Eine dunkle Gestalt stand auf dem hohen Turm und blickte auf die Welt darunter. Von diesem Aussichtspunkt aus konnte sie die Stadt und das Umland sehen. Beides war von einer sich bewegenden Dunkelheit bedeckt. Einer Flut, die sich über Umgebung und Gebäude ergoss… und nichts als Ruinen hinterließ.
Die Gestalt schaute zu. Groß, mächtig und muskelbepackt stand sie bewegungslos auf der steinernen Spitze. Ihre scharfen Augen analysierten die Szenerie in der Tiefe. Langes dunkles Haar hing zu Zöpfen geflochten über ein kantiges Gesicht. Die mit Quasten versehenen Enden strichen über die langen Hauer, die aus der Unterlippe sprossen.
Die Sonne brannte auf sie herab, und die Haut leuchtete grünlich. Das Licht wurde von zahlreichen Trophäen und Medaillons, die um den Hals hingen, reflektiert. Schwere Plattenpanzer bedeckten Brust, Schultern und Beine. Die verkratzte Oberfläche glühte schwarz. Auffällige Bronzeschnallen prangten darauf. Gold leuchtete an den Rändern und unterstrich die Wichtigkeit des Wesens.
Schließlich hatte die Gestalt genug gesehen. Sie hob ihren riesigen schwarzen Kriegshammer, auf den sie sich gestützt hatte und dessen Steinkopf das Sonnenlicht zu absorbieren schien. Dann brüllte sie los. Es war ein Kriegsschrei, der zur Zusammenkunft rief. Er drang in die Gebäude und selbst die Hügel ringsum ein und wurde zurückgeworfen.
Die schwarze Flut wurde langsamer. Dann kräuselte sie sich, als sich die Gesichter nach oben wandten. Jeder Orc in der Horde blieb stehen und schaute zu der einsamen Gestalt empor, die nun erneut aufbrüllte und den Hammer hochhielt. Und dieses Mal brach die Flut der Orcs in ohrenbetäubenden Jubel aus. Die Horde huldigte ihrem Anführer.
Befriedigt ließ Orgrim Doomhammer seine markante Waffe sinken – und die dunkle Flut nahm ihre Verderben bringende Bewegung wieder auf.
Unten, jenseits der Stadttore, lag ein Orc auf einem Feldbett. Sein kurzer, magerer Körper war in dicke Felle gehüllt, und edle Kleidung lag bereit. Aber die Gewänder waren seit Wochen nicht mehr angerührt worden.
Der Orc bewegte sich nicht, und es schien, als sei er tot. Sein hässliches Gesicht war vor Schmerz oder Konzentration verzerrt. Ein dichter Bart verdeckte den knurrenden Mund.
Plötzlich änderte sich alles. Keuchend setzte sich der Orc auf. Die Felle fielen von seinem schweißgetränkten Körper. Seine Augen öffneten sich. Zuerst waren sie glasig und ohne echte Wahrnehmung. Dann blinzelte er den langen Schlaf weg und blickte sich um.
»Wo…?«, wollte er wissen.
Eine größere Gestalt war schon unterwegs zu ihm. Ihre beiden Köpfe waren angenehm überrascht, und als der Blick des Orcs den Doppelhäuptigen traf, wurde die Welt wieder klar, enthüllte ihre Details.
Was auch immer ihn ausgeschaltet hatte, lag nun hinter ihm und war überwunden. Heimtücke und Wut erfüllten ihn. »Wo bin ich?«, wollte er wissen. »Was ist passiert?«
»Du bist eingeschlafen, Gul’dan«, antwortete die Kreatur, die neben dem Feldbett kniete und ihm einen Kelch anbot.
Der Orc nahm ihn, roch daran und trank den Inhalt grunzend. Dann wischte er sich mit der Hand über den Mund.
»Ein Schlaf wie ein Toter. Seit Wochen hast du dich nicht mehr bewegt, hast kaum geatmet. Wir dachten schon, dein Geist sei fort.«
»Tatsächlich?« Gul’dan grinste. »Hattest du Angst, dass ich dich verlassen würde, Cho’gall, und dich damit Blackhands Gnade ausliefere?«
Der zweiköpfige Ogermagier schaute ihn an. »Blackhand ist tot, Gul’dan!«, sagte einer der Köpfe. Der andere nickte eifrig.
»Tot?« Zuerst glaubte Gul’dan, sich verhört zu haben. Aber Cho’galls finsteres Mienenspiel überzeugte ihn vom Gegenteil, noch bevor beide Köpfe nickten. »Was? Wie?« Er richtete sich auf und setzte sich hin. Die plötzliche Bewegung ließ ihn taumeln, und kalter Schweiß brach aus. »Was ist passiert, während ich schlief?«
Cho’gall begann zu antworten, aber seine Worte erstarben, als jemand die Eingangsflappe beiseite schob und in den engen Raum trat.
Zwei kräftige Orc-Krieger schoben Cho’gall aus dem Weg, packten Gul’dan fest an den Armen und stellten ihn auf die Füße.
Der Oger begann zu protestieren. Seine beiden Köpfe liefen dunkel an vor Wut, aber zwei weitere Orcs drängten in den Raum und verstellten ihm den Weg. Ihre Kriegsäxte waren bereit zuzuschlagen. Sie standen Wache, während die ersten beiden Gul’dan aus dem Zelt schleiften.
»Wohin bringt ihr mich?«, verlangte er zu wissen. Dabei versuchte er, seine Arme frei zu bekommen. Aber er hatte keine Chance. Selbst bei völliger Gesundheit wäre er kein ernstzunehmender Gegner für einen dieser Krieger gewesen. Und jetzt konnte er sich gerade auf den Füßen halten.
Sie schubsten ihn mehr, als dass sie ihn führten. Er bemerkte, dass er zu einem großen Zelt gebracht wurde.
Blackhands Zelt.
»Doomhammer ist jetzt an der Macht, Gul’dan«, sagte Cho’gall leise. Er ging neben ihm, hielt sich aber außer Reichweite der Krieger. »Als du ohnmächtig warst, hat er den Schattenrat angegriffen und die meisten seiner Mitglieder getötet! Nur du, ich und ein paar der niederen Hexenmeister sind übrig geblieben!«
Gul’dan schüttelte den Kopf und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er fühlte sich immer noch benommen.
Nach allem, was Cho’gall erzählt hatte, war dies ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, um das Bewusstsein zu verlieren. Doch was der Oger ihm erzählt hatte, verwirrte ihn. Blackhand getötet? Der Schattenrat zerstört?
Das war Wahnsinn!
»Wer war das?«, wollte er erneut wissen. Dabei wandte er sein Gesicht Cho’gall hinter den breiten Schultern der Krieger zu. »Wer hat das getan?«
Aber Cho’gall war zurückgefallen. Auf seinen beiden Gesichtern spiegelten sich Furcht und Bestürzung.
Gul’dan sah wieder nach vorne. Eine kräftige Gestalt trat vor. Und als er den imposanten Krieger in seiner schwarzen Plattenrüstung sah, der den gigantischen Kriegshammer mit spielerischer Leichtigkeit in Händen hielt, verstand Gul’dan endlich.
Doomhammer.
»Ah, du bist wach.« Doomhammer spie die Worte förmlich aus.
Die Krieger ließen Gul’dan sofort los. Doch der Orc-Hexenmeister konnte sich nicht auf den Beinen halten und fiel hin. Er lag auf den Knien, schaute auf und schluckte angesichts der nackten Wut und des Hasses im Gesicht seines Gegenübers.
»Ich…«, begann Gul’dan.
Doch Doomhammer unterbrach ihn. Mit der Rückhand schlug er so fest zu, dass Gul’dan einige Meter durch die Luft geschleudert wurde und in einem Müllhaufen landete.
»Ruhe!«, knurrte der neue Anführer der Horde. »Ich hatte dir noch nicht erlaubt zu sprechen!« Er kam näher und hob Gul’dans Kinn mit der Spitze seiner fürchterlichen Waffe an. »Ich weiß, was du getan hast, Gul’dan. Ich weiß, wie du Blackhand kontrolliert hast. Du und dein Schattenrat.« Er lachte heiser, erfüllt von Bitterkeit und Abscheu. »Oh ja, ich weiß davon. Aber deine Hexer werden dir jetzt nicht helfen. Die meisten sind tot. Und die wenigen, die es noch gibt, bleiben angekettet und unter Beobachtung.« Er beugte sich vor. »Ich befehlige die Horde jetzt, Gul’dan. Nicht du, nicht deine Hexenmeister – sondern ich, Orgrim Doomhammer! Es wird keine Ehrlosigkeit mehr geben! Keinen Verrat mehr! Keine Hinterlist und keine Lügen!« Doomhammer erhob sich zu seiner vollen beeindruckenden Größe und überragte Gul’dan. »Durotan ist wegen dir gestorben, aber er ist der Letzte, der deinen Intrigen zum Opfer fiel. Und er wird gerächt werden! Du wirst dein Volk nie wieder aus den Schatten heraus regieren! Du wirst unser Schicksal nie mehr lenken und uns zu deinem alleinigen Vorteil missbrauchen. Unser Volk wird frei von dir sein!«
Gul’dan zitterte und dachte nach. Er hatte gewusst, dass Doomhammer zu einem Problem werden konnte. Der selbstbewusste Orc-Krieger war zu intelligent, zu ehrenhaft und nobel, um leicht beeinflusst oder gar kontrolliert zu werden. Er war Blackhands Stellvertreter gewesen, die rechte Hand des einstmals mächtigen Anführers des Blackrock-Clans, den Gul’dan zu seiner Marionette für die Herrschaft über die Horde auserkoren hatte.
Blackhand war ein starker Krieger gewesen, hielt sich jedoch für cleverer, als er war – und konnte deshalb leicht kontrolliert werden. Gul’dan und der Schattenrat hatten die wahre Macht in Händen gehalten. Und Gul’dan seinerseits kontrollierte den Rat ebenso leicht wie den Kriegshäuptling.
Aber über Doomhammer hatte er keine Gewalt gehabt. Dieser hatte ihm die Gefolgschaft verweigert und seinen eigenen Weg beschritten, Doomhammer war nur von der Loyalität zu seinem Volk getrieben. Er wusste natürlich, was hinter den Kulissen geschah. Kannte die Korruption. Und als er schließlich genug gesehen hatte… als er es nicht mehr ertragen konnte… hatte er handeln müssen.
Doomhammer hatte den Augenblick klug gewählt. Nachdem Gul’dan nicht mehr im Weg stand, war Blackhand verwundbar. Wie er dem Schattenrat auf die Schliche gekommen war, war unklar, aber offensichtlich war er erfolgreich gewesen und die meisten Mitglieder waren eliminiert worden. Es blieben nur Gul’dan, Cho’gall und ein paar andere übrig.
Und jetzt stand er mit erhobenem Hammer vor Gul’dan, bereit, ihn ebenfalls zu vernichten.
»Warte!«, schrie Gul’dan. Er hatte beide Hände instinktiv erhoben, um sein Gesicht zu schützen. »Bitte, ich flehe dich an!«
Doomhammer wartete. »Du, der mächtige Gul’dan, bettelst? Sehr gut, Hündchen, winsle! Bettle um dein Leben!« Er hielt den Hammer immer noch erhoben.
»Ich…« Gul’dan hasste ihn, hasste ihn mit einer Leidenschaft, die er niemals für etwas anderes als die pure Macht aufgebracht hatte. Aber er wusste, was er zu tun hatte. Doomhammer hasste ihn ebenso, weil er Schuld am Tod seines alten Freundes Durotan trug. Und weil er ihr Volk von friedfertigen Jägern in rasende Monster verwandelt hatte.
Wenn er jetzt auch nur die kleinste Entschuldigung vorbrachte, würde der Hammer seinen Schädel zerschmettern und danach mit Blut, Haar und Hirn überzogen sein!
Soweit durfte er es nicht kommen lassen.
»Ich beuge mich deiner Macht, Orgrim Doomhammer«, rang er sich schließlich ab. Jedes Wort erklang klar und deutlich. Alle Umstehenden konnten es hören. »Ich erkenne dich als Kriegshäuptling der Horde an, und ich unterwerfe mich dir. Ich werde dir in allen Belangen gehorchen.«
Doomhammer grunzte. »Du hast niemals zuvor Loyalität bewiesen«, erwiderte er scharf. »Warum sollte ich dir glauben?«
»Weil du mich brauchst«, antwortete Gul’dan. Dabei hob er den Kopf und hielt dem Blick des Kriegshäuptlings stand. »Du hast meinen Schattenrat getötet und deine Macht über die Horde gestärkt. Und so soll es sein. Blackhand war nicht stark genug, um uns zu führen. Du bist es, und deshalb brauchst du den Rat nicht.« Er schürzte die Lippen. »Aber du brauchst Hexenmeister. Du brauchst unsere Magie – weil die Menschen ihre eigenen Zauberer besitzen. Ohne uns hast du keine Chance gegen sie.« Er schüttelte den Kopf »Und du hast nur noch wenige Hexenmeister übrig. Mich, Cho’gall und eine Handvoll Neophyten. Ich bin zu nützlich, um mich nur aus Rachegelüsten heraus zu töten.«
Doomhammer knurrte, aber er senkte den Hammer. Einen Moment lang sagte er gar nichts und blickte Gul’dan nur an. Seine grauen Augen füllten sich mit Hass.
Doch schließlich nickte er. »Du hast Recht«, räumte er ein, obwohl es ihn offensichtlich enorme Selbstüberwindung kostete. »Und ich werde die Bedürfnisse der Horde über meine eigenen stellen.« Er entblößte seine Zähne. »Ich erlaube dir zu leben, Gul’dan. Dir und den übrigen Hexenmeistern. Doch nur solange ihr euch als nützlich erweist.«
»Oh, wir werden nützlich sein«, versicherte ihm Gul’dan und verbeugte sich tief. Sein Verstand lief bereits auf Hochtouren. »Ich werde dir Kreaturen erschaffen, die du niemals zuvor gesehen hast, mächtiger Doomhammer. Krieger, die nur dir allein gehören. Mit ihrer Macht und unserer Magie werden wir die Zauberer dieser Welt zermalmen, so wie die Horde die Krieger des Feindes zerstampfen wird.«
Doomhammer nickte. Seine gefletschten Zähne wichen einem nachdenklichen Stirnrunzeln. »Sehr gut«, sagte er schließlich. »Du hast mir Krieger versprochen, die den Magiern der Menschen Paroli bieten. An diesem Versprechen werde ich dich messen.« Damit wandte er sich von ihm ab. Die Orc-Krieger folgten ihm. Der Hexenmeister meinte, sie lachen zu hören, als sie gingen.
Gul’dan blieb zurück. Cho’gall befand sich in seiner Nähe.
Verdammt sei Doomhammer! dachte Gul’dan, als er sah, wie der Kriegshäuptling zurück in sein Zelt ging. Und verdammt sei dieser menschliche Zauberer!
Gul’dan schüttelte den Kopf. Vielleicht hätte er auch sich selbst verfluchen müssen – wegen seiner Ungeduld. Denn die hatte ihn in Medivhs Geist getrieben, wo er nach den Informationen suchte, die der Magier ihm versprochen, jedoch bislang vorenthalten hatte.
Gul’dans Pech war gewesen, dass er sich in Medivhs Geist befunden hatte, als der Mensch gestorben war. Sein eigener Verstand war von diesem Eindruck überwältigt und gefangen gewesen, unfähig, in seinen Körper zurückzukehren. Er hatte die Welt um sich herum nicht wahrnehmen können. Und so hatte Doomhammer die Gelegenheit beim Schopf gepackt, die Macht zu ergreifen.
Doch jetzt war er wieder wach und handlungsfähig, konnte seine Pläne ausführen.
Immerhin war dieser Akt der Verzweiflung, mit dem er sich das Leben gerettet hatte, nicht umsonst gewesen. Gul’dan hatte die Information, die er brauchte. Und schon bald würde er Doomhammer oder die Horde nicht mehr länger brauchen. Schon bald würde er auch ganz ohne sie an die Macht gelangen und sich dort behaupten!
»Ruf die anderen zusammen«, befahl er Cho’gall, während er aufstand, sich streckte und in sich hineinlauschte. Er war schwach, aber er würde es schaffen. Er hatte keine Zeit zu verlieren. »Ich werde sie zu einem Clan zusammenschmieden, der mich vor Doomhammers Zorn beschützen wird. Sie werden Sturmrächer sein – und der Horde beweisen, was wir Hexenmeister zu erreichen imstande sind. Bis selbst Doomhammer unseren Wert nicht mehr bestreiten kann.«
Cho’gall führte den Schattenhammer-Clan an, der besessen war vom drohenden Ende der Welt – aber furchtlose Kämpfer vorzuweisen hatte.
»Es gibt viel zu tun!«