19

»Sie kommen nicht mehr.«

Der junge Tharbek wandte sich Doomhammer zu. Er war verwirrt von der unerwarteten Aussage seines Anführers. »Was meinst du damit?«, wollte er wissen.

Doomhammer verzog das Gesicht. »Der Rest der Horde… Sie kommen nicht mehr.«

Tharbek sah sich um. »Du hast sie den langen Weg zur Großen See hinuntergeschickt«, sagte er mit Bedacht und versuchte dabei, nicht den Zorn seines Vorgesetzten zu erregen. »Es wird viele Tage dauern, bis sie zurückkehren.«

»Sie haben Drachen, du Dummkopf!« Doomhammers Faust flog vor und erwischte Tharbek an der Wange. Der jüngere Orc taumelte zurück. »Die Drachenreiter hätten uns schon vor Tagen informieren müssen… Irgendetwas ist passiert! Die Flotte ist weg, und der Hauptteil unserer Truppen mit ihr!«

Tharbek nickte und rieb sich mürrisch die Wange. Er sagte nichts. Er musste es auch nicht. Doomhammer wusste, was sein Stellvertreter dachte.

Hätte er die anderen Clans nicht hinter Gul’dan hergeschickt, wäre das jetzt gar kein Thema.

Doomhammer biss die Zähne zusammen. Warum verstand niemand seine Beweggründe? Tharbek schaute genauso misstrauisch wie jeder andere Orc, den er in den letzten paar Tagen gesehen hatte – seit er ihren Rückzug anordnete.

Die Tore hatten bereits erste Risse gezeigt und immer mehr unter dem Rammbock nachgegeben. Die Stadtwachen hatten ihr Öl schon lange aufgebraucht und mussten jetzt kochendes Wasser zum Einsatz bringen. Die Streitkräfte der Allianz waren über den See zurückgetrieben und an der Brücke aufgehalten worden.

Sie hatten fast schon den Sieg in der Tasche gehabt… und dann hatte er die Armee weggeschickt. Der Rest war zu schwach gewesen, um weiter zu trotzen.

Die Allianz hatte die Zeit zu nutzen gewusst und Kapital aus dem plötzlichen Rückzug geschlagen. Die Menschen waren sofort über die Brücke gestürmt, kaum dass die Blackhands ihren Clan davon geführt hatten. Sie waren durch die wenigen zurückbleibenden Orcs förmlich hindurchgerannt und so wieder zurück aufs Schlachtfeld gelangt. Und die Orcs waren plötzlich eingekeilt gewesen zwischen den Reitern und Fußsoldaten auf der einen Seite und den verschanzten Wachen auf der anderen.

Hilfe war nicht in Sicht. Wie Tharbek gesagt hatte, würde es Tage, wenn nicht gar Wochen dauern, bis der Rest der Horde zurückkehrte. Und das auch nur, wenn sie Gul’dan, seine Hexenmeister, seine Oger und was auch immer er sonst noch beschworen haben mochte, vernichten konnten.

Die Krieger, die in den Bergen in die Falle gegangen waren, konnte er völlig abschreiben. Sie waren den Menschen zum Opfer gefallen, die die Pässe zurückerobert und den Weg verbarrikadiert hatten. Die Orcs, die vor der Stadt standen, waren alles, was ihm für den Angriff noch zur Verfügung stand.

Und das war zu wenig. Deshalb hatte er den Rückzug befohlen. Er hatte gehofft, schnell wieder auf die anderen Clans zu treffen. Zumindest die Drachen hätten schon längst wieder hier sein müssen.

Irgendetwas war eindeutig schiefgegangen. Und schuld daran war Gul’dan. Selbst, wenn der Hexenmeister die Krieger der Horde nicht persönlich getötet hatte, so war es doch sein Verrat gewesen, der Doomhammer dazu gezwungen hatte, seine Streitkräfte aufzuteilen.

Das war seine Pflicht gewesen. Er hatte den Ahnen persönlich geschworen, seine Rasse zu rehabilitieren. Er würde die Korruption bekämpfen, den Blutrausch, die Brutalitäten… und dazu war ihm jedes Mittel recht. Es ging nicht darum, den Krieg zu gewinnen. Sein eigenes Überleben bedeutete gar nichts. Ohne Ehre waren die Orcs nicht besser als Tiere. Vielleicht sogar weniger – weil sie das Potenzial in sich trugen, soviel mehr zu sein.

Einst waren sie ehrenvoll gewesen. Doch die Ehre hatten sie für Blut, Kampf und Hass aufgegeben. Wenn er Gul’dan hätte fliehen lassen, um die Stadt für sich zu erobern, wäre das selbstsüchtig gewesen. Dann wäre er zumindest mit verantwortlich für die fortschreitende Degenerierung seines Volkes gewesen.

Immerhin konnte er jetzt sagen, dass er sein Bestes versucht hatte. Er hatte seine Ehre gewahrt und dadurch auch die Ehre der Horde. Vielleicht verloren sie den Krieg, aber sie würden mit Stolz untergehen. Fest auf ihren eigenen Beinen stehend und mit der Waffe in der Hand, nicht jammernd oder voller Selbstmitleid.

Außerdem war der Krieg noch nicht vorbei. Er würde seine Krieger statt nach Westen nach Süden führen. Dort, zwischen Lordaeron und Azeroth lag Khaz Modan, die Heimat der Zwerge. Sie hatten dieses Gebiet passiert, um hierher zu gelangen. Die Zwerge waren zähe Gegner gewesen, aber ihre Bergfestungen hatten der Macht der Horde letztlich doch nicht widerstanden. Alle waren gefallen – mit Ausnahme der Stadt Eisenschmiede.

Doomhammer hatte Kilrogg Deadeye und seinen Bleeding-Hollow-Clan dort zurückgelassen, um die Minenarbeiten zu beaufsichtigen. Wenn es ihm gelang, seine eigenen Krieger wieder dorthin zurückführen und mit Kilroggs Kräften zu vereinen, würde ihnen wieder eine schlagkräftige Streitmacht zur Verfügung stehen, stark genug, um die Kräfte der Allianz zu stellen und zu vernichten.

Die Schlacht würde ihnen alles abverlangen und die Eroberung viel länger dauern als geplant. Aber sie konnten diesen Kontinent immer noch unter ihre Herrschaft zwingen und ihre eigenen Städte errichten.

Vorausgesetzt allerdings, von nun an ging nichts mehr schief.


»Menschen!«, keuchte der Orc-Kundschafter und fiel vor Erschöpfung auf die Knie. »Östlich von uns!«

Doomhammer starrte ihn an. »Östlich? Bist du dir sicher?« Aber er brauchte eigentlich das müde Nicken des Kundschafters nicht, um zu wissen, dass der Orc die Wahrheit sagte. Doch wie waren die Menschen dorthin gelangt, östlich von ihnen, wo sie sie doch die ganze Zeit verfolgt hatten und Lordaeron im Nordwesten lag?

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Das Hinterland! Er hatte einige seiner Leute dort zurückgelassen. Einen ganzen Clan, um die Menschen abzulenken, während der Rest auf Quel’Thalas zumarschierte.

Die Finte hatte funktioniert, und die Menschen hatten die Hälfte ihrer eigenen Streitkräfte dort zurückgelassen, um die Orcs aus den Wäldern zu treiben.

Offensichtlich waren diese Krieger niemals zur Hauptstadt gelangt. Und jetzt näherten sie sich von Osten her. Das bedeutete, wenn er nicht aufpasste, würden die beiden Armeen der Allianz sie zwischen sich einschließen und die letzte Chance der Horde auf Flucht – und letztlich den Sieg – zunichte machen.

»Wie viele sind es?«, wollte er von dem Kundschafter wissen, der Wasser aus einem Schlauch trank.

»Hunderte, vielleicht mehr«, antwortete dieser schließlich. Er schaute finster drein. »Und einige davon trugen schwere Rüstungen.«

Doomhammer verzog das Gesicht und wandte sich ab. Er schwang den Hammer, um seiner Wut ein Ventil zu schaffen.

Verdammt sollten sie ein! So viele Allianz-Soldaten vermochten seine eigenen Krieger leicht vernichtend zu schlagen, insbesondere mit ihren schnellen Reitern, wenn diese sich von hinten näherten… Und er war immer noch mehrere Tagesmärsche von Khaz Modan entfernt.

Von den Drachenreitern oder den anderen Verschwundenen gab es nach wie vor kein Lebenszeichen.

Ihm blieb keine Wahl. Doomhammer starrte zu Tharbek. »Erhöhe das Tempo«, befahl er. »Voller Lauf, keine Pausen mehr. Wir müssen Khaz Modan so schnell wie möglich erreichen.«

Tharbek nickte und brüllte bereits Befehle. Doomhammer knurrte, als er den jungen Krieger gehen sah. Rennen erinnerte stark an Niederlage. Und diese Option auch nur ins Auge zu fassen, war etwas, das er abgrundtief verabscheute.

Aber er konnte noch kein offenes Gefecht riskieren. Er musste den Bleeding-Hollow-Clan erreichen. Erst dann konnte er sich der Armee der Allianz stellen.


»Dort!« Tharbek wies die Richtung, und Doomhammer nickte. Er hatte den Orc-Kundschafter, der über die Klippe kam, bereits ausgemacht.

»Sei gegrüßt, Doomhammer!«, rief der Kundschafter, nachdem er sich aufgerichtet und seine Axt zum Gruß gehoben hatte. »Der Bleeding-Hollow-Clan heißt dich in Khaz Modan willkommen!«

»Danke« antwortete Doomhammer. Er reckte seinen schwarzen Steinhammer ebenfalls nach oben, sodass der Kundschafter ihn selbst aus der Entfernung gut erkennen konnte. »Wo sind Kilrogg und die anderen?«

»Wir lagern in einem Tal mitten in den Bergen«, antwortete der Kundschafter. Er sprang auf einen niedrigeren Felsvorsprung, damit sie leichter miteinander reden konnten. »Ich mache mich auf und berichte von eurer Ankunft.«

Er blickte auf, und Doomhammer wusste, dass er die Menge der Krieger hinter ihm beobachtete. »Wo ist der Rest der Horde?«

»Tot, zumindest die meisten«, antwortete Doomhammer offen. Als sich die Augen des Kundschafters vor Überraschung weiteten, zeigte er seine Hauer. »Und die Armee der Allianz ist uns auf den Fersen. Sag Kilrogg, er soll seine Krieger bereit für den Kampf machen.«

Der Kundschafter schien zunächst noch eine Frage stellen zu wollen, überlegte es sich jedoch offenbar anders. Er grüßte zum Abschied und kletterte die Klippe hinauf. Kurz darauf verschwand er hinter einer Erhebung.

Doomhammer nickte. Wenigstens die Krieger des Bleeding-Hollow-Clans würden sie an ihrer Seite haben, wenn sie den Menschen erneut entgegentraten.

Kilrogg war trotz seines Alters sehr gewieft und besaß immer noch großen Einfluss. Sein Clan war hochmotiviert und längst nicht kriegsmüde. Mit den Blackhands und Bleeding Hollows als vereinte Streitmacht würde die Allianz sich sehr, sehr schwer tun…


»Wir können sie nicht bekämpfen. Nicht mit unserer vollen Stärke.«

Doomhammer starrte Kilrogg an, der den Kopf schüttelte. Sein Gesicht war mürrisch, drückte aber ebenfalls die felsenfeste Überzeugung aus, die er gerade in Worte gefasst hatte.

»Was? Und warum nicht?«, wollte Doomhammer wissen.

»Wegen der Zwerge«, antwortete Kilrogg knapp.

»Die Zwerge?« Zuerst dachte er, der Häuptling meinte die Greifenreiter. Doch der Nistgipfel lag weit entfernt. Er konnte nur die Zwerge meinen, die hier in den Bergen lebten. »Aber wir haben ihre Armee zerschlagen und sie aus ihren Festungen vertrieben.«

»Bis auf eine«, korrigierte ihn Kilrogg. Er hatte sich Doomhammer zugewandt, sodass dieser das gesunde und das tote Auge sehen konnte. »Wir konnten Eisenschmiede nicht knacken. Ich habe viele gute Krieger bei dem Versuch verloren.«

»Dann lass es sein«, sagte Doomhammer. »Wir brauchen die Stadt jetzt nicht. Wir müssen uns gegen die Menschen wenden, bevor sie die Landbrücken überqueren und sich auf dieser Seite des Kanals sammeln. Wenn wir ihre Armee vernichtet haben, können wir uns Eisenschmiede vornehmen. Dann stationieren wir unsere Krieger dort, während wir nach Norden weitermarschieren, um dort die Eroberung zu vollenden.«

Aber Kilrogg schüttelte den Kopf. »Die Zwerge sind zu wild, als dass man ihnen den Rücken zukehren könnte«, sagte er. »Ich habe in den letzten paar Monaten oft gegen sie gekämpft. Und ich sage dir, wenn wir sie sich selbst überlassen, werden sie sich aus ihrer Festung stürzen wie wütende Hornissen. Jedes Mal, wenn wir eine ihrer Festungen eingenommen haben, sind die Überlebenden nach Eisenschmiede geflohen. Und dort hat man sie aufgenommen. Ich kann nur schätzen, wie tief die Festung in den Berg hinein reicht. Aber die gesamte Zwergennation steckt darin und wartet darauf, sich zu rächen. Wenn wir den Ort nicht bewachen und sie beschäftigt halten, werden wir es nicht nur mit einer Armee zu tun haben, sondern mit zweien.«

Doomhammer ging auf und ab und bedachte die neuen Informationen. Er vertraute Kilroggs Einschätzung. Aber das bedeutete, dass sie nicht genügend Krieger gegen die Allianz würden aufbieten können.

»Bleib hier«, erklärte er Kilrogg schließlich. »Behalte so viele Krieger, wie du brauchst, um die Zwerge in Schach zu halten und die Menschen zu beschäftigen. Ich werde den Rest zur Festung Schwarzfelsspitze führen, wo wir uns hinter den Mauern verschanzen können.« Er schaute den älteren Häuptling an. »Wenn du kannst, bring danach deine Krieger dorthin. Oder du fällst den Menschen in den Rücken. Vielleicht tauchen doch noch ein paar versprengte Einheiten unseres Volkes auf. Entweder von der See her oder aus dem Dunklen Portal.« Er richtete sich auf. »Aber die Festung Schwarzfelsspitze ist unsere Zuflucht. Wenn wir die Menschen dort nicht schlagen können, können wir sie nirgendwo aufhalten, und dieser Krieg ist verloren.«

Kilrogg nickte. Eine Sekunde lang sah er den Kriegshäuptling der Horde an. Und als er sprach, tat er es sanfter, als Doomhammer den mürrischen alten Häuptling jemals zuvor gehört hatte. »Du hast die richtige Entscheidung getroffen«, versicherte ihm Kilrogg. »Ich weiß auch, wie tief Gul’dans Verrat reicht. Er hätte uns in die Tage zurückkatapultiert, bevor sich das Portal geöffnet hat – als wir fast wahnsinnig waren vor Wut, Hunger und Verzweiflung.« Er nickte. »Was immer auch geschieht, du hast unserem Volk die Ehre zurückgegeben.«

Doomhammer nickte ebenfalls. Er spürte plötzlichen Respekt und sogar Zuneigung für den einäugigen Häuptling, den er bislang immer gefürchtet und wenig geschätzt hatte. Stets hatte er Kilrogg für einen brutalen, barbarischen Krieger gehalten, der mehr an Ruhm als an Ehre interessiert war. Vielleicht hatte er sich all die Jahre getäuscht…

»Danke«, rann es ihm schließlich über die Lippen. Es gab nicht mehr zu sagen, deshalb ging er zurück zu seinem eigenen Clan. Er musste Befehle erteilen und einen weiteren Marsch organisieren.

Vielleicht den letzten.

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