14

Infolge der Entführung wurden zwei Gardisten vor Shams Tür postiert, zwei weitere im Gang.

»Es ist schwierig, den Dämon zu jagen, wenn ich in meinem Zimmer festsitze«, klagte Sham, als sie auf einem Stuhl in den Gemächern des Vogts saß. »Und gegen den Dämon wären die Wachen wahrscheinlich ohnehin nicht sehr hilfreich.«

Kerim hielt beim langsamen Durchschreiten des Raums inne. Er stützte sich an einem Stuhl ab, um das Gleichgewicht zu halten, zwang aber seine Beine, sein Gewicht zu tragen. »Jeder in der Feste weiß, dass du entführt worden bist, wenn auch nicht, von wem. Wenn ich nicht irgendwelche Maßnahmen ergreife, um deine Sicherheit zu gewährleisten, kommt es zu Gerede. Beschränke deine Nachforschungen eine Zeit lang auf den Hof; in ungefähr einer Woche lasse ich mir einen Grund einfallen, um die Wachen woandershin zu versetzen.«

Sham verschränkte die Arme vor der Brust und tappte missbilligend mit dem Fuß auf den Boden. »Ich habe am Hof bislang noch nichts Interessantes erfahren und kann mir nicht vorstellen, dass sich das in nächster Zeit ändert.«

Kerim bedachte sie mit einem neckischen Blick. »Ich komme heute Abend mit dir. So erhältst du Gelegenheit, zu üben, mich mit besitzergreifender Ehrfurcht anzustarren.«

Sie lachte, und ihr Ärger verflog. »Das gefällt dir, wie?«

»Was glaubst du wohl?«

Sie suchte nach Anzeichen für Belustigung in seinem Gesicht, aber Kerim ging schon wieder weiter. Die Schmerzen und die Konzentration, derer es bedurfte, um seine Beine zu bewegen, verdrängten jede Fröhlichkeit aus seinen Zügen.


Shams heutiges Kleid war aus weinroter Seide gewoben und mit Silber und Gold bestickt – den Farben des Vogts. Obwohl es im Großen und Ganzen züchtig war, schmiegte es sich mit unmodischer Beharrlichkeit an ihre muskulöse Gestalt.

Als sie die Gemächer des Vogts betrat, betrachtete Kerim das Kleid mit einem verwirrten Stirnrunzeln. Dickon, der sich hinter ihr befand, lachte – es klang ein wenig eingerostet, aber es war ein Lachen. Sham lächelte und drehte dem Vogt den Rücken zu. Durch ihr hochgestecktes Haar zeichnete sich der kunstvoll auf den Rücken des Kleids gestickte Leopard deutlich sichtbar ab. Es war ein Aufzug, der vielleicht für eine Ehefrau geeignet gewesen wäre. Aber von einer Mätresse getragen stellte das Kleid eine himmelschreiende Zurschaustellung ihrer Macht dar – sofern Kerim zu kichern aufhörte, bevor sie den Hof betraten.

»Mehrere meiner Berater sind der Ansicht, ich hätte dich zu viel Einfluss auf meine Entscheidungen erlangen lassen. Ich kann es kaum erwarten, ihre Gesichter zu beobachten, wenn sie dein Kleid sehen.«

Sham setzte einen nichtssagenden Blick auf und ließ ihren Südwald-Akzent deutlich durchklingen. »Dir gefällt das Kleid? Ich mag Großkatzen – sie sind so wild und prachtvoll, findest du nicht auch?«

»Mir käme nie in den Sinn, dir zu widersprechen, meine Liebe«, erwiderte der Vogt lachend und schob seinen Stuhl durch die von Dickon offen gehaltene Tür.


Das Kleid verursachte ein befriedigend missbilligendes Stirnrunzeln seitens der konservativen Lords aus dem Osten, nachdenkliche Blicke bei mehreren Frauen und abwägend lächelnde Mienen in den Reihen der Gesandtschaft aus Südwald – unter denen sich auch Halvok befand. Sham verbrachte den Abend damit, nicht vorhandene Falten aus Kerims Tunika zu glätten und verschiedene Teile seines Körpers zu streicheln, sehr zu seiner Belustigung.

Spät am Abend erschien Lady Tirra mit Lady Sky im Schlepptau. Kerims Mutter begrüßte Sham diesmal ohne die sonst übliche Frostigkeit. Zu Shams Entzücken sorgte das für mehr Aufsehen in der Gerüchteküche als das Kleid; obwohl Lady Sky ein wenig verwirrt darüber wirkte.

Nach der Begrüßung seiner Mutter wandte sich Kerim an Sky. »Du siehst heute wunderschön aus.«

Sie lächelte liebenswürdig und trat näher an den Vogt heran, sank vor ihm auf die Knie. Es handelte sich um eine altertümliche Geste, die von den Adeligen Südwalds benutzt wurde, wenn sie beim König als Bittsteller auftraten – Lady Sky vollführte sie mit vornehmer Anmut. Der Hof wurde stiller, als die in der Nähe stehenden Anwesenden ihre Haltung bemerkten.

Sham sah, wie sich Kerims ohnehin dunkle Haut rötete, als er sagte: »Steh auf, Lady Sky. Das ist nicht nötig.«

Gehorsam erhob sie sich und blickte mit ernster Miene ins Gesicht des Vogts. Als sie sprach, herrschte im Raum solche Stille, dass ihre Worte für die meisten gespitzten Ohren zu hören waren. »Ich möchte dir danken, mein Lord Kerim – für die Unterstützung, die du mir vor zwei Nächten gewährt hast. Ich schulde dir mehr, als ich auszudrücken vermag.«

Kerim verlagerte unbehaglich das Gewicht. »Du hast Fahill in seinen letzten Tagen sehr glücklich gemacht, Lady Sky – und meinen Bruder auch. Du schuldest mir nichts.«

Lady Sky lächelte und schüttelte den Kopf. Ihr gesamter Körper erbebte unter der Eindringlichkeit der Geste. »Ich schulde dir alles.«

Sham hoffte, dass man ihr den Anflug von Eifersucht, der sie die Rückenlehne von Kerims Stuhl fest packen ließ, nicht anmerkte. Nicht weil ein solches Verhalten für die Mätresse des Vogts unangemessen gewesen wäre, sondern weil sie dieses Gefühl lieber für sich behalten wollte. Sie brauchte Sky nur anzusehen, um zu wissen, dass die Lady aus Südwald Kerim liebte. Sie wusste auch, dass Sky viel besser zum Vogt passte, als es eine Diebin aus Fegfeuer je konnte.


Die nächsten Tage entschuldigte sich Sham bei Hofe und sagte Kerim gegenüber, sie versuche herauszufinden, wie man den Dämon vernichten könnte. Es gelang ihr sogar, die Bestattung des Hohepriesters zu meiden.

Da Kerim sein schlechter Gesundheitszustand nicht mehr plagte, auch wenn er den Rollstuhl in der Öffentlichkeit weiterhin verwendete, spukte er rastlos durch den Hof. Er hoffte, Unterstützung für eine Reihe von Gesetzesvorschlägen bei den Adeligen aus dem Osten zu erlangen. Zwar ging er davon aus, dass das Unterfangen zum Scheitern verurteilt war, hegte aber die Hoffnung, dass es die Ostländler vielleicht erschrecken und dazu bewegen könnte, ihre starre Haltung bei anderen hart umkämpften politischen Schlachten zu lockern.

Lady Sky wich nicht von seiner Seite, weder bei der Bestattung noch am Hof – sowohl die Flüsterer als auch Halvok sorgten dafür, dass Sham darüber informiert war. Letzterer hatte sich sogar bemüßigt gefühlt, sie für ihren Mangel an Bemühen zu schelten.

Vor Halvok wahrte sie den Schein, Kerims Mätresse zu sein, denn das war der Hauptgrund dafür, dass er ihnen half. Halvok mochte Kerim, aber gleichzeitig hasste er die Ostländler mit einer Inbrunst, der gleichzukommen sogar der Hai Mühe gehabt hätte. Allerdings wusste der Zauberer seinen Hass gut zu verbergen. Shams angebliche Position verlieh ihm die Möglichkeit, beiden Empfindungen gerecht zu werden.

»Warum missbilligt Ihr es?«, hatte Sham ihn gefragt. »Sky ist genau, was Ihr braucht – und sie ist dazu geeignet, dass Kerim sie zu seiner Gemahlin erkürt. Ich bin bloß eine Diebin, die ein wenig Magie wirken kann – und wäre das gemeinhin bekannt, könnte der Vogt sich den Lebensunterhalt fortan als Fischer verdienen, weil er mich zu seiner Mätresse erkoren hat.«

Halvok hatte daraufhin den Kopf geschüttelt und erwidert: »Lady Sky ist eine anmutige und wunderschöne Frau – und genau darin besteht das Problem. Sie würde sich ebenso wenig wie jede andere Lady aus Südwald, die ich kenne, die Hände mit Politik schmutzig machen. Du hingegen würdest sogar Altis die Stirn bieten, wenn du etwas willst – und du weißt, wie das Leben in Südwald für die Einheimischen ist. Kerim kümmert es genau so viel« – er schnippte mit den Fingern – »was der Hof von seinem Privatleben denkt, und mir ist nicht entgangen, wie er dich ansieht.«

Sham hatte darüber gelacht – aber es hatte einen sauren Geschmack in ihrem Mund hinterlassen. »Er ist ein guter Schauspieler geworden. Kerim weiß besser als Ihr, was ich bin – ich bin eine Diebin, Lord Halvok, und zwar schon mein halbes Leben. Ich habe nur noch sehr wenig mit der Tochter des Hauptmanns der Garde gemein, die ich vor dem Einmarsch war, und selbst sie hätte nie das ehrgeizige Ziel gehabt, sich zur Herrscherin von Südwald aufzuschwingen. Ich glaube, Ihr unterschätzt Lady Sky – und Ihr könntet ihr Leben am Hof wesentlich erträglicher gestalten, als es das derzeit ist.«

Er hatte dazu nur die Augenbrauen hochgezogen und gemeint: »Tochter des Hauptmanns der Gardisten – ich dachte, er sei von adeliger Geburt gewesen …« Darin hatten so vielsagende Andeutungen mitgeschwungen, dass sie ihn genervt aus ihrem Zimmer verscheucht hatte.


Sham brütete über Maurs Buch und versuchte, darin irgendetwas Nützliches über den Dämon zu finden. Lord Halvok hatte recht gehabt. Der einzige Zauber, den es enthielt, um einen Dämon dauerhaft loszuwerden, erforderte ein Menschenopfer. Ohne ein solches fiel ihr keine Möglichkeit ein, wie die Macht für einen solchen Zauber aufzubringen wäre.

Talbot hielt Wort und verhörte sämtliche Bedienstete der Feste unter dem Vorwand, eine Halskette finden zu wollen, die angeblich aus Lady Tirras Schmuckkassette verschwunden war. Die meiste Zeit ließ er Elsic währenddessen bei Sham.

Wann immer Dickons Dienste vom Vogt nicht benötigt wurden, schloss er sich ihnen an, und Sham begann, ihm die Grundlagen der Magie beizubringen. Den Großteil dieses Vormittags hatte sie mit dem Versuch verbracht, Dickon zu zeigen, wie man ein Magierlicht herstellte. Es war ein einfacher Zauber; Sham konnte die Macht spüren, die unter den stirnrunzelnden Zügen des Mannes schwelte, nur gelang es ihm nicht, sie zu nutzen.

»Du denkst zu viel darüber nach«, befand Sham gereizt.

»Tut mir leid«, murmelte er und wischte sich über die Stirn.

»Shamera«, ergriff Elsic das Wort und zupfte leise einige Akkorde auf den Saiten der alten Harfe.

»Hm?«

»Warum wurden Dämonen überhaupt von dort hergeholt, wo sie hingehören? Was war ihr Zweck?«

Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Ich glaube, es war ein Versuch, mehr Macht zu erlangen. Es gibt Geschichten darüber, dass Dämonen ihren Magiermeistern die Geheimnisse verschiedener Zauber und Runen anvertraut haben. Obwohl ich denke, dass der Mann den Tod verdient, der sich auf das Wort eines Sklaven darüber verlässt, wie man einen Bann anpasst. Nun, zweifellos wird der Tod ihn auch ereilt haben. Wichtiger war aber wahrscheinlich, dass ein Dämon als Machtspeicher dienen kann – wie die Flöte, die du in der Truhe gefunden hast, eine Möglichkeit, die sicherer ist für den Magier. Der Zauberer entsendet ihn, um zu töten und …«, sie zögerte, weil er so jung und unschuldig aussah, wie er dort mit der Harfe auf dem Schoß am Rand ihres Bettes saß, »… um weitere Dinge zu tun, durch die Magie entsteht, die ein Magier dann verwenden kann.«

»Was für andere Dinge?«, hakte Dickon nach.

»Sex«, antwortete der junge Unschuldige auf dem Bett mit einem breiten Grinsen.

»Ich mache mich wieder an die Arbeit«, murmelte Sham, schnappte sich das Buch vom Sitz neben ihr und schlug es heftiger auf, als der uralten Bindung guttat. Elsic stimmte – ziemlich pointiert, wie Sham fand – ein Kinderlied an, während Dickon erneut versuchte, Licht aus Magie zu formen.

Der aufgeschlagene Abschnitt handelte nicht von Dämonologie, aber Sham begann trotzdem, ihn zu lesen. Der Verfasser ging darin auf die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Zauberern ein. Sham neigte dazu, all das für Unsinn zu halten – sie hatte noch nie bemerkt, dass sich ihre Macht mit dem Mond und den Gezeiten veränderte. Dafür war ihr sehr wohl aufgefallen, dass die meisten derartigen Abhandlungen von Männern geschrieben wurden.

… Die Macht einer Frau ist stärker an ihren Körper gebunden als die eines Mannes. Die Verwendung starker Magie kann sich schädlich auf eine Frau auswirken – deshalb ist es besser, wenn sich Frauen weiblicher Magie widmen und die großen Zauber ihren männlichen Gegenstücken überlassen … Es gibt Zeiten, in denen die Magie einer Frau sehr stark ist. Wenn sie in anderen Umständen ist, wächst ihre Macht zusammen mit dem Kind, das sie in sich trägt – und ähnlich wie der Tod ermöglicht ihr die Geburt, Magie zu wirken, die ihre gewöhnlichen Fähigkeiten weit übersteigt.

Sham spürte, wie sich ihre Lippen höhnisch verzogen. Von wegen ›die großen Zauber den männlichen Gegenstücken überlassen‹. Bei allen süßen kleinen Fischlein in den Gezeitentümpeln – einen solchen Unfug hatte sie noch nie gehört.

Angewidert warf sie das Buch beiseite und ergriff das andere, das sie von Halvok erhalten hatte. Sie hatte es noch nicht geöffnet, da sie sich zuerst konzentriert der Dämonologie gewidmet hatte. Also begann sie nun mit der ersten Seite.

Runen fesselten sie, da sie zugleich wunderschön und wirkungsvoll waren. Der Zauberer, der das Musterbuch einst zeichnete, hatte eine feine Hand besessen. Sein Stil machte es einfach, sich vorzustellen, wie die Runen zusammengesetzt aussehen würden. Runen, die für Musterbücher gezeichnet wurden, waren bewusst in einzelne Teile untergliedert, sodass sie machtlos blieben – andernfalls wäre ein solches Buch gar nicht möglich gewesen. Sham ließ sich Zeit und bewunderte die Genauigkeit jeder Linie mit einer Anerkennung, die der Erfahrung entsprang, schon weit weniger sorgfältig dargestellte Muster verwendet zu haben.

Ihr knurrender Magen machte sie darauf aufmerksam, wie die Zeit verging, doch sie blätterte noch eine Seite weiter – und da war sie: die Rune, die sich auf Kerims Rücken befunden hatte. Sham überflog die Seite dahinter. Bindungsmagie, ja, davon hatte sie bereits gehört. Sie war dafür gedacht, Kraft vom Gebundenen abzusaugen und sie dem Schöpfer der Rune zuzuführen. Richtig, das hatte sie gewusst – oder zumindest geahnt. Dann hielt sie inne und überflog mit dem Finger die Seite.

… kann nur auf Einladung des Gebundenen angebracht werden – wenngleich eine solche Zustimmung nicht ausdrücklich gewährt werden muss, sondern auch in Form ausgeprägter Freundschaft, körperlicher Nähe oder seelischer Verbundenheit vorliegen kann. So ist es dem Schöpfer möglich, seine Lieben, Diener oder Bettgefährten ohne deren Wissen mit dieser Rune zu zeichnen.

Sham rieb sich die Nase und hörte auf zu lesen. Der Dämon war demnach jemand, der Kerim nahestand; oder jemand der zu dem Zeitpunkt, als die Rune angebracht wurde, das Erscheinungsbild eines solchen Menschen innegehabt hatte. Nach allem, was sie gelesen hatte, bestand durchaus die Möglichkeit, dass der Dämon seinen Golem-Körper benutzt hatte, um die Runen anzubringen.

Fahill, fiel ihr ein, war ein enger Freund gewesen. Er war ungefähr zu der Zeit gestorben, als Kerim krank geworden war. Konnte sich Fahills Tod schon früher ereignet haben, sodass der Golem seinen Platz eingenommen hatte? Oder war es jemand anderes?

Was sie vor allem anderen tun musste, war, Kerim danach zu fragen, was sich in Fahills Burg abgespielt hatte. Keine Aufgabe, auf die sie sich freute, aber es würde den Kreis der Verdächtigen vielleicht einschränken und sie dem Zeitpunkt näher bringen, zu dem sie die Feste verlassen konnte. Ihn verlassen konnte.

Es wäre am besten für sie, wenn sie den Dämon bald fänden, denn dann könnte sie zurück nach Fegfeuer gehen – oder vielleicht ein wenig reisen.

Mehrere Minuten lang starrte sie auf das Buch, bevor sie sich rastlos erhob. Elsic, der den Saiten der Harfe gerade harmonische Akkorde entlockte, schaute auf, wandte jedoch die Aufmerksamkeit wieder seiner Musik zu, als sie nichts sagte. Dickon konzentrierte sich dermaßen auf den kleinen Lichtschimmer in seiner Hand, dass mehr als das Geräusch ihrer Bewegung notwendig gewesen wäre, um ihn abzulenken.

»Ich sehe mal nach, ob ich der Küche etwas abluchsen kann. Bleib hier bei Dickon, ich bin gleich zurück«, sagte Sham. Sie wollte mit Kerim reden, bevor sie mit irgendjemand anderem über ihre Entdeckung sprach.

Elsic lächelte und spielte weiter; Dickon nickte und starrte ungebrochen auf den flackernden Funken Magie, den er in der Hand hielt.

Sham ging zu der Tür, die erst seit dem Vortag den Wandteppich ersetzte. Sie rechnete nicht damit, dass Kerim da sein würde – in den letzten Tagen war er häufiger unterwegs als in seinen Gemächern –, aber sie wollte nicht mit den zwei Gardisten durch die Gänge wandeln, die an ihrer Außentür Dienst versahen.

Die neu eingehängte Tür öffnete sich geräuschlos, und Sham zog sie hinter sich zu. Sie trat einen Schritt auf die Außentür zu, als das Knarren von Leder ihre Aufmerksamkeit zum Bett lenkte.

Das Erste, was ihr auffiel, war Kerims leerer Stuhl. Sie erlebte einen Augenblick der Verwirrung, bevor ihr klar wurde, dass sich Kerim im Bett befand … und zwar nicht allein. Sofern sie sich nicht irrte, gehörte der schlanke, in Seide gekleidete Rücken, der aus der Bettwäsche über Kerim aufragte, Lady Sky.

Es schmerzte mehr, als Sham für möglich gehalten hätte. Lautlos sog sie den Atem ein. Würde bewahren, mahnte sie sich, wie es ihr von ihrer Mutter beigebracht worden war. Wenn das Leben die Erwartungen nicht erfüllte, war es wichtig, das mit Würde zu ertragen. Ihr Vater hatte dasselbe gesagt, wenngleich auf andere Weise: Leck deine Wunden im Verborgenen, damit deine Feinde nicht sehen, wo du verwundbar bist.

Wenn …, dachte sie, als sie lautlos zu ihrer Tür zurückkehrte. Wenn Sky doch nur nicht so wunderschön und keine Freundin wäre. Dadurch wurde es noch schwerer, da Sham durchaus verstand, was Kerim in Sky sah.

Sie wandte sich schon ab, um die beiden allein zu lassen, als ihr ein kurzer Textabschnitt einfiel, der ihr den Atem stocken ließ. ›Körperliche Nähe‹ hatte im Buch gestanden. Sie zögerte und fragte sich, ob sie ihre Gedanken von Eifersucht beeinflussen ließ.

War Lady Sky der Dämon?

Rasch suchte sie nach Einwänden gegen diese Vermutung. Dämonenwirtskörper wurden mit einer Todesrune gebunden, die nicht entfernt werden konnte – und die jegliche Nachkommen des Wirtskörpers tötete, bevor sie sich entwickeln konnten. Sky war in den vergangenen zwei Jahren zweimal schwanger gewesen.

Wie konnte ein Dämon einer Todesrune entgegenwirken?

Indem er das Kind mit Lebensmagie abschirmte. Dafür wäre eine gewaltige Menge an Macht erforderlich, obwohl der Zauber an sich nicht allzu schwierig war. Sky hatte eine Fehlgeburt erlitten, nachdem Sham die Dämonenrune von Kerim entfernt hatte – eine Rune, die Kerim das Leben abgesaugt hatte.

Die Mühelosigkeit, mit der sie diese Antwort fand, entsetzte Sham. Sie suchte rasch nach weiteren Gründen, weshalb Sky der Dämon sein könnte.

Sky war in Kerims Umfeld gewesen, als Fahill starb. Dem Gesichtsausdruck nach, den sie bei Kerim gesehen hatte, hielt es Sham durchaus für möglich, dass eine Art körperlicher Nähe zwischen ihnen bestanden hatte. Sie verkörperte alles, was sich ein männlicher Zauberer von einem Wirt für einen Dämon wünschen konnte: Sie ließ sich wunderbar als Sexgespielin einsetzen, um Magie aufzubringen; war wunderschön, liebenswert und … in Kerims Bett. Die Einzelheiten konnte Sham später ausarbeiten.

Sie drehte sich der Verbindungstür zu und öffnete sie geräuschlos. Dann warf Sham sie so heftig zu, dass die glänzenden neuen Angeln protestierten – nur die Götter wussten, was sich Elsic und Dickon denken mochten. So erweckte sie den Anschein, sie hätte den Raum zum ersten Mal betreten.

Sham sog lautstark den Atem ein, als wäre sie zutiefst empört, dann kreischte sie wild, als sie auf das Bett zustürmte. Mit verhaltener Belustigung stellte sie fest, dass sie ihre Wut gar nicht vorzutäuschen brauchte. Als der Lärm mit nahezu der Wirkung von Trompetenstößen durch die Steinmauern des Raumes hallte, wirbelte Sky ruckartig herum und offenbarte den Blick auf die gelösten Schnüre ihres Mieders.

Aufgrund von Lady Skys vergleichsweise sittsamem Zustand hoffte Sham, dass die beiden noch keine Zeit gehabt hatten, ihre Vereinigung zu vollziehen. Sie dankte den Mächten, dass sie nicht lang genug allein gewesen waren, wenngleich der benommene Ausdruck in Kerims Augen nichts Gutes verhieß. Er hatte den Blick nicht einmal von Sky abgewandt. All ihre Zweifel verpufften – er glich keinem Liebhaber, der erschrocken durch eine unerwünschte Störung war, sondern einem Mann in den Klauen eines Bannes.

»Miststück!«, kreischte Sham und ging voll in ihrer Rolle als Lady Shamera auf.

Sie packte den Krug mit frischem, kaltem Wasser, der in einsamer Pracht auf einem kleinen Tisch in praktischer Reichweite neben dem Bett des Vogts stand. Sham erfasste den oberen Teil mit einer Hand und den unteren mit der anderen, dann leerte sie den Krug über dem Bett aus, größtenteils in Kerims Gesicht, bevor sie sich auf die hüfthohe Liegefläche hievte.

Mit dem leeren Porzellangefäß in der Hand balancierte sie auf der Bettkante. Zu ihrer Erleichterung setzte sich Kerim langsam auf und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren; der stumpfe Ausdruck der Verzauberung wich aus seinen Augen. Lady Skys Lippen verzerrten sich vor blanker Wut.

Sham wusste, dass sie sich wie eine Wahnsinnige gebärdete, doch genau diese Wirkung wollte sie erzielen. Sie musste sich wie eine verschmähte Frau benehmen, die eine andere im Bett ihres Mannes vorgefunden hatte – nicht wie eine entsetzte Magierin, die auf einen Dämon gestoßen war. Genau genommen war sie beides, doch sie verdrängte ihre Angst durch die Hoffnung, dass der Dämon nicht gewillt sein würde, seine Tarnung aufzugeben.

Sie hatte keine Zeit für einen richtigen Plan gehabt, aber der Krug eignete sich praktisch als Waffe, und sie zerschlug ihn an einem der Bettpfosten. Das zerbrochene Porzellan war nicht scharf genug, um besonders wirksam zu sein, trotzdem würde sich die gezackte Kante zweifellos in weiche, weiße Haut bohren und Narben hinterlassen. Gegen einen Dämon, der sich auf die Schönheit seiner Gestalt verließ, um seine Opfer anzulocken, konnte das so verheerend wie ein Dolch sein.

Sham stürzte sich auf Lady Sky – die ihr auswich, indem sie sich mit einer Geschwindigkeit vom Bett rollte, um die Sham als Diebin sie beneidete. Sham bekam die Füße unter sich und hechtete Sky erneut entgegen, wurde jedoch von einem festen Griff um ihren Arm zurückgehalten.

»Shamera …« Kerims Stimme klang lallend und verwirrt.

»Hure!«, kreischte Sham, kämpfte gegen Kerims Umklammerung an und schwenkte den zerbrochenen Krug wild durch die Luft. Lady Sky wich einen Schritt zurück. Den ersten Anflug von Erleichterung verspürte Sham, als die entschlossene Miene in Lady Skys Gesicht einem Ausdruck von Angst wich, die der Dämon nicht empfand, davon war Sham überzeugt. Welcher Dämon würde sich schon vor einer Wahnsinnigen fürchten, die ein zerbrochenes Stück Keramik schwenkte?

»Hexe«, klagte Lady Sky sie an und schaute flehentlich zu Kerim. »Sie hat dich mit einem Bann belegt, Kerim, jeder weiß es. Man munkelt, sie beherrscht dich, nur du merkst es nicht.«

»Schamloses Miststück«, schleuderte Sham giftig zurück. »Wenn ich dich noch einmal in seinem Bett erwische, gehören deine Knochen mir! Kannst du keinen eigenen Mann finden?« Im Gegensatz zu dem damenhaften Tonfall der anderen Frau hätte Shamera mühelos einen Schreiwettbewerb gegen die Fleischhöker in Fegfeuer gewonnen.

»Geh, Sky«, meldete sich Kerim unverhofft zu Wort. »Ich kümmere mich um das hier. Aber du solltest vorläufig besser gehen.«

Lady Sky hob das Kinn, machte auf dem Absatz kehrt, zog von dannen und schloss die Tür hinter sich. Leise. Sham hielt ihre Pose noch einen Atemzug lang aufrecht, bevor sie die Überreste des Krugs zu Boden fallen ließ und sich mit zittriger Hand übers Gesicht fuhr.

»Du kannst mich jetzt loslassen«, teilte sie Kerim mit.

Er zögerte, aber da sie keine plötzlichen Bewegungen machte, als er den Griff lockerte, gab er sie schließlich vollständig frei.

»Was sollte das alles?«, fragte er mit nach wie vor benommener Stimme.

Sham sprach, ohne ihn anzusehen. »Ich glaube, ich habe den Dämon gefunden.« Sie hatte nicht vorgehabt, es ihm zu sagen, ehe sie nicht Beweise zur Untermauerung besaß – oder ihre Gedankengänge zumindest klar genug geordnet hatte.

Einen Atemzug lang reagierte er überhaupt nicht, griff sich nur die Bettwäsche und benutzte sie, um sich das Wasser aus dem Gesicht zu wischen. »Ich fühle mich, als hätte ich eine Nacht hinter mir, in der ich mich selbst unter den Tisch getrunken habe. Warte einen Augenblick, bis ich mich gesammelt habe.«

Nach einer Weile schaute er zu Sham auf, die immer noch auf dem Bett stand. »Dringende Neuigkeiten hin, dringende Neuigkeiten her, ich muss mich dafür bedanken, dass du mich davon abgehalten hast, etwas sehr Dummes zu tun. Sky ist noch nicht über Fahills Tod hinweg – geschweige denn über den von Ven. Was sie im Augenblick überhaupt nicht brauchen kann, ist, sich auf jemand Neuen einzulassen.«

Benommen schüttelte er den Kopf. »Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, wie ich hier gelandet bin. Das Letzte, woran ich mich deutlich erinnere, ist, dass ich in den Gemächern meiner Mutter mit ihr und Lady Sky gegessen habe. Ich muss wohl zu viel getrunken haben, obwohl mir das schon seit Jahren nicht mehr passiert ist.«

Sham schürzte die Lippen. »Das war kein Alkohol, Kerim, es war Magie.«

Er betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Wie dieser Liebestrank, den du gedroht hast, einem meiner Gardisten zu geben?«

»Vielleicht. Kerim, ich kann mich nicht erinnern, ob du es mir je erzählt hast – wie ist Lady Skys Ehemann gestorben?«

»Die Schwindsucht.«

Sham hielt sich an einem der hohen Bettpfosten fest, als Kerim das Gewicht verlagerte und die Matratze unter ihr zum Schaukeln brachte. Ihre Gedanken rasten ihr voraus, fügten die Teile zusammen. »Sag, Kerim, könnte das Kind, das sie gerade erst verloren hat, von dir gewesen sein?«

Seine Züge erstarrten, aber nach einer kurzen Weile nickte er. »In der Nacht, in der Fahill gestorben ist, sind seine Angetraute und ich bis lange in die Nacht hinein auf gewesen, haben getrunken und geredet. Sie war verstört, auch weil sie erst zwei Monate davor eine Fehlgeburt erlitten hatte. Als ich aufwachte, lag ich in ihrem Bett. Viel weiß ich nicht mehr von jener Nacht – aber als sie schwanger wurde, kam ich ins Grübeln.«

»War es auf dem Rückweg von Fahills Bestattung, dass dein Pferd gestolpert ist und du dir den Rücken verrenkt hast?«

»Ja«, antwortete Kerim.

»Lady Skys Fehlgeburt fand, kurze Zeit nachdem ich die Herrschaft des Dämons über dich gebrochen habe, statt«, sagte Sham.

»Warte«, warf er ein und hob eine Hand. »Willst du mir etwa weismachen, Lady Sky sei der Dämon?«

Sham nickte.

Er schloss die Augen und ließ es sich durch den Kopf gehen, eine bessere Reaktion, als sie erwartet hatte. Als er die Lider letztlich öffnete, betrachtete er, wie sie argwöhnisch an der Ecke seines Bettes kauerte, und schwenkte ungeduldig die Hand.

»Setz dich, du machst mich ganz schwindlig.«

Sham kam der Aufforderung nach und schlug die Beine unter – wobei sie ein wenig Abstand zwischen ihm und sich wahrte. Nachdem sie sich niedergelassen hatte, sagte Kerim: »Ich gebe es ungern zu, aber sie kommt wohl genauso gut infrage wie jeder andere. Ein Teil von mir möchte behaupten, dass eine Frau zu solchen Dingen nicht in der Lage ist, aber ich habe gegen Frauen in den Söldnertruppen bei Sianim ebenso gekämpft wie gegen weibliche Krieger bei Jetaine – in beiden Fällen ist uns nie mehr als ein Patt gelungen.«

Sham grinste flüchtig. »Ich muss zugeben … wäre Sky ein Mann, hätte ich sie mir schon früher viel eingehender angesehen.«

»Was macht dich jetzt so sicher?«, wollte er wissen.

Sham fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Die Möglichkeit kam mir überhaupt erst in den Sinn, als ich hier hereingeplatzt bin. Ich bin ursprünglich gekommen, um mit dir über etwas zu reden, das ich gerade gelesen hatte, in …« Plötzlich verlor sie den Faden, als sich einige weitere Teile zusammenfügten und sie erkennen ließen, was genau der Dämon zu erreichen versuchte.

»Einem Buch?«, schlug Kerim nach einem Atemzug vor.

»Eigentlich Büchern. Ich lese gerade in den beiden, die mir Lord Halvok gegeben hat. Ich bin hergekommen, um nach dir zu suchen, weil ich etwas entdeckt habe, demzufolge der Dämon jemand sein muss, dem du vertraust«, erklärte sie. »Als ich Sky hier sah, haben alle Teile zusammengepasst.«

Sie rieb mit der Hand über eine feuchte Stelle auf dem Bettzeug. »Du weißt, dass Dämonen von einem anderen Ort hierher gerufen werden – beschworen von einem Magier und in einen Bund gezwungen. Sie werden zu Sklaven der Wünsche ihrer Meister gemacht. Wenn der Meister stirbt, stirbt auch der Dämon – es sei denn, es gelingt ihm, den Magier selbst zu töten. Und das ist, was unser Dämon geschafft hat. Wenn du der Dämon wärst, was würdest du wollen?«

»Vergeltung?«

Sham schüttelte den Kopf und schaute auf das Bettzeug. Sie fühlte sich müde: zu viele Gefühle, zu viel Denken. »Ich wurde einst aus meinem Heim gerissen und hineingeschleudert in eine mir fremde, gefährliche Welt. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Ich wollte Vergeltung, ja, aber was ich mehr als alles andere wollte, war, nach Hause zurückzukehren.«

Er legte eine Hand auf die ihre.

Da schaute sie zu ihm auf und schenkte ihm ein verhaltenes Lächeln. »Ich könnte mich irren, aber hör mir zu, und entscheide dann selbst. Anfangs dachte ich, der einzige Weg für den Dämon, in seine eigene Welt zurückzukehren, bestünde darin, einen Schwarzmagier zu finden, der ihn zurückschicken kann. Aber der Dämon müsste sich dabei verwundbar für den Magier machen. Und für den Magier wäre es dann viel einfacher, den Dämon zu versklaven. Schwarzmagier sind von Natur aus nicht ehrenwert. Wäre ich der Dämon, würde ich lange zögern, bevor ich einem von denen meine Freiheit anvertraue.«

»Warte«, warf Kerim ein. »Dieser Dämon wirkt doch Magie. Gibt es einen Grund, warum er sich nicht selbst zurückschicken kann?«

Sham nickte. »Schwarze Magie ist nicht so einfach zu beherrschen wie gewöhnliche Magie, weil sie von dem, der sie benutzt, gestohlen wird. Um nach Hause zu gelangen, muss der Dämon das Portal zu seiner Welt öffnen und es durchschreiten. Von innen kann er das Portal nicht offen halten, nicht mit schwarzer Magie.«

»Aber du glaubst, er hat eine Möglichkeit gefunden?«

»Ja«, bestätigte Sham.

»Aber er kann dafür keine schwarze Magie verwenden.«

»Nicht schwarze Magie allein«, pflichtete Sham ihm bei. »Allerdings gibt es noch eine andere Magie, die der Dämon verwenden könnte. Mit Tod und Leben geht Macht einher.«

»Hat das etwas mit Skys Schwangerschaften zu tun?«, fragte Kerim, der ihren Ausführungen weit besser folgte, als sie erwartet hatte.

»Die bei einer Geburt freigesetzte Magie kommt der Macht von Todesmagie ziemlich nahe, nur ist sie an die gebärende Frau gebunden. Das ist eine Situation, der mit Magie geborene Frauen nur wenige Male begegnen. Daher gilt es nicht als der Todesmagie gleichwertig, die viel einfacher umzusetzen ist.« Sie hatte von dieser Magie zuvor nichts gewusst, doch der alte Text aus Maurs Buch hatte sie darüber aufgeklärt. Nicht die Schwangerschaft, sondern die Geburt ließ Macht entstehen.

»Wenn der Dämon die Geburt eines Kindes für die Rückkehr nach Hause verwendet – was wird dann aus dem Kind?«

Sham sah ihm unverwandt in die Augen. »Da ich nicht der Dämon bin, weiß ich es nicht. Aber wenn der Dämon das Kind und den Mann tötet, der es gezeugt hat, hätte er erheblich mehr Macht zur Verfügung als durch das Töten von Menschen, die nicht an ihn gebunden sind.«

Kerim holte tief Luft. »Ich meine, mich zu erinnern, dass du gesagt hast, Dämonen könnten nicht schwanger werden.«

Sham nickte. »Ein besonders starker Abwehrbann wird verwendet, um eine Empfängnis des Wirtskörpers zu verhindern. Wie die meisten Abwehrbanne spart er Kraft, indem er untätig bleibt, bis die Bedingungen für seine Aktivierung erfüllt wurden – in diesem Fall das Eintreten einer Schwangerschaft. Wird der Bann letztlich ausgelöst, beginnt er, die Lebenskraft des ungeborenen Kindes auszulöschen: Todesmagie.«

»Aber hast du nicht gesagt, dass die meisten Banne ohne Macht nur einige Wochen lang bestehen können? Hat die Macht dieses Bannes im Verlauf der Hunderte von Jahren, die der Dämon schon lebt, nicht nachgelassen?«

»Nein, deshalb ist er ja so gefährlich. Für gewöhnlich wird ein Bann von der Lebenskraft des Dämons gespeist und aufrechterhalten. Um jedoch zu vermeiden, dass der Wirtskörper ausgelaugt wird, bezieht dieser Bann stattdessen, sobald er aktiviert wird, die Lebenskraft vom ungeborenen Kind.«

»Also kann Sky nicht der Dämon sein?« Er zog die Augenbrauen hoch.

»Doch«, entgegnete Sham. »Der Dämon könnte eine Barriere zwischen dem Kind und der Rune bilden, um es vor Schaden zu bewahren.«

»Warum den Dämon dann überhaupt binden?«

»Weil die Barriere genug Kraft erfordert, um den Wirtskörper des Dämons zu töten, bevor das Kind geboren werden kann. Ich glaube, dass unser Dämon eine andere Möglichkeit gefunden hat, den Bann mit Kraft zu versorgen. Die Rune, die er verwendet hat, war eine, die es ermöglichte, deine Kraft abzusaugen – und dich dadurch langsam zu töten, damit das Kind leben kann.

Kerim«, sagte sie und beugte sich zu ihm. »Die Rune muss von jemandem angebracht worden sein, der dir körperlich nahe war. Sie wurde etwa zurzeit von Fahills Tod geschaffen. Ich glaube, dass sie von Lady Sky platziert worden ist, um ihr Kind zu schützen. Als ich die Bindung durchbrach, hat das ihr Kind getötet.«

Kerim schluckte, und sie sah es seinem Gesicht an, dass er ihr glaubte. Er krallte die Hände in die Bettwäsche. »Armer kleiner Wurm.«

»Das Kind war ohnehin dem Untergang geweiht«, meinte Sham leise. »Wenn ich recht habe, dann war es dafür vorgesehen, geopfert zu werden, damit der Dämon nach Hause kann.«

Sie ließ ihn das alles eine Weile verdauen, bevor sie fortfuhr. »Das würde erklären, weshalb sich Sky in der Feste aufhält. Hier hat sie die größte Auswahl unter wohlgenährten und gesunden Männern. Allerdings kann sie nicht allzu lange hierbleiben, weil sie sonst Gefahr läuft, entdeckt zu werden. Mein Meister, Maur, lief einst einem Dämon über den Weg, der in einem Dorf gejagt hat. Der Hai glaubt, es könnte der Chen Laut gewesen sein und dass er … sie Maur getötet hat, weil er wusste, wie sie aussah.«

Kerim erwiderte nichts, also sprach Sham weiter. »Elsic meinte, sie sei ihrem Ziel näher als je zuvor. Südwald ist schon immer eine Zuflucht für Zauberer und Hexer gewesen, und in der Feste hat für gewöhnlich der Magier des Königs gelebt. Neun Monate sind eine lange Zeit, um sich vor einem mächtigen Magier zu verstecken. Sie muss außer sich vor Freude gewesen sein, als sich die Feste mit Menschen aus dem Osten gefüllt hat, die nicht an Magie glauben.«

»Du scheinst der Ansicht zu sein, dass sie heute Nacht erneut versucht hat, mich zu binden. Da ich bereits geschwächt bin, was hätte ihr das genützt?«, fragte Kerim.

»Vergeltung«, sagte Sham leise.

Er beobachtete sie eine Minute lang mit zu Schlitzen verengten Augen, dann meinte er: »Was, wenn es nicht Lady Sky ist? Das sind alles nur Vermutungen.«

»Ich glaube nicht, dass ich mich irre«, erwiderte Sham. »Aber wir werden auch für diese Möglichkeit einen Plan brauchen.«

»Was also machen wir mit ihr?«, wollte Kerim wissen.

Hilflos zuckte Sham mit den Schultern. »Ich will verflucht sein, wenn ich’s weiß.«

Ein leises Knarren von der Verbindungstür erregte Shams Aufmerksamkeit, und Elsic trat zögerlich durch den entstehenden Spalt. »Shamera? Stimmt etwas nicht?«

Shamera spürte, wie ihr der Mund aufklappte, als ihr ein unglaublicher Gedanke kam.

Während sie sprachlos dasaß, antwortete Kerim für sie. »Es geht ihr gut.« Kurz verstummte er und betrachtete ihren verdutzten Gesichtsausdruck. »Glaube ich jedenfalls.«

»Mitfühlende Magie«, murmelte Sham und starrte Elsic eingehend an. »Sie benutzen den Tod des Opfers als Quelle für ihre Macht – und mitfühlende Muster. Die Seele des Opfers kehrt wie der Dämon, der nach Hause geschickt wird, zu ihren Ursprüngen zurück.«

»Shamera?«, fragte Kerim.

Sie schüttelte den Kopf, murmelte weiter vor sich hin. »Es kann nicht klappen, es ist zu absurd. Der Dämon wird niemals mitspielen. Er hat keinen Grund, zu glauben, dass wir es wirklich versuchen würden.«

»Shamera?«, ergriff Elsic das Wort.

»Kerim? Meinst du, es wäre möglich, meine Ausgaben für die Schneiderin zu erhöhen?«, fragte sie.

»Was?«

»Ich glaube, ich habe einen Plan. Ich muss Halvok finden.« Vor sich hin murmelnd ging sie zur Tür.

Загрузка...