Feuer zu verwandeln, wenn sie ungeformt entfesselt wurde; grüne Magie war durch ihre Beschaffenheit bereits geformt, bevor man sie beschwor. Der zweite Punkt war, dass die Magie, als sie die Herrschaft darüber hatte erlangen wollen, auf sie reagiert hatte. Sie verlor keine Zeit damit, sich zu fragen, weshalb Elsic mit der Flöte Menschenmagie beschworen hatte. Der heiß in ihrer Lunge brennende Rauch erinnerte sie nachdrücklich an die gebotene Eile.

Wieder versuchte sie, die Kontrolle zu erlangen. Es gestaltete sich schwierig, Magie zu beherrschen, die sie nicht selbst beschworen hatte – Elsic war nicht ihr an sie gebundener Lehrling –, zudem hatte sie es mit mehr Macht zu tun, als sie je auf einmal benutzt hatte. Als sie sich damit abmühte, nahm sie am Rande wahr, dass sich die Bettwäsche mit Flammen entzündete, die sich ihrer Herrschaft entzogen.

Ihr kam der Gedanke, dass es vielleicht einfacher wäre, die Magie in einen Bann zu leiten, statt zu versuchen, sie zu bändigen. Sham gelangte zu dem Schluss, dass ein Feuer im Kamin genauso gut wie alles andere wäre, um die ziellos wabernde Macht zu zerstreuen, und führte die Magie den Scheiten zu, die nur darauf warteten, angezündet zu werden.

Diesmal verliefen ihre Bemühungen wesentlich erfolgreicher. Schlagartig ging das Holz in Flammen auf, die zornig hochzüngelten und es binnen eines Lidschlags zu Asche verbrannten. Den letzten Rest der Magie benutzte sie, um die vereinzelten kleinen Brände zu löschen und den Rauch zu vertreiben. Kurz darauf herrschte Stille im Raum – der sich deutlich wärmer als zuvor anfühlte.

»Was ist passiert?«, fragte Elsic kleinlaut.

Sham lachte ein wenig zittrig. »Das ist eine sehr gute Frage. Die Flöte ist eine Vorrichtung, die dafür gedacht ist, es einem Magier zu ermöglichen, Magie einfacher und schneller zu bündeln, als er es unter gewöhnlichen Umständen könnte. Anscheinend funktioniert das bei grüner Magie genauso wie bei Menschenmagie – aber die Magie, die sie bündelt, ist immer noch so roh wie jene, die menschliche Magier wie ich verwenden. Menschliche Magie schlägt in Flammen um, wenn derjenige, der sie beschwört, sie nicht bändigen kann.«

»Ich vermute, das bedeutet, ich sollte nicht darauf spielen.« Das Bedauern in seiner Stimme spiegelte sich in seinen Zügen wider.

»Wohl besser nicht«, pflichtete sie ihm entschieden bei, verstaute die Flöte wieder in der Truhe und brachte den Verschlusszauber an. Bei der nächsten Geistebbe würde sie die alberne Flöte in die Höhlen bringen, wo sie kein Problem mehr darstellen würde – hoffte Sham.


Müde rieb sich Shamera die Augen und schloss mit einem Zauber das Buch. Talbot hatte Elsic vor mehreren Stunden abgeholt und war mit ihm gegangen. Irgendwann danach hatte ihr Dickon ein Abendessen und eine Botschaft vom Vogt gebracht. Kerim wollte bei ihr vorbeischauen, sobald er seine Besprechungen hinter sich hätte, aber es würde sehr spät werden.

Sham spielte gerade mit dem Gedanken, es mit ein wenig Schlaf zu versuchen, als jemand sachte an ihre Tür klopfte. Da es die Außentür war, handelte es sich wahrscheinlich nicht um Kerim, und für Dickon klang das Klopfen zu leise.

»Wer ist da?«, rief sie auf Cybellisch mit dem starken Akzent, den sie sich als Mätresse des Vogts angeeignet hatte.

»Eine Botschaft für Euch, Herrin«, erwiderte eine unbekannte männliche Stimme.

Kurz zögerte Sham, dann öffnete sie die Truhe und legte das Buch hinein. Nachdem sie die Truhe sorgfältig wieder geschlossen hatte, säuselte sie: »Einen Augenblick …«

Rasch überprüfte sie im Spiegel ihr Erscheinungsbild. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sie so aussah, wie sie es sollte, öffnete sie die Tür.

Der Mann, der davorstand, trug die Farben eines Bediensteten der Feste. In den behandschuhten Händen hielt er eine kleine Holzkassette, die er ihr entgegenstreckte. Ein Geschenk also, dachte sie, genau wie all die anderen, die man ihr in dem Versuch hatte zukommen lassen, ihre Gunst zu erringen.

Sie nahm die Kassette entgegen und untersuchte sie, wie es jede gierige Frau tun würde. Das dunkle Holz erwies sich als übersät mit einer Vielzahl geschnitzter Vögel, von denen sich keine zwei glichen. Kurz fragte sie sich, ob das bereits das Geschenk darstellte, doch als sie die Kassette umdrehte, ratterte etwas darin.

»Du kannst jetzt gehen«, befahl sie hochmütig, da sie fand, dass sie kein Publikum brauchte.

»Es tut mir leid, Herrin, aber mir wurde aufgetragen, zu warten, bis Ihr die Kassette geöffnet habt.«

Schulterzuckend betätigte Sham den kleinen Riegel. Eingebettet in schwarzes Tuch lag ein polierter, in einen goldenen Ring gefasster Sternrubin. Ihr erfahrenes Auge berechnete grob, wie viel ein solcher Ring wert sein mochte – mehr jedenfalls als der kleine Schatz aus Goldmünzen in ihrer Meereshöhle. Der Mann, der ihn ihr geschickt hatte, war entweder ein Narr, oder er hatte eine ganz besondere Gefälligkeit im Sinn. In der Kassette befand sich keine Mitteilung.

»Wer hat das geschickt?«, fragte sie.

»Es wurde vertraulich gesendet, Herrin. Ich soll mich davon überzeugen, ob das Geschenk passt, bevor ich zurückkehre.«

Sham bedachte ihn mit einem Stirnrunzeln, doch es war eines, wie es von der Mätresse Kerims zu erwarten war: oberflächlich und frivol. Sie rechnete nicht damit, dass es bei einem Diener Wirkung erzielen würde, der den Umgang mit Lady Tirra gewöhnt war. Da sie zu dem Schluss gelangte, es wäre der einfachste Weg, den Mann loszuwerden, steckte sie den Ring an.

Der Schlafzauber wirkte so schnell, dass ihr keine Zeit blieb, sich für ihre Dummheit zu schelten. Ihr panischer Versuch, gegen den Bann anzukämpfen, verlief ins Leere.


Teilnahmslos fing der Diener die Frau auf, bevor sie fallen konnte, und warf sie sich über die Schulter. Er betrat ihr Zimmer, schloss die Tür und schob den Riegel vor. Vorübergehend legte er die Mätresse des Vogts auf ihrem Bett ab, während er die Tunika und das Beinkleid eines Dieners auszog. Darunter trug er ein schlichtes braunes Hemd und eine weite, dunkle Hose.

Danach hievte er sich die Frau wieder über die Schulter, betätigte die Vorrichtung zum Öffnen der Täfelung in der Nähe des Kamins und betrat den Geheimgang.

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