Ulv stieg von seinem Beobachtungsposten herunter und starrte ebenfalls das Gehirn des Magter an. Die Tatsachen waren so offensichtlich, daß selbst Ulv sie erkannte.
»Ich habe schon tote Tiere und auch meine Leute mit offenen Schädeln gesehen«, meinte er nachdenklich. »Aber das hier kenne ich nicht.«
»Was ist das eigentlich?« fragte Brion.
»Der Eindringling, der Fremde, nach dem du gesucht hast«, erklärte Lea ihm.
Das Gehirn des Magter war um ein Drittel kleiner als das eines normalen Menschen. Der dadurch entstandene Hohlraum innerhalb des Schädels wurde von einer grünlichen Masse ausgefüllt. Sie war ähnlich wie das Gehirn geformt, wies aber einige lange Ausläufer und Fortsätze auf. Lea nahm das Skalpell und stocherte damit in der feuchten Masse herum.
»Es erinnert mich sehr stark an ein anderes Phänomen, das ich auf der Erde gesehen habe«, sagte sie. »Eine Fliegenart — Drepanosiphum plaranoides — besitzt ein seltsames Organ, das Pseudova heißt. Nachdem ich diese Wucherung in dem Schädel des Magter gesehen habe, kann ich gewisse Parallelen ziehen. Diese Fliegen werden von ähnlichen grünen Wucherungen befallen, die allerdings nicht den Kopf, sondern den halben Körper ausfüllen. Die Biologen haben sich lange darüber gewundert und komplizierte Theorien aufgestellt, bis es schließlich einem gelang, das grüne Zeug zu sezieren. Dabei stellte sich heraus, daß es sich um eine lebende Pflanze handelt, die für die Verdauung der Fliege unentbehrlich ist. Sie produziert nämlich die Enzyme, mit deren Hilfe das Insekt die Pflanzensäfte verdaut, von denen es sich ernährt.«
»Das ist doch nicht außergewöhnlich«, warf Brion enttäuscht ein. »Schließlich ist das bei den Menschen nicht sehr viel anders. Was ist der Unterschied zwischen dieser grünen Fliege und einem Menschen?«
»Der Unterschied liegt in der Tatsache begründet, daß die Fliege und ihre Flora in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis leben, das für beide lebenswichtig ist. Die Pflanzensporen tauchen an verschiedenen Stellen im Körper des Insekts auf — aber immer in den Keimzellen. In jeder Eizelle sind einige zu finden, so daß jedes Ei, aus dem später eine Fliege ausschlüpft, bereits damit infiziert ist. Auf diese Art und Weise wird sichergestellt, daß die Symbiose ununterbrochen fortdauert.«
»Glaubst du, daß die grünen Körperchen im Blut der Magter den gleichen Zweck erfüllen?« fragte Brion.
»Ganz bestimmt«, versicherte Lea ihm. »Es muß sich um denselben Vorgang handeln. Auf diese Weise besteht die Möglichkeit, daß sie in die Samenzellen der Magter geraten, so daß jedes Kind bereits vor der Geburt davon befallen wird. Während das Kind wächst, breitet sich das grüne Zeug ebenfalls aus. Wahrscheinlich sogar sehr viel schneller, denn es scheint ein unkomplizierter Organismus zu sein. Ich nehme an, daß jedes Kind im Alter von sechs Monaten bereits stark damit infiziert ist.«
»Aber warum?« wollte Brion wissen. »Wie wirkt sich das aus?«
»Ich kann es noch nicht sicher sagen, aber die Tatsachen lassen nur einen Schluß zu. Ich möchte wetten, daß der Symbiont ein Zwischending zwischen Tier und Pflanze ist — wie die meisten Lebewesen auf Dis. Er ist einfach zu kompliziert, um sich in der kurzen Zeit entwickelt zu haben, in der es schon Menschen auf diesem Planeten gibt. Die Magter müssen sich damit infiziert haben, als sie Fleisch aßen, in dem sich Sporen dieser Art befanden. Der Symbiont entwickelte sich in seiner neuen Umgebung ausgezeichnet, denn der Schädel seines verhältnismäßig langlebigen Wirts bot ihm einen ausgezeichneten Schutz. Als Gegenleistung für Nahrung und Sauerstoff produziert er vermutlich Hormone und Enzyme, mit deren Hilfe die Magter überleben. Dazu könnten zum Beispiel einige gehören, die sich für die Verdauung als nützlich erweisen, so daß die Magter sämtliche hier vorkommenden Tierarten essen können. Vielleicht erzeugt der Symbiont auch Zucker, reinigt das Blut von Giftstoffen — es gibt noch viele andere Dinge, die er tun könnte.
Offenbar hat er sie auch getan, denn sonst wären die Magter nicht zu der beherrschenden Lebensform auf diesem Planeten geworden. Sie haben einen hohen Preis dafür bezahlt, aber bisher spielte das keine Rolle. Ist dir aufgefallen, daß das Gehirn des Magter nicht kleiner als bei einem normalen Menschen ausgebildet ist?«
»Es muß aber kleiner sein — wie könnte der Gehirn-Symbiont sonst mit ihm zusammen in dem Schädel Platz haben?« sagte Brion.
»Wenn das Gehirn der Magter kleiner wäre, dann hätte der Symbiont den Rest des Schädelhohlraums für sich. Aber das Gehirn hat die normale Größe — allerdings fehlt ein Teil, den der Symbiont absorbiert hat.«
»Die Stirnlappen!« rief Brion überrascht aus. »Das Ganze hat den Effekt einer Stirnlappenentfernung.«
»Sogar noch mehr«, erklärte Lea ihm und schob mit dem Skalpell die grüne Masse beiseite. »Diese Fortsätze dringen tiefer in das restliche Gehirn ein und beeinflussen damit einige andere Funktionen. Durch die Zerstörung der Stirnlappen sind die Magter zu Menschen ohne Gefühlsempfindungen und ohne jegliche Fähigkeit zu abstraktem Denken geworden. Anscheinend waren sie so dem Leben besser gewachsen. Es muß einige schreckliche Versager gegeben haben, bevor diese Symbiose zu einem Erfolg für beide Teile wurde. Das Endergebnis ist ein Lebewesen, das für das Leben auf diesem Planeten hervorragend geeignet ist. Es besitzt keine Gefühle oder Wünsche, die es am Überleben hindern könnten. Völlig rücksichtslos — aber die Menschen sind in dieser Beziehung schon immer sehr weit entwickelt gewesen, so daß dies keine große Veränderung bedeutete.«
»Die anderen Disaner — wie zum Beispiel Ulv hier — haben überlebt, ohne sich so zu verändern. Warum mußten die Magter es dann tun?«
»Du weißt doch, daß eine Evolution nicht immer durch Zwang hervorgerufen wird«, sagte Lea. »Es gibt immer einige Varianten, und alle besseren überleben. Man könnte sagen, daß die normalen Disaner überlebten, aber die Magter überlebten besser. Ich nehme an, daß sie allmählich die beherrschende Rasse geworden wären, wenn Dis nicht wiederentdeckt worden wäre. Jetzt wird ihnen das nicht mehr gelingen, nachdem sie es soweit gebracht haben, daß der gesamte Planet zerstört wird.«
»Das begreife ich immer noch nicht«, warf Brion ein. »Die Magter haben überlebt und ihre beherrschende Stellung gesichert. Und trotzdem sind sie selbstmörderisch veranlagt. Wie kommt es dann, daß sie nicht schon längst ausgerottet worden sind?«
»Als Einzelwesen waren sie so aggresiv, daß sie manchmal praktisch Selbstmord begingen, weil sie alles mit dem gleichen Mangel an Urteilsfähigkeit angriffen. Zu ihrem Glück gibt es hier keine größeren Tiere. Wenn also ab und zu einer von ihnen starb, so überlebten sie doch als Rasse — dank ihrer unmenschlichen Rücksichtslosigkeit. Aber jetzt stehen sie vor einem Problem, das ihre halbzerstörten Gehirne nicht mehr bewältigen können. Sie befinden sich in der gleichen Lage wie mit Messern bewaffnete Wilde, die alle anderen Wilden umgebracht haben, die nur Steine als Waffen hatten. Dann tauchen plötzlich neue Gegner auf, die Gewehre besitzen — und die Magter greifen weiter an, bis sie alle den Tod gefunden haben.
Das ist wieder einmal ein Beweis dafür, wie unparteiisch die Evolution vorgeht. Die Menschen, die von dieser Wucherung befallen waren, wurden die beherrschende Rasse auf diesem Planeten. Das grüne Zeug war ein echter Symbiont, der dazu beitrug, daß die Verbindung aus Mensch und Pflanze stärker als alle anderen Lebewesen wurde. Aber jetzt hat die Lage sich grundlegend geändert. Die Magter erkennen nicht mehr, was sie mit ihrer einseitigen Denkweise anrichten, obwohl von dieser Erkenntnis die Existenz eines ganzen Planeten abhängt. Deshalb ist diese grüne Masse kein Symbiont mehr, sondern ein echter Parasit geworden.«
»Und deshalb muß er vernichtet werden!« warf Brion ein. »Endlich müssen wir nicht mehr gegen Schatten ankämpfen«, freute er sich. »Wir haben den Gegner gefunden — und die Magter haben eigentlich gar nichts damit zu tun. Es ist nur eine Art besserer Holzwurm, der zu dumm ist, um zu erkennen, daß er sich selbst schadet. Hat er ein Gehirn — kann er denken?«
»Das bezweifle ich«, meinte Lea nachdenklich. »Ein Gehirn ist eigentlich überflüssig. Selbst wenn er ursprünglich eines besessen hätte, wäre es inzwischen bestimmt verkümmert. Symbionten und Parasiten, die in einer Gemeinschaft dieser Art leben, degenerieren im Lauf der Zeit, bis nur noch die notwendigsten Körperfunktionen erhalten bleiben.«
»Was ist das? Ich möchte es auch wissen«, unterbrach Ulv sie, während er die grüne Masse betrachtete. Er hatte kein Wort von der aufgeregten Diskussion zwischen Brion und Lea verstanden.
»Willst du es ihm bitte erklären, Lea?« bat Brion. Er sah sie an und stellte fest, daß sie übermüdet aussah. »Am besten setzt du dich ein bißchen auf die Couch; du hast eine Pause verdient. Ich werde…« Er sprach nicht weiter, nachdem er einen Blick auf seine Uhr geworfen hatte.
Vier Uhr nachmittags — acht Stunden blieben ihm noch. Was sollte er tun? Seine Begeisterung verflog plötzlich, als ihm klarwurde, daß das Problem erst zur Hälfte gelöst war. Die Bomben würden planmäßig abgeworfen werden, falls die Nyjorder die Tragweite seiner Entdeckung nicht erkannten oder nicht einsehen wollten. Würden sie sich davon beeinflussen lassen? Die Kobaltbomben wurden dadurch nicht weniger gefährlich.
Dann fiel ihm auch ein, daß er nicht mehr an Telts Tod gedacht hatte. Noch bevor er sich mit den Nyjordern in Verbindung setzte, mußte er Hys davon unterrichten, was aus Telt und dem Sandwagen geworden war. Dabei konnte er gleichzeitig auf die starke Radioaktivität hinweisen. Zwar konnten die Streifen jetzt nicht mehr miteinander verglichen werden, aber vielleicht entschloß Hys sich doch auf Verdacht hin zu einem weiteren Angriff auf den schwarzen Turm.
Brion stellte den Sender auf die Frequenz ein, die er von Professor Krafft genannt bekommen hatte, und schickte einen Anruf aus. Er bekam keine Antwort. Als er auf Empfang schaltete, hörte er nur atmosphärische Störungen.
Allerdings bestand die Möglichkeit, daß das Gerät nicht funktionierte. Er stellte die Empfangsfrequenz seines kleinen Funkgeräts ein und pfiff in das Mikrophon. Das Signal kam so laut an, daß ihm die Ohren wehtaten. Er wiederholte den ersten Anruf. Diesmal bekam er sofort eine Antwort.
»Hier ist Brion Brandd. Wie hören Sie mich? Ich muß mit Hys sprechen.«
Brion bekam einen gelinden Schock, als Professor-Kommandant Krafft antwortete.
»Tut mit leid, Brion, aber Sie können nicht mehr mit Hys sprechen. Wir hören diese Frequenz ab, deshalb wurde der Anruf an mich weitergeleitet. Hys und seine Leute haben Dis vor einer halben Stunde verlassen und befinden sich bereits auf dem Flug zurück nach Nyjord. Wollen Sie jetzt nicht auch abgeholt werden? Bald wird eine Landung sehr riskant sein. Ich muß mich jetzt schon auf Freiwillige verlassen, wenn ich Ihnen ein Schiff schicken will.«
Hys und seine Leute verschwunden! Brion machte sich nur langsam mit diesem Gedanken vertraut. Er war etwas aus dem Gleichgewicht geraten, als ihm bewußt wurde, daß er mit Krafft sprach.
»Wenn sie wirklich fort sind…« begann er. Dann zuckte er mit den Schultern. »Schade, das läßt sich nun nicht mehr ändern. Hören Sie, ich wollte mich ohnehin mit Ihnen in Verbindung setzen, deshalb können Sie mir gleich zuhören. Sie müssen den Abwurf der Bomben verschieben. Ich habe den Grund dafür entdeckt, weshalb die Magter so selbstmörderisch veranlagt sind. Wenn wir diese krankhafte Erscheinung heilen können, werden sie Nyjord nicht angreifen und…«
»Können sie bis Mitternacht geheilt werden?« unterbrach ihn Krafft. Seine Stimme klang ärgerlich.
»Nein, selbstverständlich nicht.« Brion runzelte die Stirn, weil er einsah, daß das Gespräch eine unglückliche Wendung zu nehmen drohte. Trotzdem fiel ihm kein Argument ein, das dem entgegengewirkt hätte. »Aber allzuviel Zeit ist dafür bestimmt nicht erforderlich. Ich kann jederzeit beweisen, daß ich die Wahrheit sage.«
»Ich glaube Ihnen, ohne daß Sie mir Beweise bringen, Brion.« Der Ärger in Kraffts Stimme war verschwunden und hatte einer Resignation Platz gemacht. »Ich gebe zu, daß Sie wahrscheinlich recht haben. Vorhin habe ich Hys gegenüber zugegeben, daß seine Methode vielleicht besser gewesen wäre. Wir haben viele Fehler gemacht — deshalb bleibt uns jetzt sehr wenig Zeit. Ich fürchte, daß im Augenblick nur noch dieser Tatsache entscheidende Bedeutung zukommt. Die Bomben fallen um Mitternacht, obwohl es dann vielleicht schon zu spät ist. Mein Nachfolger ist bereits nach hier unterwegs. Ich werde abgelöst, weil ich aus eigenem Antrieb das Ultimatum nur um einen Tag verkürzt habe, anstatt auf unsere Techniker zu hören, die zwei Tage befürworteten. Ich weiß jetzt, daß ich meinen Planeten aufs Spiel gesetzt habe, weil ich Dis zu retten hoffte. Aber Dis ist nicht zu retten, der Planet wird auf jeden Fall zerstört. Ich will und kann nicht mehr darüber diskutieren.«
»Aber Sie müssen mir zuhören…«
»Ich muß den Planeten unter mir zerstören. Das ist mein Auftrag. Sie können mich auf keinen Fall davon abbringen. Alle anderen Fremden — außer Ihnen und Miß Morees — haben Dis verlassen. Ich schicke jetzt ein Schiff los, das Sie abholen wird. Sowie das Schiff von Dis startet, werde ich die ersten Bomben werfen lassen. Sagen Sie mir, wo Sie sich befinden, damit ich Sie abholen lassen kann.«
»Ich lasse mich von Ihnen nicht einschüchtern, Krafft!« Brion drohte seinem unsichtbaren Gesprächspartner in ohnmächtiger Wut mit der geballten Faust. »Sie sind ein Mörder, Sie begehen einen Völkermord. Ich könnte Ihnen beweisen, daß dieser Mord überflüssig ist, aber Sie hören mir einfach nicht zu! Und ich weiß auch, wo die Kobaltbomben gelagert werden — in dem Magterturm, den Hys letzte Nacht überfallen hat. Stellen Sie diese Bomben sicher, dann brauchen Sie Ihre eigenen nicht abzuwerfen!«
»Tut mir leid, Brion. Ich erkenne Ihre Bemühungen an, muß Ihnen aber sagen, daß sie vergeblich sind. Ich will nicht behaupten, daß Sie eben gelogen haben, aber Sie können sich doch vorstellen, wie unglaubhaft Ihre Beweise für einen Mann in meiner Lage klingen müssen? Zuerst erzählen Sie mir, daß Sie entdeckt haben, weshalb die Magter unbedingt diesen Krieg wollen. Und als das keinen Erfolg hat, fällt Ihnen plötzlich ein, daß Sie wissen, wo die Bomben versteckt sind. Wollen Sie wirklich behaupten, daß Sie das bestgehütete Geheimnis der Magter kennen?«
»Ich weiß es nicht sicher, aber ich glaube, daß ich vielleicht doch recht habe«, antwortete Brion. »Telt hat dort einige Messungen vorgenommen, die beweisen, daß die Radioaktivität an dieser Stelle außergewöhnlich hoch ist. Aber Telt ist jetzt tot, die Beweise sind vernichtet. Sehen Sie denn nicht ein, daß…« Er schwieg, weil er einsah, daß er den anderen so nicht überzeugen konnte. Er hatte verloren.
Krafft wartete schweigend darauf, daß Brion weitersprach. Als Brion wieder das Wort ergriff, war alle Hoffnung aus seiner Stimme geschwunden.
»Schicken Sie Ihr Schiff los«, sagte er müde. »Wir befinden uns in einem großen Lagerhaus, das der Firma Leichtmetalle Handelsgesellschaft gehört hat. Ich kann Ihnen die genaue Adresse nicht angeben, aber vielleicht ist unter Ihren Leuten einer, der sich daran erinnert. Wir warten hier, bis das Schiff kommt. Sie haben doch gewonnen, Krafft.«
Brion schaltete das Funkgerät ab und fuhr sich erschöpft mit der Hand über die Stirn.