15

Brion ließ sich fallen, knallte auf die Straße und blieb unbeweglich im Staub liegen. Aber kein weiterer Giftpfeil zischte durch die Luft; überall herrschte tiefes Schweigen. Telts Mörder waren ebenso lautlos verschwunden, wie sie gekommen sein mußten. Brion bewegte sich rasch, benützte den Wagen als Deckung und kletterte hinein.

Die Gegner hatten ganze Arbeit geleistet. Sämtliche Kontrollinstrumente waren zerstört, auf dem Boden lagen zertrümmerte Instrumente zwischen langen Papierstreifen aus den Meßgeräten. Das Fahrzeug war unbrauchbar gemacht worden.

Die vorhergegangenen Ereignisse waren leicht genug zu rekonstruieren. Der Wagen war beobachtet worden, als er in die Stadt einfuhr — vermutlich von einigen der Magter, die das G.K.B.-Gebäude gesprengt hatten. Sie hatten nicht gesehen, wohin das Fahrzeug in der Zwischenzeit gefahren war, denn sonst wäre Brion jetzt bereits ein toter Mann gewesen. Aber sie mußten es noch einmal entdeckt haben, als Telt die Stadt zu verlassen versuchte. Dann hatten sie den Fahrer außer Gefecht gesetzt und den Wagen zerstört.

Telt war tot! Brion mußte sich dazu zwingen, über die Konsequenzen dieser Tatsache nachzudenken. Erst allmählich wurde ihm alles klar. Telt hatte niemand von seiner Entdeckung der radioaktiven Spuren benachrichtigt. Er hatte das Funkgerät nicht benutzen wollen, sondern hatte die Absicht gehabt, Hys persönlich zu unterrichten und ihm den Streifen zu zeigen. Aber jetzt war der Streifen wahrscheinlich zerrissen und zwischen die anderen gemischt, und das Gehirn, das ihn hätte analysieren können, arbeitete nicht mehr.

Brion warf einen Blick auf das zerstörte Funkgerät und riß die Wagentür auf. Er sprang mit einem Satz auf die Straße und floh so schnell ihn seine Füße tragen wollten. Sein eigenes Leben und das Überleben der Bevölkerung eines ganzen Planeten hingen nun davon ab, daß er nicht in der Nähe des Sandwagens gesehen wurde. Er mußte sich mit Hys in Verbindung setzen und die Informationen weitergeben. Bis er das getan hatte, war er der einzige Fremde auf Dis, der wußte, welcher der Magtertürme unter Umständen die Kobaltbomben enthielt.

Als er den Sandwagen etwas weiter hinter sich gelassen hatte, ging Brion langsamer und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war nicht beobachtet worden, als er das Fahrzeug verließ, und wurde auch jetzt nicht verfolgt. Die Straße, in der er sich befand, hatte er zwar noch nie gesehen, aber er orientierte sich nach der Sonne und ging weiter auf das zerstörte Gebäude zu. Jetzt tauchten immer mehr Disaner auf, die bei seinem Anblick stehenblieben und ihm feindselige Blicke zuwarfen. Brion fühlte ihren Haß und ihren Zorn. Einmal griff er sogar nach seiner Pistole, als er sah, daß zwei Männer ihre Blasrohre bereithielten. Trotzdem kam er ungehindert an ihnen vorbei.

Noch eine Straßenecke, dann hatte er das ehemalige G.K.B.-Gebäude vor sich. Einige Meter davon entfernt stand ein stumpfer Metallkegel — die Pinasse eines Raumschiffs. Zwei Männer stiegen aus dem geöffneten Luk und gingen auf den Trümmerhaufen zu.

Brions Stiefel zermalmten die zertrümmerten Fensterscheiben, als er näher kam. Die Männer warfen sich herum und hoben ihre Waffen. Beide trugen Ionengewehre. Sie grinsten erleichtert, als sie erkannten, daß Brion kein Disaner war.

»Verdammte Wilde!« knurrte der eine, dessen Mütze zwei gekreuzte Rechenschieber trug, die ihn als Spezialist für Elektronenrechner auswiesen.

»Eigentlich kann man ihnen keinen Vorwurf machen«, meinte der andere. Seinem Abzeichen nach mußte er der Zahlmeister eines Raumschiffs sein. »Um Mitternacht fliegt ihr ganzer Planet in die Luft. Sieht so aus, als ob die Kerle endlich begriffen hätten, was ihnen bevorsteht. Hoffentlich sind wir bis dahin bereits im Hyperraum. Ich habe miterlebt, wie Estradas Welt unterging — das reicht mir für das ganze Leben!«

Der Raumfahrer, der zuerst gesprochen hatte, wandte sich an Brion. »Wollen Sie mitfliegen?« erkundigte er sich. »Unser Schiff ist das letzte auf dem gesamten Raumhafen, und wir dampfen ab, sowie wir unsere Ladung an Bord haben. Wenn Sie mitkommen wollen, nehmen wir Sie gern mit.«

Brion beherrschte sich mühsam, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn der Anblick des zertrümmerten Gebäudes beeindruckte und bedrückte. »Nein«, antwortete er. »Sehr freundlich von Ihnen, aber das ist nicht nötig. Ich habe Verbindung mit der Blockadeflotte und werde um Mitternacht abgeholt.«

»Stammen Sie von Nyjord?« erkundigte sich der Zahlmeister.

»Nein.« Brion schüttelte den Kopf und versuchte die Augen von den Trümmern zu wenden. »Aber ich habe Schwierigkeiten mit meinem eigenen Schiff gehabt.« Er bemerkte, daß die beiden Männer ihn neugierig anstarrten, als ob sie auf eine Erklärung von ihm warteten. »Ich dachte, daß ich einen Weg finden könnte, um den Krieg zu verhindern. Aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher.« Er hatte Fremden gegenüber nicht so offenherzig sein wollen, aber die Worte waren ihm wie von allein herausgeschlüpft.

Der Elektronenrechnerspezialist wollte etwas sagen, aber der andere Raumfahrer stieß ihm den Ellbogen in die Rippen. »Wir starten bald — und mir paßt es nicht, wie die Disaner uns anstarren. Der Captain hat nur gesagt, wir sollten herausbekommen, was hinter dem Brand steckt, und dann so schnell wie möglich zurückkommen. Los, hauen wir ab!«

»Verpassen Sie Ihr Schiff nicht«, sagte der andere und wollte auf die Pinasse zugehen. Dann blieb er noch einmal stehen. »Können wir Ihnen nicht irgendwie behilflich sein?« fragte er.

Brion überlegte. »Doch, das können Sie«, meinte er dann. »Ich brauche dringend ein Skalpell und andere chirurgische Instrumente.« Lea war darauf angewiesen. Dann erinnerte er sich an Telts nicht überlieferte Nachricht. »Haben Sie ein tragbares Funkgerät an Bord? Ich will es nicht umsonst, ich kann dafür bezahlen.«

Der Mann verschwand im Innern der Rakete und tauchte eine Minute später mit einem Päckchen in der Hand wieder auf. »Hier, das ist alles, was ich finden konnte — ein Skalpell und eine Pinzette. Hoffentlich genügt es.« Er griff hinter sich und holte ein mit Batterien betriebenes Funkgerät hervor. »Nehmen Sie das, es hat eine ziemlich große Reichweite, selbst in den höheren Frequenzen.«

Der Raumfahrer hob abwehrend die Hand, als Brion ihm Geld anbot. »Wenn Sie diesen Planeten tatsächlich retten, schenke ich Ihnen auch noch die Pinasse. Wir werden dem Captain berichten, daß wir das Funkgerät bei einem Zusammenstoß mit den Eingeborenen eingebüßt haben. Einverstanden, du alter Geldzähler?« Er gab dem Zahlmeister einen aufmunternden Stoß.

»Haargenau«, antwortete der Angesprochene. »Ich schreibe einfach eine Verlustmeldung aus. Der Alte wird froh sein, wenn er wenigstens uns wieder heil zurückbekommt.« Sie winkten Brion noch einmal zu, dann schloß sich das Luk hinter ihnen, und er mußte sich rasch vor den Abgasen des Raketenantriebwerks in Sicherheit bringen.

Die spontane Hilfsbereitschaft der fremden Raumfahrer richtete Brion wieder etwas auf, während er die Trümmer durchsuchte. Ein Teil der Außenwand des Laboratoriums stand noch, und er grub einige zerstörte Instrumente aus. Der wichtigste Fund war jedoch der Kasten, in dem das Mikroskop aufbewahrt wurde. Brion öffnete ihn und stellte fest, daß das rechte Okular verbogen war. Aber das linke schien noch zu funktionieren. Er stellte das Mikroskop vorsichtig wieder in den Behälter zurück.

Brion sah auf seine Uhr. Die Zeit war rascher vergangen, als er gedacht hatte, denn Mittag war bereits zehn Minuten vorbei. Die wenigen Instrumente mußten also für die Autopsie genügen. Die Disaner starrten ihm mißtrauisch nach, als er von dem Trümmerhaufen herunterkletterte und in einer Nebenstraße verschwand. Er machte wieder einen weiten Umweg und betrat das Lagerhaus erst dann, als er überzeugt war, daß niemand ihm gefolgt war.

Lea sah erschrocken zu ihm auf, als er das Büro betrat. »Endlich ein freundliches Lächeln unter den Kannibalen«, rief sie ihm entgegen, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte, daß ihr keineswegs so fröhlich zumute war, wie ihre Worte vermuten ließen. »Was ist eigentlich mit mir los?« Sie wies mit dem Daumen auf Ulv. »Seit ich aufgewacht bin, hat dieser schweigsame Herr dort drüben noch kein Wort mit mir gewechselt.«

»Was waren die letzten Ereignisse, an die du dich noch erinnerst?« fragte Brion vorsichtig. Er wollte ihr nicht mehr erzählen, als unbedingt notwendig war, damit sie nicht wieder in den vorherigen Zustand verfiel. Ulv hatte große Geistesgegenwart bewiesen, als er nicht mit ihr gesprochen hatte.

»Wenn du es unbedingt wissen willst«, meinte Lea, »ich erinnere mich an einiges, Brion Brandd. Also — ich kann mich daran erinnern, daß ich eingeschlafen bin, nachdem du fortgegangen warst. Dann ist alles leer. Eigentlich merkwürdig. Ich bin in einem unbequemen Krankenhausbett eingeschlafen und wache auf einer Couch in diesem Raum auf. Außerdem fühle ich mich einfach schrecklich. Und er sitzt an der Tür und starrt mich böse an. Willst du mir nicht bitte erklären, wie das alles zusammenhängt?«

Am besten erzählte er ihr nur einen Teil der Wahrheit, den Rest konnte sie später erfahren. »Die Magter haben das G.K.B.-Gebäude überfallen«, erklärte er ihr. »Sie verfolgen jetzt alle Fremden mit ihrem Haß. Du schliefst noch, deshalb brachte Ulv dich hierher. Jetzt ist es Nachmittag, und wir…«

»Ist heute nicht der letzte Tag?« fragte Lea entsetzt. »Während ich hier Dornröschen spiele, geht draußen eine Welt ihrem Ende entgegen! Hat es bei dem Überfall Verletzte gegeben? Oder gar Tote?«

»Wir hatten einige Verluste — und größte Schwierigkeiten«, gab Brion zurück. Er mußte das Gespräch auf ein anderes Thema bringen, deshalb ging er zu der Leiche hinüber und deckte sie auf. »Aber das hier ist im Augenblick viel wichtiger — es ist die Leiche eines Magter. Ich habe ein Skalpell und einige andere Instrumente hier — kannst du eine Autopsie durchführen?«

Lea kauerte sich zusammen und schlang die Arme um ihre Knie.

Sie schien trotz der auch in diesem Raum herrschenden Hitze zu frieren. »Was ist den anderen in dem Gebäude zugestoßen?« fragte sie leise. Die Spritze hatte ihre Erinnerungen an den Überfall ausgelöscht, aber die Nachwirkungen des Schocks machten sich immer noch bemerkbar. »Ich fühle mich so… erschöpft. Bitte, ich möchte wissen, was geschehen ist. Ich spüre, daß tu etwas vor mir verbirgst.«

Brion setzte sich neben sie und nahm ihre Hände. Er war nicht überrascht, daß sie eiskalt waren. »Es war alles nicht sehr schön«, begann er langsam. »Die Sache hat dich ziemlich mitgenommen, deshalb bist du jetzt in so schlechter Verfassung. Aber — Lea, du mußt mir einfach vertrauen, wenn ich dich bitte, keine weiteren Fragen zu stellen. Wir können nichts mehr ändern. Aber wir können vielleicht das Geheimnis der Magter lösen. Wirst du die Leiche untersuchen?«

Lea wollte etwas sagen, schwieg dann aber doch. Brion fühlte, daß ein leichtes Zittern ihren Körper durchlief. »Irgend etwas ist nicht in Ordnung«, sagte sie unsicher. »Ich spüre es ganz deutlich. Aber ich verlasse mich auf dein Wort, daß es besser ist, wenn ich keine Fragen mehr stelle. Hilfst du mir bitte aufstehen, Liebling? Meine Knie sind ganz weich.«

Brion stützte sie und führte sie zu der Werkbank hinüber. Lea schloß einen Augenblick die Augen, als sie vor der Leiche stand. »Nicht gerade das, was man in Fachkreisen einen natürlichen Tod nennen würde«, stellte sie fest. Ulv beobachtete sie scharf, als sie das Skalpell aus dem Etui nahm. »Du brauchst nicht zuzusehen«, sagte Lea. »Willst du inzwischen in das Büro gehen?«

»Ich will aber«, antwortete er und ließ die Augen nicht von dem toten Magter. »Ich habe noch nie zuvor einen dieser Menschen als Leiche gesehen — er sieht wie jeder andere Disaner aus.« Er starrte weiter auf die Werkbank.

»Kannst du mir einen Schluck Wasser besorgen, Brion?« fragte Lea. »Und dann breitest du vielleicht lieber die Plane unter der Leiche aus, damit es keine Flecken gibt.«

Nachdem sie etwas Wasser getrunken hatte, schien Lea wieder kräftiger und konnte sich auf den Beinen halten, ohne mit beiden Händen den Rand der Werkbank umklammern zu müssen. Sie griff nach dem Skalpell und öffnete die Bauchdecke mit einem langen Schnitt. Ulv stieß einen leisen Laut aus, wandte die Augen aber nicht ab.

Nacheinander löste sie die inneren Organe aus dem Körper. Einmal sah sie kurz zu Brion auf, arbeitete dann aber rasch weiter. Beide schwiegen, bis Brion schließlich eine Frage stellte.

»Hast du schon etwas gefunden?«

Dieser eine Satz genügte, um Leas mühsam bewahrte Fassung zu zerstören. Sie stolperte zu der Couch zurück und sank darauf nieder. Ihre blutbefleckten Hände bildeten einen merkwürdigen Gegensatz zu der weißen Haut ihrer Arme.

»Es tut mir leid, Brion«, sagte sie, »aber ich habe nichts gefunden. Einige kleine Veränderungen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe — zum Beispiel ist die Leber stark vergrößert. Aber alle diese Veränderungen ergeben sich aus der Anpassung an die unterschiedlichen Lebensverhältnisse auf diesem Planeten. Wir haben einen Menschen vor uns. Verändert, angepaßt, modifiziert — aber immer noch ein Mensch wie du und ich.«

»Wie kannst du das sicher wissen?« unterbrach Brion sie. »Du hast ihn doch noch nicht vollständig untersucht, oder?« Sie schüttelte müde den Kopf. »Dann mußt du weitermachen. Die übrigen Organe. Sein Gehirn. Eine mikroskopische Untersuchung. Hier!« sagte er und schob ihr den Behälter mit dem Mikroskop zu.

Lea senkte den Kopf auf die Arme und schluchzte. »Warum läßt du mich nicht endlich in Ruhe? Ich habe diesen schrecklichen Planeten satt! Laß sie doch alle sterben! Mir ist das völlig egal. Deine Theorie ist unsinnig. Warum gibst du das nicht endlich zu? Ich will mir den Schmutz von den Händen waschen, damit ich nicht mehr…« Der Rest des Satzes ging in einem haltlosen Weinen unter.

Brion stand über ihr und atmete schwer. Hatte er wirklich unrecht? Er wagte nicht daran zu denken. Er mußte den eingeschlagenen Weg weitergehen. Als er auf Leas schmalen Rücken hinuntersah, empfand er ein Mitleid, dem er nicht nachgeben durfte. Diese kleine, erschreckte und hilflose Frau war seine einzige Stütze. Sie mußte weiterarbeiten. Auf jeden Fall, selbst wenn er sie dazu zwingen mußte.

Ihjel hatte dieses Kunststück einmal fertiggebracht, als er seine empathischen Fähigkeiten ausnützte, um Brion zu überzeugen. Jetzt mußte Brion diesen Vorgang mit Lea als Versuchsobjekt wiederholen, obwohl er die dafür notwendige Technik erst ungenügend beherrschte. Trotzdem durfte er nichts unversucht lassen.

Lea brauchte seine Unterstützung. »Du kannst arbeiten. Du hast den Willen und die Kraft dazu«, sagte er deshalb laut. Gleichzeitig übermittelte er ihrem Unterbewußtsein den Befehl, sich seiner Kraft und Stärke zu bedienen, nachdem ihre erschöpft waren.

Erst als Lea das Gesicht hob, auf dem die Tränen noch immer sichtbar waren, wußte Brion, daß er Erfolg gehabt hatte. »Kannst du weiterarbeiten?« fragte er ruhig.

Lea nickte stumm und erhob sich. Sie ging wie ein Schlafwandler. Ihre Kraft war nicht ihre eigene, und Brion erinnerte sich mit Unbehagen an den letzten Wettkampf der Spiele, als er sich in einer ähnlichen Lage befunden hatte. Sie wischte sich die Hände an der Plane ab und öffnete den Kasten, in dem das Mikroskop stand.

»Die Objektträger sind alle zerbrochen«, sagte sie.

»Das genügt auch«, erklärte Brion ihr und trat eine Fensterscheibe ein. Er nahm einige der größeren Splitter auf und brach die Ecken ab, so daß viereckige Stücke entstanden, die unter dem Mikroskop Platz hatten. Lea nahm sie wortlos entgegen. Sie ließ einen Tropfen Blut auf das Glas fallen und beugte sich über das Okular.

Ihre Hände zitterten, als sie die Scharfeinstellung betätigte. Sie betrachtete das Blut mit der kleinsten Vergrößerung und kniff dabei angestrengt die Augen zusammen. Einmal verstellte sie den Sammelspiegel, um mehr Licht zu haben. Brion stand dicht hinter ihr, ballte die Fäuste und versuchte sich zu beherrschen. »Siehst du etwas?« platzte er schließlich heraus.

»Phagozyten, Leukozyten… alles scheint ganz normal zu sein.« Leas Stimme klang erschöpft, ihre Augen tränten vor Ermüdung, während sie sich mit dem Mikroskop beschäftigte.

Brion runzelte ärgerlich die Stirn. Er wollte nicht glauben, daß er unrecht gehabt hatte, deshalb griff er über ihre Schulter hinweg nach dem Objektivrevolver und stellte die höchste Vergrößerung ein. »Du kannst ja gar nichts erkennen — jetzt muß es gehen! Es ist dort — ich weiß, daß es dort ist! Ich werde dir ein Stück Gewebe holen.« Er wandte sich ab und ging zu der Leiche zurück.

Er kehrte ihr den Rücken, deshalb sah er nicht mehr, daß Lea sich plötzlich aufgeregt über das Okular beugte, während ihre Finger die Brennweite regulierten. Aber er fühlte ihre Erregung, weil sie seinen empathischen Sinn ansprach. »Was hast du gefunden?« rief er ihr zu, als habe sie etwas gesagt.

»Etwas… etwas in dieser Leukozyte«, antwortete sie. »Es ist etwas außergewöhnlich, aber trotzdem kommt es mir bekannt vor. Ich habe es schon einmal gesehen, kann mich aber nicht mehr daran erinnern.« Sie hob den Kopf und preßte die Faust gegen die Stirn. »Ich weiß bestimmt, daß ich es schon einmal gesehen habe.«

Brion warf einen Blick durch das Mikroskop und erkannte den weißen, polypenähnlichen Umriß einer einzelligen Leukozyte. Für ihn enthielt sie nichts Außergewöhnliches. Allerdings konnte er nicht wissen, was daran anders sein sollte, wenn er keine Ahnung hatte, was normal war.

»Erkennst du die runden grünen Körperchen, die eng beieinanderliegen?« fragte Lea. Bevor Brion antworten konnte, griff sie aufgeregt nach seinem Arm. »Ich habe es!« Ihre Müdigkeit war plötzlich verflogen. »Icerya purchasi heißen diese winzigen Dinger. Bei manchen Insekten kommt es vor, daß das grüne Zeug in den Körperzellen wuchert. Nicht als Parasit, sondern als Partner einer regelrechten Symbiose…«

Leas Augen öffneten sich weit, als ihr klarwurde, was sie eben gesagt hatte. Eine Symbiose — und Dis war ein Planet, auf dem Symbiosen und Parasitentum Bestandteile des täglichen Lebens waren. Lea überlegte krampfhaft und versuchte eine logische Schlußfolgerung daraus zu ziehen. Sie ballte die Hände zu Fäusten und starrte auf die gegenüberliegende Wand, während ihre Gedanken um diesen Punkt kreisten.

Brion und Ulv beobachteten sie schweigend und warteten auf eine Erklärung. Endlich schienen sich die Bruchstücke zu einem Ganzen zusammenzufügen.

Lea öffnete die Fäuste und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Dann drehte sie sich um und sah Brion fragend an. »Hast du hier irgendwo einen Werkzeugkasten gesehen?« fragte sie.

Brion war so überrascht, daß er nicht gleich antworten konnte. Bevor er sich zu einer Gegenfrage aufgerafft hatte, sprach Lea weiter.

»Keine einfachen Werkzeuge; damit würde es zu lange dauern. Glaubst du, daß du irgendwo eine Motorsäge auftreiben kannst? Das wäre ideal.« Sie wandte sich wieder zu dem Mikroskop zurück, deshalb stellte Brion keine weiteren Fragen. Ulv starrte noch immer den toten Magter an und hatte kein Wort von dem verstanden, was Lea gesagt hatte.

Brion ging in das Treppenhaus und stieg in das erste Stockwerk hinauf, weil er wußte, daß unten in dem Lagerraum keine Werkzeuge lagen. Er ging an einigen Räumen vorbei, die alle abgeschlossen waren, und erreichte schließlich einen, dessen Tür die hoffnungsvolle Aufschrift werkzeugraum trug. Brion warf sich mit aller Gewalt gegen die schwere Eisentür, ohne sie dadurch öffnen zu können. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gab er auf und überlegte sich einen anderen Weg. Dabei sah er zufällig auf seine Armbanduhr.

Nur noch zehn Stunden, bis die Bomben fielen!

Jetzt mußte er schnell und trotzdem leise handeln, weil immer die Gefahr bestand, daß ein zufällig vorbeikommender Disaner hörte, wie er die Tür aufbrach. Er riß sich das Hemd vom Leib und wickelte es als Schalldämpfer um den Lauf der Pistole. Dann preßte er die Mündung der Waffe gegen das Schloß und betätigte den Abzug. Der Knall des Schusses war kaum zu hören — jedenfalls bestimmt nicht außerhalb des Gebäudes. Brion warf sich noch einmal gegen die Tür und drückte sie auf.

Als er zurückkam, stand Lea wieder neben der Leiche. Brion, hielt eine kleine Kreissäge hoch, die er entdeckt hatte. »Genügt das?« fragte er. »Die Säge wird von einer Batterie angetrieben.«

»Ausgezeichnet«, antwortete sie. »Aber ihr müßt mir beide helfen.« Sie wandte sich an Ulv. »Kannst du dir einen Platz aussuchen, von dem aus du die Straße beobachten kannst, ohne selbst gesehen zu werden? Gib mir ein Zeichen, wenn die Luft rein ist. Ich fürchte, daß die Säge ziemlich viel Krach machen wird.«

Ulv nickte und ging an die Straßenfront der Halle hinüber. Dort suchte er sich einige leere Kisten zusammen und türmte sie übereinander auf, bis er durch eines der Fenster an der Decke sehen konnte. Er sah nach beiden Richtungen die Straße entlang, bevor er Lea ein Zeichen gab, daß sie anfangen könne.

»Du mußt den Schädel festhalten, Brion«, fuhr Lea fort. »Wahrscheinlich wird es kein sehr schöner Anblick sein, aber jedenfalls ist das der schnellste Weg.« Die Säge fraß sich in den Knochen hinein.

Einmal stieß Ulv einen leisen Warnruf aus und zog selbst den Kopf ein. Sie warteten ungeduldig, bis er sich davon überzeugt hatte, daß keine Gefahr mehr bestand. Brion hielt den Kopf des toten Magter fest, bis die Säge einen ganzen Kreis beschrieben hatte.

»Fertig«, kündigte Lea an und ließ die Säge einfach zu Boden fallen. Sie massierte sich die schmerzenden Finger der rechten Hand, bevor sie die unterbrochene Arbeit beendete. Langsam und vorsichtig klappte sie die Schädeldecke zurück und legte das Gehirn frei.

»Du hast die ganze Zeit über recht gehabt, Brion«, stellte sie dann fest. »Da hast du deinen Fremden.«

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