Ihjel gab den Ärzten genau vierundzwanzig Stunden, bevor er das Krankenhaus aufsuchte. Brion war doch nicht gestorben, obwohl er in höchster Lebensgefahr geschwebt hatte, nachdem er eingeliefert worden war. Einen Tag später hatte sein Zustand sich bereits erheblich gebessert — und mehr wollte Ihjel gar nicht wissen. Er drängte sich an dem Pflegepersonal vorbei, bis er vor der Tür des Krankenzimmers auf entschlossenen Widerstand stieß.
»Ihr Benehmen ist unmöglich, Sieger Ihjel«, sagte der Arzt bestimmt. »Und wenn Sie sich weiter so aufführen, obwohl Ihnen bereits ausgerichtet wurde, daß Sieger Brandd keinen Besuch empfangen darf, dann muß ich Gewalt anwenden.«
Ihjel schilderte ihm gerade ausführlich, wie gering seine Chancen in diesem Fall seien, als Brion sie beide unterbrach. Er hatte die Stimme des anderen erkannt, nachdem er sie bereits einmal nachts vor der Tür seines Schlafraums gehört hatte.
»Lassen Sie ihn ruhig herein, Dr. Caulry«, sagte er deshalb. »Ich möchte gern den Mann kennenlernen, der glaubt, daß es etwas Wichtigeres als die Spiele geben könne.«
Während der Arzt noch überlegte, drängte Ihjel sich rasch an ihm vorbei und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Er betrachtete den Sieger, der vor ihm im Bett lag. Brion wurde noch intravenös ernährt. Seine blutunterlaufenen Augen lagen tief in den Höhlen. Der stumme Kampf gegen den Tod hatte deutliche Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen, das nur noch aus Knochen und straff gespannter Haut zu bestehen schien. Nur das kurzgeschnittene braune Haar hatte sich nicht verändert. Brion wirkte wie ein Mann, der eben erst eine langwierige Krankheit überwunden hatte.
»Du siehst wie der Tod auf Rädern aus«, stellte Ihjel fest. »Aber trotzdem herzlichen Glückwunsch zu deinem Sieg.«
»Du siehst selbst nicht gerade ausgezeichnet aus — jedenfalls nicht für einen Sieger«, gab Brion wütend zurück. Seine ganze Erschöpfung und der plötzliche Ärger über diesen unverschämten Eindringling lagen in diesen Worten. Ihjel ignorierte sie völlig.
Aber trotzdem hatte Brandd recht; Sieger Ihjel sah einem Sieger nicht sehr ähnlich — er wirkte nicht einmal wie ein Anvharianer. Der Körperbau und die Größe stimmten, aber der Mann erstickte förmlich im Fett, das überall an seinem Körper Wülste bildete. Auf Anvhar gab es keine dicken Männer, deshalb war es eigentlich unvorstellbar, daß dieser Dicke jemals ein Sieger gewesen sein sollte. Falls sich unter der Fettschicht Muskeln verbargen, waren sie jedenfalls jetzt nicht mehr sichtbar. Nur seine Augen ließen noch etwas von der Energie erkennen, mit deren Hilfe er in den jährlich stattfindenden Spielen über die Elite des Planeten gesiegt hatte. Brion wandte sich ab, weil er den prüfenden Blick nicht länger ertragen konnte. Er schämte sich, Ihjel ohne guten Grund beleidigt zu haben. Andererseits fühlte er sich aber noch zu krank, um sich umständlich dafür zu entschuldigen.
Ihjel schien jedoch keinen Wert auf Entschuldigungen zu legen. Brion hatte den Eindruck, als sei dieser Mann mit so wichtigen Problemen beschäftigt, daß er, Brandd, seine beleidigenden Bemerkungen und sogar die Spiele Ihjel nichts bedeuteten.
Die Tür hinter Ihjel öffnete sich fast geräuschlos, und er warf sich so blitzschnell herum, wie nur ein durchtrainierter Athlet auf Anvhar sich bewegen konnte. Dr. Caulry hatte eben erst einen Fuß über die Schwelle gesetzt. Zwei Männer in Uniform standen hinter ihm. Ihjel warf sich auf sie und drängte sie so ungestüm zurück, daß sie übereinander zu Boden stürzten. Dann warf er die Tür ins Schloß und drehte den Schlüssel herum.
»Ich muß mit dir sprechen«, sagte er zu Brion. »Unter vier Augen und Ohren«, fügte er hinzu, beugte sich nach vorn und riß die Kabel der Hausrufanlage aus der Wand.
»Verschwinde!« forderte Brion ihn auf. »Wenn ich gesund genug wäre…«
»Nun, du bist es aber nicht, deshalb bleibst du besser still liegen und hörst mir zu. Ich nehme an, daß ich fünf Minuten Zeit habe, bevor sie die Tür aufbrechen. Willst du mit mir einen anderen Planeten besuchen? Dort gibt es eine Aufgabe zu lösen; es ist meine Aufgabe, aber ich brauche Hilfe. Du bist der einzige, der mir dabei helfen kann.« Er machte eine Pause.
»So, jetzt kannst du dich weigern«, fügte er noch hinzu, als Brion den Mund zu einer Antwort öffnete.
»Selbstverständlich weigere ich mich«, erwiderte Brion und ärgerte sich gleichzeitig darüber, daß der andere ihm diese Worte bereits in den Mund gelegt hatte. »Anvhar ist mein Heimatplanet — weshalb sollte ich ihn verlassen? Hier lebe und arbeite ich. Außerdem habe ich gerade die Spiele gewonnen, deshalb bin ich zum Bleiben geradezu verpflichtet.«
»Unsinn. Ich bin ein Sieger — und bin trotzdem fortgegangen. Was du wirklich sagen wolltest, ist, daß du dich jetzt feiern lassen möchtest, nachdem du dich so angestrengt hast. Außerhalb von Anvhar weiß kein Mensch, was ein Sieger ist — und respektiert ihn deshalb auch keineswegs. Dort draußen mußt du dem Universum gegenübertreten, und ich verstehe recht gut, daß du davor Angst hast.«
Irgend jemand klopfte laut gegen die Tür.
»Ich bin nicht kräftig genug, um mich aufzuregen«, meinte Brion mit heiserer Stimme. »Aber ich kann mich bestimmt nicht für deine Ideen begeistern, wenn sie dir gestatten, daß du einen Kranken beleidigst, der sich nicht wehren kann.«
»Tut mir leid«, gab Ihjel zurück, ohne daß seine Stimme dabei überzeugend geklungen hätte. »Aber die Probleme, um die es sich dabei handelt, sind etwas wichtiger als deine verletzten Gefühle. Wir haben nicht mehr sehr viel Zeit, deshalb möchte ich dich mit einer Idee vertraut machen.«
»Mit einer Idee, die mich dazu bringt, daß ich Anvhar mit dir verlasse? Du erwartest aber viel!«
»Nein, die Idee allein wird dich bestimmt nicht überzeugen — aber du wirst darüber nachdenken, bis du ebenfalls meiner Auffassung bist. Wenn du dich wirklich damit befaßt, wirst du feststellen, daß sie einige deiner Illusionen zerstört. Wie alle anderen Bewohner von Anvhar bist du ein wissenschaftlicher Humanist, der fest von dem erzieherischen Wert der Spiele überzeugt ist. Ihr alle habt noch nie einen Gedanken an die unzähligen Milliarden verschwendet, die ein miserables Leben führen mußten, damit ihr heute ein so bequemes führen könnt. Hast du schon jemals an die Menschen gedacht, die elend verkommen mußten, damit unsere Zivilisation wieder eine Stufe weiterrücken konnte?«
»Selbstverständlich gebe ich mich damit nicht ab«, antwortete Brion. »Weshalb auch? Kann ich die Vergangenheit ändern?«
»Aber du kannst die Zukunft ändern!« stellte Ihjel fest. »Du bist es deinen Vorfahren sogar schuldig, ohne die du heute noch nicht so weit wärst. Wenn der wissenschaftliche Humanismus für dich mehr als ein bloßes Schlagwort bedeutet, mußt du ein gewisses Verantwortungsbewußtsein besitzen. Möchtest du nicht einen Teil dieser Schuld zurückzahlen, indem du anderen hilfst, die heute noch so primitiv und unterentwickelt leben, wie Urgroßvater Höhlenmensch gelebt hat?«
Das Klopfen an der Tür wurde lauter. Brion zuckte bei jedem Schlag zusammen. »Im Grunde genommen bin ich selbstverständlich deiner Meinung«, stimmte er zögernd zu. »Aber du weißt, daß eine logische Entscheidung ohne persönlichen Einsatz fast wertlos ist.«
»Dann haben wir den Kern der Sache bereits erreicht«, meinte Ihjel bedächtig. Er stemmte sich mit dem Rücken gegen die Tür, die jetzt von draußen mit einem schweren Gegenstand bearbeitet wurde. »Es scheint ernst zu werden, deshalb muß ich mich beeilen. Ich habe keine Zeit zu langen Erläuterungen, aber ich gebe dir mein Wort als Sieger, daß du wirklich entscheidend helfen kannst. Nur du — kein anderer. Wenn du mir hilfst, können wir vielleicht sieben Millionen Menschen retten. Das ist eine Tatsache.«
Das Schloß gab nach, und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Ihjel drückte sie noch einmal zu.
»Hier ist die Idee, über die du nachdenken sollst. Warum sollten ausgerechnet nur die Menschen auf Anvhar ihre gesamte Existenz mit komplizierten Spielen zu rechtfertigen versuchen, obwohl das Universum voll kriegerischer und unterentwickelter Planeten ist?«