»Wir haben sie!«, rief ein Orc, und Doomhammer grinste. Der Sieg war nicht mehr fern. Die Mauern der Stadt hielten noch immer stand, wie viele Krieger sich auch dagegen warfen. Aber die Tore begannen dank des ständigen Ansturms nachzugeben. Und wenn sie erst fielen, würden seine Krieger hineinströmen, jeden Verteidiger niedermachen und die Stadt plündern.
Mit der Stadt und dem Elfenwald als Basis konnten sie sich schnell über den Rest des Kontinents ausbreiten, die Menschen an die Küsten treiben und schließlich ins Meer jagen.
Und dann würde das Land der Horde gehören. Sie konnten diesen Krieg beenden und endlich ein neues Leben beginnen.
Wenn doch nur die Oger hier wären, dachte Doomhammer erneut. Er stützte sich auf seinen Hammer und beobachtete, wie seine Leute wieder gegen die robusten Tore aus Holz und Eisen anrannten. Die Oger wären in der Lage gewesen, die Mauern zu überklettern – oder noch besser, mit ihren Knüppeln Löcher hineinzuschlagen. Er fragte sich, warum Gul’dan und Cho’gall und ihre Clans noch nicht eingetroffen waren. Er war sehr schnell über die Berge gezogen, das wusste er. Trotzdem hätten sie mittlerweile hier eingetroffen sein müssen.
»Doomhammer!«
Er sah, wie einer seiner Krieger zum Himmel wies. Waren es weitere Greifen? Er verzog das Gesicht. Die gefiederten Flugtiere hatten sich in den Wäldern des Hinterlands und Quel’Thalas als tödliche Gegner erwiesen. Er hatte bislang nur eine Handvoll der fliegenden Bestien zu Gesicht bekommen. Eine war zur Burg und wieder zurück geflogen, hatte aber sonst nicht an der Schlacht teilgenommen. Doch Doomhammer war immer noch vorsichtig. Die Wildhammerzwerge waren stark und zäh, ihre Reittiere schnell… und ihre Sturmhämmer so tödlich wie die Kriegshämmer seines eigenen Volkes. Diesen Feind durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen, trotz der kleinen Statur. Und wenn weitere Zwerge eintrafen, musste er darauf vorbereitet sein.
Aber die dunkle Silhouette vor den Wolken wurde größer und größer – zu lang und geschmeidig für einen Greifen. Doomhammer hörte, wie viele seiner Krieger jubelten, als der Schatten auf sie fiel.
Ein Drache!
Das waren gute Neuigkeiten! Das schwere Tier konnte seine Flammen gegen die Tore einsetzen und die Burgmauern von Verteidigern säubern. Die Stadt gehörte so gut wie ihnen!
Der Drache landete in der Nähe des Sees. Ein großer Orc stieg aus dem Sattel, kaum dass der Leviathan aufsetzte. Doomhammer lief ihm entgegen und verstaute seinen Hammer auf dem Rücken.
»Wo ist Doomhammer?«, wollte der Drachenreiter wissen. »Ich muss mit ihm sprechen!«
»Ich bin hier«, antwortete Doomhammer, und seine Krieger ließen den Reiter durch. »Was gibt es?«
Der Reiter sah ihn an, und Doomhammer erkannte, dass er ihm schon früher einmal begegnet war. Er war einer von Zuluheds Lieblingen, ein mächtiger Krieger, der den Berichten zufolge der Erste gewesen war, der es gewagt hatte, die rebellischen Drachen zu reiten. Sein Name war Torgus.
»Ich bringe eine Nachricht von Zuluhed«, verkündete Torgus mit einem merkwürdigen Ausdruck auf dem breiten Gesicht. Doomhammer las darin Wut, Verwirrung, vielleicht Scham und sogar Angst.
»Fang an«, antwortete Doomhammer und trat so nah an ihn heran, dass er in die Reichweite des Drachenschwanzes kam, der zusammengerollt auf dem Schlachtfeld lag. Die Orcs in der Nähe begriffen, was von ihnen erwartet wurde, und traten zurück, damit sich beide ungestört unterhalten konnten.
»Es geht um Gul’dan«, begann Torgus. Er war ein großer Orc, so groß wie Doomhammer, mied aber den Augenkontakt. »Der Hexenmeister ist geflohen.«
»Was?« Jetzt verstand Doomhammer die Furcht im Gesicht des Drachenreiters. Er spürte, wie sein Blut vor Wut fast kochte und seine Hände den Hammer fester umschlossen. Der hölzerne Stiel knackte protestierend. »Wann? Und wie?«
»Kurz, nachdem du weg warst«, erzählte Torgus. »Cho’gall ist auch mit dabei. Sie haben den Schattenhammer-Clan und die Sturmrächer mitgenommen und sind mit den Schiffen nach Süden hinaus auf die Große See gefahren.« Jetzt erst blickte er auf, und die Angst dominierte über die Wut. »Einer meiner Clansbrüder hat sie gesehen und flog ihnen nach, um sie zu fragen, warum sie in die falsche Richtung unterwegs seien. Gul’dan tötete ihn. Er benutzte dazu seine böse Magie. Ich habe es selbst gesehen! Ich wollte sie weiter verfolgen, aber ich musste ja auch Zuluhed davon berichten. Und der hat mich sofort hierher geschickt.«
Doomhammer nickte. »Das war völlig richtig«, versicherte er dem Drachenreiter. »Wenn Gul’dan deinen Clansbruder getötet hat, hätte er nicht gezögert, auch dich umzubringen – und dann hätten wir nicht von seinem Verrat erfahren.« Er fletschte die Zähne. »Verdammt sei er! Ich wusste, dass man ihm nicht trauen kann! Und jetzt hat er auch noch die Schiffe mitgenommen!«
»Wir können ihn verfolgen«, bot Torgus an. »Zuluhed meint, dass die anderen Drachenreiter bereit sind. Wir könnten die Schiffe in Asche verwandeln – und jeden Orc, der sich darauf befindet.«
Doomhammer furchte die Stirn. »Ja, aber nur, wenn ihr nahe genug herankommt. Gul’dans Magie ist stark, und Cho’gall ist ebenfalls sehr mächtig.« Er ließ seinen Hammer auf den Boden krachen. »Ich wusste, dass diese Altäre zum Problem werden würden! Und ich habe auch noch zugelassen, dass er die Oger in neue Krieger verwandelt hat, die seine Reihen verstärken!« Doomhammer biss sich auf die Lippe – zur Strafe für so viel eigene Dummheit. Er war so begierig auf neue Waffen im Krieg gegen die Menschen gewesen, dass er seinen eigenen Instinkten misstraut hatte.
Torgus wartete immer noch auf Befehle. Aber dann wandten sich beide einem anderen Orc zu, der plötzlich auftauchte. Es war Tharbek, Doomhammers junger Blackrock-Stellvertreter.
Er blieb exakt außerhalb der Reichweite des Drachenschwanzes stehen, der ärgerlich zuckte.
»Ja?«
»Es gibt ein Problem«, informierte ihn Tharbek ohne Umschweife. »Der Weg durch die Berge ist abgeschnitten.«
»Warum?« Doomhammer starrte an dem Drachen vorbei in Richtung der Berge von Alterac. Er erkannte, dass der stete dunkle Strom aus Orcs zum Erliegen gekommen war. »Was ist passiert?«
Tharbek schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Aber wir kommen nicht mehr durch die Pässe. Ich habe Krieger ausgesandt, doch sie sind nicht zurückgekommen.« Sein Gesichtsausdruck machte klar, dass sie bereits überfällig waren.
»Verdammt!« Doomhammer biss die Zähne zusammen. »Dieser Mensch hat uns verraten! Ich wusste, dass man einem, der die eigene Rasse verkauft, nicht trauen kann!«
Trotz solcher Vorbehalte hatte er darauf gesetzt, dass der vermummte Mann zu feige wäre, um sich gegen ihn zu stellen. Entweder hatte die Allianz Stärke bewiesen, oder man hatte dem Kerl mit etwas Schlimmerem als dem Wüten der Horde gedroht.
Vielleicht hatte man auch den Verrat durchschaut und ihn seines Amtes enthoben. Ja, das war am wahrscheinlichsten. Dieser Mann war viel zu versessen auf das Stillhalteabkommen gewesen, als dass er einen Rückzieher gemacht hätte. Vor allem, weil immer noch Krieger der Horde in der Nähe waren. Offenbar war er entmachtet und ersetzt worden. Andere kontrollierten jetzt die Bergregion.
»Wie viele Orcs sind dort gefangen?«, wollte er wissen.
Tharbek zuckte die Achseln. »Unmöglich zu sagen«, erwiderte er. »Aber mindestens der halbe Clan, wenn nicht mehr.« Er sah sich um. »Wir haben hier noch viele Krieger«, sagte er. »Und wenn Gul’dan und die anderen eintreffen, sind es noch mehr.«
Doomhammer lachte bitter. Ihm schwirrte der Kopf. »Die anderen! Die anderen kommen nicht!«
Tharbek blickte überrascht auf.
»Gul’dan hat uns verraten«, teilte Doomhammer seinem Stellvertreter mit. Er konnte die Worte kaum aussprechen. »Er hat sich die Schiffe und zwei unserer Clans unter den Nagel gerissen und ist hinaus auf die Große See gefahren.«
»Aber warum?«, fragte Tharbek verwundert. »Wenn wir diesen Krieg verlieren, haben wir alle kein Zuhause mehr. Er auch nicht.«
Doomhammer schüttelte den Kopf. »Der Krieg war ihm nie wichtig.« Seine Gedanken kehrten zu seinen Zusammentreffen mit dem Hexenmeister in Stormwind zurück. »Er hat etwas anderes gefunden, etwas überaus Mächtiges«, erinnerte er sich dunkel. »Etwas, das ihn so stark machen kann, dass er den Schutz der Horde nicht mehr braucht.«
»Was sollen wir tun?«, fragte Tharbek. Er sah zur Stadt hin und beobachtete sie. »Wir haben vielleicht nicht genug Krieger, um sie jetzt noch einzunehmen«, überlegte er.
Doomhammer weigerte sich hinzusehen, aber sein Stellvertreter hatte Recht. Die Stadt wehrte sich zäher als erwartet. Der Angriff durch die Streitkräfte der Allianz hatte die Orcs überrascht und ihre Zahl merklich reduziert. Und jetzt konnten sie nicht einmal mehr auf Nachschub aus irgendeiner Richtung hoffen.
Doch das war nicht der einzige schwerwiegende Aspekt. Gul’dans Verrat war schon schlimm genug – aber er hatte auch andere Orcs mitgenommen. Sie stellten ihre eigenen Ziele über die der Horde. Ihr eigenes selbstsüchtiges Verlangen über die Bedürfnisse ihres Volkes.
Eines solchen Vergehens wegen hatte Doomhammer ursprünglich Blackhand getötet. Und er hatte geschworen, die Korruption zu beenden und die Ehre seines Volkes wiederherzustellen.
Folglich durfte dieser Verrat nicht ungesühnt bleiben. Ganz egal, was es kostete. Und wenn er selbst dabei umkam.
»Rend! Maim!«, bellte Doomhammer. Die Blackhand-Brüder hörten ihn und kamen schnell. Wahrscheinlich hatten sie erkannt, dass der Tonfall ihres Kriegshäuptlings keinen Aufschub duldete.
»Führt euren Black-Tooth-Grin-Clan nach Süden«, instruierte sie Doomhammer. Vor seinem geistigen Auge sah er die Karte, die die Kundschafter mit Hilfe der Trolle angefertigt hatten. »Zieht euch vom See zurück und marschiert durch die Hügellande zum Meer. Gul’dan ist geflohen, aber er hat sicherlich nicht alle Boote mitgenommen. Nicht mit nur zwei Clans. Der Rest der Schiffe sollte noch da sein.« Er verzog das Gesicht und zeigte seine Hauer. »Verfolgt die Verräter und vernichtet sie bis auf den letzten Orc. Dann versenkt ihre Leichen im Meer.«
»Aber… diese Stadt!«, protestierte Rend. »Der Krieg!«
»Die Ehre unseres Volkes steht auf dem Spiel!«, blaffte Doomhammer, hob seinen Hammer in Angriffsposition und knurrte die Häuptlinge an. Er provozierte sie förmlich, seine Befehle zu missachten. »Wir dürfen sie nicht ungestraft davonkommen lassen!« Er musterte die beiden Blackhands. »Betrachtet es als Möglichkeit, eure eigene Ehre wiederherzustellen.« Er atmete tief durch und versuchte sich selbst zu beruhigen. »Ich werde meinen Clan langsamer südwärts führen und mich der Allianz in den Weg stellen, damit sie euch nicht folgt. Und gleichzeitig das Land verwüsten. – Wir werden die Route bis zur Stadt offen halten. Wir werden wiederkommen«, versicherte er ihnen, »und beenden, was wir begonnen haben.«
Er sagte dies, obwohl er seine Zweifel daran hatte. Denn dieses Mal hatten sie die Stadt überrascht. Das würde nicht noch einmal passieren.
Die Blackhands nickten, obwohl sie nicht sonderlich glücklich wirkten. »Es sei, wie du befiehlst.«
Maim stimmte zu, und er und sein Bruder erteilten den anderen Kriegern kurz darauf Marschbefehle.
Doomhammer wandte sich wieder Torgus zu, der gewartet hatte. »Sag Zuluhed, er soll alle Drachen zur Großen See schicken«, instruierte er den Reiter. »Flieg so schnell du kannst. Du wirst die Chance bekommen, den Tod deines Clanbruders zu rächen.«
Torgus nickte und grinste düster beim Gedanken an Vergeltung. Dann wandte er sich seinem Drachen zu, wartete, bis Doomhammer zurückgetreten war, und ließ die riesige Kreatur ihre Flügel ausbreiten und abheben.
Doomhammer sah zu, wie er wegflog, und knirschte wieder mit den Zähnen. Seine Hände zitterten vor Wut. Er war so nahe dran gewesen! Noch ein Tag höchstens, und die Stadt wäre sein gewesen!
Jetzt aber war die Möglichkeit vertan. Seine Chancen, diesen Krieg doch noch zu gewinnen, standen schlecht.
Aber die Ehre stand an allererster Stelle.
Teron Gorefiend stand in der Nähe. Doomhammer wandte sich an den Todesritter. »Was ist mit dir, du verfaulender Leichnam?«, wollte Doomhammer von der Kreatur wissen. »Du bist einst Gul’dan gefolgt und hast uns verraten. Gehst du jetzt wieder zu ihm?«
Der untote Krieger sah ihn einen Moment lang mit seinen glühenden Augen an, dann schüttelte er den Kopf. »Gul’dan hat unser Volk verraten«, antwortete Gorefiend. »Wir tun das nicht. Die Horde ist alles, und ihr gebührt unsere Treue – so wie dir, solange du sie anführst.«
Doomhammer nickte brüsk, überrascht von der Antwort der Kreatur. »Dann geh und beschütze unser Volk, während es sich von der Stadt zurückzieht«, befahl er.
Gorefiend gehorchte, ging zu den anderen Todesrittern und ihren untoten Pferden. Tharbek entfernte sich ebenfalls. Innerhalb weniger Momente stand nur noch Doomhammer allein da.
»Gul’dan!«, brüllte er, reckte seinen Hammer und schüttelte ihn gen Himmel. »Du wirst dafür sterben! Ich werde dafür sorgen, dass du für diesen Verrat unendliche Qualen leidest!«
Der Himmel antwortete nicht, aber Doomhammer fühlte sich nach diesem Gefühlsausbruch ein wenig besser. Er senkte seinen Hammer und lenkte seinen Blick auf das Schlachtfeld. Er musste sich zwingen, darüber nachzudenken, wie er seine Krieger am schnellsten nach Süden und den Rest der Horde zum Meer führen konnte.
Gul’dan lehnte sich über den Bug und atmete die Seeluft ein. Er schloss die Augen und brachte seine mystischen Sinne zur Entfaltung. Mit seinem Geist suchte er nach der charakteristischen Aura der Magie.
Er fand sie fast augenblicklich. Sie war so stark, dass er sie wie das metallische Aroma frischen Blutes schmecken konnte, und so machtvoll, dass Haut und Haare davon knisterten.
»Halt!«, rief er über die Schulter, und seine Clansleute hörten auf zu rudern, brachten das Boot zum Stehen. Gul’dan lächelte. »Wir sind da«, verkündete er.
»Aber… hier ist nichts« sagte einer der Orcs, ein Mitglied seines eigenen Sturmrächer-Clans namens Drak’thul. Gul’dan wandte sich ihm zu, öffnete schließlich die Augen und starrte den jungen Hexenmeister an.
»Nein?« Er grinste. »Dann werden wir dir Ketten überhängen und dich auf den Meeresgrund schicken, damit du ihn für uns erforschst. Oder würdest du es vorziehen, hier zu sitzen und darauf zu vertrauen, dass ich weiß, was ich tue?«
Drak’thul zog sich zurück, stammelte eine Entschuldigung. Aber Gul’dan ignorierte ihn bereits wieder. Stattdessen blickte er über das Wasser zum nächsten Boot. Dort stand Cho’gall an der Reling.
»Informiert die anderen«, rief Gul’dan seinem Offizier zu. »Wir werden sofort anfangen. Doomhammer hat vielleicht schon von unserer Abfahrt gehört. Ich will nicht riskieren, dass er uns stört, bevor wir unser Ziel erreichen.«
Der zweiköpfige Oger nickte und wandte sich an das nächste Boot, um die Befehle weiterzuleiten – von wo dann die Botschaft wiederum weitergereicht wurde. Leinen wurden zwischen den Schiffen geworfen, und schon bald wechselten Ogermagier und Orc-Totenbeschwörer zu Gul’dans Schiff über. Manche benutzten die Leinen, um sich daran entlangzuhangeln. Andere schwammen, je nachdem, wie geübt sie im Umgang mit Wasser waren.
»Wir suchen einen alten Tempel, der unter uns liegt«, erklärte Gul’dan, als sich all seine Hexenmeister auf dem Deck versammelt hatten. »Wir könnten jetzt versuchen, dort hinunterzutauchen, aber ich weiß nicht, wie tief das Wasser hier ist. Außerdem ist es da unten dunkel und kalt, und das mag ich nicht.« Er grinste. »Stattdessen werden wir den Boden anheben und den Tempel zu uns bringen.«
»Geht das denn?«, wollte einer der Ogermagier wissen.
»Allerdings«, antwortete Gul’dan. »Vor nicht allzu langer Zeit haben wir Orcs auf unserer Heimatwelt einen Vulkan im Schattenmondtal angehoben. Ich leitete damals den Schattenrat an – und heute werde ich uns entsprechend anleiten.« Er wartete auf weitere Fragen oder Einwände, aber es gab keine, und er nickte zufrieden. Seine neuen Untergebenen waren nicht nur stärker als die alten, sondern auch gehorsamer. Zwei Merkmale, die er aus tiefstem Herzen schätzte.
»Wann fangen wir an?«, fragte Cho’gall schließlich.
»Sofort«, antwortete Gul’dan. »Warum sollen wir auch warten?« Er ging zur Schiffsreling, seine Assistenten stellten sich rechts und links von ihm auf. Dann schloss er die Augen und begann nach der Kraft zu tasten, die er tief unter sich fühlen konnte. Sie war leicht zu erfassen. Als er sie fest im Griff hatte, begann Gul’dan zu zerren. Magisch zog er die Energie und ihre Quelle zu sich. Zur selben Zeit streckte er seinen Geist aus und weitete seinen Zauber auch auf die Umgebung aus, die er ebenso anhob. Der Himmel verdüsterte sich, und die See wurde rau.
»Ich habe es«, teilte er seinen Helfern durch zusammengebissene Zähne mit. »Vereint euch mit meiner Magie, und ihr werdet es selbst spüren. Gebt eure Energien dazu und hebt es mit mir. Jetzt!«
Er spürte den Ruck, als zuerst Cho’gall und dann die anderen ihre Kraft mit seiner vereinten. Ein tiefrotes Leuchten erfüllte den Himmel, es donnerte und begann zu regnen. Schwere Wellen warfen das Boot hin und her. Das gewaltige Gewicht wurde leichter. Es war zwar immer noch schwer, aber diesmal erträglich, nicht länger schmerzhaft. Und mit jedem Zug wurde die Magie stärker und sein Griff fester. Die Natur widersetzte sich, doch er hielt stand, gab nicht nach.
Stundenlang standen sie so da, unbeweglich in den Augen der versammelten Krieger, aber versunken im Kampf gegen die Kräfte des Ozeans. Wasser durchnässte sie von oben bis unten. Donner ließ sie taub werden. Blitze blendeten sie.
Die Boote waren zusammengebunden, und die Krieger griffen nach ihren Rudern, um nicht zu Fall gebracht zu werden. Einige schauten zu Gul’dan und den anderen Hexern und warteten auf Anweisungen. Aber keiner bewegte sich, auch wenn das Schiff besorgniserregend schlingerte.
Dann stieg ein kleines Stück vom vordersten Schiff entfernt eine Wolke auf und erfüllte die Luft mit Feuer, Asche und Rauch. Durch die brennende Luft konnten sie erkennen, dass etwas durch das Wasser schlug wie ein Kükenschnabel, der die Schale seines Eis durchdrang. Das Etwas schien aus Fels zu bestehen, und die Krieger erlebten starr vor Staunen mit, wie die Landmasse größer wurde, sich aus den Wellen erhob, und wie Wasser und Lava abtropften. Aus dem kleinen Fels wurde ein größeres Fragment, das Fragment verwandelte sich in ein kleines Plateau, das Plateau wurde zu einem breiten Riff, und das Riff ging über in eine steinige Ebene.
Aber es stiegen noch weitere Formen auf und erhoben sich aus der aufgerührten See unweit der ersten Landmasse.
Alle Teile waren miteinander verbunden, und als sich die See zurückzog, konnten die Orcs eine komplette Insel sehen, die immer noch Feuer, Dreck und Dampf ausspie. Eine zweite, kleinere Insel folgte – dann eine dritte und vierte.
Am Ende lichtete sich der Himmel. Seine Farbe wandelte sich vom wirbelnden Rot zu bleiernem Grau. Die Wellen schlugen nun bereits nicht mehr so hoch.
Gul’dan öffnete die Augen. Er schwankte leicht und lehnte sich an die Reling, wie auch ein paar seiner Hexer es taten.
Er blickte über die neue Inselkette, die immer noch dampfte, immer noch knirschte und knarzte, bis sich ihr neues Aussehen gefestigt hatte.
Er lächelte. »Bald«, sagte er leise, während er das Land betrachtete und mit seinem Geist erkundete. »Bald werde ich uns zu dem Tempel führen, in dem der große Lohn all unserer Mühen auf uns wartet…«
»Ich kann sie sehen«, rief ein Krieger. »Da sind sie, bei den Inseln dort!«
Rend Blackhand, einer der beiden Häuptlinge des Black-Tooth-Grin-Clans, schaute in die angezeigte Richtung. Sie hatten miterlebt, wie See und Luft sich wie verrückt gebärdeten. Schließlich hatten sie den schmalen Landstreifen im Westen und die dunklen Umrisse darum herum entdeckt.
»Gut«, sagte er, nickte und ließ seine Hände auf dem Stiel seiner Axt ruhen. »Erhöhe die Geschwindigkeit«, wies er den Trommler an. »Ich will sie einholen, bevor sie in ein Versteck verschwinden.«
Auf einem der anderen Boote sah er seinen Bruder Maim mit dessen Trommler sprechen. Gewiss erteilte er ihm denselben Befehl.
»Was machen wir, wenn sie Magie gegen uns einsetzen?«, fragte einer der jüngeren Krieger. Mehrere andere nickten zustimmend.
Davor hatten sie die meiste Angst, noch mehr, als von der Allianz gefangen genommen oder von einem Drachen gefressen zu werden.
Rend konnte ihnen ihre Bedenken nicht verübeln. Er war auch nicht begeistert von der Idee, Gul’dan und seine Getreuen zu bekämpfen. Doomhammer hatte ihnen einen Befehl gegeben, und der Ruf des Namens Blackhand stand auf dem Spiel.
Rend wollte seine Anordnungen befolgen – oder bei ihrer Ausführung sterben.
»Seine Magie ist mächtig«, gab er zu, »Gul’dan allein könnte leicht drei oder vier von uns binnen Minuten töten. Aber er braucht diese Minuten. Und er benötigt physischen Kontakt oder muss uns zumindest nahe sein. Oder er muss etwas haben, was aus dem Besitz des Opfers stammt.« Er grinste. »Hat irgendjemand dem Hexer einen Wasserschlauch, ein paar Handschuhe oder einen Wetzstein geliehen?« Das brachte ihm ein paar Lacher ein, ganz wie er es gehofft hatte. »Dann bleibt den Hexenmeistern aus dem Weg, bis wir da sind. Lasst sie nicht zu nah an euch heran und attackiert sie, bevor sie ihre Zauber wirken können.« Zur Bekräftigung seiner Worte fuhr er mit der Hand über die Axt. »Trotz ihrer Macht sind sie doch immer noch Orcs und können bluten und sterben. Es ist nichts anderes, als wollte man daheim einen Oger jagen. Jeder Einzelne mag stärker sein als einer oder zwei von uns. Aber wir können sie überwältigen, wenn wir in Gruppen angreifen.« Seine Krieger nickten. Sie verstanden die Idee dahinter, und eigentlich war Magie auch nur eine Waffe, vor der man keine übertriebene Angst haben musste.
»Wir sind fast da«, verkündete der Steuermann. Rend sah an ihm vorbei. Die Konturen der Insel zeichneten sich bereits ab. Rend konnte anhand der Schiffe abschätzen, dass das neue Land groß war, größer als die meisten Inseln, die er auf dieser Welt gesehen hatte.
Aus den winzigen Flecken am Horizont waren mittlerweile vollwertige Boote geworden. Er konnte klar erkennen, wie die Orcs aus ihnen kletterten oder sprangen und auf die dunkle Küste zuliefen.
Rend unterdrückte ein Knurren, das tief in ihm lauerte und heraus wollte. Er befahl: »Bereitet euch auf die Landung vor! Zielt auf die Hexenmeister. Und tötet jeden, der sich euch in den Weg stellt!«
»Wir haben Gesellschaft bekommen«, sagte Cho’gall zu Gul’dan. Ihr Boot war schließlich auf den Sand des Strandes aufgelaufen. Die Insel bebte immer noch, sonderte Dampf ab, spie Feuer und Lava.
Gul’dan folgte der Geste seines Assistenten und erspähte eine Flotte von Schiffen, die sich der Insel von der anderen Seite her näherte.
Seiner Insel.
An der Art, wie das Führungsboot sich bewegte, konnte Gul’dan erkennen, dass es gerudert wurde, statt von Segeln bewegt. Das bedeutete normalerweise nur eines: Es wurde von Orcs gelenkt.
Doomhammers Truppen hatten sie gefunden.
»Verdammt soll er sein!«, murmelte Gul’dan. »Warum trifft er seine Entscheidungen immer so schnell? Nur ein Tag mehr, und wir wären fertig gewesen, bevor sie angekommen wären…« Und lauter fügte er hinzu: »Du wirst sie eine Weile beschäftigen müssen, während ich in den Tempel gehe und nach der Gruft suche.«
Cho’gall grinste mit beiden Köpfen. »Aber gerne doch.« Der riesige zweiköpfige Oger war ebenso fanatisch wie der Rest seines Clans und glaubte daran, dass er das Ende der Welt einleiten könnte. Vorzugsweise mit Gewalt und Blutvergießen.
Alle Orcs des Schattenhammer-Clans teilten denselben Glauben und würden mit Freude jeden bekämpfen, wenn es die Welt ihrem Untergang näher brachte. Dabei war es nicht von Schaden, dass das Dämonenblut, das sie auf Draenor getrunken hatten, ihre natürliche Gewaltbereitschaft noch gesteigert hatte.
»Sie werden nicht an uns vorbeikommen«, versprach der Oger und zog sein langes Krummschwert.
Gul’dan nickte. »Gut.« Er marschierte vorsichtig über die Insel, von der vielerorts Rauch aufstieg.
Drak’thul und die anderen Totenbeschwörer und Ogermagier folgten ihm.
»Angriff!«, brüllte Rend, die Axt in der Hand, während er mit seinen Kriegern vorwärts stürmte. »Tötet die Verräter!«
»Tod den Verrätern!« Maim griff die Losung neben ihm auf.
»In den Kampf!«, rief Cho’gall. Er hielt seine sensenähnliche Klinge erhoben, sodass ihre scharfe Schneide im schwachen Nachmittagslicht glänzte. »Tränkt dieses Land mit ihrem Blut, auf dass ihr Tod das Ende aller Zeiten einläute!«
Die beiden Armeen trafen auf dem lavaumfluteten steinigen Strand mit Urgewalt aufeinander. Orc gegen Orc. Waffen blitzten, Äxte, Hämmer, Schwerter und Speere verkeilten sich, wurden geschwungen und droschen voller Leidenschaft und Kraft aufeinander ein. Blut floss allenthalben, erfüllte selbst die Luft mit einem roten Sprühnebel und färbte die Wellen dunkel. Der unebene Boden wurde rutschig. Viele Krieger verloren das Gleichgewicht… und wurden erschlagen, während sie sich noch bemühten, wieder auf die Beine zu kommen.
Die Schlacht wogte wild hin und her. Cho’galls Krieger kämpften ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit. Das einzige Ziel war, soviel Schaden wie nur möglich anzurichten.
Doomhammers Soldaten stritten für Rache und Gerechtigkeit. Sie rächten Gul’dans Verrat. Die Schlacht hatte ihnen bereits einen hohen Blutzoll abverlangt. Denn beide Seiten glaubten an ihre Ziele, und keine wollte nachgeben.
Der Hauptunterschied war die Anzahl der Kämpfer. Gul’dan gebot über zwei Clans: seine eigenen Sturmrächer und Cho’galls Schattenhammer-Clan. Seine Sturmrächer waren der kleinste Clan, und setzte sich ausnahmslos aus Hexenmeistern zusammen. Jeder Einzelne von ihnen war jetzt bei Gul’dan. Damit blieb nur der Schattenhammer-Clan, um Doomhammers Streitkräfte abzublocken.
Rend und Maim hatten den Großteil ihres Black-Tooth-Grin-Clans mitgebracht, einen der größten der Horde. Der Schattenhammer-Clan war zahlenmäßig unterlegen, und sie wussten es.
Als der Kampf weiterging und beide Seiten schwere Verluste hinnehmen mussten, begann sich aber der Unterschied auszuwirken.
Die fanatischen Orcs weigerten sich aufzugeben und kämpften bis zum Schluss. Sie nahmen viele von Doomhammers Kriegern mit sich in den Tod. Cho’gall selbst schlug einem der besten Black-Tooth-Grin-Kriegern den Arm ab, bevor er selbst fiel. Beide Äxte des Orc-Kriegers steckten in seiner Brust.
Ein anderer Streiter verlor ein Auge durch einen gut gezielten Schlag mit einer Kriegsaxt. Aber am Ende war der Strand von Leichen übersät, und nur die Truppen des Blackhand-Clans waren noch übrig.
»Und nun…«, Rend wischte seine Axt an der Brust eines gefallenen Orcs ab, und Blut troff aus einer langen Wunde, die quer über seine Brust verlief, »… jagen wir Gul’dan. Der Hexer ist mir einige Antworten schuldig!«
Gul’dan stand am Fuß des alten Tempels. Seine äußeren Mauern waren kaum noch erkennbar unter der jahrhundertealten Schicht aus Moos, Pilzen, Korallen und Entenmuscheln. Aber er konnte immer noch die Spuren einer Architektur ausmachen, die zu dem passte, was er in Quel’Thalas gesehen hatte. Sowohl was die Größe anging, als auch den Stil.
Elfen hatten diesen Bau entworfen, und einst war er prächtig verziert gewesen, dessen war Gul’dan sich sicher. Jetzt allerdings waren die Wände ramponiert, und das Gebäude erinnerte eher an eine willkürliche Ansammlung von Schmutz, Seegras und Verkrustungen als an etwas, das nach einem ausgetüftelten Plan errichtet worden war.
Aber das Aussehen interessierte Gul’dan nicht. Was ihn interessierte, ja erregte, war das Pulsieren, das er in seinem Geist spüren konnte. Eine Kraft, die ihn so stark anzog, dass er sie beinahe greifen konnte.
»Hinein«, sagte er zu Drak’thul und den anderen. »Wir müssen hinein.«
Er hatte mit ihnen vereinbart, sie in den Tempel zu bringen. Er wusste, dass die Gruft, die das Auge des Sargeras beherbergte, darin lag. Das Auge, das ihm gottgleiche Fähigkeiten verleihen würde. Aber konnte er das allein schaffen, oder musste er das Potenzial mit dem Rest des Schattenrats teilen?
Schließlich war er zu dem Schluss gelangt, dass er nicht absehen konnte, was der Tempel noch alles enthielt. Deshalb hielt Gul’dan es für das Beste, seine Diener mitzubringen. Falls nötig, konnte er sie immer noch töten, sobald sie die Gruft erreichten.
Er trat vorsichtig ein und erschuf eine Kugel aus grünem Licht, um besser sehen zu können. Die Hallen und Räume hier waren so verschmutzt und lädiert wie das Äußere, der Boden war von Sand, Kies und Seegras überzogen. An den Wänden wucherten Pflanzen und Muscheln verschiedener Größe und Art. Selbst die Durchgänge hatten sich verändert, waren deformiert worden von Kreaturen, die hier all die Jahre gelebt hatten.
»Schnell, ihr Dummköpfe«, ermahnte er seine Clanbrüder ungeduldig. »Los doch, vorwärts, sucht den Hauptdurchgang! Wir müssen die Kammer des Auges erreichen, bevor der Wächter der Gruft erwacht!«
»Wächter?«, fragte einer der Zauberer, Urluk Wolkentöter, zögerlich. »Du hast nie vor Wächtern gesprochen!«
»Rückgratlose Feiglinge!«, rief Gul’dan und schlug dem sich duckenden Urluk ins Gesicht. »Ich habe vorwärts gesagt.«
Seine Wut mobilisierte sie und überlagerte zumindest zeitweise ihre Angst vor dem seltsamen Ort und den Schrecken, die hier lauern mochten. Die Hexenmeister begannen, das Gebäude zu durchsuchen. Schließlich fanden sie den Hauptkorridor und folgten ihm.
Als sie weiter vordrangen, wurden die Schäden geringer. Bald erkannte Gul’dan filigrane Schnitzereien an den Säulen und Pfeilern. Feine Gravuren liefen entlang der Mauern, genauso wie sich schöne Mosaike über die Böden und Decken erstreckten. Die Farben war natürlich schon lange vom Salzwasser zerstört worden, aber anhand der Dekorationen konnte man erahnen, wie prachtvoll das Gebäude einst gewesen war. Ein wahrhaft imposanter Tempel, der jedermann beeindruckt haben musste, selbst den desinteressiertesten Besucher.
Gul’dan hatte dafür jedoch keinen Blick übrig. Er wollte nur eines, und das war die Magie, die in der Kammer auf der untersten Ebene auf ihn wartete.
Als er dort schließlich ankam, blieb er einen Moment lang stehen, um den Augenblick auszukosten.
»So, Sargeras«, flüsterte er, »jetzt werde ich für mich beanspruchen, was von deiner Macht noch übrig ist. Und ich werde diese erbärmliche Welt in die Knie zwingen!«
Er konnte die hier schlummernde Energie schon fast fühlen. Es war genug, um seine Sinne anzuregen und seinen Geist vor Erwartung beben zu lassen.
Die Lichtkugel war, als er sie beschworen hatte, nicht größer als sein Kopf gewesen. Inzwischen aber war sie doppelt so groß und von einem wilden grünen Feuer erfüllt. Er konnte nicht unverwandt in sie hineinsehen. Sie war so grell und heiß, dass er sie in der Mitte der Halle halten musste, um zu verhindern, dass sie sich durch die Wand schmolz.
Und er war noch weit von der Quelle entfernt.
Zu was würde er erst fähig sein, wenn er jene Macht berührte… und sie völlig in sich aufsog?
In solche Gedanken versunken schickte Gul’dan die anderen zur anderen Seite des Raumes.
Sie gehorchten.
Dann zog er am Steinhebel einer massiven schwarzen Eisentür. Es war die einzige Stelle im ganzen Tempel, die völlig schmucklos war. Und diese Schmucklosigkeit verlieh ihr eine Eleganz und Würde, die all die Statuen und Schnitzereien nicht zu erzeugen vermocht hatten.
Dieser Ort war einfach zu wichtig für Firlefanz. Begierig zu sehen, was sich hinter der Tür befand, zog Gul’dan mit aller Kraft am Hebel.
Er merkte, dass er nach den vielen Jahrhunderten ein wenig fest saß, und er spürte das Prickeln von Magie.
Nichts Gefährliches, eher ein Hinweis darauf, dass Magie gewirkt wurde. Aber er konnte den mächtigen Spruch erahnen, der damit verbunden war.
Der Anfangszauber jedoch, dieser Vorbote von etwas Größerem, glitt ohne Schaden anzurichten durch ihn hindurch, und der eigentliche Zauber wurde gar nicht erst ausgelöst.
So, wie Sargeras es ihm versichert hatte.
Aegwynn hatte die Gruft gegen das Eindringen von Menschen, Elfen, Zwergen und selbst Gnomen gesichert. Kurz gesagt: gegen jedes Volk. Zumindest gegen jedes, das auf dieser Welt ansässig war.
Aber er war ein Orc. Und Aegwynn hatte niemals etwas von Draenor gehört. Folglich schloss ihr Spruch ihn nicht ein, und deshalb war er in der Lage, den Hebel ganz nach unten zu drücken.
Ein lautes Knirschen ertönte. Dann gab es einen heftigen Ruck, und die Tür schwang weit auf.
Jenseits des Durchgangs lag eine Finsternis, die selbst Gul’dans Licht nicht aufzuheben vermochte. Eine Finsternis, so kalt, dass seine Finger binnen einer Sekunde taub wurden und sein Atem sich in Eiskristalle verwandelte.
Und langsam nahm die Dunkelheit Form an, wurde zu einzelnen, kriechenden Schemen. Sich krümmende Schatten mit Augen, die dunkler glühten als der Rest, so dunkel, dass es weh tat, sie nur anzusehen.
Und dann lächelten diese dunklen Schemen, als sie die Grufttür erreichten und ihr uraltes Gefängnis verließen. Sie kamen auf den wie versteinert dastehenden Gul’dan und seine Hexenmeister zu.
Dämonen! Dämonen, wie er sie noch nie zuvor erblickt hatte!
Gul’dan hatte geglaubt, in der Vergangenheit schon wirklich schrecklichen Kreaturen begegnet zu sein. Aber diese hier machten alle anderen vergessen, ließen sie im Vergleich wie Schoßtierchen erscheinen.
Nein!, schrie Gul’dans Geist auf. Er war immer noch unfähig, seinen Mund zu bewegen, um die Worte laut auszusprechen. So war das nicht vereinbart! Sargeras hat es versprochen.
Er versuchte, Magie zu beschwören, die Hände zu heben, zu rennen… irgendetwas zu tun. Aber der schiere Anblick der Wesen hatte ihn paralysiert. Sowohl den Körper als auch die Seele.
Und er, der sich für den Meister gehalten hatte, konnte nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen und zu erschaudern, als sie ihm entgegen kamen. Zuzusehen, wie ihre schattenhaften Klauen vorschossen… um sein Gesicht zu liebkosen.
Die erste Berührung reichte aus, um die Erstarrung zu lösen, und Gul’dan merkte, wie er losrannte, um diesem Albtraumort zu entkommen.
Drak’thul und die anderen hatten direkt hinter ihm gestanden. Jetzt waren sie nirgendwo mehr zu sehen, mussten schon geflohen sein.
Schreie hallten von der Gruft herüber, als Gul’dan Korridor um Korridor durchquerte. Sein Gesicht brannte, wo die Klauen ihn berührt hatten. Und als er eine Hand an seine Wange hob, erkannte er, dass er dort geschnitten worden war, und zwar sehr tief.
»Verdammt seist du, Sargeras!«, fluchte er, als er zwischen den Säulen und Pfeilern entlang stolperte, durch Räume und Alkoven hetzte. »So werde ich mich nicht geschlagen geben! Ich bin Gul’dan. Ich bin die Inkarnation der Finsternis! Es kann noch nicht so… enden!«
Er machte eine Pause, um zu Atem zu kommen und zu lauschen. Nichts. Die Schreie hatten aufgehört. Verdammte kleingeistige Schwächlinge, dachte er und stellte sich die Sturmrächer vor, die ihm hier hinunter gefolgt waren.
»Sie sind wahrscheinlich alle schon tot!« Seine Wange pochte, und er presste die Hand dagegen. Er versuchte, die Blutung zu stillen. Ihm wurde schwindelig, und seine Glieder fühlten sich ganz schwach an. »Ich muss trotzdem weitermachen«, knurrte er grimmig. »Meine Kraft allein sollte ausreichen, um…«
Gul’dan hörte auf zu sprechen, um besser lauschen zu können. Auf seinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. Was war das für ein Geräusch? Es war schwach und wiederholte sich, klang grausam und… amüsiert zugleich…
»Dieses Gelächter… bist du das, Sargeras?«, fragte er laut. »Willst du mich verspotten? Nun, wir werden sehen, wer zuletzt lacht, Dämon. Wenn ich erst deine brennenden Augen für mich beanspruche!«
Er bog um eine Ecke… und stand in einem großen Raum, dessen Wände überraschenderweise weiß waren. Von etwas, das er nicht benennen konnte inspiriert, ging Gul’dan zur nächstgelegenen Wand und begann, etwas darauf zu schreiben. Er kritzelte eine Beschreibung der Gruft und ihrer Wächter mit seinem eigenen Blut an die Wand. Mehrere Male unterbrach er sich. Seine Hand war zu schwer, um sie zu erheben.
»Überfallen… von den Wächtern«, schrieb er schwach. »Ich… sterbe.«
Er wusste, dass es stimmte und kämpfte darum, seine Niederschrift zu beenden, bevor er tot war. Aber hinter ihm konnte er bereits dasselbe trockene, hungrige Geräusch ausmachen, das er auch schon in der Gruft gehört hatte.
Sie kamen, um ihn zu holen.
»Wenn meine Diener mich nicht verlassen hätten«, schrieb er, und seine Augen waren kaum noch in der Lage, sich zu konzentrieren, seine Kehle war zu eng geworden, um überhaupt noch Worte zu formen.
Doch nun erkannte er, dass es nicht ihr Fehler gewesen war. Es war seiner gewesen. Die ganze Zeit über hatte er geglaubt, alles unter Kontrolle zu haben. Doch in Wirklichkeit war er nicht mehr als ein Tölpel gewesen, ein Werkzeug, ein Sklave. Seine gesamte Existenz war nur Schein gewesen, ein Witz. Und bald würde es vorbei sein.
Ich war ein solcher Narr, dachte er und hörte zu schreiben auf. Mühsam wandte er sich um, wollte mit seinen letzten Kraftreserven davonlaufen… und wusste doch, dass es dafür längst zu spät war.
Dann erwischten ihn die Klauen – und Gul’dan gewann lange genug seine Stimme zurück, um lauthals und verzweifelt aufzubrüllen.
Rend streckte seinen Arm aus und hinderte Maim daran, weiterzugehen. »Nein«, sagte er leise. Blut quoll aus der primitiven Binde, die er aus dem Gürtel eines gefallenen Kriegers gemacht hatte.
»Wir müssen hinter Gul’dan her«, sagte Maim, obwohl er zahlreiche Wunden hatte und die primitiven Verbände, die er um ein Bein und die Schulter trug, bereits von Blut durchtränkt waren.
»Dafür gibt es keinen Grund mehr«, versicherte ihm sein Bruder. »Diese… Kreaturen haben die Aufgabe für uns erledigt.«
Etwas Erstaunliches, nein Ungeheuerliches war vom Gebäude vor ihnen aufgestiegen, etwas mit vielen Gliedern und zu vielen Gelenken… und viel zu vielen Zähnen. Das Ungetüm war von anderen, die ebenso waren wie es, begleitet worden, und gemeinsam hatten sie die Orcs ohne Pause attackiert. Sie zerrissen sie wie vor Hunger wahnsinnig gewordene Tiere, die sich tobsüchtig auf ihre Beute stürzten.
Etliche Orcs waren vom bloßen Anblick dieser schrecklichen Kreaturen zu Salzsäulen erstarrt. Aber andere hatten gekämpft und schließlich auch noch die letzte dieser Kreaturen besiegt. Obwohl sie zuvor ein Dutzend Orcs erschlagen hatte.
Die Ungetüme waren aus dem Gebäude gekommen. Aber nur ein Krieger, Rend, hatte ein Gespür für Magie. Er konnte die Zauberei in dem merkwürdigen alten Gebäude vor ihnen riechen.
Diese Mauern waren von Hass erfüllt, ein Hass, der übermächtig strahlte und gegen alles und jeden gerichtet schien.
Dann hatte etwas die Orcs zu Fall gebracht, eine gewaltige Erschütterung, ein Beben begleitet von einem ohrenbetäubenden Geräusch, das aus Richtung des Eingangs kam.
Ein dunkles Rumpeln und Rumoren, wie Gelächter, war von tief unten zu ihnen heraufgedrungen. Luft kam aus dem Gebäude, stinkend und faul, und noch etwas war darin, etwas, das Rend die Nackenhärchen sträubte. Er sah nichts, aber war sicher, dass er etwas Böses gespürte hatte, das von diesem merkwürdigen Ort stammte. Das Rumpeln hielt an. Risse wurden in den Steinen unter ihren Füßen sichtbar. Die ganze Insel fiel auseinander.
»Gul’dan stellt keine Bedrohung mehr dar«, sagte Rend, als er wieder auf die Beine kam.
Und irgendwie wusste er, dass das stimmte. Was auch immer Gul’dan zu finden gehofft hatte, hier hatte nur sein Tod auf ihn gewartet.
Rend hoffte nur, dass Gul’dans Sterben langsam und qualvoll vonstatten gegangen war. Er war fast sicher, dass dem so gewesen war.
»Was machen wir dann jetzt?«, fragte Maim, als sie sich abwandten und den Tempel hinter sich ließen.
»Wir kehren zu Doomhammer zurück«, sagte Rend. »Wir haben immer noch einen Krieg zu führen, und jetzt brauchen wir uns wenigstens keine Gedanken mehr um Verräter zu machen, die unsere Stärke von innen heraus zersetzen.«
Einträchtig begaben sich die Brüder zum Strand, wo die Boote auf sie warteten.