Khadgar beobachtete die Ereignisse von der Seite des Thronsaals aus. Er war auf Lothars Wunsch anwesend. Sowohl als Zeuge der Ereignisse als auch, wie Khadgar vermutete, als vertrautes Gesicht in diesem merkwürdigen Land.
Khadgars Neugierde hatte dazu beigetragen, die Einladung anzunehmen. Aber er vermied es wohlweislich, sich diesen Männern als Gleichgestellter zu präsentieren. Trotz der Macht, die er verkörperte.
Jeder von ihnen war ein König und in der Lage, ihn mit einem Fingerschnippen töten zu lassen. Außerdem hatte Khadgar viel zu lange im Mittelpunkt der Ereignisse gestanden. Dabei war er seit frühester Jugend viel mehr daran gewöhnt zu beobachten, abzuwarten, zu analysieren und erst nach reiflichem Überlegen zu reagieren.
Es war schön, zu diesen alten Gewohnheiten zurückkehren zu können. Selbst, wenn es nur für kurze Zeit sein würde.
Er erkannte viele der anwesenden Männer, zumindest der Beschreibung nach. Der große, brummige Mann mit den markanten Gesichtszügen, dem dichten schwarzen Bart und der schwarz-grauen Rüstung war Genn Graymane. Er herrschte über die südlichen Ländereien von Gilneas. Khadgar hatte gehört, dass er viel schlauer war als es den Anschein erweckte.
Der große hagere Mann mit der verwitterten Haut und der grünen Marineuniform war natürlich Admiral Daelin Proudmoore. Er herrschte über Kul Tiras. Aber es war sein Amt als Kommandeur über die größte und effektivste Marine der Welt, weshalb ihn selbst Terenas wie einen Ebenbürtigen behandelte.
Der ruhige, kultiviert wirkende Mann mit dem ergrauenden braunen Haar und den dunklen Augen war Lord Aiden Perenolde, der Herrscher über Alterac. Er blickte gerade zu Thoras Trollbane, dem König des Nachbarreichs Stromgarde.
Aber der große, raue Trollbane ignorierte ihn. Das Leder und die Felle schirmten ihn von Perenoldes Wut offensichtlich genauso ab wie sie ihn vor dem unberechenbaren Wetter seiner Heimatberge schützten.
Seine rauen Gesichtszüge waren einem kleinen, kräftigen Mann mit einem schneeweißen Bart und freundlichem Gesicht zugewandt. Er musste nirgends auf dem Kontinent extra vorgestellt werden, selbst wenn er seine Feiertagsgewänder und den Stab einmal nicht trug: Alonsus Faol war der Erzbischof der Kirche des Lichts und wurde allerorten von den Menschen geachtet.
Khadgar erkannte, warum das so war. Er hatte Faol niemals persönlich getroffen, aber selbst wenn man ihn nur beobachtete, verbreitete eine Aura von Frieden und Weisheit ihren Einfluss.
Ein violettes Flackern aus dem Augenwinkel lenkte Khadgar ab. Er drehte sich um – und kämpfte dagegen an, nicht dümmlich dreinzuschauen.
In den Thronsaal trat eine Legende. Groß und hager, mit langem, grau durchwirktem braunem Bart und dazu passenden Augenbrauen, die Glatze von einer goldumrandeten Kappe bedeckt, erschien nun Erzmagier Antonidas.
In all seinen Jahren in Dalaran hatte Khadgar den Anführer der Kirin Tor nur zweimal zu Gesicht bekommen. Einmal im Vorbeigehen… und dann, als Khadgar darüber informiert wurde, dass er zu Medivh gehen sollte.
Den Meistermagier, der mit jedem Zoll wie ein echter Monarch wirkte, hier neben den anderen Regenten zu sehen, erfüllte Khadgar mit blanker Ehrfurcht und dem überraschenden Gefühl von Heimweh. Er vermisste Dalaran und fragte sich, ob er die Stadt der Zauberer wohl jemals wieder betreten würde.
Vielleicht, wenn der Krieg vorbei war. Falls er ihn denn überlebte.
Antonidas war der letzte Ankömmling. Als er die Fläche vor der Empore erreichte, erhob sich Terenas und klatschte in die Hände. Das Geräusch hallte nach, und die Gespräche erstarben. Alle Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf den königlichen Gastgeber.
»Danke, dass ihr alle hier erschienen seid«, begann Terenas. Seine Stimme durchdrang den Raum. »Ich weiß, dass die Einladung überraschend kam, aber ich habe wichtige Dinge mit euch zu besprechen, die keinen Aufschub dulden.« Er machte eine Kunstpause, dann wandte er sich an den Mann, der auf der Empore neben ihm stand. »Ich präsentiere euch Anduin Lothar, Held von Stormwind. Er ist als Überbringer einer Nachricht gekommen – und vielleicht sogar als unser aller Retter. Ich glaube, am besten erzählt er euch selbst, was er erlebt hat und was uns vielleicht bald schon bedroht.«
Lothar trat vor. Terenas hatte ihn mit frischer Kleidung versorgen wollen, aber Lothar hatte darauf bestanden, seine Rüstung anzubehalten, anstatt sie gegen tadellose Gewänder aus Lordaeron einzutauschen. Sein Schwert ragte immer noch über seine Schulter, was, wie Khadgar vermutete, viele der Monarchen ebenfalls bemerkt hatten. Aber es waren das Gesicht des Helden und die Worte, die er sprach, wodurch er von Beginn an ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte.
»Eure Majestäten«, begann Lothar. »Ich danke Euch dafür, dass Ihr zu diesem Treffen gekommen seid und mir zuhört. Ich bin kein Dichter und auch kein Diplomat, sondern ein Krieger. Deshalb werde ich meine Worte knapp und direkt wählen.« Er atmete tief durch. »Meine Heimat Stormwind ist nicht mehr.« Einige der Könige schnappten nach Luft. Andere wurden bleich. »Sie fiel einer Horde von Kreaturen zum Opfer, die sich Orcs nennen«, erklärte Lothar. »Es sind schreckliche Feinde. So groß wie ein Mensch, aber sehr viel stärker. Mit bestialischen Gesichtszügen, grüner Haut und roten Augen. Diese Horde erschien vor Kurzem und begann damit, unsere Patrouillen zu attackieren«, fuhr Lothar fort. »Aber das waren nur ihre Voraustrupps. Als uns ihre volle Armee angriff, waren wir völlig überrascht. Es sind Zehntausende von Kriegern. Genug, um das Land wie ein böser Schatten zu überziehen. Und sie sind erbarmungslose Gegner. Stark, grausam und gnadenlos.« Er seufzte. »Wir bekämpften sie, so gut wir konnten. Aber es reichte nicht aus. Sie belagerten unsere Stadt, nachdem sie das Land verwüstet hatten. Und obwohl wir sie eine Zeit lang zurückhalten konnten, durchbrachen sie schließlich doch unsere Verteidigungslinien. Sie haben König Liane getötet…«
Khadgar bemerkte, dass Lothar verschwieg, wie der König gestorben war. Vielleicht hätte das Erwähnen der Halb-Orc-Mörderin, der sie als Kundschafterin vertraut hatten, den Bericht abgeschwächt. Khadgar hatte dafür vollstes Verständnis. Er wollte die Sache auch nicht weiter vertiefen, zumal er Garona ebenfalls für eine Freundin gehalten hatte und immer noch ob ihres Verrats bestürzt war.
»… und die meisten unserer Adeligen«, fuhr Lothar fort. »Ich bekam den Auftrag, Llanes Sohn und so viele Menschen wie möglich in Sicherheit zu bringen und den Rest der Welt davor zu warnen, was passiert war. Weil die Horde nicht aus unserem Land stammt, nicht einmal aus dieser Welt. Und sie sich nicht damit zufrieden geben wird, einen einzigen Kontinent zu beherrschen. Sie will auch alle anderen Gebiete vereinnahmen – die ganze Welt!«
»Ihr wollt damit sagen, dass sie auch hierher kommen«, sagte Proudmoore, als Lothar eine Pause einlegte, und es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Ja.« Lothars einfache Antwort versetzte die anderen in Erstaunen, und vielleicht ängstigte sie sie auch.
Aber Proudmoore nickte. »Haben sie Schiffe?«, fragte er.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Lothar. »Wir haben keine Boote bei ihnen gesehen. Andererseits haben wir die Horde selbst auch erstmalig im letzten Jahr entdeckt.« Er furchte die Stirn. »Doch selbst wenn sie bislang keine Schiffe hatten, so besitzen sie auf jeden Fall jetzt welche. Sie haben überall längs der Küste Überfälle begangen. Und auch wenn einige Schiffe sicherlich gesunken sind, so sind andere seither einfach verschwunden.«
»Dann können wir davon ausgehen, dass sie die Absicht haben, den Ozean zu überqueren.« Proudmoore wirkte nicht sonderlich überrascht, fand Khadgar. Wahrscheinlich hatte er bereits das Schlimmste angenommen. »Sie könnten gerade jetzt schon unterwegs zu uns sein.«
»Sie können auch auf dem Landweg kommen«, knurrte Trollbane. »Vergesst das nicht.«
»Aye, das ist wahr«, stimmte Lothar zu. »Wir haben sie das erste Mal im Osten erwischt. In der Nähe der Sümpfe des Elends. Sie hatten ganz Azeroth durchquert, um Stormwind zu erreichen. Wenn sie sich nach Norden wenden, können sie die Brennenden Steppen und die Berge überqueren und sich Lordaeron von Süden her nähern.«
»Von Süden?«, fragte Genn Graymane. »An uns kommen sie nicht vorbei! Ich werde jeden, der versucht, meine Südküste einzunehmen, vernichten!«
»Ihr versteht nicht.« Lothar sah müde aus und klang auch so. »Ihr seid ihnen noch nicht gegenüber getreten. Ihre Anzahl und ihre Stärke sind deshalb für Euch nur schwer einzuschätzen. Aber ich sage Euch, Ihr könnt nicht gegen sie bestehen.« Er schaute die versammelten Monarchen voller Stolz und Kummer an. »Stormwinds Armee war erstklassig«, versicherte er ihnen. »Meine Krieger waren gut ausgebildet und im Kampf geübt. Wir waren den Orcs schon früher entgegengetreten und hatten sie auch geschlagen. Aber das war nur ihre Vorhut gewesen. Der Horde gegenüber fühlen wir uns wie verwirrte Kinder, wie alte Männer… wie reifes Gemüse.« Seine Stimme war brüchig, seine Worte transportierten eine bittere Überzeugung. »Sie werden über die Berge hinwegströmen und dann über Euch und Eure Länder herfallen.«
»Was sollten wir dann gegen sie tun können?«, fragte Erzbischof Faol. Seine souveräne Stimme beruhigte die aufgeheizten Gemüter im Saal. Niemand wurde gern ein Narr geheißen, erst recht kein König. Und das vor allen Dingen nicht vor Gleichgestellten.
»Wir müssen uns verbünden«, sagte Lothar. »Keiner von Euch kann es allein mit ihnen aufnehmen. Aber wir alle zusammen… könnten es schaffen.«
»Ihr sagt, dass sich diese Bedrohung nähert, und das will ich gar nicht bestreiten«, merkte Perenolde an. Seine glatte Stimme fiel zwischen den anderen Königen auf. »Und Ihr sagt, dass wir uns zusammenschließen müssen, um die Bedrohung zu beenden. – Doch ich frage mich, habt Ihr auch andere Mittel erprobt, um den Konflikt zu lösen? Sicherlich sind diese… Orcs… der Vernunft zugängliche Kreaturen. Sicherlich verfolgen auch sie ein Ziel. Vielleicht können wir ja mit ihnen verhandeln?«
Lothar schüttelte den Kopf. Seine gequälten Gesichtszüge demonstrierten allzu deutlich, für wie töricht er diese Diskussion hielt. »Sie wollen die Welt, unsere Welt«, antwortete er langsam, als würde er mit einem naiven Kind sprechen. »Sie werden sich mit nichts Geringerem zufrieden geben. Wir haben Kundschafter ausgeschickt, Boten, Botschafter.« Er verzog die Lippen zu einem düsteren, harten Lächeln. »Die meisten kamen in Einzelteilen zurück. Wenn sie denn zurückkehrten.«
Khadgar beobachtete, wie sich einige der Könige unterhielten. Aus dem Tonfall der Gespräche schloss er, dass sie das Ausmaß der Gefahr, in der sie alle schwebten, immer noch nicht begriffen hatten. Er seufzte und trat vor. Dabei fragte er sich, warum sie ihm wohl eher zuhören sollten als Lothar. Aber er musste es wenigstens versuchen.
Glücklicherweise trat noch jemand nach vorne. Und obwohl er eher ein Gewand als eine Rüstung trug, strahlte diese Person deutlich mehr Autorität aus.
»Hört mich an!«, rief Antonidas. Seine Stimme war dünn, vermochte aber immer noch in ihren Bann zu ziehen. Er hob seinen geschnitzten Stab, und die Spitze leuchtete, was die anwesenden Männer verwirrte. »Hört mich an!«, verlangte er erneut, und dieses Mal verstummten alle. »Ich habe schon vorher Berichte über diese Bedrohung erhalten«, erklärte der Erzmagier. »Die Zauberer von Azeroth waren zuerst fasziniert und dann entsetzt über das Aussehen der Orcs. Sie sandten uns viele Briefe mit Informationen und der Bitte um Hilfe.« Er runzelte die Stirn. »Ich befürchte, wir haben ihnen nicht gut genug zugehört. Wir erkannten ihre Gefahr, hielten die Orcs jedoch für nur wenig mehr als eine lokale Plage, die sich auf den Kontinent beschränkte. – Offenbar haben wir uns getäuscht. Ich kann euch versichern, dass sie hoch gefährlich sind. Wir haben die Worte des Helden von Stormwind missachtet – und ich vermute, zu unserem eigenen Nachteil.«
»Wenn sie so gefährlich sind, warum haben sich die Zauberer dort nicht um sie gekümmert?«, wollte Graymane wissen. »Warum haben sie nicht ihre Magie benutzt, um dem ein Ende zu machen?«
»Weil auch die Orcs über Magie verfügen«, konterte Antonidas. »Wirksame Magie. Die meisten ihrer Hexenmeister sind zwar schwächer als unsere Magier. Zumindest den Berichten nach, die meine Kameraden übermittelt haben. Doch sie sind uns zahlenmäßig weit überlegen und können zusammenarbeiten. Das ist unseren Leuten leider nie leicht gefallen.«
Khadgar war sicher, dass er einige Bitterkeit in der Stimme des alten Magiers mitschwingen hörte, und er verstand ihn gut. Wenn es etwas gab, was jedes Mitglied der Kirin Tor zu schätzen wussten, dann war es die eigene Unabhängigkeit. Auch nur zwei Zauberer dazu zu bringen, gemeinsam zu arbeiten, war bereits enorm schwierig. Und der bloße Gedanke, mehr als zwei gemeinsam wirken zu lassen, lag jenseits aller Vorstellungskraft.
»Unsere Zauberer haben zurückgeschlagen«, erklärte Lothar. »Sie haben das Ruder in mehreren Schlachten herumgerissen. Aber der Erzmagier hat Recht. Es waren viel zu wenige, um effektiv sein zu können. Für jeden Hexenmeister, den wir töteten, kam einer, der seinen Platz einnahm – und noch zwei weitere mit ihm. Sie reisten mit den Vorhuttrupps und den kleineren Armeen, die sie vor Angriffen schützten. Dabei nutzten sie ihre Magie, um die Kraft der Krieger zu verstärken.« Er runzelte die Stirn. »Unser größter Zauberer, Medivh, verfiel der Finsternis der Horde. Die meisten unserer Magier waren auch verloren. Ich bezweifle, ob Magie allein sie zur Umkehr bewegen kann.«
Khadgar fiel auf, dass Lothar unerwähnt ließ, wie oder warum Medivh gestorben war und bewunderte das Taktgefühl des Kriegers. Ihm entging nicht der scharfe Blick, den Antonidas in seine Richtung warf und unterdrückte ein Seufzen. Irgendwann würde der Rat der Kirin Tor eine vollständige Erklärung der Sachlage verlangen. Khadgar wusste, dass sie sich dann mit nichts weniger als der Wahrheit zufrieden geben würden. Und er vermutete, dass es tödlich für sie alle enden konnte, wenn sie etwas zurückhielten – weil es eng mit der Anwesenheit der Horde und früheren Ereignissen verknüpft war.
»Ich finde es merkwürdig«, säuselte Perenolde, »dass ein Fremder sich so um unser Überleben sorgt.« Er grinste selbstgefällig, als er Lothar ansah.
Khadgar musste sich beherrschen, um den Bart des Königs nicht in Brand zu stecken. »Verzeiht, wenn ich den Daumen in offene Wunden lege. Aber Euer Königreich ist verschwunden, Euer König tot, Euer Prinz noch ein Knabe… und Euer Land wurde überrannt. Stimmt das nicht?«
Lothar nickte zähneknirschend. Es bedurfte einiger Selbstbeherrschung, dem arroganten König nicht den Kopf abzubeißen.
»Ihr habt uns von dieser Bedrohung berichtet, dafür sind wir dankbar. Aber dann sprecht Ihr immer wieder davon, was wir tun müssen und wie wir uns zu vereinigen haben…« Perenolde blickte sich übertrieben auffällig im Thronsaal um.
Varian war nicht anwesend. Terenas hatte ihn aufgenommen und behandelte den aus der Bahn geworfenen Prinzen wie ein Mitglied seiner eigenen Familie. Lothar und Terenas hatten gemeinsam beschlossen, dass der Junge von der weiteren Untersuchung verschont bleiben sollte.
»Ich sehe hier niemanden aus Eurem Königreich. Und Ihr selbst habt gesagt, dass der Prinz noch ein Knabe ist und das Land besetzt wurde. Wenn wir uns also tatsächlich dazu entschließen würden, uns zu vereinen, was könntet Ihr dazu beitragen? Abgesehen von Eurem eigenen Können, selbstverständlich.«
Lothar öffnete den Mund, um voller Wut zu antworten. Aber er wurde erneut unterbrochen. Überraschenderweise von König Terenas.
»Ich toleriere es nicht, wenn meine Gäste derart beleidigt werden«, verkündete Lordaerons Herrscher. Seine Stimme war schneidend wie Stahl. »Dieser Mann hat uns von großer persönlicher Gefahr berichtet und uns damit nichts anderes als Ehre und Hingabe ohne Rücksicht auf seinen persönlichen Kummer bewiesen!«
Perenolde nickte und deutete eine halbherzige Geste der Entschuldigung an.
»Außerdem irrt Ihr Euch, wenn Ihr ihn für allein oder wertlos erachtet«, fuhr Terenas fort. »Prinz Varian Wrynn ist nun mein Ehrengast und wird das auch bleiben, bis er selbst beschließt wieder abzureisen. Ich habe mich persönlich verpflichtet, ihn bei der Rückgewinnung seines Königreichs zu unterstützen.«
Einige der anderen Monarchen murmelten. Khadgar konnte sich denken, was in ihnen vorging. Terenas hatte gerade offiziell auf alle Ansprüche auf Stormwind verzichtet und die anderen Könige darüber in Kenntnis gesetzt, dass er Varian beistehen wollte – und das alles innerhalb einer einzigen Aussage.
Es war ein cleverer Schachzug, und sein Respekt vor dem König von Lordaeron wuchs noch mehr.
»Fürst Lothar hat ihn zusammen mit einigen anderen aus seinem Königreich hierher gebracht«, fuhr Terenas fort. »Darunter auch Soldaten. Obwohl ihre Zahl nicht groß ist, verglichen mit der Gefahr, der wir uns gegenübersehen, ist ihre Erfahrung im Kampf gegen die Orcs unbezahlbar. Einige von Stormwinds Truppen ziehen vielleicht noch herum, verwirrt und führungslos. Sie schließen sich sicher dem Aufruf ihres Helden an und verstärken unsere Truppen. Lothar ist ein erfahrener Kommandant und Taktiker. Und ich habe höchsten Respekt vor seinen Fähigkeiten.«
Er machte eine Pause und blickte Lothar fragend an. Khadgar sah fasziniert zu, wie der Held nickte. Lothar und der König hatten sich mehrfach getroffen, während sie auf die Ankunft der anderen Monarchen warteten. Khadgar war nicht bei allen Gesprächen zugegen gewesen, und nun fragte er sich, was ihm dabei wohl entgangen sein mochte.
»Schließlich ist da noch die Behauptung, er sei ein Fremder…« Terenas lächelte. »Obwohl Lothar diesen Kontinent noch nie zuvor mit seiner Gegenwart beehrt hat, ist er alles andere als ein Fremder. Weil er starke Bindungen zu dem Land und zu unserem Königreich hat. Er stammt von den Arathi ab. Er ist der letzte ihrer edlen Linie. Und deshalb hat er mehr Recht, in diesem Rat zu sprechen als jeder andere von uns!«
Diese Enthüllung sorgte für Unruhe unter den anderen Königen. Und auch Khadgar betrachtete seinen Begleiter plötzlich mit anderen Augen.
Ein Arathi! Er hatte natürlich von Arathar gehört, wie wohl jeder in Lordaeron. Vor langer Zeit war es das erste Volk auf dem Kontinent gewesen. Seine Angehörigen hatten starke Kontakte zu den Elfen gepflegt. Gemeinsam hatten die beiden Völker am Fuß des Alterac-Gebirges gegen eine riesige Armee von Trollen gekämpft. Und vereint war es ihnen gelungen, die Attacke abzuwehren und die Trollgemeinschaft für immer zu zerschlagen.
Das arathorianische Reich war erblüht und hatte sich ausgeweitet, bis es Jahre später in die kleineren Nationen zerfallen war, die heute den Kontinent prägten. Die Menschen verließen Strom, die Hauptstadt des arathorianischen Reiches, um in fruchtbarere Gegenden im Norden zu ziehen. Damals war auch der letzte Arathi verschwunden. Einigen Erzählungen zufolge waren sie nach Süden gewandert, noch über Khaz Modan hinaus, in die Wildnis von Azeroth. Und Strom wurde schnell zum Zentrum von Stromgarde, Trollbanes Reich.
»Es stimmt«, verkündete Lothar feierlich, seine Augen schienen jeden herauszufordern, der ihn der Lüge bezichtigen wollte. »Ich stamme von König Thoradin ab, dem Gründer von Arathor. Meine Familie zog nach Azeroth, nachdem das Reich zusammenbrach, und gründete dort eine neue Nation, die als Stormwind bekannt wurde.«
»Also seid Ihr gekommen, um Eure Herrschaft über uns zu verkünden?«, wollte Graymane wissen.
»Nein«, versicherte Lothar ihm. »Meine Ahnen gaben jeden Anspruch auf Lordaeron schon vor langer Zeit auf, als sie sich entschlossen, wegzuziehen. Aber ich habe immer noch Bande zu diesem Land, das mein Volk zu erobern und zu zivilisieren half.«
»Und er kann sich immer noch auf den alten Beistandspakt berufen«, fügte Terenas hinzu. »Die Elfen schworen, Thoradin und sein Haus zu unterstützen, wann immer sie Hilfe benötigten. Sie werden diese Vereinbarung sicher auch heute noch einhalten.«
Das erzeugte dankbare Blicke und Geflüster. Khadgar nickte. Plötzlich war Lothar in ihren Augen mehr als nur ein Krieger, mehr sogar als ein Anführer. Jetzt war er der potenzielle Botschafter zu den Elfen. Und wenn dieses alte, magiewirkende Volk sich tatsächlich mit ihnen verbündete, erschien die Horde plötzlich gar nicht mehr so unbezwingbar.
»Das ist ein großartiges Angebot«, sagte Perenolde trocken. »Vielleicht sollten wir uns alle ein wenig Zeit gönnen, um all das zu berücksichtigen, was wir gehört haben. Das ist nötig, um unsere Länder vor dieser neuen Gefahr zu beschützen.«
»Einverstanden«, sagte Terenas und fragte die anderen erst gar nicht nach ihrer Zustimmung. »In der Tafelhalle habe ich ein Buffet vorbereiten lassen, und ich lade Euch alle ein, mich dahin zu begleiten. Nicht als Könige, sondern als Nachbarn und Freunde. Lasst uns diese Sache nicht beim Essen bereden, sondern für uns selbst entscheiden. Dann können wir leichter eine Entscheidung treffen, nachdem wir das Essen und die drohende Gefahr verdaut haben.«
Khadgar schüttelte den Kopf, als die Monarchen nickten und sich auf die Tür zu bewegten. Perenolde war gerissen, das war klar. Er hatte bemerkt, dass die anderen Könige Lothar Unterstützung gewähren würden, und einen Weg gefunden, sich umzuentscheiden.
Khadgar vermutete, dass der König von Alterac nach dem Essen verkünden würde, dass er es sich überlegt habe und fortan Lothar unterstützen wolle. So vermied er es, das Gesicht zu verlieren oder in eine schwächere Position innerhalb der entstehenden Allianz gedrängt zu werden. Denn für eine solche würden die Könige sich wahrscheinlich in Kürze entscheiden.
Als er den Oberhäuptern der Länder aus dem Raum folgte, bemerkte Khadgar eine Bewegung über sich. Er drehte sich um und erhaschte einen Blick auf zwei Köpfe, die von einem der oberen Balkone heruntersahen.
Eines der Häupter war dunkelhaarig und ernst, er erkannte Prinz Varian. Natürlich wollte der Erbe von Stormwind wissen, was in der Besprechung beschlossen wurde. Der zweite Kopf war blond und jünger und gehörte zu einem Knaben, der weit genug im Hintergrund blieb, dass Varian seinen Schatten nicht bemerkte.
Der Jüngling bemerkte, dass Khadgar hinaufsah und grinste, bevor er hinter dem Vorhang des Balkons verschwand.
Khadgar verstand. Der junge Prinz Arthas wollte ebenfalls wissen, was sein Vater und die anderen planten. Und warum auch nicht? Lordaeron würde ihm eines Tages gehören – falls sie es schafften, die Horde daran zu hindern, alles zu überrennen.