7

In der kühlen Nachtluft hätten sie auf dem festen Sand rasch vorankommen müssen. Lea machte dieses Vorhaben fast zunichte. Der erlittene Schock wirkte so stark in ihr nach, daß sie ihre innersten Befürchtungen vor sich hin murmelte, während sie neben Brion vorwärtsstolperte. Sie schien mit sich selbst zu sprechen und erwähnte vieles, was keinerlei Zusammenhang mit ihrer mißlichen Lage hatte. Meistens sprach sie davon, daß sie sich verirren und an Hunger, Durst oder Hitze sterben würden. Aber von Zeit zu Zeit erwähnte sie auch andere Dinge, die Brion verstand, obwohl er nicht zuzuhören versuchte. Angst vor einem schlechten Examen, eine alleinstehende Frau in einer von Männern beherrschten Welt, ein namenloses Wesen inmitten der Milliarden von Menschen, von denen die Erde bevölkert war.

Sie fürchtete sich aber auch vor anderen Dingen, die der Mann von Anvhar nicht begriff. Wer waren die Alkianer, um derentwillen sie sich Sorgen machte? Oder was war Canceri? Daydle und Haydle? Wer war Manstan, dessen Name immer wieder auftauchte, während Lea gleichzeitig einen leisen Seufzer ausstieß?

Brion blieb stehen und nahm sie auf die Arme. Sie lehnte sich an seine breite Brust und schlief sofort ein. Selbst mit diesem zusätzlichen Gewicht kam er jetzt rascher voran und ging so schnell wie möglich, um die kühlen Nachtstunden auszunützen.

Dann erreichte er eine mit Steinen übersäte Ebene, in der sich die Spur des Sandwagens verlor. Er suchte nicht lange danach, denn er hatte sich bereits vorher versuchsweise nach den Sternen orientiert. Auf Dis gab es keinen Polarstern, aber ein beinahe rechteckiges Sternbild ersetzte ihn. Wenn er diese Konstellation in eine Linie mit seiner rechten Schulter brachte, befand er sich genau auf dem Weg in Richtung Westen.

Als seine Arme müde wurden, ließ er Lea vorsichtig zu Boden gleiten; sie wachte nicht einmal auf. Nach einer kurzen Pause stellte er aus seiner Jacke eine Art Rucksack her, in dem er sie auf dem Rücken tragen konnte. Nun kam er wieder rascher voran. Vor ihm erstreckten sich jetzt Dünen, die kein Ende zu nehmen schienen.

Als im Osten der erste Sonnenstrahl den Himmel färbte, blieb er schwer atmend stehen, um noch einmal den Weg festzulegen, dem sie folgen mußten. Ein Strich im Sand zeigte nach Norden, ein zweiter wies in die Richtung, in der Hovedstad liegen mußte. Als die Sterne langsam verblaßten, wusch er sich den Mund mit einem Schluck Wasser aus und ließ sich neben Lea in den Sand nieder.

Der Sonnenaufgang beeindruckte ihn zutiefst. Brion überlegte sich, daß er dieses Erlebnis in irgendeiner Form festhalten müsse. Vielleicht in einem Vierzeiler? Kurz genug, um ihn leicht zu behalten, und doch in seiner gedrängten Aussagekraft wirkungsvoll. In den Spielen hatte er auf diesem Gebiet gut abgeschnitten. Auch diesmal mußte er sich Mühe geben, damit er Taind, seinem Poesielehrer, keine Schande machte.

»Was murmeln Sie da vor sich hin?« fragte Lea plötzlich und sah zu ihm auf.

»Ein Gedicht«, antwortete Brion. »Pst, einen Augenblick.«

Das war zuviel für Lea, nachdem sie diese Nacht mit letzter Kraft überstanden hatte. Sie begann zu lachen und lachte noch lauter, als er ihr einen bösen Blick zuwarf. Erst als sie selbst merkte, wie hysterisch dieses Lachen klang, schwieg sie endlich. Die Sonne stieg am Horizont auf und überflutete sie mit Wärme. Lea stieß einen Schrei aus.

»Sie haben einen Schnitt am Hals! Sie verbluten!«

»Keine Angst«, beruhigte er sie und berührte die Wunde mit den Fingerspitzen. »Nur oberflächlich.«

Er fühlte sich plötzlich deprimiert, als er an den Kampf in der vergangenen Nacht zurückdachte. Lea bemerkte nicht, daß sein Gesichtsausdruck sich verändert hatte, denn sie wühlte in ihrer Tasche. Wie schnell und leicht er getötet hatte! Drei Männer. Wie dicht unter der Oberfläche lauerte doch das Tier in jedem Menschen. Als sein Freund ums Leben gekommen war, hatte er sich selbst in einen Mörder verwandelt. Er hatte immer geglaubt, daß ein Menschenleben heilig sei — bis dieser Glaube auf die Probe gestellt wurde. Dann hatte er ohne Zögern getötet. Und jetzt fühlte er sich nicht einmal schuldig, sondern empfand nur einen gewissen Schock über diesen plötzlichen Glaubenswandel. Aber nicht mehr.

»Heben Sie das Kinn hoch«, sagte Lea. Sie hielt den Antiseptikstift in der Hand, den sie in dem Verbandskasten gefunden hatte. Brion hob gehorsam den Kopf und ließ sich das Mittel auf die Wunde streichen. Antibiotabletten wären besser gewesen, nachdem die Wunde bereits blutverkrustet war, aber er widersprach trotzdem nicht. Im Augenblick hatte Lea ihre eigenen Sorgen vergessen, weil sie sich um ihn kümmern konnte. Er behandelte auch ihre Beule mit dem Stift, und sie stieß einen leisen Schrei aus. Dann schluckten sie beide drei Antibiotabletten.

»Die Sonne ist schon ziemlich heiß«, stellte Lea fest und zog sich den warmen Pullover aus, den Brion ihr nachts übergestreift hatte. »Am besten suchen wir uns eine kühle Höhle und verschlafen dort den Rest des Tages.«

»In dieser Gegend wird kaum eine zu finden sein. Nur Sand. Wir müssen weitermarschieren…«

»Ich weiß, daß wir marschieren müssen«, unterbrach sie ihn. »Sie brauchen mir keinen Vortrag darüber zu halten. Sie sind ungefähr genau so nüchtern und kalt wie die Zentralbank der Erde. Entspannen Sie sich. Zählen Sie bis zehn und wieder rückwärts.«

»Dazu haben wir leider keine Zeit. Wir müssen weiter.« Brion erhob sich langsam, nachdem er ihre wenigen Habseligkeiten wieder verpackt hatte. Als er an dem Strich im Sand entlangsah, der ihre Marschrichtung markieren sollte, hatte er ein endloses Meer von Sanddünen vor sich. Er half Lea auf die Beine und ging langsam auf die Dünen zu.

»He, einen Augenblick«, rief Lea hinter ihm her. »Wohin wollen Sie eigentlich?«

»In diese Richtung«, erklärte er ihr und wies nach Westen. »Ich hatte gehofft, daß wir dort eine Art Wegweiser finden würden, aber diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Jetzt müssen wir uns auf meine Fähigkeiten in der Koppelnavigation verlassen. Die Sonne wird uns den richtigen Weg zeigen. Und nachts haben wir wieder die Sterne.«

»Das alles soll ein Mensch auf nüchternen Magen aushalten?« fragte Lea ungläubig. »Ohne Frühstück? Ich habe Hunger — und Durst.«

»Nichts zu essen.« Brion schüttelte die Wasserflasche, die bereits halb leer gewesen war, als er sie gefunden hatte. »Mit Wasser müssen wir sparsam umgehen, weil wir es später noch nötiger brauchen.«

»Ich brauche es jetzt«, meinte sie kurz. »Mein Mund ist völlig ausgedörrt.«

»Aber nur einen Schluck«, antwortete Brion nach kurzem Zögern. »Mehr haben wir nicht.«

Lea schloß die Augen, als sie trank. Brion verschloß die Flasche und steckte sie in die Tasche zurück, ohne selbst getrunken zu haben. Sie waren bereits mit Schweiß bedeckt, bevor sie die erste Düne überwunden hatten.

Die Wüste war tot und leer; sie waren die einzigen Lebewesen unter der glühenden Sonne. Als ihre Schatten immer kürzer wurden, nahm die Hitze allmählich zu. Lea stützte sich auf Brions Arm. Brion ging gleichmäßig weiter und schien die Hitze nicht zu spüren.

»Ob das Zeug eßbar ist — oder Wasser enthält?« Brions Stimme klang vor Anstrengung heiser. Lea kniff die Augen zusammen und starrte das kugelförmige Ding vor ihnen an. Ob es Tier oder Pflanze war, ließ sich nicht ohne weiteres feststellen. Brion stieß es vorsichtig mit der Stiefelspitze an. Das Ding zog sich zusammen, als wolle es im Sand verschwinden. Im gleichen Augenblick schnellte eine Art Nadel vor, berührte Brions Stiefel und zog sich wieder zurück. Auf dem harten Plastikmaterial wurde ein Kratzer sichtbar, an dem einige Tropfen einer grünlichen Flüssigkeit hingen.

»Wahrscheinlich Gift«, meinte Brion und bohrte seinen Stiefel in den Sand. »Mit dem Zeug ist bestimmt nicht zu spaßen. Marschieren wir lieber weiter.«

Lea brach zusammen, bevor die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. Sie wollte sich weiterschleppen, aber ihr Körper versagte den Dienst. Die dünnen Sohlen ihrer Schuhe boten keinen wirksamen Schutz gegen den glühenden Sand. Die Luft, die sie atmete, schien wie geschmolzenes Metall, das sich in ihre Lungen ergoß. Sie spürte jeden Herzschlag in der Wunde an ihrem Kopf, bis sie glaubte, ihr Schädel müsse jeden Augenblick vor Schmerzen zerspringen. Obwohl sie nur noch den dünnen Kittel trug — Brion hatte nicht verhindern können, daß sie die schützende Bekleidung ablegte — keuchte sie unter der schrecklichen Hitze, die jeden Atemzug zur Qual machte.

Der heiße Sand verbrannte ihre Knie und Hände, aber sie konnte nicht mehr aufstehen. Sie mußte alle Kraft zusammennehmen, um nicht gänzlich zu Boden zu sinken. Mit geschlossenen Augen schwankte sie hilflos hin und her, als sich alles um sie zu drehen schien.

Brion sah zu ihr hinunter. Dann nahm er sie auf und trug sie, wie er es schon in der vergangenen Nacht getan hatte. Sie atmete unregelmäßig. Er wischte sich eine Hand ab und legte sie ihr auf die Stirn. Die Haut war heiß und trocken.

Hitzeschock mit den typischen Anzeichen. Trockene Haut, schneller Puls, unregelmäßiger Atem. Ihre Körpertemperatur stieg rasch an, als ihre Widerstandskraft gegen die Hitze erlahmte.

Hier konnte er sie nicht vor der brennenden Sonne schützen. Er flößte ihr einen winzigen Schluck Wasser ein, nahm sie wieder auf die Arme und ging weiter. In einiger Entfernung erhob sich ein Felsvorsprung, der einen kleinen Schatten warf. Brion marschierte darauf zu.

Im Schatten des Felsens war der Sand fast kühl, weil die Sonne ihn hier nicht erwärmen konnte. Lea öffnete die Augen, als er sie vorsichtig zu Boden gleiten ließ, und sah zu ihm auf. Sie wollte sich für ihren Schwächeanfall entschuldigen, brachte aber kein Wort heraus, weil ihre Kehle zu trocken war. Sein Körper über ihr schien in der Sonnenglut hin und her zu schwanken, wie ein Baum, der vom Sturm bewegt wird.

Dann riß sie erschrocken die Augen auf, denn Brion schwankte wirklich. In diesem Augenblick wurde ihr plötzlich klar, wie sehr sie auf seine unerschöpflichen Kraftreserven vertraut hatte — und jetzt waren sie erschöpft. Seine Muskeln traten deutlich hervor, als sie seinen Körper aufrecht zu halten versuchten. Er öffnete den Mund und stieß einen lautlosen Schrei aus. Dann schrie sie auf, als er wie ein gefällter Baum niederstürzte und schwer auf den Sandboden schlug. Lea konnte nicht feststellen, ob Brion nur bewußtlos oder bereits tot war. Sie zog an seinem Bein, hatte aber nicht mehr die Kraft, ihn in den Schatten zu ziehen.

Brion lag auf dem Rücken in der Sonne und schwitzte. Also war er wenigstens noch am Leben. Aber was war mit ihm? Sie versuchte sich an die Dinge zu erinnern, die sie auf der Universität gelernt hatte, fand aber keine Erklärung für dieses Phänomen. Jeder Quadratzentimeter seines Körpers war mit dicken Schweißperlen bedeckt, die aus einer öligen Flüssigkeit bestanden. Seine Brust hob und senkte sich rasch, als er keuchend nach Atem rang. Lea beobachtete ihn fassungslos und fragte sich nur, ob sie verrückt werden würde, bevor das Ende kam.

Brions Körper wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Nun atmete er wieder leichter, obwohl der Schweiß noch immer aus allen Poren trat. Sekunden später bewegte er sich, rollte sich auf die Seite und sah zu Lea hinüber. Er lächelte.

»Tut mir leid, wenn ich Sie eben erschreckt habe. Ich war selbst völlig überrascht davon, deshalb hat es mir einen solchen Schlag versetzt. Ich werde Ihnen einen Schluck Wasser bringen — wir haben noch etwas übrig.«

»Was war denn mit Ihnen los? Als Sie plötzlich umfielen, dachte ich…«

»Einen Schluck, aber nicht mehr«, sagte er und hielt ihr die Wasserflasche an den Mund. »Nur die Umstellung auf den Sommer, sonst nichts. Auf Anvhar ist das jedes Jahr so — allerdings nicht so heftig. Im Winter setzen unsere Körper Fett an, um sich vor der Kälte zu schützen. Sobald die heiße Jahreszeit kommt, läuft dieser Prozeß in umgekehrter Richtung ab, und das Fett wird einfach ausgeschwitzt. Die hier herrschende Hitze muß diesen Vorgang beschleunigt haben.«

»Sie meinen — Sie haben sich also an diesen schrecklichen Planeten angepaßt?«

»Beinahe. Allerdings ist mir ein bißchen warm. Ich brauche bald eine Menge Wasser, deshalb können wir nicht hierbleiben. Glauben Sie, daß Sie die Sonne aushalten können, wenn ich Sie trage?«

»Nein, aber hier fühle ich mich auch nicht besser.« Lea zuckte erschöpft mit den Schultern. »Tun Sie, was Sie für richtig halten.«

Brion hob sie auf und setzte seinen Weg fort. Schon nach wenigen Metern im vollen Sonnenlicht wurde Lea wieder ohnmächtig. Er stolperte weiter und spürte dabei, daß er bald am Ende seiner Kräfte angelangt sein würde. Er kam immer langsamer voran, denn jetzt erschien ihm eine Düne höher als die andere. Riesige Felsbrocken versperrten ihm den Weg und mußten mühsam umgangen werden. Unterhalb eines dieser Felsen sah Brion einige Pflanzen stehen. Er wollte schon vorbeigehen, blieb aber doch nachdenklich stehen. Was war ihm an den Pflanzen aufgefallen? Sie waren irgendwie anders. Diese Pflanzen hier unterschieden sich von allen anderen, die er im Laufe des Tages gesehen hatte.

Er mußte sich überwinden, bevor er schließlich doch die wenigen Schritte zurückging. Dann sah er hilflos auf die Pflanzen hinunter. Richtig, sie waren anders — einige von ihnen waren dicht über dem Sand abgeschnitten worden. Nicht auf natürliche Weise abgebrochen, sondern offensichtlich mit einem Messer vom Stiel getrennt. Die Schnittstellen waren längst vertrocknet, aber trotzdem faßte Brion wieder etwas Hoffnung. Dies war das erste Anzeichen dafür, daß auf diesem Planeten wirklich Menschen außerhalb der Städte lebten. Und zu welchem Zweck diese Pflanzen auch abgeschnitten worden waren, sie konnten sich jedenfalls als nützlich erweisen. Essen — vielleicht sogar Trinken. Brions Hände zitterten, als er Lea in den Schatten eines Felsens gleiten ließ. Sie bewegte sich nicht.

Sein Messer war scharf, aber seine Hände hatten kaum noch Kraft. Er keuchte vor Anstrengung, als er einen Stengel durchtrennte. Von der Schnittstelle tropfte eine weißliche Flüssigkeit zu Boden. Brion hielt seine Hand darunter und wartete, bis sie sich mit dem Pflanzensaft gefüllt hatte.

Die Flüssigkeit war nicht so warm, wie er es erwartet hätte.

Bestimmt bestand sie zum größten Teil aus Wasser. Aber Brion zögerte trotzdem einen Augenblick, als er die Hand an die Lippen hob, und versuchte den Saft zuerst einmal mit der Zungenspitze.

Nichts — aber dann folgte ein stechender Schmerz, der seine Kehle lähmte. Brion sank in die Knie und preßte beide Hände gegen den Magen. Er übergab sich und verlor dabei eine beträchtliche Menge lebensnotwendiger Körperflüssigkeit.

Die Verzweiflung war schlimmer als die Schmerzen. Der Pflanzensaft mußte sich irgendwie verwenden lassen; es mußte eine Methode geben, nach der er sich entgiften oder neutralisieren ließ. Aber Brion, der auf diesem Planeten fremd war, würde längst tot sein, bevor er dieses Verfahren entdeckt hatte.

Er versuchte nicht daran zu denken, wie nahe ihm dieses Ende bereits bevorstand. Lea schien plötzlich doppelt so schwer wie zuvor, und einen Augenblick lang überlegte er, ob er sie nicht zurücklassen solle. Aber gleichzeitig hob er sie auf und schleppte sich weiter. Langsam näherte er sich dem höchsten Punkt der Düne. Endlich hatte er ihn erreicht und sah den Disaner wenige Schritte von sich entfernt stehen.

Sie waren durch dieses plötzliche Zusammentreffen beide zu überrascht, um sofort zu reagieren. Einige Sekunden lang starrten sie sich unbeweglich an. Als sie dann doch reagierten, bewiesen sie beide ihre Angst. Brion ließ Lea fallen und riß seine Pistole aus dem Halfter. Der Disaner zog eine kurze Röhre aus dem Gürtel und setzte sie an den Mund.

Brion schoß nicht. Sein toter Freund hatte ihn gelehrt, wie er seine außergewöhnliche Begabung anzuwenden hatte. Trotz der Angst, aus der heraus er am liebsten geschossen hätte, registrierte er die Gefühlsregungen des Disaners. Er spürte Angst und Haß. Aber auch ein starkes Bedürfnis, diesmal nicht zum Angriff überzugehen, sondern zu einer Verständigung zu gelangen. Brion erkannte, daß er schnell handeln mußte, um eine nachteilige Entwicklung aufzuhalten. Er ließ seine Pistole fallen.

Im selben Augenblick bereute er es. Er hatte Leas und sein Leben aufs Spiel gesetzt, obwohl er sich seiner Fähigkeit noch nicht völlig sicher war. Der Disaner hielt die Röhre noch immer an den Mund. Dann steckte er sie langsam in den Gürtel zurück.

»Hast du etwas Wasser für uns?« fragte Brion.

»Ich habe Wasser«, antwortete der Mann. Er hatte sich noch immer nicht bewegt. »Wer seid ihr? Was tut ihr hier?«

»Wir kommen von einem anderen Planeten. Wir haben… einen Unfall gehabt. Wir müssen in die Stadt. Das Wasser.«

Der Disaner warf einen Blick auf die bewußtlose Lea und faßte einen Entschluß. Über der linken Schulter trug er eine Art grüne Ranke, die Brion von dem Bild her wiedererkannte. Er nahm das Ding herunter — es bewegte sich in seinen Händen. An einem Ende war eine Öffnung zu erkennen, die wie ein Blütenkelch geformt war. Der Disaner hielt sie Brion entgegen. »Hier, daran kannst du trinken. Du mußt sie an den Mund halten«, erklärte er.

Lea brauchte das Wasser dringender, aber Brion wollte diese lebende Wasserquelle zunächst selbst versuchen. Er hob sie an den Mund und trank. Die Flüssigkeit schmeckte heiß und abgestanden. Brion spürte einen scharfen Schmerz um den Mund herum und riß das Ding von sich fort. Winzige Stacheln standen aus dem Blütenkelch hervor und waren nun von seinem Blut rot gefärbt. Brion wandte sich ärgerlich zu dem Disaner um — und schwieg, als er einen Blick auf das Gesicht des Mannes geworfen hatte. Der Mund des anderen war von kleinen weißen Narben umgeben.

»Die Vaede gibt ihr Wasser nicht gern her, aber sie tut es trotzdem immer«, sagte der Mann.

Brion trank nochmals und hielt die Vaede dann an Leas Mund. Ihre Lippen bewegten sich, als sie langsam trank. Als sie genug getrunken hatte, zog Brion vorsichtig die Stacheln heraus und trank selbst noch einmal. Der Disaner hatte sich niedergekauert und beobachtete sie ausdruckslos. Brion gab die Vaede zurück und kauerte sich ebenfalls nieder, um den anderen besser sehen zu können.

Der Disaner schien sich in der Sonnenhitze durchaus wohl zu fühlen. Auf seiner dunkelbraunen Haut zeigte sich nicht ein einziger Schweißtropfen. Er hatte lange schwarze Haare und leuchtend blaue Augen, die tief in den Höhlen lagen. Seine Bekleidung bestand nur aus einem Stück Tuch, das er um die Hüften gewickelt trug. An seinem Gürtel baumelten einige der Gegenstände, die Brion schon früher auf dem Bild gesehen hatte. Wenn man annahm, daß sie einen bestimmten Zweck erfüllten — also nicht nur zur Dekoration dienten -, dann mußte man ihren Besitzer nicht mehr als Wilden, sondern als halbwegs zivilisiert ansehen.

»Ich heiße Brion. Und du…«

»Du brauchst meinen Namen nicht zu wissen. Warum seid ihr hier? Um mein Volk zu vernichten?«

Brion verdrängte alle Gedanken an die vergangene Nacht, in der er tatsächlich Disaner getötet hatte. Der andere schien eine unbestimmte Hoffnung zu nähren, die Brion unterstützen mußte, indem er offen sprach.

»Ich bin hier, um dafür zu sorgen, daß dein Volk nicht vernichtet wird. Ich will den Krieg verhindern.«

»Kannst du das beweisen?«

»Ja, wenn du mich in die Stadt zu der Gesellschaft für kulturelle Beziehungen bringst. Hier in der Wüste kann ich nichts tun. Nur sterben.«

Zum erstenmal veränderte sich der starre Gesichtsausdruck des Disaners. Der Mann murmelte etwas vor sich hin und runzelte dabei die Stirn. Über seinen Augenbrauen erschienen plötzlich Schweißperlen, als er mit sich selbst kämpfte. Dann hatte er seine Entscheidung getroffen und stand auf. Brion erhob sich ebenfalls.

»Komm mit. Ich bringe euch nach Hovedstad. Aber zuvor möchte ich etwas wissen — kommt ihr von Nyjord?«

»Nein.«

Der namenlose Disaner nickte zufrieden und drehte sich um. Brion hob die noch immer bewußtlose Lea vom Boden auf und folgte ihm. Sie marschierten fast zwei Stunden lang, bevor sie wieder eine Ansammlung von größeren Felsen erreichten. Der Eingeborene zeigte auf einen besonders markanten Felsbrocken. »Wartet hier«, sagte er. »Ich werde jemand schicken.« Er sah zu, wie Brion Lea im Schatten des Felsens ablegte, und gab ihm noch einmal die Vaede. Als er schon gehen wollte, drehte er sich nochmals zögernd um.

»Ich heiße Ulv«, sagte er. Dann verschwand er hinter den Felsen.

Brion gab sich größte Mühe, um Lea so gut wie möglich zu versorgen, aber er konnte nicht viel für sie tun. Wenn sie nicht bald in ärztliche Behandlung kam, würde sie sterben. Wassermangel und der Hitzeschock schwächten ihren angegriffenen Körper zusehends.

Kurz vor Sonnenuntergang hörte er das Motorengeräusch eines Sandwagens, der von Westen her näherkam.

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