3

Diesmal konnte er die Tür nicht mehr zuhalten. Ihjel versuchte es nicht einmal. Er trat einen Schritt zur Seite, und zwei Männer stolperten in den Raum. Dann ging er wortlos hinaus.

»Was war hier los? Was hat er getan?« erkundigte sich der Arzt aufgeregt, als er den Raum betrat. Er warf einen besorgten Blick auf die Registriergeräte vor Brions Bett. Atmung, Körpertemperatur, Herztätigkeit, Blutdruck — alles normal. Der Patient starrte zur Decke hinauf und antwortete nicht.

Während der nächsten Stunden dachte Brion intensiv nach. Das war nicht leicht, denn er stand unter dem Einfluß zahlreicher Medikamente und Beruhigungsmittel, die seinen Kontakt mit der Wirklichkeit schwächten. Aber trotzdem kam er nicht zur Ruhe. Was hatte Ihjel nur sagen wollen? Was war das für ein Unsinn über Anvhar gewesen? Anvhar war eben so, weil — nun, es war einmal nicht anders. Das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung. Oder etwa nicht?

Der Planet hatte eine sehr nüchterne Vergangenheit. Von Anfang an hatte es dort nichts gegeben, was das Interesse von Händlern hätte erregen können. Anvhar lag weitab von allen interstellaren Handelsrouten und besaß keine Mineralien, die einen Abbau und den Transport zu anderen Welten gelohnt hätten. Die Pelztierjagd erwies sich zwar als gewinnbringend, wurde aber mehr als Sport betrieben. Deshalb war der Planet nie regelrecht besiedelt worden, sondern immer nur von wissenschaftlichen Forschungsgruppen aufgesucht worden, die dort Beobachtungsstationen einrichteten. Im Laufe der Zeit waren aus diesen Stationen kleinere Siedlungen geworden, weil die Wissenschaftler ihre Familien nachkommen ließen. Einige der Pelztierjäger hatten sich in diesen Siedlungen niedergelassen und so die Bevölkerung vermehrt. Das waren die ersten Anfänge gewesen.

Aus dieser Zeit existierten keine zuverlässigen Berichte, so daß die ersten sechs Jahrhunderte der Geschichte von Anvhar mehr auf Vermutungen als auf Tatsachen beruhten. Zu dieser Zeit ereignete sich der Zusammenbruch der Weltenföderation, die von der Erde aus regiert worden war. Als das geschah, stellten die Wissenschaftler fest, daß sie Institutionen vertraten, die nicht mehr existierten. Die Jäger konnten ihre Pelze nicht mehr verkaufen, weil Anvhar über keine eigenen Raumschiffe verfügte. Allerdings hatte der Zusammenbruch keine unmittelbaren Auswirkungen auf Anvhar, denn der Planet war schon immer völlig autark gewesen. Als die Bewohner sich erst einmal mit dem Gedanken vertraut gemacht hatten, daß sie jetzt über einen souveränen Planeten herrschten, anstatt nur zu Besuch auf Anvhar zu sein, verlief das Leben wie gewöhnlich weiter. Nicht leicht — auf Anvhar ist das Leben auf keinen Fall leicht -, aber immerhin ohne wesentliche Veränderungen an der Oberfläche.

Die Vorstellungen und Ideale der Menschen unterlagen jedoch einem gewissen Wandel. Zahlreiche Versuche wurden unternommen, um eine stabile Gesellschaftsordnung zu schaffen. Auch darüber gab es keine zuverlässigen Berichte. Bekannt war nur, daß schließlich die Spiele ins Leben gerufen wurden.

Um die Spiele zu verstehen, muß man etwas über die ungewöhnliche Umlaufbahn wissen, die Anvhar um seine Sonne — 70 Ophiuchi — beschreibt. Dieses System enthält mehrere Planeten, die alle mehr oder weniger eine ellipsenförmige Bahn einhalten. Anvhar ist offensichtlich eine Ausnahme, wahrscheinlich der eingefangene Planet einer anderen Sonne. Das Jahr auf Anvhar dauert siebenhundertachtzig Tage, aber während siebenhundert Tagen ist der Planet so weit von seiner Sonne entfernt, daß auf ihm tiefster Winter herrscht. Der kurze Sommer, der nur achtzig Tage dauert, ist dafür ungewöhnlich heiß. Dieser verblüffende Wechsel hat in den hier auftretenden Lebensformen Veränderungen hervorgerufen, mit deren Hilfe sie die Temperaturwechsel überstehen. Fast alle Tiere halten einen Winterschlaf, die Pflanzen überleben als Samen oder Sporen. Einige pflanzenfressende Warmblüter leben auch im Winter in dem mit Schnee bedeckten tropischen Gürtel und dienen damit den Raubtieren als Nahrung. Aber trotzdem ist der Winter im Vergleich zum Sommer eine überaus friedliche Jahreszeit.

Denn im Sommer wächst und vermehrt sich alles wie rasend. Pflanzen wachsen so schnell, daß man ihr Wachstum mit bloßem Auge verfolgen kann. Die Schneefelder schmelzen, und innerhalb weniger Tage erheben sich dort Dschungel hoch in die Luft. Alles wächst, schwillt, gedeiht, vermehrt sich. Pflanzen verdrängen andere Pflanzen von ihrem Platz unter den lebenspendenden Sonnenstrahlen. In diesem kurzen Sommer spielt sich alles Leben ab, denn wenn der Winter wieder hereinbricht, müssen neunzig Prozent des Jahres vergehen, bevor die Sonne dieses Planeten abermals genügend Wärme ausstrahlt.

Auch die Menschen müssen sich anpassen, wenn sie überleben wollen. Nahrungsmittel müssen gesammelt und gelagert werden — in solchen Mengen, daß sie über die Kälteperiode hinaus reichen. Generation auf Generation hat sich an diesen Zustand gewöhnt, bis die Menschen schließlich den Sommer als normal empfanden. Sowie sich die ersten Anzeichen des beinahe nicht vorhandenen Frühlings bemerkbar machen, tritt auch bei den Menschen eine tiefgreifende Veränderung ein. Das subkutan abgelagerte Fett verschwindet, und bisher nicht oder nur selten gebrauchte Schweißdrüsen nehmen ihre Tätigkeit auf. Andere Veränderungen sind nicht so offensichtlich, aber trotzdem kaum weniger bedeutend. Das Schlafzentrum des Gehirns wird teilweise lahmgelegt. Ein längerer Schlaf in Abständen von drei oder vier Tagen genügt plötzlich. Das Leben dieser Menschen wird hektischer und paßt sich der veränderten Umwelt an. Wenn dann der erste Frost kommt, ist die Getreideernte eingebracht, sind riesige Fleischvorräte tiefgefroren und alle möglichen Gemüsearten konserviert. Durch diese Anpassungsfähigkeit sichern die Menschen ihre Existenz während der langen Winter.

Die physische Existenz ist gesichert. Aber wie steht es mit der geistigen? Primitive Eskimos versinken für längere Zeit in einen halb bewußtlosen Zustand. Auch zivilisierte Menschen wären dazu fähig, aber nicht über längere Zeiträume hinweg. Ganz bestimmt nicht in einem Winter, der fast zwei Erdenjahre dauert. Nachdem alle körperlichen Bedürfnisse befriedigt waren, wurde die Langeweile zum größten Feind aller Anvharianer, die nicht gerade Pelztierjäger waren. Aber selbst die Jäger konnten nicht den ganzen Winter allein in der Wildnis verbringen. Alkohol war eine Antwort auf dieses Problem, Gewalttätigkeit eine andere. Die Menschen gewöhnten sich allmählich daran, daß sie während der kalten Jahreszeit von Säufern und Mördern terrorisiert wurden.

Erst die Spiele setzten dem ein Ende. Als sie Bestandteil des täglichen Lebens wurden, spielte der Sommer nur noch die Rolle einer Zwangspause zwischen den Spielen. Die Spiele waren mehr als nur ein Wettbewerb — sie erfüllten sämtliche körperlichen und geistigen Bedürfnisse der Bewohner dieses ungewöhnlichen Planeten. Sie waren ein Zehnkampf — oder vielmehr ein Zwanzigkampf — in höchster Potenz, in dem Schach und Sonetteschreiben ebenso bewertet wurden wie Skispringen und Bogenschießen. Alljährlich wurden zwei getrennte Wettkämpfe veranstaltet, einer für Männer, der andere für Frauen. Diese Trennung beruhte nicht auf veralteten Vorurteilen, sondern war das logische Ergebnis offenbarer Tatsachen. Angeborene Unterschiede zwischen den Geschlechtern machten einen fairen Wettstreit unmöglich — zum Beispiel hätte eine Frau nie das große Schachturnier gewinnen können -, und dieser Tatsache wurde Rechnung getragen. Jeder Mann und jede Frau konnte sich zu den Spielen anmelden und Jahr für Jahr daran teilnehmen.

Wenn der Beste siegte, war er wirklich der beste Wettkämpfer gewesen. Ein kompliziertes System aus Zwischenentscheidungen ließ die Teilnehmer und Kampfrichter den ganzen Winter hindurch kaum zu Atem kommen. Auf diese Vorentscheidungen folgte die letzte Phase der Spiele, die einen ganzen Monat lang dauerte. Dann stand ein einzelner Sieger fest, dem auch der Titel Sieger verliehen wurde. Der Mann — und die Frau — blieb bis zum nächsten Jahr eine Art ungekrönter König.

Sieger. Das war ein Titel auf den man mit Recht stolz sein durfte. Brion drehte sich mühsam auf eine Seite, bis er zum Fenster hinaussehen konnte. Sieger von Anvhar. Sein Name würde in den Geschichtsbüchern stehen, denn nun gehörte auch er zu den wenigen Helden, die dieser Planet aufzuweisen hatte. Die Schulkinder würden Einzelheiten seiner Lebensgeschichte lernen, wie sie zuvor die der anderen Sieger gelernt hatten. Sie würden träumerisch an den Tag denken, an dem auch sie vielleicht aus den Spielen als Sieger hervorgehen würden. Ein Sieger zu sein, war die höchste Ehre des Universums.

Draußen durchdrang die schwache Nachmittagssonne kaum den leichten Wolkenschleier am Himmel. Die weiten, mit Eis bedeckten Ebenen sogen das Licht auf und reflektierten nur einen Bruchteil davon. Ein einsamer Skiläufer zog dort seine Spur; alles andere war zu Eis erstarrt.

Brion erkannte plötzlich mit erschreckender Klarheit, daß es wirklich nichts bedeutete, ein Sieger zu sein. Als ob man der beste Floh geworden wäre — unter allen anderen Flöhen auf einem einzigen Hund.

Was war denn schon Anvhar? Ein eisbedeckter Planet, der von einigen Millionen menschlicher Flöhe bewohnt wurde, um die sich niemand in der gesamten Galaxis kümmerte. Hier gab es nichts, worum es sich zu kämpfen gelohnt hätte; die nach dem Zusammenbruch aufgeflammten Kriege hatten den Planeten nicht berührt. Die Anvharianer waren auf diese Tatsache immer stolz gewesen — als könne man stolz darauf sein, daß man selbst so unbedeutend war, daß niemand auch nur den Wunsch verspürte, ihnen einen Besuch abzustatten. Alle anderen von Menschen besiedelten Planeten entwickelten sich, kämpften, gewannen, verloren, veränderten sich. Nur auf Anvhar wiederholte sich das Leben in einem stets gleichbleibenden Rhythmus…

Brions Augen waren feucht geworden, er fuhr sich mit der Hand darüber. Tränen! Diese unglaubliche Tatsache ließ ihn das Selbstmitleid vergessen und erfüllte ihn gleichzeitig mit Angst. Hatten die Spiele ihn doch mehr mitgenommen, als er gedacht hätte? Mitleid mit sich selbst hatte ihm bestimmt nicht den Sieg in den Spielen gebracht — weshalb empfand er es dann jetzt? Anvhar war seine Welt — warum sollte er sich nun einbilden, der Planet liege einsam und isoliert am äußersten Rand des Universums? Was war die Ursache für diesen plötzlichen Sinneswandel?

Während er über diese Frage nachdachte, fand er bereits die Antwort darauf. Sieger Ihjel. Der Dicke mit den merkwürdigen Ansichten und den bohrenden Fragen. Hatte er Brion verzaubert — wie die Hexe im Märchen? Nein, das war ein lächerlicher Gedanke. Aber er hatte trotzdem etwas getan. Vielleicht nur eine Idee erläutert, während Brions Widerstandskraft geschwächt war.

Brandd konnte seinen Verdacht nicht begründen, glaubte aber sicher zu wissen, daß Ihjel an seinem Dilemma schuld war.

Er stieß einen leisen Pfiff aus, und der wieder instand gesetzte Lautsprecher unter dem Fernsehschirm klirrte. Die diensthabende Krankenschwester erschien auf dem Bildschirm.

»Schwester, wissen Sie, wo der Mann ist, der heute bei mir war?« fragte Brion. »Sieger Ihjel. Ich muß mit ihm sprechen.«

Die Schwester schwieg einen Augenblick verwirrt, dann entschuldigte sie sich hastig und schaltete das Gerät aus. Als der Bildschirm wieder aufleuchtete, hatte ein uniformierter Wachposten ihre Stelle eingenommen.

»Sie haben sich nach Sieger Ihjel erkundigt«, sagte der Mann. »Er wird hier im Krankenhaus festgehalten, nachdem er gewaltsam bei Ihnen eingedrungen ist.«

»Ich habe ihm nichts vorzuwerfen. Wollen Sie dafür sorgen, daß er mich sofort aufsucht?«

Der Posten beherrschte sich nur mühsam. »Tut mir leid, Sieger — das kann ich unmöglich. Dr. Caulry hat ausdrücklich befohlen, daß Sie auf keinen Fall…«

»Dr. Caulry kann mir mein Privatleben nicht vorschreiben«, unterbrach ihn Brion. »Schließlich leide ich nicht an einer ansteckenden Krankheit, sondern bin nur ein bißchen erschöpft. Ich will Ihjel sprechen. Sofort.«

Der Uniformierte holte tief Luft, fand sich aber doch in das Unvermeidliche. »Gut, ich werde ihn benachrichtigen.«

»Was hast du mit mir angestellt?« fragte Brion, als er mit Ihjel allein war. »Du willst doch nicht etwa bestreiten, daß du mir diese komischen Gedanken in den Kopf gesetzt hast?«

»Nein, das leugne ich keineswegs ab. Schließlich bin ich einzig und allein hier, um dir diese ›komischen‹ Gedanken näherzubringen.«

»Ich möchte wissen, wie du das fertiggebracht hast«, drängte Brion. »Ich muß es wissen.«

»Ich werde es dir erklären — aber du mußt noch ein paar andere Dinge begreifen, bevor du dich dafür entscheidest, daß du Anvhar verlassen willst. Du darfst sie dir nicht nur anhören, sondern mußt auch daran glauben. Zunächst — und das ist der Schlüssel zu allem anderen — brauchst du Klarheit über das Leben, das wir hier gewöhnt sind. Wie sind deiner Meinung nach die Spiele entstanden?«

Bevor er antwortete, nahm Brion eine doppelte Dosis des milden Anregungsmittels, das ihm der Arzt verschrieben hatte. »In diesem Punkt habe ich keine Meinung, sondern kann mich auf Tatsachen stützen«, gab er zurück. »Der Beginn läßt sich eindeutig festlegen. Der Gründer der Spiele hieß Giroldi, die ersten Wettkämpfe fanden im Jahre 378 n. Z. statt. Seitdem wurden die Spiele regelmäßig jedes Jahr veranstaltet. Zu Anfang fanden sich nur wenige Teilnehmer, aber im Laufe der Jahre beteiligten sich immer mehr Männer und Frauen daran.«

»Richtig«, bestätigte Ihjel. »Aber du hast eben beschrieben, was geschah. Ich habe dich gefragt, wie es zu den Spielen kam. Wie kommt es, daß ein einzelner Mann einen ganzen Planeten, der von halbverrückten Jägern und ständig alkoholisierten Farmern bewohnt wird, in ein Musterbeispiel für eine tadellos funktionierende Gesellschaftsordnung verwandeln kann, die auf den Spielen basiert? Klingt das nicht reichlich unwahrscheinlich?«

»Er hat es aber geschafft!« widersprach Brion. »Das kannst du nicht bestreiten. Und die Spiele sind keine Einrichtung, die den Menschen aufgezwungen wurde. Im Gegenteil, auf einem Planeten wie dem unseren, sind sie aus logischen Gründen erforderlich.«

Ihjel lachte ironisch. »Sehr logisch«, meinte er, »aber wie oft passiert es deiner Meinung nach, daß Regierungen oder Gesellschaftsgruppen logische Entscheidungen treffen? Du denkst nicht richtig nach. Versetze dich doch einmal in Giroldis Lage. Stelle dir vor, daß du die Spiele ›erfunden‹ hast. Dann besteht deine nächste Aufgabe darin, daß du die anderen von dieser Idee überzeugst. Folglich näherst du dich bescheiden dem nächsten verlausten, grobschlächtigen, abergläubischen und trinkfesten Jäger, um ihn zu überzeugen. Du machst ihm klar, daß Dinge wie Sonetteschreiben oder Schach sein Leben interessanter und lebenswerter machen könnten. Du darfst es ruhig versuchen — halte aber die Augen offen und nimm dich vor seinen Fäusten in acht!«

Selbst Brion mußte über diesen absurden Vorschlag lachen.

Nein, so konnte es nicht gewesen sein. Aber trotzdem mußte es eine einleuchtende Erklärung dafür geben.

»Wir könnten uns noch lange darüber unterhalten«, fuhr Ihjel fort, »aber du würdest nie auf die richtige Spur kommen, wenn ich…« Er brach mitten im Satz ab und starrte zu dem Fernsehschirm hinüber. Eine grüne Lampe leuchtete auf und zeigte an, daß das Gerät sich in Betrieb befand, obwohl der Schirm dunkel geblieben war. Ihjel griff nach dem Kabel, das erst vor kurzer Zeit ersetzt worden war, und riß es aus der Wand. »Dein Onkel Doktor ist ziemlich neugierig«, stellte er fest. »Die Wahrheit über die Spiele geht ihn nichts an. Wohl aber dich! Du mußt allmählich einsehen, daß du ein Leben führst, das von Soziologen geplant und durchgesetzt wurde.«

»Unsinn!« warf Brion ein. »Man kann doch nicht einfach ein Gesellschaftssystem erfinden und es dann den Leuten aufzwingen. Jedenfalls nicht, ohne auf entschiedenen Widerstand zu stoßen und Blutvergießen hervorzurufen.«

»Selbst Unsinn«, erwiderte Ihjel. »In früheren Zeiten mag das so gewesen sein, aber heutzutage ist alles anders. Du hast zu viele Geschichtsbücher gelesen, deshalb glaubst du, wir befänden uns noch immer im finstersten Mittelalter. Weil Faschismus und Kommunismus den Menschen aufgezwungen werden mußten, bist du davon überzeugt, das müsse immer so sein. Du mußt deine Bücher genauer lesen. Dann wirst du ohne Zweifel feststellen, daß zur selben Zeit in Indien die Demokratie eingeführt wurde, ohne daß es zu größeren Kämpfen gekommen wäre. Die Menschheit lebt von dem ständigen Wechsel, der ihr neue Dinge beschert, die nach einiger Zeit allgemein anerkannt werden. Und eine dieser neuen Erfindungen ist der Versuch, die bestehenden Gesellschaftsordnungen so zu verändern, daß sie den Menschen nützlicher sind.«

»Der Götterkomplex«, stellte Brion fest. »Die Menschen werden in eine Lebensform gezwängt — ob es ihnen paßt oder nicht, interessiert dabei niemand.«

»Das kann unter Umständen der Fall sein«, stimmte Ihjel zu. »Zu Anfang scheiterten einige Versuche, weil die Menschen sich an eine Ordnung gewöhnen sollten, die nicht für ihre Bedürfnisse und Wünsche geschaffen war. Aber nicht alle Experimente dieser Art schlugen fehl — Anvhar ist das beste Beispiel dafür, wie erfolgreich diese Methode sein kann, wenn sie richtig angewendet wird. Allerdings ist diese Art unterdessen überholt, denn wir haben Mittel und Wege entdeckt, die zu dem gleichen Ziel führen. Wir versuchen fremde Kulturen nicht mehr auf ein bestimmtes Ziel hinzuführen, weil wir nicht immer entscheiden können, welche Ziele sich am besten eignen. Statt dessen bemühen wir uns, bestehende Entwicklungen gegen äußere Einflüsse abzuschirmen und stagnierenden Kulturen neue Impulse zu geben. Als damals Anvhar an der Reihe war, befand sich die Methode erst im Entwicklungsstadium. Die ziemlich komplizierte Bestimmung der Eigenschaften, nach denen eine Kultur in eine der Klassen zwischen I und V eingeteilt wird, war damals noch nicht anwendungsreif. Früher entwickelte man einfach eine Gesellschaftsordnung, die höchstwahrscheinlich den Bedürfnissen des jeweiligen Planeten entsprach, und brachte die Menschen dazu, daß sie sich daran hielten.«

»Wie läßt sich das durchführen?« erkundigte sich Brion.

»Du machst allmählich Fortschritte — du fragst schon ›wie‹. Die hier angewandte Methode erforderte eine große Anzahl von Mitarbeitern und einen beträchtlichen finanziellen Aufwand. Zunächst wurde das Ehrgefühl der Menschen so sehr bestärkt, daß die Duelle zunahmen, wodurch das allgemeine Interesse an jeder Art von Selbstverteidigung stieg. Dann tauchte plötzlich Giroldi auf, der den Menschen zeigte, daß organisierte Wettkämpfe zufälligen Begegnungen vorzuziehen waren. Alle übrigen Disziplinen der Spiele waren nicht so leicht einzuführen, aber auch dieses Hindernis wurde nach einiger Zeit überwunden. Einzelheiten brauchen uns nicht zu interessieren; wir beschäftigen uns nur mit dem Endprodukt. Und das bist du. Wir brauchen dich, sehr sogar.«

»Warum ausgerechnet mich?« fragte Brion. »Weil ich die Spiele gewonnen habe? Das kann ich nicht glauben. Objektiv gesehen besteht nur ein äußerst geringer Unterschied zwischen mir und den nächsten zehn nach mir. Warum wendet ihr euch nicht an einen von ihnen? Die anderen wären der Aufgabe ebenso gut gewachsen.«

»Nein, das wären sie nicht. Ich werde dir später erklären, warum ich nur dich gebrauchen kann. Aber wir haben nicht mehr sehr viel Zeit, deshalb muß ich dich so bald wie möglich überzeugen.« Ihjel warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Nicht mehr ganz drei Stunden. In dieser Zeit muß ich dir genügend von unserer Arbeit erklärt haben, daß du in der Lage bist, dich dafür zu entscheiden, ob du freiwillig für uns tätig sein willst.«

»Ein ehrgeiziges Vorhaben«, meinte Brion. »Du könntest mir vor allem zuerst erklären, wer oder was hinter diesem ›wir‹ steht, das du ständig benützt.«

»Die Gesellschaft für kulturelle Beziehungen. Eine private Organisation, die sich das Ziel gesetzt hat, für das Wohl unabhängiger Planeten zu sorgen, damit alle friedlich miteinander leben und Handel treiben können.«

»Klingt wie ein Zitat«, stellte Brion fest. »Kein Mensch kann einen Satz dieser Art ohne längeres Nachdenken von sich geben.«

»Ich habe zitiert — aus der Satzung der Gesellschaft. Das klingt alles ganz schön und gut, aber im Augenblick befassen wir uns mit speziellen Problemen. Mit dir. Du bist das Erzeugnis einer straff organisierten und sehr fortgeschrittenen Gesellschaft. Deine Erziehung war von Anfang an nicht schlecht, aber dadurch, daß du an den Spielen teilgenommen hast, ist sie notwendigerweise erstklassig geworden. Du hättest dein ganzes Leben vergeudet, wenn du dich jetzt mit deinen Kenntnissen auf eine Farm zurückziehen würdest.«

»Halt, nicht so voreilig! Ich wollte…«

»Du mußt Anvhar einfach vergessen!« unterbrach ihn Ihjel. »Dieser nette kleine Planet kann recht gut ohne deine geschätzte Anwesenheit auskommen. Du darfst nicht mehr an Anvhar denken, sondern solltest dich eher mit den Millionen von Menschen beschäftigen, die elend dahinvegetieren. Du mußt dir Gedanken darüber machen, wie du ihnen helfen kannst.«

»Aber was kann ich für sie tun — als einzelner Mensch? Die Zeiten sind längst vergangen, in denen ein Mann wie Alexander oder Cäsar allein die Welt verändern konnte.«

»Wahr — und doch nicht wahr«, sagte Ihjel. »Schließlich wird es immer Fälle geben, in denen ein einziger Mensch eine Reaktion auslösen kann — wie ein Katalysator, der einen chemischen Prozeß in Gang bringt oder zumindest beschleunigt. Du könntest einer dieser Menschen sein, aber ich will dir ganz ehrlich sagen, daß ich vorläufig noch nicht beurteilen kann, wie groß deine Erfolgsaussichten in dieser Richtung sind. Deshalb werde ich mich darauf beschränken, an dein Verantwortungsbewußtsein zu appellieren.«

»Wem gegenüber sollte ich dieses Verantwortungsbewußtsein empfinden?«

»Der Menschheit gegenüber — den Milliarden von Menschen vor dir, die alles das geschaffen haben, was das Leben dir heute bietet. Was sie dir gegeben haben, mußt du an andere weitergeben.«

»Einverstanden. Dein Argument klingt durchaus einleuchtend, aber trotzdem ist es nicht gut genug, um mich innerhalb der nächsten drei Stunden aus dem Bett zu bringen.«

»Gar nicht schlecht«, meinte Ihjel zufrieden. »Du findest meine Auffassung wenigstens nicht völlig unsinnig. Jetzt müssen wir sie nur noch auf dich anwenden. Ich werde dir folgende Behauptung zu beweisen versuchen: Es gibt einen Planeten mit einer Bevölkerung von sieben Millionen. Dieser Planet wird in absehbarer Zeit völlig zerstört werden, falls ich es nicht verhindern kann. Das ist meine Aufgabe, deshalb bin ich auf dem Weg dorthin. Ich kann den Auftrag aber nicht allein durchführen, deshalb bin ich auf dich angewiesen. Nur auf dich — nicht auf einen anderen, der dir ähnlich ist.«

»Du hast nur noch sehr wenig Zeit, um mir alles das zu beweisen«, sagte Brion, »deshalb möchte ich dir deine Aufgabe etwas erleichtern. Deine Arbeit, dieser Planet, die Menschen in Gefahr — das alles sind Tatsachen, die du ohne Zweifel belegen kannst. Ich riskiere einfach, daß du mir einen Bären aufgebunden hast, und nehme an, daß du mir alles hättest beweisen können, wenn du mehr Zeit gehabt hättest. Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt angelangt. Wie willst du mich davon überzeugen, daß ich der einzige Mensch in der gesamten Galaxis bin, der dir helfen kann?«

»Ich brauche dich nur auf deine einzigartige Fähigkeit hinzuweisen, derentwegen ich überhaupt hier bin.«

»Fähigkeit? Ich unterscheide mich in keiner Weise von allen anderen Menschen auf Anvhar.«

»Das ist ein Irrtum«, widersprach Ihjel. »Im Gegenteil, du bist der lebende Beweis für eine fortgeschrittene Evolution. Jede Rasse — die Menschheit eingeschlossen — bringt einzelne Wesen hervor, die auf bestimmten Gebieten außerordentlich begabt sind. Ich habe die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten zurückverfolgt, aber du bist tatsächlich der einzige Empath, der in dieser Zeit geboren wurde.«

»Was ist eigentlich ein Empath — und wie erkennt man einen, wenn man ihn gefunden hat?« Brion lachte vor sich hin, als habe er einen guten Witz gemacht.

»Ich kann einen Empathen erkennen, weil ich selbst einer bin — das ist die einzige Möglichkeit. Ein Beispiel dafür, wie projizierte Empathie funktioniert, hast du am eigenen Leib verspürt, als du diese merkwürdigen Gedanken über Anvhar hattest. Es wird lange dauern, bis du diese Technik ebenfalls beherrschst, aber rezeptive Empathie ist dir angeboren. Du versetzt dich damit in die Gedankenwelt eines anderen Menschen. Dieser Vorgang ist allerdings nicht mit Gedankenübertragung zu verwechseln, denn ein Empath spürt die Gefühle und Gemütsbewegungen seines Gegenübers. Einen ausgebildeten Empathen kann man nicht belügen, weil er die wirkliche Haltung spürt, die sich hinter den Worten verbirgt. Selbst dein vorläufig noch unausgebildetes Talent hat sich in den Spielen als äußerst nützlich erwiesen. Du konntest deine Gegner besiegen, weil du jede ihrer Bewegungen bereits im voraus ahntest. Diese Fähigkeit hast du als natürlich hingenommen.«

»Woher weißt du das?« fragte Brion überrascht.

Ihjel lächelte. »Ich habe es eben erraten. Du wirst dich daran erinnern, daß ich auch einmal die Spiele gewonnen habe — ohne damals eine Ahnung von Empathie zu haben. Damit wären wir wieder bei dem Beweis angelangt, den ich noch zu führen habe, damit du endlich überzeugt bist. Ich glaube, daß du der einzige Mensch bist, der mir helfen kann — und in dieser Beziehung kann ich nicht lügen. Man kann einen Glauben vortäuschen, kann ihn mit falschen Angaben untermauern, oder sogar davon abkommen und einen anderen annehmen. Aber man kann sich nicht selbst anlügen.

Und was genauso wichtig ist — man kann einem Empathen gegenüber seine Überzeugung nicht anders darstellen, als sie wirklich ist. Möchtest du sehen, was ich über das alles denke? ›Sehen‹ ist ein schlechter Ausdruck dafür — aber für dieses Gebiet gibt es noch keinen speziellen Wortschatz. Sagen wir lieber, möchtest du meine Gefühle teilen? Möchtest du meine Vorstellungen und Erinnerungen so spüren, wie ich sie spüre?«

Brion wollte protestieren, aber dafür war es bereits zu spät. Er erlag dem Ansturm der Vorstellungen, die über ihn hereinbrachen.

»Dis…« sagte Ihjel laut. »Sieben Millionen Bewohner… Wasserstoffbomben… Brion Brandd.« Das waren nur Schlüsselworte, aber bei jedem Begriff spürte Brion deutlich, welche Vorstellungen Ihjel damit verband.

Hier konnte niemand mehr lügen — in diesem Punkt hatte Ihjel recht. Das waren tiefgehende, grundlegende Empfindungen, unverfälschte Reaktionen auf Dinge und Symbole in dem Gedächtnis eines Menschen.


DIS… DIS… DIS… das war ein Wort, das war ein Planet und das Wort dröhnte wie eine Glocke eine Glocke und es klang wie ein gewaltiger Donner und war

eine Wüste ein Planet

des Todes eine Welt wo

Leben Tod bedeutete und

Sterben viel besser war

als das Leben


grausamer Sand Wüste glühend-

barbarischer heißer Sand Sand und

unterentwickelter Menschen so primitiv

elender DIS schmutzig barbarisch

unglaublich unmenschlich weniger

schmutziger als menschlich zu-

Planet rückgeblieben

aber…

sie

alle

würden

kurze

Zeit

später

TOT

sein und dann waren sie TOT und sieben Millionen verkohlter Leichen würden in Träumen allen Träumen erscheinen und sie für immer zur Hölle machen denn

WASSERSTOFFBOMBEN

lagen bereit um

sie alle zu

TÖTEN

falls… falls… falls…

du Ihjel nicht rechtzeitig eingreifst du Ihjel (TOD) du (TOD) du (TOD) kannst es nicht allein schaffen du (TOD) bist auf Unterstützung angewiesen von

BRION BRANDD

der-noch-naß-hinter-den-Ohren-untrainierte-ahnungslose-Brion-Brandd-muß-dir-helfen er ist der einzige Mensch in der gesamten Galaxis der die gestellte unendlich komplizierte

AUFGABE

fortführen kann…


Als der Ansturm von Ihjels Vorstellungen nachließ und schließlich völlig aussetzte, lag Brion nach Atem ringend in seine Kissen gelehnt und war von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet. Ihjel saß unbeweglich neben ihm und stützte den Kopf in die Hände. Dann sah er Brion wortlos an, und Brion erkannte in den Augen des anderen einen Schatten der abgrundtiefen Dunkelheit, die er noch vor Sekunden selbst empfunden hatte.

»Tod«, sagte Brion unsicher. »Dieses schreckliche Gefühl, daß der Tod unmittelbar bevorsteht. Es handelte sich nicht um den Tod der Menschen von Dis, sondern um eine sehr persönliche Empfindung.«

»Um mich«, antwortete Ihjel, und hinter diesen beiden kurzen Wörtern verbarg sich die Nacht, die jetzt auch Brion zugänglich sein würde. »Um meinen eigenen Tod, der nicht mehr sehr weit entfernt sein kann. Das ist der schreckliche Preis, den wir für unsere einmalige Begabung zahlen müssen. Angst und Empathie sind untrennbar miteinander verbunden. Der Tod ist so entscheidend und endgültig, daß er die Grenzen von Raum und Zeit durchdringt. Je mehr ich mich diesem Endpunkt nähere, desto deutlicher spüre ich, daß ich ihn bald erreicht haben werde. Allerdings kann ich den Tag nicht genau festlegen, sondern nur ungefähr einen Zeitpunkt vermuten. Das ist das Schreckliche daran. Ich weiß nur, daß ich bald sterben werde, nachdem ich auf Dis angekommen bin — lange bevor ich meine Aufgabe dort gelöst habe. Ich weiß, welche Arbeit dort zu leisten ist, und ich weiß auch, wie viele Männer dabei bereits versagt haben. Außerdem weiß ich, daß du der einzige Mensch bist, der meine Arbeit fortführen kann, nachdem ich sie begonnen habe. Hast du das alles verstanden? Willst du mich begleiten?«

»Ja, selbstverständlich«, gab Brion zurück. »Ich komme mit.«

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