8

Sham setzte sich abrupt auf, als ein leises Geräusch durch ihr dunkles Zimmer dröhnte. Das Bett fühlte sich zu weich an und behinderte ihre Bewegungen, als sie sich hinausrollte und mit dem Messer in der Hand auf den Boden kauerte. Zwar konnte sie die Gegenwart des Dämons nicht fühlen, trotzdem entzündete sie mit einem Hauch Magie die Kerzen.

Wieder hallte das Stöhnen durch die Kammer. Die sanfte Helligkeit der Kerzen vertrieb die Finsternis und gestattete es Sham, ihre ursprünglichen Befürchtungen zu Grabe zu tragen. Das Geräusch kam aus den Gemächern des Vogts.

Der Rahmen war schwer in Mitleidenschaft gezogen worden, als der Vogt die Tür zerstört hatte. Seine Zimmermänner hatten Mühe, sie zu ersetzen, deshalb stellte immer noch ein Wandteppich die einzige Abtrennung zu den Gemächern des Vogts dar. Wäre die Tür an Ort und Stelle gewesen, hätte sie nie und nimmer etwas gehört.

Sie legte sich neben der verhangenen Öffnung auf den Boden und dachte daran, die Kerzen in ihrer Kammer zu löschen, bevor sie sich unter der schweren Wolle hindurchrollte.

Im Kamin des Vogts knisterten fröhliche Flammen vor sich hin. Es entsprach Kerims Gewohnheit, das Feuer reichlich mit Vorrat zu versorgen, damit es die Nacht hindurch brannte; aufgrund der schlechten Durchblutung wurde ihm schnell kalt. Die Flammen boten genug Licht, damit Sham in dem großen Zimmer etwas erkennen konnte. Als sie nichts Ungewöhnliches entdeckte, rappelte sie sich auf die Beine und sah, was ihr in Bodennähe verborgen geblieben war.

Kerim lag steif auf seinem Bett. Während sie ihn beobachtete, wölbte er den Rücken durch, schnappte lautlos nach Luft und verzog gequält das Gesicht. Anscheinend hatte der Wunderwirker seiner Mutter mehr Schaden angerichtet, als sie vermutet hatten.

Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Kerim ungestört zu lassen. Wenn sie verletzt war, suchte sie sich immer einen dunklen Winkel und saß es aus. Sie hatte sich sogar bereits wieder zu ihrem Zimmer umgedreht und auf den Boden gelegt, um erneut unter dem Vorhang hindurchzurollen, als ein weiteres leises Stöhnen vom Bett ertönte. Genug, so dachte sie, ist genug.

Die Liegefläche von Kerims Bett befand sich in Hüfthöhe, weshalb sie ihn vom Boden aus nicht erreichen konnte. Sie legte ihr Messer an die Ecke der Matratze und stemmte sich hoch – behutsam, um ihn nicht mehr durchzurütteln, als sie musste. Das Messer ließ sie liegen, als sie aufs Bett kroch, bis sie in seiner Nähe saß.

Magie konnte nicht mehr erreichen, als die Wirkung von Kräuterheilmitteln zu konzentrieren, die Heilung zu beschleunigen und Knochen zu richten – und selbst damit hatte Sham wenig Erfahrung. Gewappnet nur mit einer die Gesundheit fördernden Rune, einer auf der Kommode stehenden Flasche, die verdächtig nach Pferdeliniment roch, und einer verschwommenen Erinnerung daran, das Schlachtross ihres Vaters damit eingerieben zu haben, machte sich Sham an die Arbeit.

Kerim half ihr, als Sham ihn herumrollte, bis er mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett lag. Mit drei flinken Schnitten des Messers befreite sie ihn von seinem weichen Gewand. Sie warf die Fetzen gerade beiseite, als ein weiterer Krampf die immer noch beeindruckenden Muskeln in seinem Kreuz zucken ließ. Das Gewebe spannte sich unter der Haut an und verkrampfte sich, verrückte dabei die Wirbelsäule unnatürlich zur Seite.

Sie träufelte einige Tropfen der Flüssigkeit aus der Flasche auf ihre Hände und rieb sie in ihre Haut ein. Als sie spürte, wie sich die vertraute Wärme in ihren Händen auszubreiten begann, was darauf hinwies, dass es sich tatsächlich um ein Liniment handelte, verteilte sie die Flüssigkeit großzügig über Kerims Rücken und machte sich ans Werk.

»Erinnere mich daran, dich dem Stallmeister zu empfehlen«, sagte Kerim, die Stimme vor Schmerzen angespannt. »Du musst eine ehrlichere Arbeit als das Diebeshandwerk finden.«

»Ehrlich?«, hinterfragte Sham und presste die Daumen tief in seinen Rücken. »Ich bin die ehrlichste Diebin überhaupt, frag den Hai. Ich bezahle ihm ein Kupferstück die Woche dafür, dass er es bestätigt.«

Kerims Gelächter wurde von einem Japsen unterbrochen, als ein weiterer Muskel zuckte. Sham bewegte sich aufwärts zu der Stelle, wo es am schlimmsten zu sein schien, und träufelte sich mehr Liniment auf die Hände.

Irgendwo hatte sie gehört, dass es manchmal half, einen von Schmerzen gequälten Menschen abzulenken. »Ich habe einige deiner Fragen beantwortet. Wäre es in Ordnung, wenn ich dir jetzt die eine oder andere Frage stelle?«

Sham fasste sein Grunzen als Zustimmung auf und stellte das Liniment beiseite, weil sie fürchtete, ihm mit zu viel der Salbe die Haut zu verbrennen. Dann bearbeitete sie seinen Nacken. »Glaubst du wirklich, dass Altis erwacht ist? Dass eure Religion nicht bloß von Menschen erschaffen worden ist, damit sie deren Zwecken dient?«

Kerim holte tief Luft und verlagerte den Kopf. »Es war einmal«, begann er, als wäre er ein Geschichtenerzähler, »ein junger Knabe, der uneheliche Sohn einer bedeutenden Lady. Geboren wurde er, ein Jahr nachdem der Ehemann der Lady zu seiner endlosen Suche nach der vollkommenen Schlacht aufgebrochen war – neun Monate nachdem ein Krieger auf der Reise in ein anderes Land für kurze Zeit auf dem Landgut verweilte, wo die Lady lebte. Als unehelicher Sohn der Lady ohne Verwandtschaft zum Lord lernte der Junge schon früh, allen aus dem Weg zu gehen. Er war ein Niemand und weniger wert als nichts.

Eines Tages kam ein junger Mann in das Dorf in der Nähe des Landguts, wo der Junge wohnte. Er sprach von einer wundersamen Vision, die ihm von einem uralten Gott gesandt worden war; einer Vision, die vorhersagte, dass dieses kleine, vom Krieg zerrissene Land – die Heimat des Jungen – wieder mächtig sein würde, wie es das in ferner Vergangenheit gewesen war. Endlich bekam das Leben des Jungen eine Bestimmung. Er sollte ein großer Kriegsherr werden, und seine Familie sollte ihm Anerkennung für sein Können zollen.

In jener Nacht träumte er, dass er von Altis besucht wurde, der dem Jungen eröffnete, dass er in der Tat ein legendärer Krieger werden würde und dass er eine Invasionsstreitmacht anführen werde, wie man sie seit vielen Generationen nicht mehr auf dem Antlitz der Erde erlebt hatte. Altis bedachte den Jungen mit den Gaben der Behändigkeit und der Stärke, ließ ihn jedoch wissen, dass er sich auch selbst Fertigkeiten aneignen müsse. Es werde ein Mann zu ihm kommen, der in der Lage sei, ihn die Kunst des Krieges zu lehren.« Für einen Augenblick verstummte Kerims Stimme, als Sham den Druck in einem besonders verspannten Bereich verstärkte.

»Zwei Tage später tauchte ein Mann auf, der nach Arbeit suchte. Er war an sich Soldat, so sagte er, wäre aber bereit, in den Stallungen zu arbeiten, wenn das alles sei, wozu ein alter Mann noch tauge. Wie es der Zufall wollte, brauchte man in den Stallungen tatsächlich noch Helfer, und so erhielt er die Arbeit. Er war nicht groß und kräftig, dieser von Altis gesandte Mann, aber vielleicht hatte er gerade deswegen viel Zeit damit verbracht, sich mit der Kampfkunst zu beschäftigen. Er brachte dem Jungen bei, wie und – noch wichtiger – wann man in die Schlacht zieht. Dieser Junge, das war ich. Als dann Altis’ Prophet zum Volk von Cybelle kam, ging ich zu ihm und folgte ihm, wohin er mich führte. Ich kämpfte für Altis mit dem Feuereifer, den nur ein Junge aufzubringen vermag. Für ihn wurde ich zum Leoparden. So wie du daran glaubst, dass es Magie wirklich gibt, glaube ich, dass es Altis gibt.«

»Du besitzt nichts von den Dingen, die man bei den meisten Anhängern von Altis findet«, merkte sie an. »In diesem Flügel gibt es keine Altäre. Und wie du Hohepriester Brath verehrst, habe ich ja gesehen.«

Kerim schnaubte, was vermutlich ein Lachen sein sollte. »Altis gibt es wirklich, aber er ist nicht mehr mein Gott. Mit dem Alter lernt ein Mann einige Dinge, wenn er Glück hat. Eines Morgens wachte ich auf, sah ein mit Leichen gepflastertes Feld und hörte, wie der Prophet jenes blutige Feld Altis widmete. Ich fragte mich, was Altis getan haben mochte, um die Leben so vieler Menschen zu verdienen, und ob er mir einen Gefallen damit getan hatte, den Leoparden zu erschaffen, der für dermaßen viel Blutvergießen gesorgt hatte. Trotzdem brachte ich zu Ende, was ich begonnen hatte, und kämpfte bis zum letzten Gefecht.

Nachdem es vorbei war – so vorbei, wie ein Krieg es nur je sein kann –, berief mich der Prophet zu sich und forderte mich auf, eine Belohnung zu nennen. Es ist nicht weise, ein solches Angebot auszuschlagen. Verweigert man eine Belohnung, fragt sich der Herrscher nur, ob man nicht nach noch Höherem strebt – beispielsweise nach seinem Rang.«

Ihre Massage schien ein wenig Wirkung zu erzielen; er verkrampfte sich nicht mehr so sehr infolge der Schmerzen, und seine Stimme hatte zu ihrem gewöhnlichen Tonfall zurückgefunden. »Ich bat ihn, mich irgendwo hinzuschicken, wo ein Krieger nützlich wäre. Gekränkt, weil ich mir keinen Platz an seiner Seite wünschte, schickte er mich hierher zu den – verzeih die Bezeichnung – ›Wilden‹, während er über das wunderbare Reich Cybelle herrscht.« Kerim drehte den Kopf und bedachte Shamera mit einem schiefen Lächeln. »Warum interessierst du dich für Altis?«

»Mir ist der Gedanke gekommen, ob Altis es einem Dämon gestatten würde, ihn in seinem Tempel zu verehren«, sagte Sham gedehnt – wenngleich ihr das erst gegen Ende seiner Erzählung eingefallen war.

Der Vogt ließ sich ihre Worte kurz durch den Kopf gehen, bevor er abwehrend die Hände hob. »Ich weiß es nicht. Aber ich kann dir sagen, dass es etliche Menschen gibt, die Altis nicht verehren: die Adeligen Südwalds etwa, Halvok, Chanford oder sogar Lady Sky. Was das angeht, sind auch die meisten Diener Südwäldler, und es gibt sogar einige Ostländler wie Dickon, die zu dem Schluss gelangt sind, dass es eine undankbare Aufgabe ist, Götter anzubeten, und zwar schon, bevor ich …«

Kerim verstummte jäh, als ihm ein verheerender Krampf den Atem verschlug. Entsetzt beobachtete Sham, wie sich die Muskeln anspannten und zuckten, schlimmer als zuvor. Sein Rücken verkrümmte sich schier unmöglich; sie rechnete damit, jeden Augenblick das Knacken von Knochen zu hören.

Sham warf die weltlichen Methoden über Bord und zeichnete die Linien der Gesundheitsrune dort auf seinen Rücken, wo das Chaos am schlimmsten wütete. Sie schloss die Augen, versuchte, sich bildlich vorzustellen, wie sich jedes einzelne Muskelbündel entspannte, und zwang sich, die Rune langsam zu zeichnen, damit ihr nur ja kein Fehler unterlief. Als sie fertig war, richtete sie sich auf und betrachtete mit magieverstärkten Sinnen das vollendete Werk.

Die Rune glitzerte in Orangetönen und fing dann an, so zu verblassen, wie es sein sollte. Kerim seufzte und entspannte sich nach und nach. Als nur noch ein matter, kaum noch sichtbarer Umriss der Rune verblieb, flammte das Symbol plötzlich grell auf, bevor es sich zu einem zornigen Rot verfärbte.

»Bei den Winden der sieben Meeresgötter …«, murmelte Sham zutiefst verwirrt. Die Rune hätte vollständig verblassen sollen … es sei denn, die Krämpfe hatten eine unnatürliche Ursache.

Es will den Vogt mehr, als es seit tausend Jahren etwas begehrt hat. Die Worte des blinden Stalljungen hallten durch ihre Gedanken. Die Gesundheit des Vogts hatte sich ungefähr zu der Zeit zu verschlechtern begonnen, als die ersten Morde angefangen hatten.

Sham beobachtete, dachte fieberhaft nach, während sich das Symbol zu schwarz verdunkelte und Kerims Rücken abermals von Zuckungen gepeinigt wurde. Dringlichkeit verlieh ihren Fingern Geschick und ihrer Arbeit Macht, als sie eine weitere Rune zeichnete: einen Schutz gegen Magie. Während sie den Bann entwickelte, konnte sie fühlen, wie die Rune einen Bindungszauber streifte, den sie sonst nicht hätte wahrnehmen können. Verdutzt wirkte sie einen anderen Zauber.

Langsam, als wären sie widerwillig, sich zu zeigen, erschienen dünne gelbe Linien. Eine auf lebendiges Fleisch gezeichnete Rune besaß mehr Macht als bei derlei Dingen üblich, und diese Rune war von einem Dämon angefertigt worden. Als die Wirbel und Linien des Symbols deutlicher wurden, konnte sie ein Bindungszeichen ausmachen – den Quell des Bannes, den sie gerade gespürt hatte –, wenngleich sie einen Großteil davon nicht erkannte.

Ein rauer Laut entrang sich Kerim, als die Muskeln in seinem Rücken sich weiter anspannten. Shamera legte die Hand vorsichtig auf die Rune des Dämons und unternahm einen Versuch, sie aufzulösen. Nach mehreren Anläufen wurde klar, dass das nicht klappen würde. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit, wenn sie nur schnell genug und der Dämon langsam genug war.

Rasch begann sie, die Rune des Dämons nachzufahren, die Macht des Dämons durch ihre eigene zu ersetzen und das Symbol an sich zu binden. Sie hatte gerade einmal die Hälfte des Musters geschafft – nicht annähernd so viel, wie sie brauchte –, als der Dämon anfing, sein Werk zurückzuerobern. Das überraschte sie zunächst; sie hatte nicht gewusst, dass die Möglichkeit bestand, Runen zu bearbeiten, ohne anwesend zu sein. Nach kurzem Zögern ging sie dazu über, das Muster unscheinbar zu ergänzen, Kleinigkeiten hinzuzufügen, unsinnige Dinge, Bestandteile der Rune, die gänzlich ihr gehörten. Dinge, die der Dämon nicht sehen konnte.

Schweiß perlte über Shams Stirn, als sie darum kämpfte, die Macht des Dämons zu brechen. Nur für einen Atemzug verlor sich der Dämon in einer von Shams nutzlosen Ergänzungen, doch das verschaffte ihr die Zeit, den groben Umriss der Hauptrune zu vollenden. Das übergeordnete Muster gehörte damit ihr, und es gelang ihr, die Zusätze aufzulösen, das Geflecht, das die Schlichtheit der Rune verwässerte, kleine Zugaben sowohl ihres eigenen Gespinstes als auch jenes des Dämons. Damit löste sie die Herrschaft des Dämons über die Bindungsrune vollständig auf.

Kaum war die Macht des Dämons gekappt, erschlaffte Kerim entspannt auf den Laken. Die Hand, mit der sie sich die Haare aus dem Gesicht schob, zitterte vor Erschöpfung. Sie holte tief Luft, löste den letzten Rest der Rune auf und befreite Kerim von jeglicher Bindung. Danach ließ sie ihren Blick prüfend durch den Raum wandern.

Sie hatte damit gerechnet, dass der Dämon ins Zimmer kommen würde, doch das hatte sich als nicht notwendig für ihn erwiesen. So wirkte Magie nicht. Magie – jegliche Magie – unterlag nur wenigen Gesetzen. Eines davon besagte, dass ein Magier nur dann Magie wirken konnte, wenn er körperlich anwesend war … außer der Dämon verfügte in diesem Raum über eine Bündelungsrune.

»Shamera?«, fragte Kerim leise, ohne sich in seiner ausgestreckten Position zu rühren.

»Pst«, brachte sie ihn zum Schweigen und starrte weiter in die Winkel des Zimmers.

Das Runenmal würde irgendwo versteckt sein, vermutete sie. An einer Stelle, auf die ein Magier nicht zufällig schauen würde. Ihr Blick fiel auf Kerims Rollstuhl. Sie rollte sich vom Bett und kippte den Stuhl um.

Beim Klappern des auf dem Boden aufschlagenden Stuhls drehte Kerim den Kopf. »Shamera? Was machst du da?«

»Sag ich dir in einer Minute«, murmelte sie und betrachtete eingehend die Unterseite der Sitzfläche.

Jetzt erwies es sich als einfach, die Bündelungsrune zu finden. Sie war nicht mit Kreide gezeichnet oder eingeritzt worden, wie Sham es gemacht hätte, sondern mit Magie tief eingebrannt, unsichtbar für jeden, der kein Magier war.

Mit einem wüsten Fluch zog Sham den Feuerschirm weg und rollte den Stuhl in den riesigen Kamin. Die Flammen zogen sich von dem Holz zurück, als stieße das Wesen des Mals sie ab.

Shamera hob die Arme über den Kopf und stimmte einen gefühlvollen Sprechgesang an, um das Feuer mit der Kraft ihrer Magie zu unterstützen. Plötzlich schwollen die Flammen an und züngelten mit Heißhunger über den Stuhl. Weder die schwülstige Geste noch der Sprechgesang wären notwendig gewesen, doch beides passte zu gut zu ihrer Stimmung.

Wie dumm von ihr, nicht schon früher eine solche Erklärung für Kerims ›Krankheit‹ in Erwägung gezogen zu haben, vor allem, nachdem das Selkie, Elsic, ihr praktisch gesagt hatte, dass Kerim den Dreh-und Angelpunkt der Angriffe des Dämons darstellte. Menschliche Magie konnte man zwar nicht auf eine solche Weise einsetzen, aber sie hatte ja gewusst, dass sie es mit einem Dämon zu tun hatte. Und sie wusste auch, dass es Kreaturen gab, die sich von Schmerz und Verzweiflung ernährten; jedenfalls hatte der Dämon seine anderen Opfer nicht in körperlichem Sinn verzehrt.

Als sie beobachtete, wie die orangefarbenen Flammen über den Stuhl leckten, dachte sie erneut an die Warnung des Selkies: … mehr, als es seit tausend Jahren etwas begehrt hat.

Sie sprach einen Zauber, der etwaige zusätzliche Runen wie jene aufdecken würde, die sie an Kerim entdeckt hatte, aber es gab keine weiteren im Raum. Eine Bündelungsrune, die gerade nicht benutzt wurde, war weit weniger mächtig als eine selbsttätige Rune und würde sich ihrem Zauber nicht einfach offenbaren, genauso wenig wie jede andere schlichte Rune.

Es gab keinen Grund, eine zweite Bündelungsrune zu vermuten. Solche Runen wurden selten benutzt, und zwar aus demselben Grund, aus dem Hausgeister gemieden wurden – wurden sie zerstört, konnte der Magier, der sie geschaffen hatte, schwer verletzt werden. Unabhängig davon: Wenn das Selkie des Vogts richtiglag, war Kerim für den Dämon wichtig. Sie machte auf dem Absatz kehrt und schritt zurück zum Bett.

»Shamera, warum hast du meinen Stuhl in den Kamin geschoben?« Kerims Stimme klang geradezu unnatürlich vernünftig.

Ohne ihm Beachtung zu schenken, zerrte Sham an dem schweren, daunengefüllten Bezug, der sich am Fußende des Bettes gebauscht hatte. Sie untersuchte ihn gründlich, bevor sie ihn zu Boden warf. Verwünschungen murmelnd begann sie, die Laken wegzureißen, und ihre Hand berührte einen Fetzen des Gewands, das Kerim getragen hatte. Mit ihren verstärkten Sinnen vermochte sie die in den Stoff eingearbeitete Magie beinahe zu sehen.

Die Rune an dem Gewand erwies sich als harmloser; keine Bündelungsrune, sondern eine weitere Bindungsrune. Sie war auch wesentlich schlichter als jene, die an Kerim selbst geprangt hatte. Es handelte sich um ein Symbol der Art, wie man es an einem Tier anbringen würde, damit es nicht davonstreunte. Sie wusste, dass es viel einfacher war, eine solch schlichte Rune in ein stärkeres, mächtigeres Symbol zu verwandeln, als zu versuchen, von Grund auf eines zu erschaffen. Die wahrhaft großen Magier, das war ihr völlig klar, hatten regelmäßig Runen von einer Oberfläche auf eine andere übertragen. Doch das Wissen darum war im Verlauf der Zeit verloren gegangen. Aber vielleicht kannte der Dämon die Methode ja noch. Bis zum Morgengrauen hätte Kerim wieder verhext sein können.

Als Sham mit den Resten von Kerims Gewand auf dem Weg zum Kamin durch das auf dem Boden angehäufte Bettzeug stapfte, stieß ihr Fuß das Messer aus den Falten des Bezugs und ließ es klirrend über den Boden schlittern. Sie hob es auf und setzte den Weg fort.

Die Flammen züngelten infolge der Magie, mit der Sham sie zuvor genährt hatte, immer noch hoch. Als sie zusätzlich das Gewand erhielten, verfärbten sie sich violett und schossen mit solcher Gewalt durch den Rauchabzug empor, dass sich monatealte Asche löste. Der in den Kamin herabrieselnde Ruß wurde von den unnatürlich heißen Flammen verzehrt. Dadurch entstand ein Schauer schillernder Funken, der wie Tausende Sternschnuppen anmutete.

Sham setzte dazu an, zum Bett zurückzukehren, als sie das leise Schrammen der ›Geheimtür‹ hörte, die sich hinter ihr öffnete. Mit der Geschwindigkeit eines unbedingten Reflexes sprang sie zur Seite und hob das Messer in Kampfhaltung an, als sie sich der klaffenden Öffnung in der Wand zudrehte.

Einen Atemzug lang geschah nichts, und sie trat vorsichtig einen Schritt auf den dunklen Gang zu. Das leichte Funkeln von Licht auf Metall war ihre einzige Warnung, als plötzlich ein Schwert durch die Luft schnellte.

Verzweifelt hechtete sie zur Seite und rollte sich über einen hüfthohen Tisch, um diesen zwischen sich und den Besitzer des Schwertes zu bringen. Als ihr Angreifer auf sie zuschritt, zeichnete sich sein Gesicht deutlich im Schein des Feuers ab.

»Ven?«, stieß Kerim ungläubig hervor.

Trotz des Wissens, dass es sich unmöglich um den Bruder des Vogts handeln konnte, konnte Sham nichts an dem Mann entdecken, das unnatürlich wirkte. Da war nicht einmal die Aura von Magie, die sie gespürt hatte, als der Dämon sie neulich in ihrem Zimmer angegriffen hatte.

»Was willst du?«, fragte sie, schnappte sich einen schweren, lederbezogenen Schild von der Wand und hievte ihn dem Golem entgegen, als sie versuchte, mehr Abstand zwischen sich und die Kreatur zu bringen. Das Messer, das sie in der Hand hielt, eignete sich zwar zum Werfen, aber sie wollte es nicht dafür verwenden und so ihre einzige Waffe verlieren.

»Mein. Er ist mein«, zischte die Kreatur, die sich mit Lord Vens Körper kleidete, schlug den Schild mühelos beiseite und rutschte über den Tisch hinweg, der ihr den Weg versperrte.

»Nein«, widersprach Sham, als das Wesen im geübten Ansturm eines Kriegers auf sie zuhielt.

Sie wich drei Schritte zurück und zerknüllte gleichzeitig mit einem Hauch Magie den Teppich unter den Füßen ihres Angreifers. Er stolperte zwar, fing sich jedoch schneller, als sie gehofft hatte: Viele Golems gebärdeten sich äußerst schwerfällig – dieser nicht.

Indem sie herumwirbelte und sich duckte, wich sie ihm aus, und es gelang ihr, ihm mit dem Messer den Arm aufzuritzen, als sie an ihm vorbeihuschte. Sie sah Blut, wusste allerdings, dass der Treffer mehr an Glück denn an Können ihrerseits gelegen hatte.

Er hatte den Vorteil der größeren Reichweite und überlegener Kraft. Shams gemeine Messerstecherfähigkeiten waren bedeutungslos, es sei denn, sie wagte den Versuch, seine Verteidigung zu durchbrechen und ihn in den Nahkampf zu verwickeln. Dass unverhältnismäßig große Körperkraft zu den Eigenschaften eines Golems gehörte, ließ sie eine solche Verzweiflungstat erst gar nicht unternehmen. Wie zur Bestätigung ihrer Gedanken verwandelte ein einziger Hieb des Schwertes einen robusten Eichenholzstuhl in einen zerbrochenen Schatten seiner selbst, und sie beschloss, es stattdessen mit Magie zu versuchen.

Sie begann, einen Bann zu weben, der bewirken sollte, dass sich die Kleider an seinem Leib versteiften und ihn so gefangen setzten. Doch es erwies sich, dass sie dafür eine Spur zu langsam war. Lord Ven stürmte vor und schwang das Schwert auf ihre Kehle zu. Zwar gelang es ihr, den Streich mit dem Messer abzulenken, aber die Wucht des Aufpralls verdrehte ihr schmerzhaft das Handgelenk.

Sham verlor die Herrschaft über die von ihr angesammelte Magie, und der bestickte Stuhl, der nahe des Kamins stand, ging in jähen Flammen auf. Sie wich einen raschen Schritt zurück, und ihr Ellbogen knallte schmerzhaft gegen die Wand – es gab keinen Platz mehr für einen Rückzug.

Schwer atmend duckte sich Sham unter Lord Vens zweitem Hieb hindurch. Als sie unter der Klinge hindurchhuschte, kehrte er den Schwung um und erwischte sie mit dem Schwertknauf heftig an der Rückseite des verletzten Oberschenkels. Der Hieb schleuderte sie zu Boden, wo sie mit betäubender Wucht mit dem Kinn voraus landete.

Da sie mit dem Gesicht nach unten zum Liegen kam, entging ihr, was genau sich als Nächstes ereignete, aber es ertönte ein schriller Aufschrei, gefolgt vom Geräusch scharfen Metalls, das sich in Fleisch bohrte. Hastig robbte Sham vorwärts und drehte sich herum.

Lord Ven stand ihr zugewandt und hatte einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Etwas Dunkles ragte aus seiner Brust. Hinter ihm wankte unstet Kerim – aber er hielt sich ohne Hilfsmittel aufrecht. Sham sprang auf die Beine, als der Vogt in die Knie brach. Schweißperlen auf seiner Stirn zeugten von der Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, sich so lange auf den Füßen zu halten.

Die Kreatur des Dämons sackte schlaff nach vorn. Das mächtige blaue Schwert wurde aus dem Rücken gepresst und gab ein lautes Klirren von sich, als es auf dem Boden landete. Sham starrte auf den regungslosen Körper und rang atemlos nach Luft.

»Bist du auch nicht verletzt?«, stieß Kerim keuchend hervor.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, und das habe ich dir zu verdanken. Viel länger hätte ich mich gegen die Kreatur nicht mehr wehren können.« Sie entschied sich bewusst für die Bezeichnung ›Kreatur‹, um Kerim daran zu erinnern – so es denn nötig sein mochte –, dass es sich bei dem Geschöpf, das er gerade getötet hatte, nicht um seinen Bruder handelte.

Nickend ließ sich der Vogt nach hinten plumpsen, bis er mit dem Rücken an eine schwere Truhe gelehnt auf dem Boden saß. Er legte den Kopf zurück und schloss die Augen.

»Shamera, würdest du wohl Dickon holen? Sein Zimmer ist ein Stück den Flur hinunter. Ich denke, wir könnten seine Hilfe dabei gebrauchen, den Körper zu beseitigen.«

»Ja«, gab sie zurück und runzelte besorgt die Stirn, als sie Kerims blasses Antlitz betrachtete.

Erst auf halbem Weg zur Tür wurde ihr bewusst, dass sie in der rechten Hand immer noch das Messer hielt. Kopfschüttelnd setzte sie dazu an, es auf einen Tisch zu legen. Es ging nicht an, dass die Mätresse des Vogts nachts mit einem Messer durch die Feste lief.

»Shamera!«

Die Eindringlichkeit im Tonfall des Vogts ließ sie jäh herumwirbeln.

Mit Kerims blauem Schwert in einer Hand näherte sich ihr Lord Vens Simulakrum mit verstohlenen Schritten, die in einen linkischen Laufschritt umschlugen, als sie ihre Drehung vollendete. Ohne nachzudenken, duckte sie sich unter seinem Hieb hindurch und stach das Messer der Kreatur tief ins Auge.

»Ausgeburt der Pest!«, spie Sham voll Abscheu hervor, als sie in der Umklammerung der Kreatur zu Boden gerissen wurde. Wild wand sie sich hin und her, bis sie sich von den zuckenden Bewegungen des Körpers befreit hatte, und riss das Messer heraus, um weiterhin eine Waffe zu haben, sollte das Geschöpf sie noch einmal angreifen. »Bei den Gezeiten! Warum kann dieses Ding nicht einfach tot bleiben?«

Bei ihren Worten verschwand der nach wie vor zuckende Körper mit einem lauten Krachen. Zurück blieb nur das blaue Schwert. Shamera sprang auf die Beine, stieß einen wüsten Fluch aus und wischte sich mit dem Rücken der Hand, in der sie das Messer hielt, über die Stirn.

»Kommt es zurück?«, erkundigte sich Kerim in verdächtig ruhigem Tonfall.

Sham schüttelte den Kopf, aber es schwang nicht allzu viel Überzeugung in ihrer Stimme mit, als sie erwiderte: »Ich glaube nicht. Ich gehe Dickon holen.«

»Nein, warte«, widersprach Kerim. »Ich denke … ich brauche eine Erklärung für die Ereignisse dieser Nacht, bevor du gehst. Irgendwie habe ich das Gefühl, mit verbundenen Augen einem Rudel hungriger Wölfe zum Fraß vorgeworfen worden zu sein. Und du kannst damit anfangen, mir zu erklären, was du mit mir gemacht hast, dass ich meine Beine wieder benutzen konnte.«

Sham sank Kerim gegenüber erschöpft auf den Boden. »Ich glaube, ich muss dir erst ein paar Fragen stellen, bevor ich genug verstehe, um dir sagen zu können, was passiert ist.«

Er legte den Kopf schief und brachte das Kunststück zustande, erhaben zu wirken, obwohl ihn nur Schweiß und die leichte, knielange Baumwollhose kleideten, die Cybellern als Unterwäsche diente. Und wäre die Hose ebenso wie das Obergewand mit einer Rune gebrandmarkt gewesen, trüge er nicht einmal so viel.

»Ist irgendetwas komisch?«, fragte Kerim.

Hastig besann sich Sham ihrer Gesichtszüge und räusperte sich. »Wann genau hat dein Rücken angefangen, dir Schwierigkeiten zu bereiten?«

Er zog angesichts der Frage die Augenbrauen hoch, antwortete ihr jedoch, ohne zu zögern. »Ich befand mich auf Reisen, und mein Pferd rutschte auf einer Böschung ab, als wir einen Fluss überquerten. Dabei habe ich mir den Rücken verrenkt. Das war vor acht oder neun Monaten.«

»Talbot hat mir erzählt, dass es in unregelmäßigen Abständen sprunghaft schlimmer geworden ist, nicht stetig fortschreitend.«

Kerim nickte. »Ich bekomme einen schlimmen Anfall wie heute Nacht, und wenn der vorbei ist, fühle ich mich schlechter als davor. Die Muskeln in meinem Rücken pochen ständig, vereinzelt stechen darunter noch heftigere Schmerzen hervor. Meine Beine sind …« Einen Atemzug lang verstummte er, und über seine Züge huschte eine wilde Hoffnung, die er rasch unterdrückte. »Meine Beine waren von der Mitte abwärts gefühllos. Als wären sie in Eis gepackt. Mir war die ganze Zeit kalt.« Eindringlich sah er Sham an. »Bis jetzt war mir gar nicht klar, wie kalt.«

»Jetzt, da es verschwunden ist«, ergänzte Sham mit dem Beginn eines schelmischen Grinsens.

»Jetzt, da es verschwunden ist«, pflichtete er ihr heiser bei. Er schloss die Augen und schluckte, ballte die Hände zu Fäusten.

Sie erbarmte sich seiner, wandte den Blick ab und begann, sich die Geschichte laut zusammenzureimen. »Irgendwie musst du die Aufmerksamkeit des Dämons erregt haben. Ich weiß nicht, warum er entschieden hat, dich auf andere Art anzugreifen als seine übrigen Opfer, oder was er von dir erlangt hat, aber ich kann dir sagen, dass deine Behinderung vom Dämon bewirkt wurde.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

Shamera sah den Vogt an und stellte fest, dass er immer noch damit kämpfte, sich keine zu großen Hoffnungen zu machen.

Sie seufzte laut. »Da du Cybeller bist …« Sie legte auf das Wort eine Betonung, als handle es sich um eine Beleidigung höchsten Ranges, ähnlich wie Kerim es regelmäßig bei dem Ausdruck ›Magie‹ tat. »… muss ich wohl mit einer grundlegenden Lektion in Sachen Magie beginnen. Ich benutze in der Regel Runenmagie, statt mithilfe von Stimme, Gesten und Hilfsmitteln zu zaubern. Runen sind unscheinbarer und halten länger vor.«

In Kerims Stimme schwang ein zarter Hauch von Belustigung mit, als er sie unterbrach. »Was ist eine Rune?«

Sham seufzte ein zweites Mal und sprach äußerst langsam, als hätte sie jemanden vor sich, der sehr jung und ungemein ahnungslos war. »Runen sind …« Sie verstummte und fluchte kurz. »Ich muss es noch einfacher ausdrücken. Ich wusste ja schon immer, dass es einen Grund dafür gibt, warum Zauberer nicht mit Uneingeweihten über Magie reden … hmm. Magie ist eine Kraft, die auf der Welt besteht – wie die Sonne oder der Wind. Es gibt zwei Arten, wie sich ein Kundiger die Magie zunutze machen kann: durch Zaubern oder durch Runen. Beim Zaubern gelangen Gesten mit den Händen, Sprachbefehle und Materialien zum Einsatz, um die Magie zu formen. Je besser ein Magier wird, desto weniger braucht er, um seine Banne zu wirken.«

»Und eine Rune …?«

»Runen sind Muster, die dasselbe bewirken. Für sie sind Können, Genauigkeit und Zeit erforderlich – aber sie halten länger an als Zauber. Sofern Runen keine Beschränkung auferlegt wird, nehmen sie Magie von anderen Quellen auf, sodass der Zauber am Ende mächtiger ist als am Anfang. Wenn die Rune nicht zwischenzeitlich ausgelöst wird. Als du heute Nacht solche Schmerzen hattest, habe ich eine Gesundheitsrune auf deinen Rücken gezeichnet. Dabei hat sich mir offenbart, dass sich dort bereits eine andere Rune befand. Irgendwie ist es dem Dämon gelungen, dich an ihn zu binden. Ich habe jene Rune aufgelöst, aber an deinem Obergewand war noch eine. Außerdem steckte eine Bündelungsrune an deinem Stuhl.«

Kerim rieb sich die Schläfen. »Was ist eine Bündelungsrune?«

»Magier können ohne Hilfsmittel keine Magie über große Entfernungen wirken. Manche Magier bedienen sich dafür eines Tieres, das an sie gebunden ist – eines sogenannten Hausgeists. Verbreiteter jedoch ist die Verwendung einer Bündelungsrune, eines Kennzeichens des Zauberers. Dadurch kann der Zauberer Magie an Orten wirken, ohne selbst dort zu sein. Sowohl eine Rune als auch ein Hausgeist bergen Gefahren, weil ihr Schöpfer bei ihrer Zerstörung verletzt werden kann.«

»Also hast du den Dämon verletzt, und er hat meinen Bruder geschickt.«

Müde verlagerte sie das Gewicht von einem blauen Fleck auf einen anderen. »Wahrscheinlich hat der Dämon den Golem losgeschickt, als er gespürt hat, dass ich mich an der Rune auf deinem Rücken zu schaffen gemacht habe. Zufällig gehen meine Begabungen in die Richtung, Runen zu erschaffen und aufzulösen. Deshalb ist es mir auch gelungen, die Rune zu zerstören, bevor der Golem eintraf.«

Kerim schluckte, stellte jedoch nicht die Frage, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. Stattdessen sagte er: »Ist er tot?«

»Der Golem? Er war nie lebendig, schon vergessen? Ich vermute, dass er noch einsatzfähig ist – sonst wäre der Dämon nie das Wagnis eingegangen, ihn aus diesem Raum wegzubefördern.«

Kerim hatte die Augen wieder geschlossen; sein Mund bildete eine verkniffene Linie, die Hände ruhten gezwungen lasch auf dem Boden, als er leise sagte: »Ich kann zum ersten Mal seit Monaten meine Füße spüren, und die Kälte ist verschwunden. Aber ich habe immer noch wenig Herrschaft über meine Beine, und nach wie vor verspüre ich Schmerzen. Wird es wieder schlimmer werden?«

Sham rieb sich mit den Händen die Augen wie ein müdes Kind, danach gelang es ihr, genug Magie für den kurzen Zauber aufzubringen, der ihr etwaige magische Bande anzeigen würde, die nach wie vor zwischen Kerim und dem Dämon bestanden.

»Er hat keine Macht mehr über dich«, verkündete sie schließlich. »Morgen säubere ich deine Gemächer von etwaigen Rückständen seines Einflusses. Bis dahin solltest du dir einen anderen Platz zum Schlafen suchen. Was den Rest angeht …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin keine Heilerin, aber es würde mich überraschen, wenn du in der Lage wärst, sofort aufzustehen und herumzulaufen. Ich bin durch und durch erstaunt darüber, dass es dir überhaupt gelang, den Golem anzugreifen. Du solltest doch so gut wie ich selbst wissen, dass es genauso verheerend wie die Verletzung selbst ist, herumzuliegen und auf Heilung zu warten.«

Kerim nickte knapp. »Holde Lady, würdest du dann bitte Dickon holen und ihn Talbot herbringen lassen? Es gibt heute Nacht noch viel zu tun – und ich denke, wir vier müssen einen Maßnahmenplan entwickeln.«

Sham nickte und mühte sich auf die Beine. Sie setzte sich in Richtung der Tür in Bewegung, bevor sie sich mit Verspätung daran erinnerte, dass sie nach wie vor nichts als ihr Nachtkleid trug. Sie hob den Bettbezug vom Boden auf und wickelte ihn um sich wie einen Morgenrock, bevor sie das Zimmer verließ.

Als sie durch den Gang trottete, kam ihr der Gedanke, dass Dickon der Dämon sein könnte. Er kannte sich in der Feste hervorragend aus. Und gehörte er nicht zu den von Kerim Erwähnten, die Altis nicht huldigten? Vor seiner Tür blieb sie stehen und zögerte mit dem Anklopfen.

Der Boden fühlte sich kalt unter ihren nackten Fußsohlen an, und Sham schauderte. Doch sie kam zu dem Schluss, dass sie sich nur in den Wahnsinn triebe, wenn sie versuchte, herauszufinden, wer der Dämon war, indem sie sich auf willkürliche Mutmaßungen verließ. Also zwang sie sich, an die Tür zu pochen. Dickon öffnete kurz nach dem ersten Klopfen, gekleidet in einen Morgenrock.

»Herrin?«, fragte er höflich und ließ sich äußerlich in keiner Weise anmerken, dass er es ungewöhnlich fand, um diese Zeit von einer weitläufig mit Blut bespritzten Frau geweckt zu werden, die einen ziemlich großen Bettüberzug trug.

Sham zog den dicken Überzug enger um sich, als könne sie dadurch ihre Füße wärmen oder Dämonen abwehren. »Lord Kerim möchte, dass du Talbot aus seiner Unterkunft holst und mit ihm in die persönlichen Gemächer des Vogts kommst.«

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Dickon und verlor einen Atemzug lang seine berufsbedingte Unverbindlichkeit.

Sie schüttelte den Kopf. »Im Augenblick ist alles in Ordnung. Aber … du könntest vielleicht ein Bettgewand für Kerim mitbringen.«

Dickon musterte einige Lidschläge lang eingehend ihr Gesicht, bevor er nickte und die Tür schloss. Vermutlich um sich anzuziehen.


Als Sham die Gemächer des Vogts wieder betrat, war es Kerim gelungen, sich auf einen Stuhl hochzuziehen. Mit dem Kinn auf den Fäusten schaute er auf, als sie eintrat.

»Geh dich anziehen«, schlug er vor und schwenkte eine Hand in Richtung des verhangenen Durchgangs zu ihrem Zimmer. »Ich rechne damit, dass es eine lange Nacht wird, und die kannst du genauso gut in etwas Warmem verbringen.«

Sham duckte sich wieder unter dem Wandbehang hindurch und öffnete ihre Truhe. Sie sah keine Notwendigkeit, ein Kleid zu tragen, also holte sie stattdessen ihre zweitbeste Arbeitskleidung hervor und schlüpfte hinein. Anschließend frisierte sie sich mit einer Bürste die Haare und wusch sich die Hände.

Unmittelbar bevor sie sich Wasser ins Gesicht spritzte, erhaschte sie im Spiegel einen Blick auf sich und lachte. Nachdem sie auf den Golem eingestochen hatte, musste sie sich wohl mit der Hand über die Wange gefahren sein, denn eine handflächenbreite Blutschliere erstreckte sich darauf vom Ohr bis zum Kinn. Abermals war sie beeindruckt von Dickons gefasstem Verhalten, als sie an seine Tür geklopft hatte.

Gesäubert und angekleidet kehrte Sham mit dem Bettüberzug in Kerims Gemächer zurück und fand den Vogt schlafend vor. Sie legte das Bettzeug auf den Boden und suchte sich leise einen Stuhl in der Nähe der Kleiderschränke. Shamera rutschte mit dem Hintern zum vorderen Rand der Sitzfläche, legte die Füße auf ein Möbelstück in günstiger Nähe hoch und gönnte sich ein gemütliches Nickerchen.

Ein leises Klopfen an der Tür weckte sie, doch bevor sie aufstehen konnte, rief Kerim: »Herein!«

Dickon trat ein, gefolgt von einem beunruhigt wirkenden Talbot. Unmittelbar hinter der Schwelle hielten sie inne und betrachteten das heillose Durcheinander, das aufzuräumen sich weder Kerim noch Sham die Zeit genommen hatten. Stühle, Tische und Glasscherben lagen über den Boden verstreut. Talbot kniete sich neben einen dunklen Fleck und tippte einen Finger hinein.

»Blut«, stellte er nachdenklich fest und rieb den Finger am Hosenbein.

»Nehmt euch Stühle, alle beide«, befahl Kerim knapp. »Dickon, ich würde es als persönlichen Gefallen betrachten, wenn du mein Schwert reinigen und zurück in die Scheide stecken könntest. Ich würde es ja selber putzen, allerdings bezweifle ich, dass ich es im Augenblick besonders ordentlich hinbekäme.«

»Selbstverständlich, Herr«, erwiderte Dickon.

Er reichte Kerim ein sauber zusammengelegtes Nachthemd, bevor er das Schwert aufhob und mit einem Stück Stoff zu wienern begann, das er einer Schublade entnahm. Talbot zog zwei Stühle neben Kerims Sitz und nahm auf einem davon Platz, während sich Kerim in Dickons Nachthemd mühte.

»Sosehr es mir widerstrebt, das zuzugeben, Talbot«, begann Kerim ernst, sobald alle saßen, »aber du hattest recht: Wir haben wirklich einen Magier benötigt.«

Dickon hörte auf, das Schwert zu polieren, und bedachte den Vogt mit einem entsetzten Blick, bevor er anklagend in Shams Richtung schaute. Sie grinste ihn an und deutete auf sich, um ihm unnötigerweise zu zeigen, dass sie den erwähnten Magier verkörperte.

Kerim wandte sich an seinen Kammerdiener. »Dickon, ist dir in den letzten Tagen eine Veränderung am Verhalten meines Bruders aufgefallen?«

»Nein, Herr«, lautete die augenblickliche Antwort.

Kerim nickte und rieb sich müde die Schläfen. »Dachte ich auch, aber ich konnte nicht sicher sein. Ich habe festgestellt, dass meine Aufmerksamkeit nachgelassen hat, seit ich an diesen Stuhl gefesselt bin.«

Talbot und Dickon folgten Kerims Blick zum Kamin, wo die metallischen Überreste seines Rollstuhls einsam und verlassen inmitten der herunterbrennenden Flammen standen.

Kerim räusperte sich. »Nun ja, das scheint im Augenblick nicht das Problem zu sein, oder? Lasst mich ganz am Anfang beginnen, damit Dickon genauso viel weiß wie alle anderen. Euch allen ist bekannt, dass mir die willkürlichen Morde, die in den vergangenen Monaten stattgefunden haben, Kopfzerbrechen bereiten. Als der Mörder anfing, sich verstärkt Höflingen zuzuwenden, wurde offensichtlich, dass er sich am Hof auskennt – sonst hätte jemand bemerken müssen, wie er durch die Gänge wandert.«

»Ich dachte, dein Selkie-Stallbursche hätte mehr mit dieser Erkenntnis zu tun gehabt als die Gewohnheiten des Mörders«, merkte Sham an.

Kerim lächelte matt. »Ja, ich schätze, es war gut, dass wir auf ihn gehört haben, nicht wahr? Talbot hat vorgeschlagen, dass es vorteilhaft sein könnte, wenn wir die Häuser der Adeligen ebenso wie die Wohngemächer in der Feste selbst durchsuchen. Natürlich hätte ich das auch offiziell veranlassen können, nur hätte das unnötige Panik und entbehrliche Verärgerung ausgelöst. Talbot meinte, wir könnten einen Dieb herholen. Ich war damit einverstanden, und er wandte sich an die Flüsterer der Straßen, um einen geschickten Dieb zu finden, bei dem man sich darauf verlassen kann, dass er nicht mehr tut, als nur nachzusehen.«

Sham stand auf und verneigte sich feierlich.

Der Vogt lächelte abermals matt und fuhr fort. »Laut den Flüsterern hegt Shamera einen persönlichen Groll gegen den Mörder. Eines seiner Opfer war ein enger Freund von ihr, und sie hatte ohnehin bereits selbst nach ihm gesucht. Wir haben beschlossen, sie in die Rolle meiner Mätresse schlüpfen zu lassen, um ihr einfachen Zugang zu mir sowie zum Hof zu ermöglichen. Sowohl Shamera als auch Talbot vertreten die Auffassung, dass der Mörder ein Dämon ist. Nicht die Kreaturen, gegen die wir im Sumpf gekämpft haben, Dickon – nein, ein echtes magisches Geschöpf.«

Dickon schnaubte verächtlich und schüttelte traurig den Kopf.

Kerim lächelte. »Das dachte ich zunächst auch. In ihrer zweiten Nacht hier wurde Shamera vom Mörder angegriffen, bekam ihn aber nicht deutlich zu sehen.«

»Die Schnitte, die ich genäht habe, stammten von einem Messer oder einem Schwert; daran war nichts magisch«, warf Dickon kurz ein.

Sham senkte dramatisch die Stimme. »Dämonen sind durch und durch böse, ausgesprochen klug, und sie können Magie besser anwenden als die meisten Zauberer. Sie altern nicht. Sie jagen Menschen der Ernährung und des Vergnügens halber, wenngleich man sich erzählt, dass sie auch Tiere töten. Sie stammen aus einer anderen Welt ähnlich jener, in der die Götter leben, und sie können nur hierher gelangen, wenn sie von einem Magier beschworen werden. Und diese pestverseuchte Kreatur hat mich mit einem Messer angegriffen.«

»Danke«, sagte Kerim mit einem Anflug von Sarkasmus. »Ich bin sicher, du versuchst, hilfreich zu sein, aber Dickon würde es vermutlich ansprechender finden, wenn du die Dramatik auf ein Mindestmaß beschränkst.«

Sham bemühte sich, reumütig dreinzuschauen.

»Zum Zeitpunkt des ersten Angriffs«, fuhr der Vogt fort, »dachte ich auch noch, es wäre bloß ein Mensch, der Shamera töten wollte. Ich sah nur die Messerwunden und nahm an, der Mörder hätte sich sein nächstes Opfer ausgesucht – es passte zu seinem Muster, alle acht oder neun Tage zu töten. Heute Nacht jedoch hat Shamera einen Beweis entdeckt, der mich davon überzeugt hat, dass sie und Talbot recht haben.« Kerim verstummte kurz, doch davon abgesehen ließ er sich keine Gefühlsregung anmerken, als er weitersprach. »Sie hat den Leichnam meines Bruders gefunden, Lord Ven. Ich habe ihn selbst untersucht, und er ist eindeutig seit mehreren Tagen tot.«

»Aber das ist unmöglich«, ergriff Dickon das Wort. »Ich habe ihn erst heute Abend gesehen, als ich Lady Shamera geholt habe.«

»Und dennoch«, gab Kerim zurück. »Sein Leichnam ist im Versammlungsraum neben Shameras Kammer. Dickon, du und Talbot, ihr habt beide genug Schlachten miterlebt, um zu wissen, wie eine Leiche nach ein paar Tagen aussieht; nachdem wir hier fertig sind, könnt ihr euch gerne selbst Gewissheit verschaffen.«

Er holte Luft. »Nachdem ich Ven gesehen hatte, dachte ich, dass Sham und Talbot näher an der Wahrheit sein könnten, als ich vermutet hatte. Als uns der Mann, der das Gesicht meines Bruders trug, später heute Nacht angriff, war ich restlos überzeugt. Sham glaubt, die Kreatur, die uns angegriffen hat, war ein Simulakrum – ein vom Dämon belebtes Geschöpf, das die Identität seiner Opfer annehmen kann. Zusammen ist es Sham und mir gelungen, es zurückzuschlagen.

Unabhängig von der Natur des Mörders haben wir es mit mehreren Problemen zu tun. Das Erste davon ist der Leichnam meines Bruders. Wir sind nicht die Einzigen, die erst unlängst mit Lord Ven gesprochen haben. Wenn wir seinen Körper, so wie er ist, den Priestern übergeben, werden sie auf jeden Fall die Unstimmigkeit zwischen dem Zeitpunkt seines Todes und seinem letzten Auftreten bemerken. Die Unruhen vergangenes Jahr in Fegfeuer werden nur ein harmloser Abklatsch der Hexenjagd sein, die erst stattfindet, wenn sich herumspricht, dass ein Mörder frei herumläuft, der die Gestalt jedes beliebigen Menschen annehmen kann.«

»Besteht denn die Möglichkeit, mit den Priestern vernünftig zu reden? Oder kann man sie bestechen, damit sie Stillschweigen bewahren?«, fragte Sham.

Kerim schüttelte den Kopf, doch es war Talbot, der sie aufklärte. »Unser kleiner Priester, Bruder Fykall, könnte es geheim halten, wenn es nicht ausgerechnet der Bruder des Vogts wäre, der die Lebenssegel gestrichen hat … äh … gestorben ist. So jedoch wird der Hohepriester persönlich den Leichnam vorbereiten wollen, und er hat mit Lord Kerim noch eine Rechnung offen. Es würde ihn ungeheuer freuen, wenn er den Propheten dazu bringen kann, Lord Kerim aus seinem Amt zu entfernen und ihn durch jemanden zu ersetzen, der Altis mehr zugetan ist. Ein großer Aufstand könnte ihm dafür den nötigen Wind in den Segeln verschaffen.«

Kerim lehnte sich auf dem Stuhl vor. »Wir brauchen eine Möglichkeit, um zu verschleiern, wie lange Ven schon tot ist.«

»Wir könnten einen Brand inszenieren«, schlug Dickon vor.

Kerim schüttelte den Kopf. »Wo? Mein Bruder ist selten irgendwo in der Stadt gewesen, und ich bezweifle, dass es innerhalb der Festung einen Ort gibt, der heiß genug brennen kann, um seine Überreste zu vernichten, ohne dabei jemand anderen zu verletzen.«

»Wir könnten ihn ein paar Tage liegen lassen«, meinte Talbot.

»Nein«, widersprach Shamera. »In diesem Klima wird die Leiche schon sehr bald anfangen, zu verwesen. Es wäre auch immer noch zu offensichtlich, wie lange Lord Ven schon tot ist.«

»Aber es könnte klappen, wenn sich niemand genau daran erinnert, wann er Lord Ven zuletzt gesehen hat«, ergänzte Kerim, der jedoch unübersehbar beim Gedanken zögerte, den Leichnam seines Bruders so lange achtlos liegen zu lassen.

»Nein«, meldete sich Dickon zu Wort, konnte jedoch nicht mehr als diesen Einwand beisteuern. Sham wusste, dass ihm Kerim mehr am Herzen lag als der Zustand des Leichnams von Lord Ven.

»Ich werde nicht in einem Zimmer neben dem verrottenden Körper eines Toten schlafen können«, log Sham überzeugend.

Dickon nickte anerkennend über solch damenhafte Befindlichkeiten.

Kerim warf ihr seinerseits einen ungeduldigen Blick zu. »Du hast Ven recht bereitwillig dort zurückgelassen, als du dachtest, wir könnten das Wissen um seinen Tod benutzen, um dem Dämon eine Falle zu stellen.«

Sham tat seinen Einwand mit einer beiläufigen Geste ab. »Das war etwas anderes«, entgegnete sie.

»Was ist mit Magie?«, warf Talbot ein. »Gibt es keine Möglichkeit, dass du Lord Vens Körper wieder steif vor Leichenstarre werden lassen kannst?«

Sham legte nachdenklich den Kopf schief. »Doch, schon. Und ich könnte auch den Blutgeruch verschleiern. Aber davor muss ich mich eine Stunde ausruhen.«

Dickon sah sie an. »Hast du wirklich eine Möglichkeit, das Aussehen eines Körpers zu verändern?«

Sham grinste ihn vergnügt an und antwortete so, wie sie es immer tat, wenn jemand derart offenkundig nicht an Magie glaubte. »Ich habe einige Tricks im Ärmel, die ein cybellischer Wilder allerdings wohl nicht verstehen würde.«

»Taschenspielertricks«, meinte Dickon in nachdenklichem Tonfall dazu.

Irgendwann im Verlauf der vergangenen Stunde hatte Dickon einen Großteil seines Dienergebarens abgelegt. Sham musterte ihn mit verengten Augen. Vielleicht war sie nicht als Einzige gut darin, in andere Rollen zu schlüpfen.

Nach einem weiteren Atemzug zuckte Dickon mit den Schultern. »Wenn es klappt, spielt es keine Rolle, ob es bloße Täuschung ist oder nicht. Aber«, fügte er aufrichtig gekränkt hinzu, »wenn du mich je wieder als Cybeller bezeichnest, Mädel, dann wasch ich dir den Mund mit Seife aus. Ich bin Jarneser.« Womit er nur ein anderes Land im Osten nannte. »Cybeller sind unkultivierte, Rinde fressende Wilde.«

Sham senkte demütig den Kopf und erwiderte mit zuckersüßer Stimme. »Und wenn du mich noch mal als ›Mädel‹ bezeichnest, verwandle ich dich in einen Bitterfisch.«

»Kinder!«, ging Kerim scharf dazwischen, während Sham und Dickon beiderseits zufriedene Blicke tauschten. Der unterschwellige Hauch von Belustigung in seinem Tonfall verflog allerdings, als er weitersprach. »Zurück zum eigentlichen Problem. Shamera, geh und ruh dich aus. Wir wecken dich in einer Stunde, um uns um den Leichnam meines Bruders zu kümmern. Ich bespreche derweil mit Dickon und Talbot die Einzelheiten dessen durch, was wir wissen.«

Sham nickte und stand auf. Als sie dazu ansetzte, sich unter dem Wandteppich hindurchzuducken, folgte ihr Kerims Stimme. »Ich dachte, du könntest nicht in einem Zimmer neben der Leiche meines Bruders schlafen.«

Sie bedachte ihn nur mit einem schlitzohrigen Blick und setzte den Weg in ihre Kammer fort.

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