»Reiner Selbstmord«, meinte der größere Posten.
»Aber meiner, nicht Ihrer, deshalb brauchen Sie sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen«, wies Brion ihn zurecht. »Wiederholen Sie Ihren Auftrag!«
Der Wachposten zuckte mit den Schultern. »Wir bleiben in dem Wagen und lassen den Motor laufen, während Sie in den Steinhaufen dort drüben gehen. Wir lassen niemand in den Wagen oder auch nur in die Nähe, dürfen aber nur im Notfall von der Waffe Gebrauch machen. Wir folgen Ihnen auf keinen Fall, sondern erwarten Sie hier. Nur wenn Sie uns über Funk rufen, dringen wir in das Gebäude ein und machen von der Waffe Gebrauch. Das ist allerdings der letzte Ausweg.«
»Können Sie es nicht so arrangieren, daß nur dieser letzte Ausweg bleibt, Sir?« schlug der andere Posten vor und klopfte auf den bläulichen Lauf seiner Waffe.
»Wenn ich letzten Ausweg sage, dann meine ich es auch«, gab Brion wütend zurück. »Ich möchte keine Schießerei ohne meine ausdrückliche Erlaubnis. Sie bleiben hier, um mir den Rücken zu decken. Haben Sie das verstanden?«
Die drei Männer nickten wortlos. Brion schnallte seine Pistole ab, denn die eine Waffe würde im Ernstfall ohnehin nicht genügen. Das winzige Funkgerät an seinem Kragen sandte ein Signal aus, das stark genug war, um die dicksten Mauern zu durchdringen. Er zog die Jacke aus, öffnete die Wagentür und kletterte in den heißen Sand hinunter.
Hundert Meter vor ihm erhob sich das massive, aus schwarzen Felsblöcken erbaute Kastell. Brion bewegte sich darauf zu und hielt gleichzeitig nach einem Lebenszeichen Ausschau. Nirgends zeigte sich die geringste Bewegung. Der hohe, unregelmäßig geformte Steinklotz schien in unnahbares Schweigen gehüllt. Brion spürte, daß ihm der Schweiß ausbrach — aber daran war nicht nur die Sonne schuld.
Er ging einmal um das Kastell herum und suchte dabei nach einem Eingang. Zu ebener Erde war keiner zu sehen. Eine steil nach oben führende Rampe an der Außenwand war nicht schwer zu erklimmen, aber Brion erschien es unwahrscheinlich, daß dies der einzige Zugang sein sollte. Er legte die Hände an den Mund und rief so laut er konnte.
»Ich komme hinauf. Euer Funkgerät arbeitet nicht mehr. Ich bringe die Nachricht von den Nyjordern, auf die ihr wartet.« Der letzte Satz entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber Brion wollte sichergehen, daß die Magter ihn einlassen würden. Niemand antwortete ihm, deshalb begann er nach oben zu klettern.
Wenige Minuten später hatte er den Mauerkranz erreicht, von dem aus mehrere Öffnungen in das Innere des Gebäudes führten. Brion stieg eine Treppe hinunter, die nur schwach beleuchtet war. Nachdem er sich einige Male in Gängen verirrt hatte, die plötzlich vor einer Mauer endeten, sah er endlich einen stärkeren Lichtschein vor sich. Noch dreißig Schritte, dann stand er in der Tür eines riesigen Raums, der sich wie ein stumpfer Kegel allmählich nach oben verjüngte. Durch ein rundes Loch in der Decke war der Himmel sichtbar.
Vor Brion stand eine Gruppe von Männern, die ihm entgegensahen.
Aus dem Augenwinkel heraus nahm er weitere Einzelheiten der Einrichtung dieses Raums wahr, deren Zweck er nicht sofort erkannte. Er konnte sich nicht allzu lange damit befassen. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich völlig auf die Männer in den langen Gewändern, die von Kopf bis Fuß verhüllt waren.
Er stand dem Feind gegenüber.
Was er bisher auf Dis erlebt und durchgemacht hatte, war nur eine Vorbereitung auf diesen Augenblick gewesen. Erst jetzt begann der eigentliche Kampf, obwohl ihm im Augenblick noch keine Gefahr zu drohen schien. Als er über diese Tatsache nachdachte, blieb er verwirrt stehen. Was war hier so eigenartig? Keiner der Männer bewegte sich oder gab ein Geräusch von sich. Woher wußte er überhaupt, daß er Menschen vor sich hatte? Die Männer waren so verhüllt, daß nur ihre Augen sichtbar waren.
Brion empfand jedoch keinerlei Zweifel. Er wußte, daß er lebende Menschen vor sich hatte, obwohl sie sich nicht bewegten. Ihre Augen zeigten keinen Ausdruck, sondern nur den leeren Blick eines Raubvogels, der sein Opfer mitleidlos betrachtet. Alles das erkannte Brion, bevor er einen einzigen Schritt getan hatte. Ein Empath konnte sich in dieser Beziehung unmöglich irren.
Die Magter schienen bar jeglicher Gefühle zu sein. Brion spürte eine schwache Ausstrahlung — die automatischen Nervenreaktionen, die einen Organismus am Leben erhalten. Aber nicht mehr als das. Er suchte nach anderen Regungen, entdeckte aber keine. Entweder existierten diese Männer ohne Gefühle irgendwelcher Art, oder sie verbargen sie vor ihm; Brion konnte nicht entscheiden, welche Möglichkeit hier zutraf.
Die Männer starrten ihn noch immer schweigend und unbeweglich an. Sie erwarteten nichts, aus ihrer Haltung war nicht einmal Interesse zu erkennen. Er war zu ihnen gekommen, und nun warteten sie darauf, daß er den Grund dafür nennen würde. Fragen oder andere Zeichen von Neugierde waren überflüssig, deshalb schwiegen sie beharrlich. Brion mußte den ersten Schritt tun.
»Ich bin gekommen, um mit Lig-magte zu sprechen. Wer von euch ist er?« In dem riesigen Raum klang Brions Stimme dünn und leise.
Einer der Männer machte eine kurze Bewegung, um Brions Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die übrigen blieben stehen. Sie warteten noch immer.
»Ich bringe eine Nachricht für Sie«, begann Brion langsam. Er mußte richtig vorgehen. Aber was war hier richtig? »Ich komme von der Gesellschaft für kulturelle Beziehungen in Hovedstad, wie Sie bestimmt wissen. Ich habe mit den Nyjordern gesprochen. Sie lassen Ihnen durch mich eine wichtige Nachricht übermitteln.«
Die Männer schwiegen weiter. Brion schwieg ebenfalls, weil er keinen Monolog halten wollte. Er mußte sich eine Meinung bilden können. Das war unmöglich, wenn er nur die schweigsamen Gestalten vor sich anstarrte. Schließlich ergriff Lig-magte das Wort.
»Die Nyjorder wollen kapitulieren.«
In seiner Stimme lag weder Triumph über den Sieg noch Zweifel an der Richtigkeit seiner Feststellung. Diese Männer wollten nur eine Nachricht von den Nyjordern entgegennehmen. Deshalb mußte Brion sie überbringen. Falls Brion eine andere Nachricht zu übermitteln hatte, hatten die Männer keinerlei Interesse daran.
Das war eine unbestreitbare Tatsache. Wenn sie kein Interesse daran hatten, war Brion von diesem Augenblick an für sie wertlos. Er war ein Feind, weil die Feinde ihn geschickt hatten. Deshalb mußte er getötet werden. Brion dachte diesen Gedanken bis zu Ende durch, weil davon sein Leben abhängen konnte. Das war eine logische Möglichkeit — und jetzt konnte er sich nur noch auf die Logik seiner Gedankengänge verlassen. Der Reaktion dieser Männer nach zu urteilen, hätten sie ebensogut Maschinenwesen sein können.
»Ihr könnt diesen Krieg unmöglich gewinnen — ihr beschleunigt damit nur euer eigenes Ende.« Brion brachte diesen Satz mit Überzeugung hervor, obwohl er wußte, daß der Versuch fehlschlagen würde. Die Verhüllten schwiegen weiter. »Die Nyjorder wissen, daß ihr Kobaltbomben und eine Abschußrampe habt. Sie wollen kein Risiko mehr eingehen. Das Ultimatum ist um einen vollen Tag verkürzt worden. Jetzt bleiben nur noch einundeinhalb Tage, bevor die Wasserstoffbomben fallen und alles Leben auf Dis vernichten. Seid ihr euch darüber im klaren, was das…«
»Ist das die Nachricht?« fragte Lig-magte.
»Ja«, antwortete Brion.
Brion verdankte sein Leben nur seiner außergewöhnlich schnellen Reaktionsfähigkeit und der Tatsache, daß er den Überraschungsangriff bereits im voraus geahnt hatte. Trotzdem konnte er nicht rasch genug ausweichen, als Lig-magte mit geschwungenem Messer auf ihn losstürzte, sondern trug eine Schnittwunde am rechten Oberarm davon.
Alles andere geschah innerhalb weniger Sekunden. Brion wehrte den zweiten Angriff ab und umklammerte die Hand des Gegners, bevor der andere erneut ausholen konnte. Wenn keiner der übrigen Vermummten eingriff, mußte Brion gewinnen, weil er kräftiger als Lig-magte war. Der Disaner hatte keine Wahl mehr — er mußte das Messer fallen lassen, bevor Brion ihm das Handgelenk brach. Er machte keine Anstalten dazu. Brion ahnte plötzlich, daß Lig-magte auf keinen Fall nachgeben würde.
Die Hand des Disaners hing schlaff herab. Brion ließ los und starrte verwirrt in das unbewegliche Gesicht des anderen, auf dem sich kein Schmerz zeigte. Das Messer fiel zu Boden, wo Brion es mit dem Fuß fortstieß. »Hören Sie auf!« sagte er laut. »Sie haben keine Chance mehr!« Er wandte sich an die übrigen Männer, die dem ungleich gewordenen Kampf ungerührt zusahen. Keiner antwortete ihm.
Lig-magte ballte die unverletzte Hand zu einer Faust und griff wieder an. In diesem Augenblick erkannte Brion, daß sein Gegner nicht nachgeben würde, selbst wenn er ihm sämtliche Glieder brach. Dieser Kampf konnte nur auf eine Weise beendet werden. Brion duckte sich, schlug Lig-magtes Arm in die Höhe und rammte ihm die Fingerspitzen der linken Hand in das Nervenzentrum unterhalb des Brustbeins.
Brion hatte eine gute Ausbildung in Karate hinter sich. Der Disaner stolperte noch einige Schritte und brach dann in die Knie. Der Kampf war auf die einzig mögliche Weise entschieden worden.
Brion stand über Lig-magtes Körper und starrte die verhüllten Gestalten an. Sie schwiegen, aber selbst ihre unbewegliche Haltung täuschte ihn nicht über die Lebensgefahr hinweg, in der er sich befand, nachdem er ihren Anführer besiegt hatte.
Eine tödliche Drohung erfüllte den Raum.