»Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der sich so ärgerte wie dieser Arzt«, stellte Brion lachend fest.
»Kein Wunder.« Ihjel lehnte sich in seinen Sessel zurück, von dem aus er eine verschlüsselte Unterhaltung mit dem Elektronengehirn des Raumschiffs führte. Er drückte einige Tasten nieder und las die Antwort von einem Bildschirm ab. »Schließlich hast du ihn um das größte Erlebnis seines Lebens gebracht. Wie oft wird er wohl noch die Chance haben, einen Sieger der Spiele zu kurieren?«
»Nicht sehr oft, schätze ich. Wirklich ein Wunder, daß du ihn am Ende doch davon überzeugen konntest, daß du genauso gut für mich sorgen würdest, wie er es in seinem Krankenhaus getan hätte.«
»Überzeugen hätte er sich nie lassen«, stellte Ihjel fest. »Aber die Gesellschaft für kulturelle Beziehungen verfügt über einigen Einfluß auf Anvhar. Ich muß zugeben, daß ich den guten Mann mehr oder weniger erpreßt habe.« Er nahm den Lochstreifen auf, der aus dem Kursrechner lief. »Wir haben reichlich Zeit, aber ich persönlich möchte lieber in der Nähe des Ziels warten. Am besten starten wir, nachdem das Stasisfeld den Minimalwert erreicht hat.«
Ein Feld dieser Art ist so undurchdringlich, daß weder Körper noch Geist eines darin befindlichen Menschen für äußere Eindrücke empfänglich sind. Im Innern des Feldes machen sich weder Gewicht, Andruck noch Schmerzen bemerkbar. Falls dieser Zustand nicht sehr lange andauert, wird auch das Zeitgefühl ausgeschaltet.
Nach Brions Empfinden drückte Ihjel den Schalter herunter und sofort wieder nach oben in die Ausgangsstellung zurück. Das Raumschiff hatte sich nicht verändert, aber die Dunkelheit vor den Bullaugen war jetzt von roten Streifen durchzogen — ein Zeichen dafür, daß sie sich im Hyperraum befanden.
»Wie fühlst du dich?« fragte Ihjel.
Das automatisierte Raumschiff hatte sich offensichtlich dieselbe Frage gestellt. Der Tastarm, der außerhalb des um Brion aufgebauten Stasisfeldes geblieben war, senkte sich und berührte sein Handgelenk. Der Arzt auf Anvhar hatte das Elektronengehirn des Schiffs entsprechend programmiert. Brions Körperfunktionen wurden mit den errechneten Durchschnittswerten verglichen. Anscheinend war alles in bester Ordnung, denn die einzige Reaktion des Geräts bestand in der erwarteten Injektion von Traubenzucker und Vitaminen.
»Ich kann nicht behaupten, daß es mir überragend gut geht«, antwortete Brion. »Aber jeden Tag wird es etwas besser — langsam, aber sicher.«
»Hoffentlich, denn wir brauchen etwa zwei Wochen, bis wir Dis erreicht haben. Glaubst du, daß du bis dahin wieder in Form bist?«
»Hm, das kann ich nicht versprechen«, meinte Brion und spannte prüfend die Armmuskeln. »Aber ich nehme es ziemlich sicher an. Morgen beginne ich mit leichten Übungen, um wieder in Schwung zu kommen. Schön — jetzt möchte ich, daß du mir mehr über Dis und die Aufgabe erzählst, die uns dort erwartet.«
»Ich will mir eine Wiederholung sparen, deshalb mußt du dich noch kurze Zeit gedulden. Wir nähern uns jetzt einem Treffpunkt, an dem wir einen weiteren Mitarbeiter aufnehmen sollen. Unser Team besteht aus drei Leuten — du, ich und ein Exobiologe. Sobald er an Bord ist, werde ich euch beide gemeinsam einweisen. Vorläufig kannst du dich nur mit der Lernmaschine beschäftigen, damit du den eigenartigen Dialekt der Bewohner von Dis so schnell wie möglich beherrschst.«
Brion stellte schon nach kurzer Zeit fest, daß Grammatik und Wortschatz dieser Sprache keine großen Schwierigkeiten aufwiesen. Aber die Aussprache war nicht so leicht zu erlernen. Fast alle Endungen wurden verschluckt oder gingen in einer Art Gurgeln unter. Ihjel verließ die Kabine, als Brion seine Aussprache mit Hilfe eines Stimmspiegels zu korrigieren versuchte, und behauptete dabei, daß die schrecklichen Geräusche seiner Verdauung abträglich seien.
Ihr Raumschiff raste weiterhin auf dem festgelegten Kurs durch den Hyperraum. Es hielt seine zerbrechliche menschliche Fracht warm, versorgte sie mit Essen und lieferte ihr atembare Luft. Es hatte den Auftrag, Brions Gesundheitszustand regelmäßig zu überprüfen, deshalb kontrollierte es ihn und verglich die Ergebnisse mit den angegebenen Werten. Ein anderer Teil des Elektronengehirns zählte gleichmäßig eine Mikrosekunde nach der anderen ab und betätigte schließlich ein Relais, als die vorgeschriebene Anzahl verstrichen war. Eine Lampe blinkte auf, dann ertönte ein durchdringender Summer.
Ihjel gähnte, legte den Bericht beiseite, mit dem er sich beschäftigt hatte, und ging wieder in die Steuerzentrale zurück. Er fuhr zusammen, als er an der Kabine vorbeikam, in der Brion sich ein Tonband mit dem Ergebnis seiner Bemühungen um richtige Aussprache anhörte.
»He, Brion, langsam ist es Zeit, daß du deinen röchelnden Brontosaurier abstellst und dich wieder anschnallst!« rief er durch die dünne Tür. »Wir treten bald wieder in den Normalraum ein.«
Der menschliche Geist kann über die unendlichen Entfernungen zwischen den Sternen nachgrübeln, aber er wird sie nie richtig begreifen oder erfassen. Auf der Hand eines Mannes markiert, scheinen zehn Zentimeter eine beträchtliche Strecke zu sein. Im interstellaren Raum ist ein Würfel mit hunderttausend Kilometer Seitenlänge eine mikroskopisch kleine Einheit. Das Licht überwindet diese Entfernung in Bruchteilen von Sekunden. Für ein Raumschiff, das sich mit Überlichtgeschwindigkeit bewegt, ist der Würfel wesentlich kleiner. Theoretisch ist es unmöglich, einen bestimmten Raum mit diesen Ausmaßen genau anzusteuern. Technisch gesehen war es ein beliebig oft wiederholbares Wunder, das zu häufig war, um noch Interesse zu erwecken.
Brion und Ihjel waren angeschnallt, als der Hyperantrieb plötzlich aussetzte, wodurch sie wieder in das normale Raum-Zeit-Kontinuum eintraten. Die beiden Männer lösten ihre Gurte noch nicht, sondern blieben ruhig sitzen und betrachteten die Sterne vor sich. Sie warteten, bis der Elektronenrechner genügend Sterne anvisiert hatte, um daraus ihre genaue Position im Raum zu errechnen. Ein Warnsignal ertönte, dann schaltete sich der Antrieb nochmals ein und so schnell wieder aus, daß inzwischen nur Hundertstelsekunden vergangen waren. Dies geschah noch zweimal, bis ihre Position so gut wie möglich bestimmt war. Dann leuchtete das Zeichen NAVIGATIONSANTRIEB AUS grün auf. Ihjel schnallte sich los, ging zum Kühlschrank hinüber und kam mit zwei Flaschen Bier zurück.
Ihjel hatte die zur Verfügung stehende Zeit sehr genau berechnet. Weniger als zehn Stunden nach ihrer Ankunft drang ein starkes Funksignal aus dem Empfänger. Sie schnallten sich wieder an, als das Zeichen NAVIGATIONSANTRIEB EIN rot aufleuchtete.
Ein anderes Raumschiff war in verhältnismäßig geringer Entfernung in den Normalraum eingetreten und war dort nur lange genug geblieben, bis es ein Signal auf einer vereinbarten Frequenz ausgestrahlt hatte. Ihjels Schiff hatte den Empfang bestätigt. Daraufhin hatte das Passagierschiff eine Raumkapsel ausgestoßen und war wieder im Hyperraum verschwunden, um sein entferntes Ziel anzusteuern.
Ihjels Schiff folgte dem Signal, das es empfangen hatte. Dieses Signal war auf Tonband aufgenommen und genauestens untersucht worden. Auftreffwinkel, Signalstärke und Polarisationsebene wurden zur Berechnung des Kurses und der Entfernung herangezogen. Wenige Minuten genügten, um das Schiff in die Nähe des schwächeren Senders der abgeworfenen Kapsel zu bringen. Eine Orientierung nach diesem Signal war so einfach, daß selbst ein menschlicher Pilot der Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Die metallisch glänzende Kugel tauchte auf und verschwand wieder, als das Schiff sich um seine Längsachse drehte, um die Luftschleuse in die richtige Lage zu bringen. Der Verriegelungsmechanismus trat automatisch in Tätigkeit.
»Du kannst gleich hinuntergehen und den Käferspezialisten hereinlassen«, sagte Ihjel. »Ich muß hierbleiben und die Instrumente überwachen.«
»Was habe ich dabei zu tun?«
»Zieh dir einen Raumanzug an und öffne die Luftschleuse. Die Kapsel besteht zum größten Teil aus einer dünnen Metallfolie, deshalb brauchst du nicht lange nach einem Eingang zu suchen. Du nimmst einfach den Öffner aus der Werkzeugkiste und schneidest damit ein Loch in die Außenwand. Nachdem Dr. Morees an Bord ist, gibst du dem Ding einen kräftigen Stoß. Aber vorher mußt du das Funkgerät herausholen, weil es sich wieder verwenden läßt.«
Das Werkzeug sah wie ein riesiger Büchsenöffner aus. Brion tastete die Folie ab, die sich über das Einstiegsluk spannte, um ganz sicherzugehen, daß niemand dahinter stand. Dann bohrte er ein Loch in die dünne Metallschicht und legte das Luk mit kräftigen Schnitten frei. Dr. Morees zwängte sich rasch hindurch und stieß Brion beiseite.
»He, was ist denn los?« fragte Brion.
Der Raumanzug des anderen enthielt kein Funkgerät, deshalb konnte er nicht antworten. Aber er schüttelte wütend die Faust. Die Helmfenster waren angelaufen, so daß Brion den Gesichtsausdruck des anderen nicht deutlich erkennen konnte. Er zuckte mit den Schultern, holte das Funkgerät aus der Kapsel, gab ihr einen Stoß und verschloß die Luftschleuse. Als der Innendruck wieder normal war, nahm er seinen Helm ab und bedeutete dem anderen, daß er das gleiche tun dürfe.
»Ihr seid alle ganz gemeine Schufte!« sagte Dr. Morees, als der Helm endlich ab war. Brion war völlig verblüfft. Dr. Lea Morees hatte lange dunkle Haare, große Augen und einen fein geschwungenen Mund, der jetzt ärgerlich zusammengepreßt war. Dr. Morees war eine Frau.
»Sind Sie der Kerl, der für diese Unverschämtheit verantwortlich ist?« erkundigte Dr. Morees sich drohend.
»In der Steuerzentrale«, antwortete Brion rasch, denn er hatte erkannt, daß in diesem Fall Feigheit überflüssigem Heldenmut vorzuziehen war. »Ein Mann namens Ihjel. Er hat eine ganze Menge verabscheuungswürdiger Eigenschaften, Sie werden Ihren Spaß daran haben. Ich habe erst…« Er brach mitten im Satz ab, denn sie hatte den Raum bereits verlassen. Brion rannte hinter ihr her, weil er sich ihren Auftritt nicht entgehen lassen wollte.
»Entführt! Belogen, angeschwindelt und gegen meinen Willen dazu gezwungen! In der gesamten Galaxis gibt es kein Gericht, das Ihnen dafür nicht die Höchststrafe aufbrummt! Und ich werde danebenstehen und lachen, wenn Sie zu Einzelhaft…«
»Warum haben sie mir ausgerechnet eine Frau geschickt?« meinte Ihjel mit einem anklagenden Blick zur Decke. »Ich habe um einen erstklassigen Exobiologen für eine schwierige Aufgabe gebeten. Ein junger Mann, der an Strapazen gewöhnt ist, die unsere Arbeit mit sich bringt. Und was tut unser Anstellungsbüro? Sie schicken mir die kleinste Frau, die sie auftreiben können — ein zerbrechliches Wesen, das sich bereits im ersten Regen auflöst.«
»Nein, das stimmt nicht!« widersprach Lea heftig. »Schließlich ist allgemein bekannt, daß Frauen viel aushalten, und ich bin zäher als die meisten anderen. Aber das hat nichts mit dem zu tun, was ich Ihnen noch sagen wollte. Ich habe einen Vertrag unterschrieben, in dem von einer Tätigkeit in einer Universität auf Mollers Welt die Rede war. Und dann erzählt mir dieser Trottel von Agent, daß mein Vertrag geändert worden ist — siehe Paragraph 189 c oder ähnlichen Unsinn -, was nichts anderes bedeutet, als daß ich nicht das tun soll, wozu ich mich verpflichtet habe. Er stopft mich ohne viel Federlesens in diese komische Kugel und läßt mich darin über Bord werfen. Wenn das nicht ein Verstoß gegen sämtliche…«
»Berechne einen neuen Kurs, Brion«, warf Ihjel ein. »Wir müssen so schnell wie möglich den nächsten bewohnten Planeten erreichen, damit wir diese Dame dort absetzen und einen Mann für unsere Aufgabe finden können. Wir sind zwar auf dem Weg zu dem interessantesten Planeten, den ein Exobiologe sich überhaupt vorstellen kann, aber wir brauchen einen Mann, der Befehle annimmt und nicht gleich ohnmächtig wird, wenn nicht alles nach Wunsch geht.«
Brion wußte nicht, was er antworten sollte. Ihjel hatte bisher den Kurs festgelegt, und Brion hatte keine Ahnung, wie er sich dabei anstellen sollte.
»Oh, nein«, sagte Lea. »So leicht werden Sie mich nicht los. Ich war die Beste in meinem Semester, und die übrigen fünfhundert Studenten waren fast ausschließlich Männer. Das Universum wird nur von Männern beherrscht, weil die meisten Frauen nicht aggressiv genug sind, um sich dagegen zur Wehr zu setzen. Wie heißt eigentlich dieser paradiesische Planet, den wir besuchen wollen?«
»Dis. Sobald ich das Schiff auf Kurs gebracht habe, werde ich euch die näheren Einzelheiten erklären.« Ihjel wandte sich den Instrumenten zu, und Lea ging in die Toilette hinaus, um sich die Haare zu kämmen. Brion machte endlich den Mund zu, nachdem er bemerkt hatte, daß er ihn vor Erstaunen aufgerissen hatte. »Nennt man das angewandte Psychologie?« erkundigte er sich.
»Nicht eigentlich. Sie wäre auf jeden Fall mitgekommen — schließlich hat sie den Vertrag unterschrieben, selbst wenn sie ihn nicht völlig durchgelesen haben sollte -, aber bestimmt erst, nachdem sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hätte. Ich habe diesen Prozeß dadurch abgekürzt, daß ich sie an ihre Abneigung gegen jedes männliche Überlegenheitsgefühl erinnert habe. Fast alle Frauen, die auf einem Gebiet erfolgreich sind, das sonst Männern vorbehalten ist, haben diesen Komplex.«
Er gab dem Elektronenrechner den Kursstreifen ein und wandte sich dann wieder an Brion. »Aber trotzdem habe ich vorher nicht völlig unrecht gehabt. Ich wollte einen jungen, zähen und erstklassig ausgebildeten Biologen. Ich hätte nie vermutet, daß das Anstellungsbüro eine Frau schicken würde — und jetzt können wir sie nicht mehr zurückschicken. Dis ist einfach nicht der richtige Platz für eine Frau.«
»Warum nicht?« fragte Brion, als Lea wieder in dem Durchgang erschien.
»Kommt mit, dann werde ich euch den Grund dafür zeigen«, sagte Ihjel.