7

»Erzählt uns alles!«

Khadgar nickte, schaute sich aber gar nicht erst um, da es ohnehin zwecklos gewesen wäre. Er war vor den Rat der Kirin Tor zitiert worden, und dessen Mitglieder waren nur dann sichtbar, wenn sie es wollten.

Er hatte schon früher einmal in der Ratskammer gestanden. Damals, als ihm mitgeteilt worden war, dass er der Schüler Medivhs werden sollte. Seinerzeit war er von dem Raum, der den Anschein erweckte, als würde er irgendwie in der Luft hängen, beeindruckt gewesen.

Nur der Boden war schwach sichtbar, während die Welt ringsum abwechselnd dunkel und wieder heller wurde und sich viel schneller bewegte, als es in der Wirklichkeit der Fall war.

Die Ratsmitglieder hatten ihn ebenso fasziniert. Sie waren verhüllte Gestalten, Aussehen und Geschlecht lagen verborgen hinter Kleidung und Magie. Das war sowohl effektvoll als auch von praktischem Nutzen. Die Anführer der Zauberergemeinschaft wurden in geheimer Abstimmung gewählt, um sie vor Bestechung, Entführung und anderen Versuchen der Einflussnahme zu schützen. Die Ratsmitglieder kannten sich untereinander, aber sonst wusste niemand um ihre Identität.

Viele Mitglieder amüsierten sich darüber, dass jeder, der eintrat oder ging, von dem Gesehenen in Verwirrung gestürzt wurde. Oftmals wusste der Betreffende nicht mehr, was er gehört und erlebt hatte.

So war es damals auch Khadgar ergangen. Er hatte die Kammer mit aufgewühltem Herzen verlassen, beeindruckt von der Macht, die die Meister beherrschten. Auch er hatte sich nicht mehr genau daran erinnern können, was während des Empfangs genau passiert war.

Vieles war seitdem anders geworden. Obwohl nur ein paar Jahre verstrichen waren, hatte Khadgar viel Wissen und Macht hinzugewonnen. Sein Aussehen hatte sich ebenfalls geändert. Er lächelte innerlich, als er sich vorstellte, dass diesmal einige Ratsmitglieder von ihrem Besucher verwirrt sein würden. Immerhin war er als junger Mann gegangen… und nun deutlich gealtert zurückgekehrt. Er war jetzt älter als viele von ihnen, obwohl er weniger lange gelebt hatte.

Khadgar hatte keine Lust mehr, Spielchen zu spielen. Er war müde, denn er war nach Dalaran teleportiert. Und wenn seine Magie es ihm auch ermöglichte, die Strecke zu überwinden, so blieb es doch eine gewaltige Entfernung. Außerdem hatte er gestern Abend noch spät mit Lothar diskutiert, in Vorbereitung auf ihre offizielle Strategiebesprechung in der nächsten Woche.

Khadgar schätzte das Interesse seiner ehemaligen Lehrer an den Ereignissen. Und ihm war klar, dass sie erfahren mussten, was in Azeroth geschehen war. Aber das konnte er ihnen besser ohne das ganze Brimborium drumherum erklären.

Deshalb hob er schließlich den Kopf und schaute zu der vermummten Gestalt zu seiner Linken. »Ich werde mich gern der Dinge erinnern, Prinz Kael’thas«, sagte er freundlich, »aber ich fände es weitaus leichter, wenn ich mein Publikum richtig sehen könnte.«

Er hörte, wie jemand nach Luft schnappte, doch die vermummte Gestalt, die er ansprach, lachte. »Du hast Recht, junger Khadgar«, antwortete der Magier. »Ich fände es auch anstrengend, zu solchen Schattengestalten zu sprechen.« Mit einer schnellen Geste ließ der Elfenprinz seine Tarnung sinken. Jetzt konnte Khadgar ihn in seinen violetten und goldenen Gewändern erkennen. Sein langes goldenes Haar reichte über die Schultern. Die scharfen Gesichtszüge zeigten Anteilnahme. »Ist es so besser?«

»Erheblich«, sagte Khadgar. Er sah sich nach den anderen Ratsmitgliedern um. »Und was ist mit Euch? Darf ich Eure Gesichter nicht sehen? Lord Krasus? Lord Kel’Thuzad? Lord Antonidas hat keine Verkleidung nötig. Und Prinz Kael’thas hat sich entschlossen, sie abzulegen. Wird der Rest dasselbe tun?«

Antonidas saß vor Khadgar auf einem unsichtbaren Stuhl und lachte. »In der Tat, junger Mann, in der Tat«, stimmte er zu. »Diese Angelegenheit ist viel zu ernst für solche Tricks. Und Ihr seid nicht länger mehr ein Welpe, der sich solche Taschenspielereien bieten lässt. Legt eure Verkleidungen ab, meine Freunde, und lasst uns zum Thema kommen, bevor es noch später wird.«

Die anderen Magier gehorchten, obwohl ein paar fluchten. Sekunden später sah sich Khadgar von sechs Gestalten umringt. Er erkannte Krasus an seinem Körperbau; grazile Gesichtszüge und das silberne Haar, das immer noch von rot durchzogen war. Kel’Thuzad war ihm ebenfalls vertraut; ein charismatischer Mann mit dunklem Haar, einem Vollbart und merkwürdig glasigen Augen, als würde er nicht wirklich in die Welt blicken, die ihn umgab. Die beiden anderen, ein dicklicher Mann und eine große Frau, kannte Khadgar nicht, obwohl ihm ihre Züge vage vertraut vorkamen. Wahrscheinlich hatte er sie schon einmal in der Violetten Zitadelle gesehen, als er dort studiert hatte. Er war damals einfach nicht wichtig genug gewesen, als dass man ihn direkt angesprochen hätte.

Das war heute anders. Sie alle musterten ihn aufmerksam.

»Wir haben getan, was Ihr verlangtet«, sagte Kel’Thuzad. »Jetzt berichtet, was passiert ist!«

»Was wollt Ihr denn wissen?«, fragte Khadgar den älteren Magier.

»Alles!« In seinen Augen konnte er lesen, dass er es auch so meinte. Er hatte immer als Träumer und Forscher gegolten. Jemand, der stets auf der Suche nach Informationen war, besonders, was die Magie betraf, ihre Quellen, ihre Möglichkeiten. Von allen Kirin Tor war er am meisten daran interessiert gewesen, Zugang zu Medivhs geheimnisvoller Bibliothek zu erhalten. Und, so vermutete Khadgar, er war einer derjenigen, der ihre Zerstörung am meisten bedauerte.

Er hatte niemandem gesagt, dass er die wertvollsten Bände an sich genommen hatte, bevor er den Turm verließ.

»Nun gut…« Also erzählte er es ihnen. Dankbar nahm er den Platz an, den der beleibte Mann ihm auf einem Stuhl anbot. Khadgar schilderte haarklein, was geschehen war, seit er Dalaran vor zwei Jahren verlassen hatte. Er berichtete von der merkwürdigen Lehrlingszeit bei Medivh, über den Zauberer und seine launenhaften Stimmungen und dessen immer wieder merkwürdiges Verschwinden. Er erzählte vom ersten Gefecht mit den Orcs, von den Morden des Zauberers, von Medivhs Verrat und wie er und Lothar das Leben des Magiers beendet hatten.

Dann erzählte er von der Horde und den Schlachten gegen sie, von der Belagerung Stormwinds, Llanes Tod, dem Fall der Stadt und ihre darauf folgende Flucht.

Die Meistermagier hörten aufmerksam zu. Nur gelegentlich stellte einer eine Frage. Dabei legten sie eine überraschende Zurückhaltung jemandem gegenüber an den Tag, der so viel jünger war. Ihre wenigen Fragen waren kurz und prägnant. Als er mit der Gründung der Allianz und den Paladinen geendet hatte, holte Khadgar Atem und wartete ab, was die Magier als nächstes von ihm wissen wollten.

»Ihr habt den Orden von Tirisfalen nicht erwähnt«, führte Kel’Thuzad aus, was Antonidas ein scharfes Husten entlockte. »Er ist wichtig, wenn wir über Medivh reden!«

»So ist es«, antwortete Khadgar. »Und ich entschuldige mich für den Fehler. Aber…« Er schaute sich um, versuchte, das Wissen der Magier anhand ihrer Gesichter abzuschätzen… und entschied sich für Zurückhaltung. »Ich weiß nur wenig von den wahren Taten des Ordens. Medivh gehörte ihm an, und ein oder zweimal sprach er davon. Doch er nannte keine Mitglieder oder gab mir Einblick in ihre Aktivitäten.«

»Natürlich nicht«, stimmte ihm die Frau zu, und Khadgar bemerkte die Enttäuschung in ihrem Blick, als sie Kel’Thuzad ansah.

Er hatte richtig entschieden, erkannte er. Sie wussten nichts über den Orden und hatten nur versucht, ihm dessen Geheimnisse zu entlocken. Nun, sie hatten es nicht geschafft und würden die Sache nicht weiter verfolgen.

»Aber ich bin besorgter über Medivh selbst und was ihm passiert ist«, fuhr sie fort. »Seid Ihr Euch sicher, dass Ihr Sargeras in ihm gesehen habt?«

»Absolut.« Khadgar beugte sich vor. »Ich hatte den Titan bereits in einer Vision erlebt und erkannte ihn sofort wieder.«

»Also war es Medivh, beziehungsweise Sargeras durch ihn, der den Weltenspalt für die Orcs geöffnet hat«, vermutete der dickliche Mann. »Und wie, sagtet Ihr, nannten sie ihre Welt noch gleich?«

»Draenor«, antwortete Khadgar und schauderte. Denn er dachte an die andere Vision in Medivhs Turm, mit ihm selbst als altem Mann – oder zumindest alt aussehendem Mann – der eine kleine Gruppe Krieger gegen eine Übermacht der Orcs anführte. Auf einer Welt mit einem blutroten Himmel… Garona hatte ihm gesagt, dass sich das nach Draenor anhörte, was bedeutete, dass ihm bestimmt war, dorthin zu gehen – und er es wahrscheinlich nicht überleben würde.

Er schüttelte die unguten Gedanken ab

»Was wissen wir darüber?«, fragte Krasus. »Von dieser Welt. Ihr habt uns den Himmel beschrieben, aber wisst Ihr noch mehr darüber?«

»Ich war noch nie dort«, antwortete Khadgar und dachte: zumindest bis jetzt noch nicht. »Aber eine Begleiterin, eine Haibork, verriet mir viel über diese Welt und über die Orcs.« Er konnte Garona fast vor sich sehen und wandte sich schnell von der schmerzhaften Erinnerung ab. »Die Orcs waren auf ihrer Welt friedvoller. Sie stritten untereinander, doch bekämpften sich nicht. Ihre einzigen echten Feinde waren die Oger. Allerdings sind die Orcs diesen zahlenmäßig hoch überlegen.«

»Was ist passiert?«, fragte Kel’Thuzad.

»Sie wurden korrumpiert«, erklärte Khadgar. »Sie kannte nicht alle Details, wusste nichts über das Warum und Wie, aber die Hautfarbe der Orcs änderte sich allmählich von braun nach grün, und sie begannen Magie zu praktizieren, die sich von ihrer alten Schamanenkunst unterschied. Sie wurden wilder, brutaler. Es gab eine große Zeremonie und irgendeinen Kelch. Die Häuptlinge und die Krieger tranken daraus, zumindest die meisten. Ihre Haut wurde daraufhin hellgrün und ihre Augenfarbe rot. Sie wurden stärker, machtvoller und barbarischer. Und alle ergaben sich dem Blutrausch. Sie töteten jeden Feind, auf den sie trafen – und sie wandten sich plötzlich auch gegeneinander. Derweil hatte ihre Magie das Land unfruchtbar gemacht, das Getreide wuchs nicht mehr. Sie waren dabei, sich selbst auszurotten oder Hungers zu sterben. Doch dann wandte Medivh sich an Gul’dan, den obersten Hexenmeister der Horde. Er bot ihm Zugang zu dieser Welt an, unserer Welt. Gul’dan akzeptierte, und gemeinsam schufen sie ein Portal. Sie schickten ein paar Clans auf einmal hindurch und wurden allmählich immer mehr. Dann mussten sie eigentlich nur noch abwarten, ihre Streitkräfte aufbauen, unsere Verteidigung auskundschaften – und schließlich angreifen.«

»Und jetzt kommen sie in voller Stärke?«, fragte Kael’thas mit sorgenvollem Blick.

»Ja.«

Khadgar wartete ab, aber niemand anders ergriff das Wort, und schließlich blickte er zu dem unsichtbaren Stuhl. »Wenn es nichts weiter gibt, ehrenwerte Meister, werde ich jetzt gehen«, sagte er. »Es war ein langer Tag, und ich bin sehr müde.«

»Was für Pläne habt Ihr nun?«, fragte die Frau, als er sich vom Stuhl erhob.

Khadgar furchte die Stirn. Er hatte sich dasselbe gefragt, seit er in Lordaeron angekommen war. Ein Teil von ihm wollte die Kirin Tor um Schutz bitten – vielleicht konnte er ja in seinen alten Beruf als Bibliothekar zurück? Er würde keinen Ärger machen, und er wäre in Sicherheit hinter den stärksten magischen Schutzeinrichtungen dieser Welt. Ein anderer Teil von ihm hingegen sträubte sich, vor dem bevorstehenden Konflikt zu flüchten.

Er war immerhin einem Dämon gegenüber getreten – und hatte überlebt. Wenn er das schaffen konnte, brauchte er sich gewiss nicht vor einer Armee von Orcs zu verstecken.

Außerdem galten ihm Freundschaft und Respekt noch etwas.

»Ich werde bei Fürst Lothar bleiben«, sagte Khadgar schließlich betont gelassen. »Ich habe ihm meine Unterstützung zugesagt, und er verdient sie wirklich – nach dem Krieg, vorausgesetzt, ich überlebe ihn…« Er zuckte die Achseln.

»Ihr seid immer noch mit Dalaran verbunden«, merkte die Frau an. »Wenn wir Euch zurückberiefen und Euch eine wichtige Aufgabe zuteilen würden, würdet Ihr dem Ruf folgen?«

Khadgar dachte kurz darüber nach. »Nein«, antwortete er langsam. »Ich könnte nicht zurückkehren. Wenn wir den Krieg überleben, werde ich mich weiter meinen Studien widmen. Ob ich das hier oder in Medivhs Turm mache oder sonst wo, steht noch nicht fest.«

Die Ratsmitglieder musterten ihn und er sie. Krasus brach schließlich die Stille. »Als Ihr gegangen seid, wart Ihr noch ein Jüngling, ein rechter Grünschnabel«, sagte er. »Aber Ihr seid als Meister und Mann zurückgekehrt.«

Khadgar nickte, um das Kompliment anzunehmen, erwiderte allerdings nichts.

»Euch wird nichts befohlen«, versicherte ihm Antonidas. »Wir respektieren Eure Wünsche und Eure Unabhängigkeit. Wir würden nur gern auf dem Laufenden gehalten werden, besonders über alles, was Medivh, die Totenbeschwörer, den Orden und das Portal betrifft.«

Khadgar nickte. »Darf ich dann gehen?«

Antonidas lächelte angespannt. »Ja, Ihr dürft gehen«, sagte der Erzmagier. »Möge das Licht Euch beschützen und Euch Stärke schenken.«

»Haltet uns auf dem Laufenden«, bekräftigte der dicke Mann noch einmal. »Je eher wir die Pläne der Orcs kennen, desto schneller können wir Soldaten dorthin entsenden, wo sie auftrumpfen wollen – und natürlich auch magische Hilfe gewähren.«

Khadgar nickte. »Selbstverständlich.« Schnell verließ er den Raum. Doch kaum hatte er die Türen hinter sich geschlossen, zauberte er eine Wahrsagekugel herbei. Die Kirin Tor trafen sich in einem stillen Raum, der, wie er annahm, magisch nicht nur gegen handfeste Attacken, sondern auch gegen Lauschangriffe gesichert war. Aber Khadgar hatte viel von Medivh gelernt und noch mehr aus den Büchern, die er nach dem Tod seines Meisters studierte. Zudem befand er sich noch nah an der Quelle.

Er konzentrierte sich, und die Farben wirbelten in der Kugel umher. Sie änderten sich von grün nach schwarz und wieder zurück. Gesichter erschienen, und ein schwaches Murmeln erklang. Dann sah er die Mitglieder des Rates in ihren violetten Roben. Selbst das sich bewegende Bild im Raum war zum Stillstand gekommen, sodass nur eine Kammer mit sechs Leuten übrig blieb.

»… wir nicht, wie weit wir ihm trauen können«, sagte der dicke Mann gerade. »Er schien nicht sehr geneigt zu sein, unseren Wünschen zu entsprechen.«

»Natürlich nicht«, antwortete Kael’thas knapp. »Ich bezweifle, dass du zugänglicher gewesen wärst, wenn du das alles erlebt hättest. Wir müssen ihm auch gar nicht trauen. Wir brauchen ihn nur, damit er uns mit Lothar bekannt macht und zwischen uns und den anderen vermittelt. Ich bin mir sicher, dass er unsere Anliegen nicht sabotieren oder sich gegen uns wenden wird. Oder uns Informationen vorenthält, die wir benötigen. Ich wüsste nicht, was wir sonst noch erwarten könnten.«

»Diese andere Welt, Draenor, beunruhigt mich«, murmelte Krasus. »Wenn die Orcs durch jenes Portal kommen konnten, könnten das auch andere tun. Von jeder Seite aus. Wir wissen, dass sie Oger mit sich brachten. Aber wir haben keine Ahnung, was von dort sonst noch kommen könnte. Sie könnten also noch viel üblere Kreaturen besitzen, die nur darauf warten, unsere Welt zu verwüsten. Außerdem haben wir keinerlei Möglichkeit, die Orcs daran zu hindern, auf ihre Heimatwelt zurückzukehren, wann immer ihnen der Sinn danach steht. Einen Feind zu bekämpfen, der eine uneinnehmbare Heimatbasis besitzt, ist erheblich schwieriger. Weil er angreifen und dann sofort wieder verschwinden kann. Wir sollten die Suche nach diesem Portal zu unserem vorrangigsten Ziel erklären.«

»Das sehe ich auch so«, sagte Kael’thas. »Zerstören wir das Portal.«

Die anderen nickten.

»Gut, das ist also beschlossen. Was gibt es noch zu besprechen?«

In der Folge unterhielten sie sich über alltäglichere Dinge wie Reinigungspläne für die Laboratorien der Violetten Zitadelle.

Khadgar ließ die Kugel verschwinden. Es war besser gelaufen, als er erwartet hatte. Kael’thas hatte Recht. Er hatte viel in den letzten drei Jahren erreicht und eigentlich erwartet, dass die Kirin Tor sich über seinen Mangel an Respekt beschweren würden. Aber sie hatten gar nichts dazu gesagt und ihm seine Geschichte ohne weitere Fragen abgenommen.

Nun musste er in die Hauptstadt zurückteleportieren und schlafen, damit er morgen ausgeruht war.


Eine Woche später stand Lothar im Kommandozelt im Süden Lordaerons, unweit von Southshore, wo er mit Khadgar an Land gegangen war. Sie hatten diesen Bereich gewählt, weil er zentral genug lag, um jeden Teil des Kontinents schnell erreichen zu können, besonders mit dem Schiff.

Draußen wurden die Truppen auf Vordermann gebracht. Drinnen standen er, die Könige Lordaerons und die vier Männer, die er zu seinen Offizieren gemacht hatte, um einen Tisch herum und studierten die Karte, die darauf ausgebreitet lag.

Lothar hatte Uther zu seinem Verbindungsmann zur Silbernen Hand und zur Kirche bestimmt. Die Paladine hatten überraschende Fortschritte bei der Kampfeskunst und in der Beherrschung des Lichts gemacht. Khadgar stand im Kontakt mit den Magiern und seinem objektivsten Berater. Proudmoore befehligte natürlich die Marine, das hatte von vorneherein außer Frage gestanden.

Aber Turalyon, den guten Turalyon, hatte Lothar zu seinem Stellvertreter erwählt. Der junge Mann hatte ihn und Khadgar beeindruckt, indem er sich als schlau, konzentriert, loyal und fleißig erwies, auch wenn er Lothar immer noch wie eine Sagengestalt behandelte.

Lothar war sicher, dass der Jüngling dieses Verhalten schon bald ablegen würde, und konnte sich niemanden vorstellen, der besser als seine rechte Hand geeignet gewesen wäre.

Turalyon war natürlich immer noch hoch nervös in Anbetracht der großen Verantwortung, die ihm aufgebürdet worden war.

Sie besprachen dieselben Dinge wie schon seit einer Woche: welchen Weg die Horde wohl am wahrscheinlichsten wählen würde, wo sie angreifen würde und wie man die Truppen der Allianz am schnellsten dorthin verlegen konnte, ohne dabei jene Felder und die Ernte zu zertrampeln, die sie eigentlich beschützen wollten.

Gerade warf Graymane zum zehnten Mal ein, dass die Streitkräfte der Allianz am effektivsten entlang der Grenzen von Gilneas postiert wären, für den Fall, dass die Orcs dort zuerst erscheinen würden… da stürmte ein Kundschafter ins Zelt.

»Sire, das müsst Ihr Euch ansehen!«, rief er, während er seine Vorwärtsbewegung abbremste, sich verneigte und respektvoll grüßte. »Sie sind hier!«

»Wer ist hier, Soldat?«, fragte Lothar mit gefurchter Stirn. Er versuchte, aus dem Gesichtsausdruck des Kundschafters etwas herauszulesen, was angesichts der Nervosität des Mannes aber schwierig war. Er sah nicht völlig panisch aus, sodass Lothar erst einmal durchatmete und sein eigenes rasendes Herz wieder unter Kontrolle bringen konnte. Offenbar handelte es sich nicht um die Horde, auch wenn im Blick des Kundschafters Angst, gemischt mit Respekt, ja selbst Ehrfurcht flackerte.

»Die Elfen, Sire«, rief der Kundschafter. »Die Elfen sind hier!«

»Die Elfen?« Lothar musterte den Kundschafter und versuchte, die erhaltene Information zu verdauen. Dann sah er zu den versammelten Königen. Wie er vermutet hatte, hüstelte einer von ihnen und schaute demonstrativ schuldbewusst drein.

»Wir brauchen Verbündete«, erklärte König Terenas. »Die Elfen sind ein mächtiges Volk. Ich hielt es für das Beste, sie so schnell wie möglich zu kontaktieren.«

»Ohne mit mir vorher darüber zu sprechen?« Lothar war wütend. »Und was passiert, wenn sie eine ganze Armee geschickt haben und plötzlich verlauten lassen, dass sie die Führung übernehmen? Was passiert, wenn die Horde angreift, während wir noch versuchen, sie in unsere eigenen Streitkräfte zu integrieren? Man verbirgt solche elementaren Details nicht vor seinem militärischen Führer! Es könnte unseren Tod bedeuten. Oder zumindest den von vielen Eures Volkes!«

Terenas nickte nüchtern. »Ihr habt natürlich Recht«, antwortete er und erinnerte Lothar damit daran, warum er den König mochte: Die meisten Männer konnten keine Fehler eingestehen, am wenigsten diejenigen, die über viel Macht geboten. Aber Terenas übernahm die volle Verantwortung für seine Taten, für die guten ebenso wie für die schlechten. »Ich hätte zuerst mit Euch darüber sprechen sollen. Die Zeit drängte, doch das ist keine Entschuldigung. Es wird nicht noch einmal geschehen.«

Lothar nickte knapp. »Gut. Nun lasst uns herausfinden, wie diese Elfen aussehen.« Er verließ das Zelt, und die anderen folgten ihm.

Das erste, was Lothar sah, als er nach draußen trat, waren seine eigenen Soldaten. Die Armee füllte das Tal und die Gegend dahinter. Für einen Moment fühlte Lothar Stolz und Zuversicht. Wie sollte irgendjemand oder irgendetwas sich gegen eine derart mächtige Streitmacht stellen können? Aber dann sah er im Geiste noch einmal, wie die Horde über Stormwind gekommen war – eine unaufhaltsame grüne Flut. Seine Gedanken verloren ihren Optimismus. Dennoch war die Armee der Allianz um einiges größer als die Streitkräfte von Stormwind. Sie würden die Horde auf jeden Fall aufhalten.

Während er seine Truppen musterte, wanderte Lothars Blick auch zur Küste und dem anschließenden Meer. Proudmoores Schiffe lagen überall vor Anker. Es waren alle Größen und Bautypen vertreten, von kleinen, schnellen Aufklärern bis hin zu wuchtigen Zerstörern. Ein wahrer Wald aus Masten und Segeln breitete sich über den Wellen aus. Doch viele waren in die Docks gezogen worden, wodurch eine offene Fahrrinne entstanden war. Sie durchfuhr nun ein Verband von Schiffen, wie Lothar sie noch nie zuvor gesehen hatte.

»Elfische Zerstörer«, flüsterte Proudmoore. »Schneller als unsere und leichter. Sie tragen weniger Waffen, aber gleichen das durch Geschwindigkeit wieder aus. Eine wahrhaft exzellente Ergänzung für unsere Streitkräfte.« Der Admiral runzelte die Stirn. »Aber nur so wenige? Ich zähle nur vier große und acht kleinere Boote. Das ist ein einziges Geschwader…«

»Vielleicht kommt der Rest noch«, vermutete Turalyon.

Proudmoore schüttelte den Kopf. »Das ist nicht ihre Art. Sie würden alle zugleich eintreffen.«

»Ein Dutzend Schiffe sind immer noch ein Dutzend mehr, als wir vorher hatten«, merkte Khadgar an. »Außerdem befinden sich auch noch Kämpfer an Bord.«

Lothar nickte. »Wir sollten ihnen entgegengehen und sie begrüßen«, sagte er, und alle anderen stimmten zu.

Gemeinsam schritten sie durch das Tal. Perenolde und Graymane waren an solche Anstrengungen nicht gewöhnt und keuchten binnen weniger Minuten. Aber der Rest hatte eine gute Kondition, sodass sie rasch vorankamen. Sie erreichten die Docks mit dem Anlegen des ersten Schiffes.

Eine große, geschmeidige Gestalt ging von Bord und landete leichtfüßig auf der hölzernen Kaizunge. Das lange goldene Haar fing das Sonnenlicht ein, und Lothar hörte, wie jemand hinter ihm nach Luft schnappte. Als die Gestalt näher kam, erkannte Lothar, dass es eine Frau war, eine sehr schöne Frau. Ihre sanften Gesichtszüge waren fein geschnitten und ausdrucksstark. So wie ihr ganzer gertenschlanker Körper. Sie trug waldgrüne und eichenbraune Kleidung, einen auffällig leichten Brustpanzer, ein Überhemd und Stiefelhosen und einen langen Umhang mit zurückgeschlagener Kapuze. Lederhandschuhe bedeckten ihre Arme bis zu den Ellbogen, so wie ihre Stiefel ihre Beine bis zu den Knien schützten. Ein schlankes Schwert hing an einer Seite, ein Beutel und ein Horn an der anderen. Über ihrem Rücken trug sie einen Langbogen und einen Köcher für die Pfeile.

Lothar hatte über die Jahre viele Frauen kennengelernt, einige so schön wie die Elfe, die auf ihn zukam. Doch er hatte nie eine erlebt, die Stärke und Anmut so in sich vereinte wie sie.

Er konnte verstehen, warum einigen seiner Begleiter das Herz schneller schlug.

»Milady«, rief Lothar, als sie nur noch ein paar Schritte weit entfernt war. »Willkommen. Ich bin Anduin Lothar, Kommandeur der Streitkräfte von Lordaeron.«

Sie nickte und blieb nur eine Handbreit von ihm entfernt stehen. Er konnte ihre spitzen Ohren erkennen, die durch ihre Haare stachen. Und die großen, grünen Augen, die wie Edelsteine wirkten und nach oben hin schräg wurden. »Ich bin Alleria Windläufer, und ich überbringe Euch die Grüße von Anasterian Sonnenläufer und dem Rat von Silbermond.« Ihre Stimme war angenehm und volltönend. Lothar vermutete, dass sie selbst dann noch angenehm klang, wenn sie wütend war.

»Danke.« Er drehte sich um und bedeutete den Männern, sich um ihn zu versammeln. »Erlaubt mir, Euch mit den Königen der Allianz und meinen Offizieren bekannt zu machen.« Nachdem er alle vorgestellt hatte, wandte er sich ernsteren Belangen zu. »Vergebt meine Direktheit, Lady Alleria«, sagte er, und bekam ein Lächeln von ihr geschenkt für den Titel. »Aber ich muss fragen… ist das die ganze Hilfe, die Euer Volk aufbieten kann?«

Sie furchte die Stirn. »Ich will Euch offen antworten, Fürst Lothar«, sagte sie. Dabei achtete sie darauf, dass niemand zuhörte.

Einige andere Elfen, sowohl Männer als auch Frauen, hatten die Schiffe nun verlassen und sammelten sich am entfernten Ende des Piers. Sie warteten offensichtlich auf Allerias Erlaubnis, sich zu nähern.

»Anasterian und die anderen waren nicht sonderlich besorgt ob des Berichts, den Ihr uns sandtet. Diese Horde ist für uns sehr weit weg und scheint nur das Land der Menschen erobern zu wollen, nicht unsere Wälder. Die Ratsmitglieder hielten es für besser, diesen Kampf den jüngeren Völkern zu überlassen. Stattdessen verstärken wir unsere eigenen Grenzen, um einen feindlichen Einfall zu verhindern.« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, wodurch zu erahnen war, was sie persönlich von dieser Entscheidung hielt.

»Immerhin seid Ihr hier«, sagte Khadgar. »Das hat doch sicherlich einen Grund?«

Sie bejahte. »Der Bote von König Terenas…« Sie nickte in dessen Richtung. »… informierte uns, dass Ihr, Fürst Lothar, der Letzte der Blutlinie der Arathi seid. Unsere Vorfahren schworen König Thoradin und all seinen Nachfahren ewigen Beistand. Anasterian konnte sich dem nicht verweigern. Er schickte deshalb diese Kampfgruppe, um unserer Verpflichtung nachzukommen.«

»Und Ihr?«, fragte Lothar, der bemerkt hatte, dass sie nur die Schiffe erwähnt hatte.

»Ich bin hier auf meinen eigenen Wunsch«, verkündete sie stolz. Dabei warf sie ihren Kopf zurück wie ein temperamentvolles Wildpferd, wenn es herausgefordert wurde. »Ich bin eine Waldläuferin. Ich entschloss mich, meine eigene Abteilung mitzubringen und Euch unsere Unterstützung anzubieten.«

Sie schaute an Lothar vorbei. Ihre Augen suchten die Gegend ab. Er wusste, dass sie die Armee inspizierte, die hinter ihm stand.

»Ich spürte, dass dieser Konflikt weit ernster ist, als meine Herrscher erkennen wollen. Solch ein Krieg könnte sich leicht auf uns alle ausweiten. Und wenn die Horde so bösartig ist, wie Ihr sagt, werden unsere Wälder nicht lange verschont bleiben.« Sie sah Lothar an. Er erkannte, dass sie nicht nur eine schöne, sondern auch starke Frau war, geübt im Gefecht. »Wir müssen sie aufhalten.«

Lothar nickte. »Dem stimme ich zu.« Er verbeugte sich. »Seid willkommen, Milady. Ich bedanke mich bei Euren Regenten für ihre Unterstützung. Aber ich bin noch viel dankbarer für Eure Gegenwart und die Eurer Waldläufer.« Er lachte. »Wir besprachen gerade unsere nächsten Schritte. Ich wäre erfreut, Eure Meinung dazu zu hören. Und wenn Eure Leute sich ausgeruht haben, möchte ich Euch bitten, sie auszuschicken, damit wir sicher sein können, dass der Feind nicht schon nahe ist.«

»Wir brauchen keine Pause«, versicherte ihm Alleria. »Ich werde sie sofort aussenden.« Sie gab ein Zeichen, und die Elfen näherten sich. Jedes dieser Geschöpfe war wie sie gekleidet und bewegte sich ebenso lautlos – auch wenn Lothar der Meinung war, dass sie nicht über ihre einzigartige Anmut verfügten.

Alleria redete mit ihnen, ihre Worte klangen melodisch, wohltönend, aber auch völlig fremd in Lothars Ohren. Die anderen Elfen nickten, liefen mit einem kurzen Nicken an ihnen vorbei und verschwanden während des Laufs von den Docks durch das Tal.

»Sie werden kundschaften und berichten«, erklärte Alleria. »Wenn die Horde sich bis auf zwei Tage genähert hat, werden wir es erfahren.«

»Ausgezeichnet.« Lothar fuhr sich abwesend mit der Hand über die Stirn. »Wenn Ihr uns dann zurück zum Kommandozelt begleiten wollt, Milady? Ich zeige Euch, was wir bislang wissen, und wir werden Eure Ansichten dazu hören.«

Sie lachte. »Natürlich. Aber Ihr müsst aufhören, mich ,Milady’ zu nennen. Sagt einfach Alleria.«

Lothar nickte, wandte sich um und führte sie von den Docks weg. Dabei fiel ihm Turalyons Mienenspiel auf.

Lothar unterdrückte ein Schmunzeln. Jetzt wusste er auch, wer da eben nach Luft geschnappt hatte.


Zwei Tage später hatte Lothar nichts mehr zu lachen. Allerias Kundschafter waren zurückgekehrt, genauso wie die Schiffe, die Proudmoore ausgeschickt hatte. Beide hatten dasselbe zu berichten.

Die Horde hatte Khaz Modan eingenommen und das Erz der Zwergenminen dazu benutzt, selbst Schiffe zu bauen. Massige, plumpe Eisenschiffe, die sich nur ungelenk vorwärts bewegten. Aber sie konnten Tausende Orcs in ihren tiefen Bäuchen befördern.

Diese Schiffe hatten die Horde schnell über das Wasser gebracht und waren unterwegs zur südlichen Küste Lordaerons, nicht in Graymanes Herrschaftsbereich. Es sah so aus, als wollte die Horde bei den Hügellanden von Bord gehen, auf halber Strecke zwischen hier und Gilneas. Wenn die Allianz nicht zögerte, konnte sie die Horde dort erwarten.

»Sammelt die Truppen!«, brüllte Lothar. »Lasst alles zurück, was ihr nicht braucht. Wir kümmern uns später darum – falls wir überleben! Im Moment ist Schnelligkeit unser größter Verbündeter. Los! Los!« Er wandte sich an Khadgar, während seine anderen Offiziere vom Kommandozelt aus zusammen mit den Königen zu ihren jeweils eigenen Truppen liefen. »Und so fängt es an«, sagte er zu dem jungen, jedoch alt wirkenden Zauberer.

Khadgar nickte. »Ich hätte gedacht, uns bliebe etwas mehr Zeit«, sagte er.

»Das dachte ich auch«, stimmte Lothar zu. »Aber diese Orcs sind ungeduldig und brennen darauf, alles zu erobern. Das mag ihr Untergang sein.« Er seufzte. »Zumindest hoffe ich das.«

Er blickte auf die Karte des Hügellandes und versuchte sich die bevorstehende Schlacht vorzustellen. Dann schüttelte er den Kopf. Es gab noch so viel zu erledigen. Und das Gemetzel würde noch früh genug beginnen.

Загрузка...