11

Brion beobachtete die schweigenden Disaner und überlegte angestrengt. Er hatte keinen Zweifel daran, daß die Magter sich an ihm rächen würden, sondern bedauerte nur, daß er seine Pistole nicht mitgebracht hatte. Aber was half ihm dieses Bedauern jetzt? Er mußte etwas tun!

Als der Angriff nicht sofort erfolgte, wurde es Brion klar, daß die anderen wahrscheinlich noch gar nicht wußten, daß Lig-magte tot war. Nur Brion selbst kannte die tödliche Wirkung seines Schlages. Diese Tatsache konnte ihm einen kleinen Zeitgewinn verschaffen.

»Lig-magte ist bewußtlos, aber er wird bald wieder zu sich kommen«, sagte Brion und wies auf den am Boden liegenden Körper. Als die Augen der Magter automatisch seinem ausgestreckten Zeigefinger folgten, ging Brion langsam auf den Ausgang zu.

Er hatte ihn schon fast erreicht, als die vermummten Gestalten sich zum erstenmal bewegten. Einer der Magter kniete neben Ligmagte nieder, berührte seinen Körper und rief ein einziges Wort:

»Tot!«

Brion hatte die offizielle Ankündigung nicht abgewartet, sondern war bereits durch den Ausgang verschwunden. Hinter ihm prallten winzige Pfeile von der Mauer ab, als die Magter ihre Blasrohre benützten. Er hastete die Treppe hinauf, ohne den Abstand zwischen sich und seinen Verfolgern vergrößern zu können.

Dann tauchte eine Gestalt vor ihm auf. Wenn die Frau einige Sekunden länger gewartet hätte, wäre Brion ihrem erhobenen Messer nicht so leicht entkommen. So wurde sie ihm nicht gefährlich, denn er wich ihr aus, schlüpfte an ihr vorbei und umklammerte sie von hinten.

Die Frau schrie gellend, als Brion sie hochhob — der erste menschliche Laut, den er in diesem Gebäude bisher gehört hatte. Als seine Verfolger in diesem Augenblick die Treppe hinaufstürmten, warf er ihnen die Frau entgegen. Dann nützte er das entstehende Gewirr aus, um die Mauerkrone zu erreichen.

Innerhalb des Gebäudes schien es noch eine andere Treppe zu geben, denn einer der Magter stand zwischen Brion und der Rampe, die nach unten führte.

Während er auf den Mann zurannte, schaltete Brion sein Funkgerät ein. »Ich bin hier oben in Schwierigkeiten. Können Sie…«

Die Posten in dem wartenden Sandwagen mußten diese Stelle der Mauer bereits im Fadenkreuz ihrer Zielfernrohre gehabt haben. Bevor Brion zu Ende gesprochen hatte, fiel bereits ein Schuß. Der Disaner griff sich an die Schulter und stürzte. Brion sprang über ihn hinweg und erreichte die Rampe.

»Ich komme — Feuer einstellen!« rief er.

Als Brion so schnell wie möglich an der Mauer entlang hinunterkletterte, überschütteten die Posten die Oberkante des Gebäudes mit einem wahren Feuerhagel. Der Fahrer des Sandwagens ließ den Motor aufheulen und steuerte auf die Stelle zu, an der Brion herunterkommen mußte. Das heftige Gewehrfeuer dauerte unvermindert an.

»Feuer einstellen!« keuchte Brion in sein Funkgerät, während er auf den Wagen zurannte. Der Fahrer hatte den Zeitpunkt genau richtig abgeschätzt, denn der Wagen erreichte gleichzeitig mit Brion das Ende der Rampe. Brion schwang sich durch die geöffnete Tür und ließ sich atemlos in einen Sitz fallen. Er brauchte keinen Befehl mehr zu geben. Der Wagen wirbelte eine Staubwolke auf, als er sich in Richtung auf die Stadt in Bewegung setzte.

Einer der Posten griff nach Brions Hemd und zog vorsichtig einen winzigen Holzpfeil heraus, dessen Spitze rötlich gefärbt war. Dann öffnete er die Wagentür und ließ ihn nach draußen fallen.

»Das Ding kann Sie nicht erwischt haben, sonst wären Sie längst tot«, stellte er dabei ungerührt fest. »Die Spitzen dieser komischen kleinen Pfeile sind mit einem Gift bestrichen, das innerhalb von zwölf Sekunden tödlich wirkt. Glück gehabt, Sir!«

Glück gehabt! Brion konnte erst jetzt ermessen, wieviel Glück dazu gehört hatte, aus dieser Falle lebendig zu entkommen. Und dazu noch mit wertvollen Informationen. Nachdem er jetzt mehr über die Magter wußte, war er sich auch darüber im klaren, wie gefährlich es gewesen war, sich unbewaffnet in ihr Kastell zu wagen. Sicher, er hatte sich den Weg nach draußen freigekämpft — aber ohne eine gehörige Portion Glück säße er jetzt nicht hier. Er war völlig erschöpft und blutete aus der Wunde am Arm. Trotzdem befand er sich in gehobener Stimmung, denn er hatte sich eine Theorie über die Magter zurechtgelegt, die nur noch ausgearbeitet werden mußte.

Sie wurden nicht verfolgt. Während der Fahrt ließ Brion sich von einem der Posten den Arm verbinden und zog sich wieder seine Jacke an. Dann beschäftigte er sich nochmals mit seiner Theorie. Sie klang unwahrscheinlich und verblüffend — aber trotzdem war sie die einzige, die sich mit den bekannten Tatsachen vereinbaren ließ. Er untersuchte sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus, ohne sie widerlegen zu können. Jetzt brauchte er jemand, der sie unvoreingenommen betrachtete und dann entweder verwarf oder akzeptierte. Auf Dis gab es nur einen Menschen, dem er diese Aufgabe anvertrauen konnte.

Lea saß im Laboratorium über ein Mikroskop gebeugt. Sie sah auf, als sie seine Schritte hörte, und lächelte ihm entgegen. Auf ihrem Gesicht hatten die Anstrengungen der vergangenen Tage tiefe Spuren hinterlassen.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Brion besorgt. Er empfand leichte Gewissensbisse, als er sich daran erinnerte, daß er daran schuld war, daß sie heute schon wieder arbeiten mußte.

»Eigentlich sollte ich mich scheußlich fühlen«, gab sie mit einer unbekümmerten Handbewegung zurück. »Aber ich habe einen Haufen Tabletten geschluckt, die mir das durchaus nicht unangenehme Gefühl vermitteln, auf einer riesigen Wolke durch die Gegend zu schweben. Danke, daß Sie mich aus der schrecklichen Krankenstation herausgeholt und wieder an die Arbeit gelassen haben.«

Brion tat es plötzlich leid, daß er sie praktisch zur Arbeit gezwungen hatte.

»Das braucht Ihnen aber keineswegs leid zu tun!« sagte Lea, die seinen zerknirschten Gesichtsausdruck richtig gedeutet hatte. »Schließlich habe ich keine Schmerzen mehr. Manchmal ist mir ein bißchen schwindlig, aber das vergeht schnell wieder. Außerdem bin ich hier, um zu arbeiten. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie interessant alles ist! Die Anstrengungen haben sich reichlich gelohnt.«

»Ausgezeichnet«, meinte Brion. »Aber ich war heute morgen unterwegs und habe dabei einige Entdeckungen gemacht, die Sie auch interessieren dürften.«

Erst jetzt bemerkte Lea, daß er erschöpft und abgekämpft aussah. Die schmerzstillenden Mittel hatten ihre Denkfähigkeit so beeinflußt, daß sie jeweils nur einen Gedanken logisch verfolgen konnte. Deshalb war ihr die Bedeutung der Binde um Brions Oberarm entgangen.

»Ich habe einen Besuch gemacht«, erklärte Brion und beantwortete damit ihre unausgesprochene Frage. »Die Magter sind für den augenblicklichen Spannungszustand verantwortlich, deshalb wollte ich mich mit ihnen in Verbindung setzen, bevor ich meine Entscheidungen treffe. Der Besuch verlief nicht ganz angenehm, aber ich habe erfahren, was ich wissen wollte. Sie unterscheiden sich in jeder Beziehung von den normalen Disanern. Ich habe sie mit den übrigen verglichen. Ich habe mich mit Ulv unterhalten — das ist der Eingeborene, der uns aus der Wüste rettete -, und ich verstehe ihn. Er gleicht uns nicht völlig — das wäre unter diesen Verhältnissen auch unmöglich -, aber trotzdem ist er unbestreitbar menschlich in seiner ganzen Art.

Die Magter, die Angehörigen der herrschenden Klasse auf Dis, sind das genaue Gegenteil. Kaltblütige und brutale Mörder, wie man sie sich nicht schlimmer vorstellen kann. Sie versuchten mich zu töten, ohne daß ich ihnen einen Anlaß dazu gegeben hätte. Ihre Gewohnheiten, ihre Kleidung, ihr Benehmen und ihre ganze Lebensweise — das alles unterscheidet sie von den anderen Disanern. Sie empfinden weder Liebe noch Haß noch Zorn noch Angst — überhaupt nichts. Jeder von ihnen gleicht einer Maschine in Menschengestalt, die keine Gefühle kennt.«

»Übertreiben Sie auch bestimmt nicht?« fragte Lea. »Schließlich können Sie das nicht so genau wissen. Vielleicht gehört es zur Erziehung dieser Magter, daß sie ihre Gefühle verbergen. Jeder hat sie — ob es ihm paßt oder nicht.«

»Das ist der Punkt, auf den ich hinauswill. Jeder hat sie — nur die Magter nicht. Ich kann Ihnen jetzt keine Einzelheiten erklären, sondern Ihnen nur versichern, daß sie nicht einmal im Angesicht des Todes Angst oder Haß empfinden. Das mag unglaublich klingen, ist aber die reine Wahrheit.«

Lea schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich bin heute nicht ganz auf der Höhe«, sagte sie. »Sie müssen mich entschuldigen. Wenn diese herrschende Klasse tatsächlich ohne Gefühle auskommt, dann könnte das eine Erklärung für ihre selbstmörderische Haltung sein. Aber diese Erklärung wirft wieder neue Fragen auf. Wie sind die Magter so geworden? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ein Mensch ohne Gefühle auskommen kann!«

»Genau das. Ein Mensch kann es nicht. Meiner Auffassung nach sind diese Magter nicht ebenso menschlich wie die übrigen Disaner. Ich glaube, daß sie fremdartige Wesen sind — Roboter oder Androiden -, alles andere, nur keine Menschen. Ich vermute, daß sie sich getarnt haben, um unter Menschen leben zu können.«

Lea wollte schon lächeln, tat es aber dann doch nicht, als sie Brions ernsten Gesichtsausdruck wahrnahm. »Meinen Sie das wirklich ernst?« erkundigte sie sich.

»Völlig. Ich bin mir darüber im klaren, daß meine Idee reichlich verrückt klingen muß, aber das ist bisher die einzige Theorie, zu der sämtliche bekannten Tatsachen passen. Der springende Punkt dabei ist die völlige Gleichgültigkeit der Magter dem Tod gegenüber — ihrem eigenen oder einem fremden. Ist das etwa eine normale menschliche Reaktion?«

»Nein — aber ich könnte Ihnen einige mögliche Erklärungen nennen, die nicht gleich Roboter voraussetzen. Es könnte sich um eine Mutation oder ein vererbbares Leiden handeln.«

»Schön, wir brauchen uns nicht über diesen Punkt zu streiten — es gibt genügend andere. Ich finde die Lebensweise und Gewohnheiten dieser ganzen Klasse so beunruhigend. Einzelne Eigenschaften lassen sich vielleicht erklären, aber auch alle zusammen? Wie steht es mit ihrem fehlenden Gefühlsleben? Oder ihrer Bekleidung und sonstigen Geheimnistuerei? Der normale Disaner trägt eine Art Kilt, während die Magter sich von Kopf bis Fuß verhüllen. Sie leben in ihren schwarzen Türmen und erscheinen stets in Gruppen. Stirbt einer von ihnen, dann wird er verbrannt, damit niemand die Leiche untersuchen kann. Sie führen sich wie Angehörige einer fremden Rasse auf — und ich glaube, daß sie genau das sind.«

»Nehmen wir einmal an, daß diese Theorie stimmt«, sagte Lea. »Dann ergeben sich aber eine Menge Fragen. Wie sind sie hierhergekommen? Warum weiß kein Disaner davon? Warum tarnen sie sich so umständlich? Was ist aus der Wissenschaft geworden, mit deren Hilfe sie ursprünglich Dis erreichten? Warum haben sie…«

»Halt, das genügt vorerst«, unterbrach Brion sie. »Ich weiß noch nicht einmal genug, um die Antworten auf Ihre Fragen erraten zu können. Ich versuche eine Theorie zu finden, die sich mit den Tatsachen vereinbaren läßt. Und die Tatsachen stehen fest. Die Magter sind so unmenschlich, daß ich Alpträume davon bekommen könnte — wenn ich Zeit zum Schlafen hätte. Wir brauchen vor allem handfeste Beweise.«

»Dann sehen Sie zu, daß Sie welche heranschaffen«, riet Lea ihm. »Geben Sie mir ein Skalpell und einen Ihrer Freunde, der ausgestreckt auf dem Untersuchungstisch liegt, dann werde ich Ihnen sofort sagen, was er ist — oder nicht ist.« Sie drehte sich um und beugte sich wieder über das Mikroskop.

Das war die einzig mögliche Lösung dieses gordischen Knotens. Dis sollte in sechsunddreißig Stunden völlig vernichtet werden, deshalb durfte der Tod eines einzigen Mannes keine Rolle spielen. Brion mußte einen toten Magter finden, oder sich mit Gewalt einen verschaffen.

»Sehen Sie zu, daß Sie sich etwas ausruhen können«, sagte er zu Lea, bevor er das Laboratorium verließ. »Ich bezweifle, daß das Zeug unter dem Mikroskop uns zu der richtigen Antwort verhilft. Ich werde mich nach einem geeigneten größeren Untersuchungsobjekt für Sie umsehen.«

»Vielleicht bin ich doch auf der richtigen Spur«, erwiderte sie, ohne vom Okular aufzusehen. »Ich suche weiter, bis Sie zurückkommen.«

Brion ging in die Nachrichtenzentrale, die hoch oben unter dem Dach eingerichtet worden war. Der Funker vom Dienst hatte es sich in seinem Stuhl bequem gemacht, während er verschiedene Frequenzen abhörte. Er hatte die Füße auf den Tisch gelegt und kaute an einem dicken Sandwich herum, das er in der linken Hand hielt. Als Brion plötzlich den Raum betrat, sprang der Mann erschrocken auf und angelte nach seinen Schuhen, die er ausgezogen hatte.

»Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte Brion lächelnd. »Wenn Sie immer so hastige Bewegungen machen, werden Sie sich eines Tages an irgendeinem Kabel aufhängen. Ich möchte, daß Sie mir diese Frequenz hier einstellen.« Brion schrieb einige Zahlen auf einen Block und schob ihn dem Funker zu. Dabei handelte es sich um die Frequenz, auf der die illegalen Terroristen zu erreichen waren — die Nyjord Army.

Der Funker reichte Brion einen Handapparat. »Sie können sprechen, Sir«, murmelte er dabei und versuchte gleichzeitig die letzten Reste des Sandwichs hinunterzuschlucken.

»Hier spricht Brandd, der Direktor der G.K.B. Bitte kommen.« Er mußte diesen Anruf fast zehn Minuten lang wiederholen, bevor er eine Antwort bekam.

»Was wollen Sie?«

»Ich habe Ihnen eine wichtige Nachricht zu übermitteln — und ich möchte Sie um Ihre Unterstützung bitten. Soll ich…«

»Nein. Warten Sie dort — wir werden uns nach Anbruch der Dunkelheit mit Ihnen in Verbindung setzen.« Das Gerät verstummte.

Nur noch fünfunddreißig Stunden bis zum Ende eines Planeten — und Brion konnte nichts anderes tun, als geduldig warten.

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