Das Geräusch wurde mit jeder Sekunde lauter. Die Ketten mahlten quietschend durch den Sand, als der Wagen auf der Suche nach Brion und Lea um die Felsen herumkurvte. Ein großer Transporter hielt in einer Staubwolke vor ihnen. Der Fahrer stieß die Tür von innen auf.
»Los, steigt ein — aber schnell!« rief der Mann. »Sonst wird es hier drinnen zu heiß!« Er ließ ungeduldig den Motor aufjaulen und starrte Brion gereizt an.
Brion überhörte die Aufforderung des Fahrers und legte Lea zunächst vorsichtig auf den Rücksitz des Wagens, bevor er die Tür schloß. Sofort setzte der Sandwagen sich wieder in Bewegung, während ein Strom kühler Luft aus der Klimaanlage blies. Im Innern des Wagens war es nicht wirklich kalt — aber die hier erzeugte Temperatur lag mindestens zwanzig Grad unter der draußen herrschenden. Brion deckte Lea mit allen zur Verfügung stehenden Kleidungsstücken zu, um zu verhindern, daß ihr Körper einem weiteren Schock ausgesetzt wurde. Der Fahrer, der über das Steuerrad gebeugt saß und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit dahinraste, hatte kein weiteres Wort mit ihnen gewechselt.
Brion sah auf, als der andere Mann aus dem Motorraum im hinteren Teil des Wagens kam. Der andere war sehr schlank und machte ein sorgenvolles Gesicht. Und er trug eine Pistole in der Hand.
»Wer sind Sie?« fragte er. Seine Stimme klang kalt und abweisend.
Das war ein eigenartiger Empfang, aber Brion kam allmählich zu der Einsicht, daß Dis ein eigenartiger Planet war. Der andere kaute aufgeregt auf seiner Unterlippe herum. Brion ließ sich Zeit mit seiner Antwort und sprach sehr langsam, weil er verhindern wollte, daß der Mann in seiner Erregung den Abzug der Pistole betätigte.
»Ich heiße Brandd. Wir sind vorletzte Nacht in der Wüste gelandet und bis hierher marschiert. Regen Sie sich nicht auf und schießen Sie nicht aus Versehen, wenn ich Ihnen noch etwas erzähle: Vion und Ihjel sind tot.«
Der Mann mit der Pistole riß erschrocken die Augen auf. Der Fahrer warf einen kurzen Blick über die Schulter zurück und konzentrierte sich dann wieder auf den Weg vor sich. Brions Versuch hatte Erfolg gehabt. Selbst wenn diese beiden Männer nicht Angestellte der Gesellschaft für kulturelle Beziehungen waren, wußten sie doch viel darüber. Brion war davon überzeugt, daß er Agenten der G.K.B. vor sich hatte.
»Sie wurden erschossen, während wir zwei mit dem Leben davonkamen. Wir waren auf dem Weg in die Stadt, um mit Ihnen in Verbindung zu treten. Sie gehören zu der Gesellschaft, nicht wahr?«
»Ja. Selbstverständlich«, sagte der Mann und senkte die Pistole. Er starrte einen Augenblick lang zu Boden und riß dann seine Waffe wieder hoch, als sei er über seine Unaufmerksamkeit erschrocken.
»Wenn Sie wirklich Brandd sind, dann möchte ich etwas von Ihnen wissen.« Er griff mit seiner freien Hand in die Brusttasche und holte einen gelben Spruchvordruck heraus. Seine Lippen bewegten sich, als er den Funkspruch noch einmal durchlas. »Beantworten Sie — falls Sie es können — mir folgende Frage…« Er warf erneut einen Blick auf das Blatt. »In welcher Reihenfolge finden die drei letzten Disziplinen in den Spielen statt?«
»Schach, Tontaubenschießen und Florettfechten. Warum fragen Sie das?«
Der Mann nickte zufrieden mit dem Kopf und schob die Pistole in den Halfter. »Ich heiße Faussel«, erklärte er Brion und schwenkte dabei den gelben Vordruck. »Hier ist Ihjels Testament, das uns von einem der Blockadeschiffe übermittelt wurde. Er ahnte, daß er sterben würde, und hatte recht damit. Ihjel hat Ihnen seine Aufgabe übertragen. Sie müssen hier das Kommando übernehmen. Ich war Mervvs Stellvertreter, bis der arme Kerl vergiftet wurde. Ich sollte für Ihjel arbeiten, aber jetzt sind Sie der Chef. Jedenfalls bis morgen, bis wir alles verpackt haben, damit wir von diesem verdammten Planeten wegkommen.«
»Warum haben Sie es denn so fürchterlich eilig?« erkundigte sich Brion. »Schließlich läuft das Ultimatum erst in drei Tagen ab. Bis dahin läßt sich noch eine Menge Arbeit erledigen!«
Faussel, der sich auf einen der Sitze niedergelassen hatte, sprang wieder auf. Um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, mußte er sich mit beiden Händen an der Rückenlehne festhalten.
»Drei Tage, drei Wochen, drei Minuten — finden Sie, daß das einen so großen Unterschied macht?« Seine Stimme klang bei jedem Wort schriller, und er mußte sich mühsam beherrschen, bevor er weitersprechen konnte. »Hören Sie. Sie haben keine Ahnung von der ganzen Sache. Sie sind eben erst angekommen, das ist Ihr Pech. Mein Pech ist es, daß ich in dieser Mausefalle bleiben und die dreckigen Eingeborenen beobachten muß. Ich muß ihnen gegenüber höflich bleiben, obwohl sie meine Freunde ermorden, obwohl dort oben die Raumschiffe von Nyjord kreisen. Früher oder später wird einer der Bombenschützen bestimmt nervös, wenn er an die Kobaltbomben denkt, die seine Heimat bedrohen. Und dann kracht es, selbst wenn das Ultimatum noch längst nicht abgelaufen sein sollte.«
»Setzen Sie sich, Faussel. Setzen Sie sich und ruhen Sie sich aus.« Brions Stimme klang freundlich, aber trotzdem bestimmt. Faussel zögerte einen Augenblick, ließ sich dann aber in den Sitz fallen. Er schloß die Augen und murmelte leise vor sich hin. Offensichtlich hatten seine Nerven unter der langen Anspannung gelitten.
Das gesamte G.K.B.-Gebäude schien von einer ähnlichen Atmosphäre erfüllt, als sie es endlich erreichten. Verzweiflung und Untergangsstimmung. Nur der Arzt, der Lea sofort in die Krankenstation bringen ließ, schien von der allgemeinen Hysterie nicht betroffen zu sein. Er hatte wahrscheinlich genug mit seinen Patienten zu tun, als daß er sich noch um andere Dinge kümmern konnte. Alle anderen schienen zutiefst deprimiert zu sein.
Sofort nach dem Essen ging Brion mit Faussel in das Büro, das für Ihjel vorgesehen gewesen war. Auf der anderen Seite der durchsichtigen Trennwand sah er die Angestellten, die Akten in große Transportkisten verpackten. Faussel schien jetzt weniger nervös, nachdem die Verantwortung von seinen Schultern genommen war. Brion nahm sich vor, dem Mann auf keinen Fall zu erzählen, daß dies sein erster Auftrag im Dienst der Gesellschaft war. Er brauchte jedes Quentchen Autorität, denn die anderen würden sich nicht ohne weiteres mit den Maßnahmen abfinden, die er anordnen wollte.
»Faussel, ich möchte Ihnen etwas diktieren, das Sie bitte abschreiben lassen wollen. Ich werde es dann unterzeichnen.« Das geschriebene Wort machte mehr Eindruck. »Sämtliche Vorbereitungen zum Aufbruch sind sofort einzustellen. Die Akten werden an die alten Plätze zurückgestellt. Wir bleiben hier, bis die Nyjorder uns benachrichtigen. Wenn unsere Bemühungen keinen Erfolg haben, verlassen wir Dis gemeinsam. Dabei wird nur persönliches Gepäck mitgenommen; alles andere bleibt hier. Sie alle müssen daran denken, daß wir hier sind, um einen Planeten zu retten — nicht aber Aktenschränke voll Papier.«
Aus dem Augenwinkel heraus sah er Faussel vor Ärger rot werden. »Legen Sie es mir zur Unterschrift vor, wenn es abgeschrieben ist. Und bringen Sie mir alle Berichte über den gegenwärtigen Stand unserer Arbeit. Danke, das wäre im Augenblick alles.«
Faussel stapfte hinaus, und eine Minute später sah Brion die wütenden Gesichter der übrigen Angestellten. Er kehrte ihnen den Rücken zu und öffnete eine Schreibtischschublade nach der anderen. In der obersten fand er einen versiegelten Umschlag. Er war an Sieger Ihjel adressiert.
Brion betrachtete ihn nachdenklich und riß ihn schließlich auf. Der Brief selbst war mit der Hand geschrieben.
Ihjel,
ich habe eben die offizielle Bestätigung erhalten, daß Du bereits unterwegs bist, um mich abzulösen. Ich muß sagen, daß ich mich seitdem ausgesprochen erleichtert fühle. Du hast genügend Erfahrung mit dergleichen Aufgaben und kommst vielleicht besser mit diesen Menschen aus. Ich habe mich seit zwanzig Jahren auf Forschungsaufgaben spezialisiert und bin nur deshalb nach Nyjord geschickt worden, weil ich meine Arbeiten dort am besten fortsetzen konnte. Ich fühle mich in einem Laboratorium wohler als in einem Büro; diese Tatsache kann niemand bestreiten.
Du wirst mit den Angestellten Schwierigkeiten haben, deshalb ist es besser, wenn Du weißt, daß sie alle zwangsverpflichtet sind. Die eine Hälfte hat schon früher bei mir gearbeitet, die andere besteht aus Leuten, die zufällig erreichbar waren, als dieser Auftrag vorbereitet wurde. Niemand konnte damals ahnen, wie rasend schnell sich die Dinge entwickeln würden.
Ich fürchte allerdings, daß wir nichts oder zu wenig getan haben, um diese Entwicklung aufzuhalten. Wir haben keinerlei Kontakt zu den Eingeborenen aufnehmen können. Es ist geradezu erschreckend! Sie passen in kein Schema. Ich habe es mit den Poisson-Distributionen für mindestens ein Dutzend Faktoren versucht, aber keine zwei stimmen miteinander überein. Auch die Pareto-Extrapolationen lassen sich nicht anwenden. Unsere Leute haben einsehen müssen, daß die Eingeborenen nicht mit sich sprechen lassen — zwei sind bei vergeblichen Versuchen ums Leben gekommen. Die herrschende Oberschicht ist unnahbar, die übrigen halten einfach den Mund und gehen wortlos weiter.
Ich will mit Lig-magte zu sprechen versuchen, vielleicht kann ich ihn zur Vernunft bringen. Ich bezweifle allerdings, daß dieser Versuch sehr sinnvoll ist. Vielleicht wird Lig-magte sogar gewalttätig, denn die Angehörigen der Oberklasse neigen sehr dazu. Wenn ich gesund zurückkomme, wirst Du diesen Brief nicht zu sehen bekommen. Wenn nicht — auf Wiedersehen, Ihjel. Ich wünsche Dir viel Glück für Deine Arbeit. Hoffentlich hast Du mehr Erfolg als ich.
P. S. Noch eine Warnung wegen der Angestellten. Sie sind eigentlich als Retter hier, hassen die Disaner aber wie die Pest. Ich fürchte, daß ich von diesem Vorurteil ebenfalls nicht frei bin.
Brion unterstrich die wichtigen Stellen des Briefes. Er mußte unter anderem herausbekommen, was diese Pareto-Extrapolationen waren, ohne dabei seine Unkenntnis zu verraten. Die Angestellten würden innerhalb von fünf Minuten das Weite suchen, wenn sie erfuhren, wie wenig Erfahrung Brion hatte. Mit den Poisson-Distributionen war er schon eher vertraut. Allerdings schienen sie hier nicht anwendbar zu sein, denn auf Dis paßten keine Regeln. Ihjel hatte diese Tatsache zugegeben, und Mervvs Tod bewies sie endgültig. Brion fragte sich, wer dieser Lig-magte sein mochte, der anscheinend Mervv umgebracht hatte.
Erst als jemand sich verlegen räusperte, bemerkte Brion, daß Faussel schon seit einiger Zeit vor seinem Schreibtisch wartete. Brion sah auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Ihre Klimaanlage scheint nicht richtig zu funktionieren«, meinte Faussel. »Soll ich einen Mechaniker schicken, damit er sie überprüft?«
»Nein, das Gerät ist völlig in Ordnung; ich gewöhne mich nur an das Klima hier. Was wollten Sie noch, Faussel?«
Der andere warf ihm einen ungläubigen Blick zu, während er einige dünne Ordner auf Brions Schreibtisch legte.
»Das sind die Berichte, in denen alle Einzelheiten enthalten sind, die wir bisher über die Disaner zusammengetragen haben. Es ist nicht sehr viel, aber angesichts der schroffen Zurückweisungen, denen wir auf diesem verdammten Planeten ständig ausgesetzt waren, ist es doch nicht so wenig.« Er kniff die Augen zusammen und starrte Brion nachdenklich an. »Ich kann es nicht ändern, aber einige der Leute wundern sich wegen des Eingeborenen, der uns benachrichtigte. Wie haben Sie ihn nur dazu gebracht, daß er Ihnen behilflich war? Wir haben nie viel bei diesen Leuten erreicht, aber Sie finden gleich einen, der für Sie arbeitet. Deswegen sprechen die anderen auch darüber. Schließlich ist es auch ein bißchen seltsam, daß Sie so schnell…« Faussel hielt betroffen inne, als Brion ihn wütend ansah.
»Ich kann nicht verhindern, daß die anderen sich damit beschäftigen — aber ich werde durchsetzen, daß nicht mehr darüber gesprochen wird. Unsere Aufgabe ist es, mit den Disanern in Verbindung zu treten, um diesen selbstmörderischen Krieg zu verhindern. Ich habe in einem Tag mehr erreicht als ihr alle miteinander in den vielen Wochen, die ihr bereits hier seid. Ich habe es geschafft, weil ich meine Arbeit besser als jeder andere hier verstehe. Das ist alles, was ich zu diesem Thema zu sagen habe. Sie dürfen gehen.«
Faussel war vor Ärger weiß, als er sich umdrehte und das Büro verließ, um den anderen zu berichten, daß der neue Direktor ein erbarmungsloser Sklaventreiber wäre. Sie würden Brion aus tiefster Seele hassen — und er war damit durchaus zufrieden. Er durfte nicht riskieren, daß sie auf den Gedanken kamen, dies könne sein erster Auftrag sein. Und vielleicht spornte dieser Haß sie zu besseren Arbeitsleistungen an.
Die Verantwortung, die jetzt auf seinen Schultern lastete, war bestimmt nicht leicht zu tragen. Zum erstenmal seit er diesen Planeten betreten hatte, fand Brion etwas Zeit zum Nachdenken. Er kannte weder diese Welt noch die Parteien, die in diesen Konflikt verwickelt waren. Hier saß er an einem Schreibtisch und leitete den Außenposten einer Organisation, von deren Vorhandensein er erst seit wenigen Wochen wußte. Die Lage schien erschreckend und aussichtslos zugleich. Sollte er nicht lieber aufgeben?
Nein. Bevor er nicht jemand gefunden hatte, der mehr von der Sache verstand, war er selbst am besten dafür geeignet. Ihjels Auffassung bestätigte ihn in seiner Meinung. Brion erinnerte sich daran, wie überzeugt sein Freund gewesen war, daß nur er den Auftrag erfolgreich zu Ende führen könne.
Als er die Entscheidung getroffen hatte, fühlte Brion sich besser. Er lehnte sich nach vorn und drückte auf den Knopf der Sprechanlage, unter dem FAUSSEL stand.
»Ja?« Selbst durch den Lautsprecher hindurch war nicht zu überhören, welcher Haß aus der Stimme des anderen sprach.
»Wer ist Lig-magte? Und ist der frühere Direktor von seinem Besuch bei ihm zurückgekommen?«
»Magte ist ein Titel, der etwa Edler oder Lord bedeutet. Ligmagte ist eine Art Anführer. Er hat ein häßliches Kastell am Stadtrand. Anscheinend ist er das Sprachrohr der übrigen Magter, die diesen irrsinnigen Krieg wollen. Die zweite Frage kann ich nicht mit ja oder nein beantworten. Direktor Mervv blieb verschwunden, aber wir fanden seinen verkohlten Schädel am nächsten Morgen vor unserer Tür. Wir wußten, daß es seiner war, weil unser Arzt eine Brücke erkannte, die er erst eine Woche zuvor eingesetzt hatte. Haben Sie das verstanden?«
Faussel stieß die letzten Worte so laut hervor, daß sie Brion in den Ohren gellten. Anscheinend waren alle dem Nervenzusammenbruch nahe, wenn dieser Mann als typisches Beispiel angesehen werden konnte. Brion unterbrach ihn rasch.
»Danke, das genügt, Faussel. Bestellen Sie dem Arzt, daß ich ihn so bald wie möglich sprechen möchte.« Er schaltete das Gerät ab und schlug den ersten Ordner auf. Als der Arzt anrief, hatte er die Berichte oberflächlich durchgelesen und konzentrierte sich bereits auf wichtige Einzelheiten. Er zog sich eine warme Jacke an und durchquerte den weitläufigen Büroraum. Die wenigen Angestellten kehrten ihm demonstrativ den Rücken zu.
Dr. Stine war Brion auf den ersten Blick sympathisch, weil er einen dichten Vollbart trug. Ein Mann, der genügend Willensstärke besaß, um sich auch in diesem Klima nicht von seinem Bart zu trennen, war jedenfalls eine willkommene Ausnahme.
»Wie geht es der neuen Patientin, Doktor?«
Stine fuhr sich durch den Bart, bevor er antwortete. »Diagnose: Hitzeschock. Prognose: Wiederherstellung ist sicher. Ihr Zustand ist gut, wenn man in Betracht zieht, daß ihr Körper viel Wasser verloren hat. Der Sonnenbrand ist ziemlich schmerzhaft, aber die Behandlung macht gute Fortschritte. Ich habe ihr eine Schlafspritze gegeben.«
»Ich möchte, daß sie möglichst morgen schon wieder auf den Beinen ist, damit sie mir helfen kann. Wäre das möglich — wenn Sie ihr eine Spritze geben?«
»Hmm. Natürlich kann ich ihr eine Spritze geben, aber die Idee gefällt mir gar nicht. Unter Umständen zeigen sich dann später unangenehme Nachwirkungen. Mit solchen Sachen ist immer ein gewisses Risiko verbunden.«
»Dieses Risiko müssen wir eben eingehen. In weniger als siebzig Stunden soll dieser Planet zerstört werden. Um diese Tragödie zu verhindern, brauchen wir wahrscheinlich jeden Mann — und jede Frau. Einverstanden?«
Der Doktor warf Brion einen nachdenklichen Blick zu. »Einverstanden!« sagte er dann nachdrücklich. »Ich empfinde es geradezu als Vergnügen, daß endlich einmal ein Mann auftaucht, der seine Pflicht auch dann noch tun will, wenn es gefährlich werden könnte. Ich bin ganz Ihrer Meinung!«
»Ausgezeichnet, dann können Sie mir gleich behilflich sein. Ich habe die Personallisten durchgesehen und festgestellt, daß Sie der einzige Wissenschaftler in dem ganzen Haufen sind.«
»Eine ganz armselige Horde von Schreiberlingen und Bürojünglingen!« stellte Dr. Stine mit Überzeugung in der Stimme fest.
»Dann muß ich mich auf Sie verlassen, wenn ich ein paar klare Auskünfte brauche«, fuhr Brion fort. »Die Aufgabe vor uns ist außergewöhnlich, deshalb erfordert sie auch eine außergewöhnliche Lösung. Was bleibt uns schon anderes übrig, wenn weder Poisson-Distributionen noch Pareto-Extrapolationen anwendbar sind?« Zu Brions Erleichterung nickte Dr. Stine an dieser Stelle zustimmend. Die beiden wissenschaftlichen Fachausdrücke — die einzigen, die Brion beherrschte — hatten also ihren Zweck erfüllt. »Je mehr ich mich mit der Sache beschäftige, desto überzeugter bin ich von der Ansicht, daß wir hier ein physisches Problem vor uns haben. Wäre es Ihrer Meinung nach möglich, daß die Selbstmordgedanken der Disaner eine Folgeerscheinung ihrer Anpassung an diesen Planeten sind?«
»Möglich? Möglich?« Dr. Stine ging aufgeregt auf und ab. »Sie haben völlig recht, diese Möglichkeit besteht durchaus! Endlich denkt einmal jemand, anstatt nur einer Maschine Zahlen einzugeben und auf das Ergebnis zu warten. Wissen Sie, wie die Disaner leben?« Brion schüttelte den Kopf. »Die Trottel hier finden ihre Lebensweise abscheulich, aber mich fasziniert sie geradezu. Diese Menschen haben es bis zu einer Symbiose mit anderen Lebensformen auf ihrem Planeten gebracht. In manchen Fällen treten sie sogar als echte Parasiten auf. Sie müssen sich immer vor Augen halten, daß jedes Lebewesen alle nur möglichen Anstrengungen unternehmen wird, um überleben zu können. Dieser Haltung gegenüber Abscheu zu verspüren, ist nur ein Zeichen für die Unreife der Menschen, die nie in ihrem Leben Hunger oder Durst gekannt haben. Die Disaner haben einfach den einzigen Ausweg ergriffen, der sich ihnen bot.«
Stine öffnete den Medikamentenschrank. »Wenn ich das Wort Durst höre, werte ich selbst durstig.« Er goß etwas Alkohol in zwei Gläser, verdünnte ihn mit Wasser und warf einige Kristalle hinein, die er einer braunen Flasche entnahm. Dann gab er Brion ein Glas. Das Zeug schmeckte gar nicht schlecht.
»Was wollten Sie damit sagen, als Sie Parasiten erwähnten, Doktor? Sind wir nicht alle Parasiten der niedrigeren Lebensformen? Wir essen doch Fleisch, Gemüse und…«
»Nein, nein — Sie haben mich falsch verstanden! Wenn ich Parasit sage, dann meine ich das Wort in seiner engsten Bedeutung. Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß ein Biologe eigentlich keinen Unterschied zwischen Parasitentum, Symbiose, Mutualismus, Kommensalismus…«
»Halt, halt!« unterbrach ihn Brion. »Mit solchen Ausdrücken kann ich nichts anfangen. Wenn die ganze Sache sich nicht in einfacheren Worten erklären läßt, wundere ich mich nicht mehr, daß die übrigen Angestellten sich nicht dafür begeistern können.«
»Doch, sie läßt sich auch einfacher erklären«, beruhigte ihn Dr. Stine. »Alle Fachausdrücke beschreiben im Grunde genommen nur Variationen eines Grundvorgangs — zwei Lebewesen treten in eine enge Verbindung, die entweder nur einem von ihnen oder beiden nützt.«
»Und die Grenzen zwischen verschiedenen Arten dieses Zusammenlebens lassen sich nicht ohne weiteres feststellen?« warf Brion ein.
»Genau. Auf diesem Planeten ist allein das Überleben so schwierig, daß alle miteinander konkurrierenden Lebensformen ausgestorben sind. Die übrigen, die voneinander abhängig sind und miteinander zusammenarbeiten, beherrschen jetzt das Feld allein. Alle Lebewesen — mit Ausnahme der Disaner — sind eigentlich eine Mischung aus Tier und Pflanze, wie die Flechten, die man auf anderen Planeten antrifft. Die Disaner haben ein Tier, das sie Vaede nennen. Es liefert ihnen Wasser, wenn sie in der Wüste unterwegs sind. Dieses Ding bewegt sich wie ein Kriechtier fort, macht aber wie eine Pflanze von der Photosynthese Gebrauch und speichert Wasser. Wenn die Disaner daraus trinken, zapft es ihren Blutstrom an und versorgt sich so mit Nahrungsstoffen.«
»Ich weiß«, stellte Brion trocken fest. »Wenn Sie genau hinsehen, können Sie die Narben noch erkennen. Ich sehe allmählich ein, wie die Disaner sich an das Leben hier angepaßt haben. Glauben Sie, daß diese Veränderungen sich auf die herrschende Gesellschaftsordnung ausgewirkt haben könnten?«
»Ganz bestimmt. Aber wahrscheinlich kann ich meine Behauptungen über diesen Punkt nicht eindeutig beweisen. Ihre Leute müßten Ihnen mehr darüber sagen können, denn schließlich haben sie sich die ganze Zeit über damit beschäftigt.«
Brion hatte die Berichte über dieses Thema durchgelesen, ohne allzu viel davon zu verstehen, da sie zum größten Teil aus ihm unbekannten Abkürzungen und geheimnisvollen Diagrammen bestanden. »Bitte, sprechen Sie weiter, Doktor«, drängte er deshalb. »Mit den Berichten kann ich nichts anfangen, weil sie völlig ungenügend sind. Sie sind bisher der einzige Mann, der mir auf meine Fragen vernünftige Antworten gegeben hat.«
»Schön — aber auf Ihre Verantwortung. So wie ich es sehe, existiert hier gar keine Gesellschaft im herkömmlichen Sinn, sondern nur eine Ansammlung von Einzelwesen. Jeder ist auf sich selbst gestellt. Vielleicht versagen deshalb unsere Untersuchungsmethoden, die für menschliche Gesellschaftsformen gedacht sind. Die Disaner haben eben eine andere Art von Beziehungen untereinander entwickelt.«
»Und wie steht es mit den Magter, die in Kastellen leben und für die ganzen Schwierigkeiten verantwortlich sind?«
»Für diese Leute habe ich keine Erklärung«, gab Dr. Stine offen zu. »Bis auf diesen Punkt klingen meine Theorien durchaus logisch. Aber die Magter bilden eine Ausnahme, die ich mir nicht erklären kann. Sie sind völlig anders als die übrigen Disaner. Streitlustig, blutrünstig, immer auf Eroberungen aus. Dabei sind sie keine eigentlichen Herrscher. Sie haben nur deshalb die Macht in Händen, weil kein anderer sie will. Sie vergeben Bergwerkskonzessionen an Unternehmer von anderen Planeten, weil sie die einzigen Disaner sind, die einen Eigentumsbegriff entwickelt haben. Wenn Sie herausbekommen könnten, warum die Magter so verschieden von den anderen sind, dann wären Sie der Lösung Ihres Problems wahrscheinlich bereits ein gutes Stück näher.«
Zum erstenmal seit seiner Ankunft empfand Brion einen gewissen Enthusiasmus — und das unbestimmte Gefühl, daß dieses Problem sich lösen lassen würde. Er leerte sein Glas mit einem Zug und stand auf.
»Ich hoffe, daß Sie Ihre Patientin frühzeitig aufwecken, Doktor. Ein Gespräch mit ihr müßte Sie genau so interessieren wie mich. Falls Ihre Vermutungen zutreffen, kann sie uns nämlich am ehesten eine Antwort geben. Sie ist Professor Lea Morees und kommt geradewegs von der Erde, wo sie Exobiologie und Anthropologie studiert hat.«
»Wunderbar!« meinte Dr. Stine begeistert. »Dann werde ich mich besonders gut um sie kümmern. Obwohl wir einen Atomkrieg zu erwarten haben, empfinde ich zum erstenmal einen gewissen Optimismus, seit ich auf diesem Planeten gelandet bin.«