14

Brion war vor Erschütterung über diese Tragödie so gelähmt, daß er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Hätte sein Gehirn seinen Körper vollständig kontrolliert, dann wäre er in diesem Augenblick gestorben, denn er besaß keinen Lebenswillen mehr. Aber sein Herz schlug unbeirrt weiter, seine Lungen sogen die rauchige Luft gleichmäßig ein und gaben sie ebenso gleichmäßig wieder von sich. Sein Körper lebte automatisch weiter.

»Was haben Sie jetzt vor?« erkundigte sich der sonst immer so gut aufgelegte Telt mit bedrückter Stimme. Brion schüttelte nur wortlos den Kopf. Was sollte er denn tun? Was gab es noch zu tun?

»Folgt mir«, erklang die gutturale Stimme eines Disaners durch das halboffene Rückfenster des Wagens. Der Sprecher war in der Menge untergetaucht, bevor Brion sich nach ihm umdrehen konnte. Aber dann erkannte er einen Eingeborenen, der langsam in einer Nebenstraße verschwand und sich dabei öfter nach ihnen umsah. Es war Ulv.

»Wenden Sie — der Mann dort drüben ist es!« Brion stieß Telt an und zeigte aufgeregt in die Richtung, in der Ulv gegangen war. »Fahren Sie langsam, damit wir kein unnötiges Aufsehen erregen.« Einen Augenblick lang empfand Brion eine schwache Hoffnung, die er nicht auszusprechen wagte. Dann verwarf er sie doch wieder — das Gebäude war ein Trümmerhaufen. Die Menschen darin waren tot. Mit dieser Tatsache mußte er sich abfinden.

»Was ist denn los?« fragte Telt. »Wer hat da eben am Fenster gesprochen?«

»Ein Disaner — der dort vorn. Er hat mir einmal in der Wüste das Leben gerettet, und ich glaube, daß er auf unserer Seite steht. Obwohl er ein Eingeborener ist, begreift er manches, was die Magter nicht verstehen wollen. Er weiß, was mit Dis geschehen wird.« Brion plapperte gedankenlos weiter, um zu verhindern, daß er sich wieder mit der vergeblichen Hoffnung beschäftigte. Es gab keine Hoffnung mehr.

Ulv ging langsam weiter, ohne sich noch ein einziges Mal nach dem Sandwagen umzusehen. Telt hielt den Abstand so groß wie möglich, obwohl dabei ständig die Gefahr bestand, daß sie den Disaner aus den Augen verloren. Sie erreichten den Teil der Stadt, in dem die Straßen von Lagerhäusern gesäumt waren. Ulv verschwand in einem davon; Leichtmetalle Handelsges. m.b.H. hieß es auf dem Firmenschild. Telt fuhr langsamer.

»Hier können wir nicht stehenbleiben«, sagte Brion. »Fahren Sie weiter bis um die nächste Straßenecke.«

Brion stieg aus dem Wagen und sah sich vorsichtig um. Weder vor ihm noch hinter ihm war ein Mensch auf der staubigen Straße zu sehen. Er ging langsam bis zur Ecke zurück und beobachtete die Straße, auf der sie gekommen waren. Heiß, still und leer.

Dann öffnete sich plötzlich lautlos die Einfahrt des Lagerhauses. Brion erkannte eine Hand, die ihn heranwinkte. Er gab Telt ein Zeichen und sprang auf den Sandwagen, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.

»Durch das offene Tor — aber schnell, bevor uns jemand dabei beobachtet!« Der Wagen rumpelte über eine Rampe in das dunkle Innere des Lagerhauses. Hinter ihnen schloß sich das Tor.

»Ulv! Was ist los? Wo bist du?« rief Brion und kniff dabei die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Ein Schatten tauchte neben ihm auf.

»Ich bin hier.«

»Hast du…« Brion konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

»Ich habe von dem Überfall gehört. Die Magter haben alle Männer zusammengerufen, damit sie ihnen den Sprengstoff tragen konnten. Ich bin mitgegangen. Ich konnte nichts dagegen tun, hatte aber auch keine Zeit, die Bewohner des Gebäudes zu warnen.«

»Dann sind sie also alle tot?«

»Ja.« Ulv nickte. »Bis auf eine. Ich wußte, daß ich vielleicht einem Menschen das Leben retten konnte; aber ich wußte nicht, wen ich in Sicherheit bringen sollte. Deshalb suchte ich nach der Frau, die damals mit dir in der Wüste war — sie ist hier. Sie ist nur leicht verletzt.«

»Ich möchte sie sehen«, sagte Brion. Er hatte plötzlich Angst, daß Ulv sich geirrt haben könnte. Vielleicht hatte er die falsche Frau gerettet. Aber wenn es doch Lea war…

Ulv führte sie an der Laderampe vorbei. Brion ging dicht hinter ihm her und wäre am liebsten gerannt. Als er sah, daß Ulv auf die Büros am gegenüberliegenden Ende der großen Halle zuging, konnte er sich nicht länger beherrschen und eilte voraus.

Es war wirklich Lea. Sie lag bewußtlos auf einer Couch. Auf ihrer Stirn standen große Schweißperlen. Sie bewegte sich unruhig und stöhnte dabei.

»Ich habe ihr Sover gegeben und sie dann in ein Tuch eingewickelt, damit niemand merkte, was ich auf dem Rücken trug«, erklärte Ulv.

Telt war unterdessen ebenfalls herangekommen und sah durch die Tür.

»Sover ist eine Droge, die aus einer Wüstenpflanze gewonnen wird«, sagte er. »Wir haben einige Erfahrungen damit gesammelt. Ein bißchen davon wirft den stärksten Mann um, aber eine größere Dosis ist unweigerlich tödlich. Ich habe ein Gegengift dafür im Wagen; warten Sie hier, dann hole ich es gleich.« Er ging hinaus.

Brion setzte sich neben Lea und wischte ihr das Gesicht ab. Die dunklen Schatten unter ihren Augen waren fast schwarz, ihr zartes Gesicht wirkte eingefallen. Aber sie lebte noch — und nur das war im Augenblick wichtig.

Brion fühlte sich unendlich erleichtert — und beinahe glücklich, obwohl ihm der Tod der übrigen G.K.B.-Angestellten deutlich genug vor Augen stand. Er konnte wieder klar denken. Die Aufgabe war noch immer ungelöst. Lea hätte eigentlich in ein Krankenhausbett gehört, aber das war unmöglich. Er mußte sie noch einmal auf die Beine bringen, damit sie für ihn arbeiten konnte. Vielleicht fand sie jetzt die Antwort. Mit jeder Sekunde rückte das Ende dieses Planeten näher.

»So, in einer Minute ist die Dame so gut wie neu«, meinte Telt, als er den schweren Erste-Hilfe-Kasten abstellte. Er sah Ulv nach, der den Raum verließ. »Hys würde sich bestimmt für ihn interessieren. Vielleicht ließe er sich als Spion anwerben — aber dazu ist es jetzt bereits zu spät…« Er sägte eine Ampulle ab und zog den Inhalt in eine Spritze auf. »Wenn Sie ihr den Ärmel aufrollen, werde ich sie gleich wieder ins Leben zurückholen«, sagte er dabei zu Brion. Er fuhr mit einem alkoholgetränkten Wattebausch über eine Stelle an Leas Unterarm und stach die Nadel hinein.

»Wie schnell wirkt das Zeug?« erkundigte Brion sich besorgt.

»Innerhalb weniger Minuten. Sie wird bald wieder zu sich kommen.«

Ulv stand in der Tür. »Mörder!« zischte er. Das Blasrohr in seiner Hand war halb an die Lippen gehoben.

»Er ist an dem Wagen gewesen — er hat die Leiche gesehen!« rief Telt und griff nach seiner Pistole.

Brion warf sich mit erhobenen Händen zwischen die beiden Männer. »Aufhören! Keinen Mord mehr!« rief er Ulv zu. Dann drohte er Telt mit der Faust. »Wenn Sie schießen schlage ich Ihnen den Schädel ein! Ich werde die Sache auch ohne Ihre Hilfe in Ordnung bringen.« Er drehte sich wieder zu Ulv um, der sein Blasrohr noch immer nicht weiter an den Mund gehoben hatte. Das war ein gutes Zeichen — der Disaner war sich nicht sicher.

»Du hast die Leiche in dem Wagen gesehen, Ulv. Du mußt aber auch erkannt haben, daß es die Leiche eines Magter ist. Ich habe ihn selbst getötet, weil ich lieber einen, zehn oder sogar hundert Menschen umbringen würde, bevor ich zulasse, daß ein ganzer Planet vernichtet wird. Ich habe ihn in einem ehrlichen Kampf Mann gegen Mann umgebracht, damit ich die Leiche untersuchen kann. Du weißt selbst, daß die Magter äußerst seltsam sind — sie benehmen sich anders als die übrigen Disaner. Wenn ich den Grund dafür herausbekommen kann, finde ich vielleicht einen Weg, um den Krieg zu verhindern.«

Ulv war noch immer zornig, aber er ließ sein Blasrohr sinken. »Ich wünschte, ihr wäret nie gekommen. Früher, als noch keine Fremden nach Dis kamen, war alles in Ordnung. Die Magter herrschten über uns, sie verlangten Gehorsam und brachten alle um, die ihre Befehle nicht befolgten; aber sie halfen uns auch. Jetzt wollen sie einen Krieg mit euren Waffen führen, und ihr wollt dafür meine Welt zerstören. Und ich soll euch dabei helfen!«

»Nicht uns, nicht mir persönlich — dir selbst!« gab Brion müde zurück. »Wir können das alles jetzt nicht mehr ungeschehen machen, Ulv. Vielleicht wäre es für Dis wirklich besser gewesen, wenn die Fremden nie gekommen wären. Vielleicht aber auch nicht. Aber über diesen Punkt brauchen wir uns jetzt keine Sorgen mehr zu machen, denn Dis hat nun einmal Kontakt mit der restlichen Galaxis. Ihr habt ein Problem zu lösen, und ich bin hier, um euch dabei zu helfen.«

Die Sekunden vergingen unendlich langsam, während Ulv sich mit Fragen beschäftigte, die für ihn völlig neuartig waren. Konnte ein Mord weiteres Blutvergießen vermeiden? Konnte er seinem Volk dadurch helfen, daß er die Fremden unterstützte, die seine Leute umbrachten? Seine Welt hatte sich in einer Weise verändert, die er kaum zu begreifen vermochte. Sollte er sich dieser Veränderung anpassen — oder sollte er ihr entgegentreten?

Er schob das Blasrohr in seinen Gürtel zurück, drehte sich um und verließ den Raum.

»Ein bißchen zu viel für meine Nerven«, meinte Telt. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich sein werde, wenn die verdammte Sache endlich vorüber ist. Mir ist es jetzt ganz egal, ob der Planet dabei draufgeht. Ich habe alles gründlich satt.« Er ging zu dem Sandwagen hinaus und beobachtete dabei den Disaner, der vor der Tür an der Wand lehnte.

Brion wandte sich wieder Lea zu, die mit offenen Augen auf der Couch lag. Er setzte sich neben sie.

»Sie rannten«, flüsterte sie mit tonloser Stimme. »Sie rannten an der Tür meines Zimmers vorbei, und ich sah, wie sie Dr. Stine umbrachten. Dann kam einer von ihnen in mein Zimmer… Mehr weiß ich nicht, mein Gedächtnis ist von da ab völlig leer.« Sie wandte langsam den Kopf und sah zu Brion auf. »Was war dann? Warum bin ich hier?«

»Sie sind alle… tot«, berichtete Brion. »Nach dem Überfall haben die Disaner das Gebäude gesprengt. Du bist die einzige Überlebende. Der Mann, der in dein Zimmer kam, war Ulv — der Disaner, der uns in der Wüste gerettet hat. Er hat dich in Sicherheit gebracht und dich hier versteckt.«

»Wann fliegen wir ab?« fragte sie in dem gleichen Tonfall wie vorher und drehte das Gesicht zur Wand. »Wann verlassen wir diesen Planeten?«

»Heute ist der letzte Tag. Das Ultimatum läuft um Mitternacht aus. Krafft läßt uns abholen, wenn wir ihm mitteilen, daß wir startbereit sind. Aber unsere Aufgabe ist noch nicht gelöst. Ich habe eine Leiche beschafft. Du mußt sie untersuchen. Wir müssen herausbekommen, was die Magter…«

»Alles hat keinen Sinn mehr, wir müssen fort von hier.« Ihre Stimme klang monoton. »Ich habe getan, was ich konnte; jetzt kann ich nicht mehr. Bitte, laß das Schiff kommen, ich möchte Dis verlassen.«

Brion biß sich in hilfloser Verzweiflung auf die Lippen. Nichts schien Lea aus ihrer Apathie aufrütteln zu können. Sie hatte in den letzten Tagen mehr durchmachen müssen, als ihr geschwächter Körper ertragen konnte. Er nahm ihr Kinn in seine Hand und drehte ihr Gesicht zu sich her. Sie leistete keinen Widerstand, aber in ihren Augen standen Tränen.

»Bitte, bring mich nach Hause, Brion. Bitte.«

Er zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. Was konnte er nur tun? Die Zeit verging immer rascher, die Untersuchung mußte durchgeführt werden — und doch konnte er Lea nicht dazu zwingen. Er sah sich nach dem Erste-Hilfe-Kasten um, aber Telt hatte ihn mit sich in den Wagen genommen. Vielleicht enthielt er ein Beruhigungsmittel, das er Lea geben konnte.

Telt hatte einige seiner Meßinstrumente auf dem Kartentisch geöffnet und betrachtete einen Papierstreifen mit Hilfe einer Lupe, als Brion die Tür aufriß. Er fuhr nervös auf und versteckte den Streifen hinter seinem Rücken. Dann grinste er verlegen, als er Brion erkannte.

»Ich dachte, Sie wären der komische Kerl dort draußen, der sich die Sache auch einmal ansehen wollte«, flüsterte er. »Vielleicht können Sie ihm trauen — aber ich kann mir das nicht leisten. Ich darf nicht einmal das Funkgerät benützen. Ich verschwinde jetzt so schnell wie möglich. Hys muß unbedingt davon erfahren!«

»Was muß er erfahren?« erkundigte sich Brion. »Was soll die ganze Geheimnistuerei?«

Telt drückte ihm den Papierstreifen und das Vergrößerungsglas in die Hand. »Sehen Sie sich das an — das ist der Streifen aus meinem Geigerzähler. Die roten senkrechten Linien zeigen jeweils einen Zeitabschnitt von fünf Minuten an, die wellige schwarze Linie gibt die Radioaktivität der Umgebung an. Sie sehen, daß sie während der Zeit unserer Fahrt nur geringfügige Änderungen aufweist.«

»Und der steile Anstieg hier in der Mitte?«

»Diese Spitze fällt genau mit unserem Aufenthalt in dem schwarzen Turm zusammen! Als wir durch das Loch in den Keller eindrangen!« Telts Stimme klang aufgeregt.

»Soll das heißen, daß…«

»Ich kann es nicht sagen. Ich weiß es noch nicht bestimmt. Ich muß diesen Streifen erst mit den anderen vergleichen, die ich im Lager habe. Vielleicht ist es nur das Gestein des Turms — manche Arten besitzen eine sehr hohe natürliche Radioaktivität. Oder auch nur einige Instrumente mit Leuchtzifferblättern. Möglicherweise handelt es sich auch um eine kleinere taktische Atombombe — wir wissen, daß sie einige haben.«

»Oder die Kobaltbomben?«

»Kann sein«, meinte Telt und verpackte seine Instrumente. »Eine schlecht abgeschirmte Bombe oder eine alte, deren Mantel nicht mehr ganz dicht ist, würde eine ähnliche Spur auf dem Streifen hinterlassen. Ein winziger Sprung in der Außenhülle genügt schon.«

»Warum rufen Sie Hys nicht über Funk und benachrichtigen ihn davon?«

»Ich möchte vermeiden, daß Opa Kraffts Abhördienst davon Wind bekommt. Das hier ist unsere Aufgabe — wenn ich recht habe. Und ich muß erst die anderen Streifen überprüfen, bevor ich es sicher sagen kann. Jedenfalls lohnt sich ein Angriff, das spüre ich in den Knochen. Laden wir lieber gleich Ihre Leiche aus!« Er half Brion dabei und setzte sich dann hinter das Steuer.

»Halt, noch einen Augenblick«, sagte Brion. »Haben Sie zufällig etwas in Ihrem Erste-Hilfe-Kasten, das ich Lea geben könnte? Sie scheint einen Nervenzusammenbruch erlitten zu haben. Sie ist weder vernünftigen Argumenten zugänglich, noch will sie etwas tun, sie liegt einfach nur da und wartet darauf, daß ich sie abholen lasse.«

»Das werden wir gleich haben«, meinte Telt und öffnete den Kasten. »Unser Arzt nennt diese Erscheinung Schlächter-Syndrom. Hat eine Menge von unseren Leuten erwischt. Wenn man sein ganzes Leben lang in einer Gesellschaft gelebt hat, die Gewalttätigkeiten jeder Art verabscheut, nimmt es einen schwer mit, wenn man plötzlich andere Menschen umbringen soll. Nachdem es einige schwer erwischt hatte, mixte unser Arzt dieses Zeug zusammen. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber jedenfalls löscht es alle Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit aus. Die letzten zehn, zwölf Stunden sind einfach nicht mehr da. Und man kann sich nicht über etwas aufregen, an das man sich gar nicht erinnert.« Er holte eine versiegelte Packung heraus. »Gebrauchsanweisung auf der Rückseite. Viel Glück.«

»Ihnen auch«, antwortete Brion und schüttelte die schwielige Hand des Technikers. »Geben Sie mir Nachricht, was aus der Sache mit dem Streifen geworden ist.« Er sah nach draußen, um sich davon zu überzeugen, daß die Straße frei war, dann schob er das Tor beiseite. Der Sandwagen fuhr auf die Straße hinaus und verschwand um die nächste Ecke. Brion schloß das Tor und ging zu Lea zurück. Ulv lehnte noch immer unbeweglich an derselben Stelle.

Die Packung enthielt eine Injektionsspritze aus Plastik. Lea protestierte nicht als Brion ihr die Nadel in den Arm stach. Sie seufzte nur und schloß wieder die Augen.

Als er sah, daß sie fest schlief, schleppte er die Plane mit dem toten Magter herein. An einer Seite der Halle erstreckte sich eine lange Werkbank, auf die er die Leiche hob. Dann schlug er die Plane beiseite und schnitt dem Toten die blutgetränkte Kleidung vom Leib.

Der Mann unterschied sich in nichts von anderen Menschen.

Brions Theorie wurde mit jeder Sekunde unhaltbarer. Wenn die Magter nicht fremdartige Lebewesen waren, wie ließ sich dann ihr völliger Gefühlsmangel erklären? Eine Mutation? Brion hatte bisher keine Anzeichen dafür entdeckt. Aber der Mann vor ihm mußte in irgendeiner Beziehung fremdartig sein. Die Zukunft eines ganzen Planeten gründete sich auf diese schwache Hoffnung. Und wenn Telts Vermutungen über die Bomben sich als falsch erwiesen, dann bestand überhaupt keine Hoffnung mehr.

Lea war noch immer bewußtlos, als er zu ihr zurückkehrte. Brion hatte keine Ahnung, wie lange dieses Koma andauern würde. Wahrscheinlich würde er sie aufwecken müssen, aber auf jeden Fall so spät wie möglich. Er mußte seine Ungeduld mühsam beherrschen, obwohl er recht gut wußte, daß das Mittel eine gewisse Zeit brauchte, bevor es wirkte. Schließlich beschloß er, mindestens eine Stunde zu warten, bevor er sie aufzuwecken versuchte. Das war also Mittag — zwölf Stunden vor dem Ende.

Inzwischen konnte er sich wenigstens mit Professor-Kommandant Krafft in Verbindung setzen. Vielleicht sah das wie eine defätistische Handlungsweise aus, aber Brion mußte sichergehen, daß sie abgeholt wurden, falls er seinen Auftrag nicht erfüllen konnte. Krafft hatte ein Funkgerät aufbauen lassen, das als Relaisstation zwischen ihm und Brion diente. Wenn dieses Gerät sich in dem G.K.B.-Gebäude befunden hatte, war die Verbindung unterbrochen. Brion mußte feststellen, wie es sich damit verhielt, bevor es zu spät dafür war. Er schaltete sein Kleinstfunkgerät ein und sandte einen Ruf aus. Die Antwort kam sofort.

»Wer ist am Gerät — jemand von der Gesellschaft?« Die Stimme des Alten zitterte.

»Hier spricht Brandd. Ich habe Lea Morees bei mir. Wir sind…«

»Sonst niemand? Hat wirklich kein anderer den Überfall auf das Gebäude überlebt?«

»Nein, die anderen sind alle tot. Nachdem das Gebäude und die Instrumente zerstört sind, kann ich mich mit Ihrem Schiff nicht mehr in Verbindung setzen. Können Sie veranlassen, daß wir notfalls hier abgeholt werden?«

»Geben Sie mir Ihren genauen Standort an. Ich lasse das Schiff sofort…«

»Ich brauche es jetzt noch nicht«, unterbrach ihn Brion. »Schicken Sie es nicht, bevor ich Sie benachrichtige. Wenn die Katastrophe sich noch aufhalten läßt, werde ich eine Möglichkeit dazu finden. Deshalb bleibe ich — bis zur letzten Minute, wenn es nicht anders geht.«

Krafft schien nachzudenken. Aus Brions Funkgerät drang nur das Geräusch schwerer Atemzüge. »Das müssen Sie selbst entscheiden«, meinte er schließlich. »Ich halte das Schiff in Bereitschaft. Aber sollen wir nicht wenigstens Miß Morees abholen?«

»Nein, ich brauche sie hier. Wir arbeiten noch, wir suchen nach…«

»Glauben Sie, daß Sie jetzt noch eine Antwort finden?« Die Stimme des anderen schwankte zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Aber Brion konnte ihm nicht helfen.

»Wenn ich Erfolg habe, werde ich Sie benachrichtigen. Geht die Sache schief, dann ist ohnehin alles verloren. Ende.« Brion schaltete das Funkgerät ab.

Lea schlief noch immer, als er wieder nach ihr sah. Bis Mittag blieb noch über eine halbe Stunde Zeit. Wie konnte er sie am besten ausnützen? Sie brauchte bestimmt einige Instrumente, wenn sie die Leiche untersuchte, die hier nicht zu finden sein würden. Vielleicht entdeckte er einige in den Trümmern des G.K.B.-Gebäudes? Brion überlegte sich, daß es eigentlich seine Pflicht sei, nach Überlebenden zu suchen, anstatt sich auf die Angaben anderer zu verlassen.

Ulv wartete an derselben Stelle wie vorhin. Er sah schweigend auf, als Brion sich ihm näherte.

»Willst du mir noch einmal helfen?« fragte Brion. »Dann kannst du hierbleiben und auf das Mädchen aufpassen, während ich fortgehe. Ich bin bald wieder zurück.« Ulv schwieg hartnäckig. »Ich suche noch immer nach einem Weg, um die Katastrophe zu verhindern«, fügte Brion hinzu.

»Geh — ich kümmere mich um das Mädchen!« gab Ulv verbissen zurück. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Vielleicht hast du recht. Geh! Bei mir ist sie sicher.«

Brion schlüpfte auf die Straße hinaus und rannte durch die Stadt, bis er den Trümmerhaufen erreicht hatte, der einstmals das Gebäude der Gesellschaft für kulturelle Beziehungen gewesen war. Allerdings machte er einige Umwege und näherte sich den Trümmern schließlich von der entgegengesetzten Seite.

Als er um eine Ecke bog, sah er vor sich einen Sandwagen stehen. Das Fahrzeug kam ihm irgendwie vertraut vor, obwohl er nicht sicher war, ob es sich dabei tatsächlich um den Wagen handelte, in dem er mit Telt gefahren war. Er sah sich vorsichtig um und stellte fest, daß die Straße menschenleer war. Erst dann schlich er sich näher an den Wagen heran. Als er ihn fast erreicht hatte, erkannte er ihn mit Sicherheit wieder. Aber warum stand er hier? Brion stieg auf die Kette des Fahrzeugs und zog sich am Fensterrand hoch. Das Metall war glühend heiß. Noch ein kurzer Ruck, dann starrte er in Telts Gesicht.

Selbst im Tot lächelte der Mann noch. In seinem Hals steckte ein winziger Holzpfeil mit bunten Federn, die sich deutlich von der braunen Haut abhoben.

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