Neu-Pompeii

Antor Trelig stand vor dem Schacht, in dem Obie in die größere Anlage eingebaut worden war. Sieben Monate und ein Vermögen, das ganze Planetenbudgets hätte finanzieren können, waren in dieses Loch gesteckt worden. Nun schaute er zu, als Riesenkräne die»große Schüssel«anbrachten. Sie würde zusammen mit dem ganzen Komplex darunter fast die Hälfte der Unterseite seines Asteroiden einnehmen. Von außen würde das System große Ähnlichkeit mit dem größten je gebauten Radioteleskop besitzen.

Aber sein Zweck war viel unheimlicher.

Antor Trelig störten die Kosten wenig; für ihn war das eine Kleinigkeit, Tribut aus seinem Anteil am Syndikat und den geschröpften Budgets von hundert Welten unter dessen Kontrolle. Geld bedeutete ihm ohnehin nichts, außer als Mittel zur Macht.

Mächtige Raumschlepper ließen das riesige spiegelartige Gerät herab, langsam, kaum merklich. Auch das berührte ihn nicht. Es kam allein darauf an, daß das Projekt so kurz vor seiner Vollendung stand.

Er ging hinüber zu Gil Zinder, der dabeisaß und zuschaute.

Der Wissenschaftler schaute sich um und starrte den anderen voll Verachtung an.

»Na, Doktor, beinahe geschafft«, sagte Trelig heiter.»Ein bedeutender Augenblick.«

»Bedeutend, ja, aber nicht das, was ich mir unter einer glücklichen Stunde vorstelle«, erwiderte Zinder stirnrunzelnd.»Hören Sie, ich habe es gemacht. Alles. Lassen Sie mich meine Tochter jetzt in der kleinen Scheibe vom Schwamm heilen.«

»Es gibt doch kein Problem, oder?«sagte Trelig lächelnd.»Yulin ist es gelungen, sie alle paar Wochen zurückzustutzen, damit ihre Fettsucht sie nicht umbringt.«

Zinder seufzte.

»Trelig, hören Sie, warum sie nicht wenigstens auf ihr Normalgewicht zurückbringen? Neunzig Kilogramm ist für ihre Größe viel zuviel.«

»Aber hier wiegt sie nur vierundsechzig Kilo«, sagte Trelig glucksend.»Das ist doch weniger als das, was sie auf Makeva gewogen hat.«

Der Wissenschaftler wollte etwas Böses erwidern, besann sich jedoch. Natürlich wog Nikki hier weniger, wie jeder, aber inzwischen hatten ihre Muskeln sich an die geringere Schwerkraft gewöhnt, und extreme Fettleibigkeit war mehr als reines Gewicht auf der Waage; sie war häßlich und schädigte den Körper. Auf Makeva wäre sie bei 1 g wohl schon nach einem Weg von hundert Metern erschöpft gewesen, aber auch hier ging es ihr nicht viel besser.

Zinder begriff jedoch, daß Nikki auf der anderen Seite würde bleiben müssen, bis Treligs Pläne abgeschlossen waren, und er wußte auch, warum der ehrgeizige und heimtückische Ben Yulin als einziger das Vertrauen genoß, Nikki unter den kleinen Spiegel zu stellen. Dem Wissenschaftler blieb also nichts anderes übrig, als zu warten, zu warten, bis die große Anlage montiert war, bis seine Gelegenheit kam.

Yulin beunruhigte ihn am meisten. Der Mann war hochbegabt, gewiß, aber er gehörte zu Treligs Sorte. Er war in seiner technologischen Überlegenheit gegenüber Trelig und allen Fachleuten Treligs gesichert — ihm würde nichts passieren. Trelig konnte Obies Spiegel ohne Yulin nicht anwenden, und Yulin war ein Anhänger von Zinders Theorien, ohne die Jahrzehnte theoretischer Forschung aufzuweisen, die zur Programmierung des Monstrums erforderlich waren. Er hätte diese Maschine niemals bauen können.

Aber bedienen konnte er sie.

Und das war Zinders größte Furcht. Sobald die Anlage fertiggestellt und erprobt war, würden er und Nikki, zumal Nikki, überflüssig sein.

Er konnte auch nicht im geheimen Obie so programmieren, daß er mit Yulin bis zu einem gewissen Punkt und nicht darüber hinaus ging; obwohl er der Konstrukteur war, durfte er nie an die Steuerkonsole, ohne daß auch Ben Yulin anwesend gewesen wäre.

Neu-Pompeii hatte Zinder die Pläne erkennen lassen, die Antor Trelig für jedermann hatte, die Art von Herr, die er sein würde. Zinder hatte innerlich alles berechnet, geprüft und gegengeprüft, doch seine einzige Hoffnung lag in unerprobten Ideen und auf unerforschten Wegen. Es hatte nie zuvor eine solche Maschine gegeben.


* * *

Mavra Tschang lenkte ihr kleines, aber schnelles Diplomatenschiff in eine Park-Umlaufbahn etwa ein Lichtjahr vor Neu-Pompeii. Sie war nicht die erste; sieben oder acht ähnliche Schiffe waren vor ihr eingetroffen und schwebten nun in einer Reihe nebeneinander. Bis auf einen langärmeligen, schwarzen Pullover und ihren Gürtel war sie genauso gekleidet wie beim Besuch von Rätin Alaina. Der Gürtel sah nun aus wie ein breites Band aus vielen Strängen dicker, schwarzer Reepschnüre, gefaßt von einer viel größeren und massiveren Drachenschnalle. Niemand konnte wissen, daß er in Wirklichkeit eine drei Meter lange Lederpeitsche war. Fächer in der Schnalle enthielten eine Anzahl von Injektoren und Mini-Ampullen für verschiedene Zwecke; die versteckten Lagen in ihren Stiefeln und den hohen, dicken Absätzen bargen andere nützliche Materialien. Dabei war das Ganze so natürlich und enganliegend, daß es den Anschein hatte, als trüge sie nichts bei sich. Sie hatte noch kleine Ohrringe angelegt, die aussahen wie aneinandergereihte Kristallwürfel. Auch sie verbargen Überraschungen.

Sie rieb ihr Gesäß ein wenig. Es brannte noch, wo man sie mit Impfstoffen und Antitoxinen vollgestopft hatte, um sie praktisch vor allem zu schützen, was man sich vorstellen konnte. Sie hatte das Gefühl, daß klare Flüssigkeit heraustropfen mußte, sollte sie eine Vene anritzen.

»Mavra Tschang als Vertreterin von Rätin Alaina«, teilte sie den unsichtbaren Bewachern von Neu-Pompeii auf der zugeteilten Frequenz mit.

»Verstanden«, erwiderte eine tonlose, vage männliche Stimme.»Bleiben Sie in der Reihe. Wir warten auf die anderen, bevor transferiert wird.«

Sie fluchte im stillen. Man ging kein Risiko ein — die besonderen Eigenschaften dieses Raumschiffs und seiner gut getarnten Lebenserhaltungskapseln würden nutzlos sein. Sie würden gemeinsam hinfliegen, im Schiff der anderen.

Sie zog einen Spiegel heraus und betrachtete sich. Bei dieser Gelegenheit hatte sie sich ein wenig der Kosmetik bedient — ein bißchen brauner Lippenstift, ein leichter Schimmer auf dem Haar, der ihm eine spiegelnde, fast metallische blaue Tönung verlieh. Sie hatte sogar ihre Metall-Fingernägel stumpfsilbern lackiert, um zu verbergen, daß sie ziemlich ungewöhnlich waren. Die Schminke war für Trelig. Obwohl buchstäblich bisexuell wie alle seiner Rasse — er besaß sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsorgane —, bevorzugte er in Erscheinung und sexueller Begierde das Männliche.

Schließlich waren sie alle eingetroffen. Ein großes Schiff kam aus der Richtung des Sterns Asta, ein elegantes privates Linienschiff; der Reihe nach dockten sie an, schalteten ihre Schiffe auf Automatik und wechselten über.

Der Gruppe, die schließlich vierzehn Personen umfaßte, gehörten nur zwei Ratsmitglieder an, die übrigen waren Vertreter, und Mavra konnte erkennen, daß sie nicht die einzige diplomatische Außenseiterin darin war. Das beunruhigte sie; wenn ihr das auffiel, konnte auch Trelig es nicht übersehen. Er hatte vermutlich damit gerechnet. Das nannte sich Zuversicht.

Das Kabinenpersonal war höflich, aber effizient. Es bestand aus echten Bürgern von Neue Harmonie, für den Dienst gezüchtet. Dunkelhäutig, unbehaart, jeder ungefähr einsachtzig groß, muskulös und bekleidet nur mit leichten Kilts und Sandalen, hatten ihre Augen die Stumpfheit, die für Kom-Welt-Bewohner typisch war.

Der Kom war Nachkomme aller utopischen Gruppen der ursprünglichen Rasse. Sie erfüllten den Traum jedes utopischen Staates: gleichmäßige Verteilung allen Reichtums, kein Geld, außer für den interstellaren Handel, kein Hunger, keine Arbeitslosigkeit. Gen-Manipulation sorgte auch dafür, daß sie alle gleich aussahen, und biologische Programmierungsanlagen paßten sie ihren Aufgaben perfekt an. Darüber hinaus wurden sie darauf programmiert, mit jeder Tätigkeit zufrieden zu sein — ihr Ziel war Dienen. Der einzelne bedeutete nichts; die Menschheit war ein Kollektivbegriff.

Aussehen und Tätigkeit der Menschen unterschieden sich von Kom-Welt zu Kom-Welt, zugeschnitten auf die verschiedenen Umwelten, unterschiedlichen Anforderungen und dergleichen auf jeder einzelnen. Auch die Systeme unterschieden sich von einer Welt zur anderen gering. Manche züchteten nur weibliche Personen, andere behielten zwei Geschlechter bei, und wieder andere, wie Neue Harmonie, brachten jeden bisexuell hervor. Ein paar hatten ganz auf sexuelle Eigenschaften verzichtet und verließen sich auf Klonen.

Die meisten Welten waren aufgebaut von wohlmeinenden Idealisten, die das System einführten. Dann wurde die Hierarchie selbst umgeformt, und es entstand eine vollkommene Gesellschaft, eine ohne Frustration, Bedürfnisse, Wünsche oder psychologische Probleme.

Perfekte menschliche Ameisenstaaten.

Aber in den meisten Fällen schien die Partei, die sie einrichtete, nie dazu zu kommen, sich selbst abzuschaffen. Einige hatten es versucht, und die Gesellschaften, die sie aufgebaut hatten, waren an ihrer Unfähigkeit zerbrochen, mit natürlichen Katastrophen oder unvorhergesehenen Problemen fertig zu werden.

Die meisten, wie Neue Harmonie, versuchten es erst gar nicht. Ehrgeiz, Habgier und Machtstreben des entschlossenen Revolutionärs, die den Staat in schlechten Zeiten aufrechthielten, klammerten sich aus einer Vielzahl von Gründen an ihre Existenz. Nachdem die Herrschenden solche üblen Neigungen in ihren Bevölkerungen ausgerottet hatten, konnten sie diese Schwächen in sich selbst nicht beseitigen. Und so besaß Neue Harmonie nach fünfhundert Jahren Kom-Zugehörigkeit noch immer eine Parteihierarchie von mehreren tausend Funktionären für die verschiedenen diplomatischen und wirtschaftlichen Bereiche, und man besaß Antor Trelig, dazu geboren, sie zu führen.

Nun kam der Rest der Menschheit dahinter, wie erfolgreich seine Aufzucht gewesen war.

Es gab eine knappe Vorstellung und dergleichen, aber kaum Gespräche auf dem Hinflug. Mavra erkannte aber sofort, daß Trelig sich von diesem bunt zusammengewürfelten Haufen nicht täuschen lassen würde. Ein zwei Meter großer, braungebrannter und vollbärtiger Mann mit leuchtendblauen Augen stammte entschieden nicht von der Kom-Welt Paradies, wo alle Bewohner bisexuell, identisch und ungefähr zwei Drittel so groß waren wie er. Er war eindeutig ein Frachterkapitän wie sie, oder ein Barbar aus einer der neubesiedelten Welten. Acht Männer und sechs Frauen — vermutete sie, bei zweien war es schwer zu sagen —, alle zur Stelle, mehr um Informationen zu sammeln, als sich beeindrucken zu lassen.

Die Stewards von Neue Harmonie gingen durch den Mittelgang und sammelten Pistolen ein. Sie erklärten, daß jeder einzelne vor dem Aussteigen noch einmal nach Waffen untersucht werden würde, und deuteten an, man könne sich spätere Verlegenheit ersparen, wenn man jetzt alles abliefere.

Mavra übergab ihre Pistole; die Waffen, auf die sie sich in Wirklichkeit verließ, waren durch jeden Abtaster gekommen, den sie bisher ausprobiert hatte. Bei der Landung auf Prompeii stellte sie fest, daß sie recht hatte. Sie ging dreist durch den Abtaster, und er lähmte sie nicht, wie zwei andere, die versteckte zerlegte Pistolen und Messer trugen.

Schließlich waren sie alle überprüft worden, und Mavra schaute sich um.

Der kleine Raumflughafen war für zwei Schiffe von dieser Art gebaut; ein zweites stand auf dem Feld, fast mit Sicherheit Treligs privates Raumfahrzeug. Überall sah man Wachen und Abtaster, aber damit hatte sie gerechnet. Ihr Auftrag schien nicht unausführbar zu sein.

Sie wußte, daß sie Hilfe von den anderen hätte gebrauchen können, wagte aber aus demselben Grund nicht, an sie heranzutreten, aus dem die anderen sie nicht verwenden konnten. Es sprach viel dafür, daß Trelig zumindest einen von ihnen, wahrscheinlich mehrere eingeschleust hatte.

Kein Gepäck wurde ausgeladen, da keines zugelassen worden war. Trelig würde für alles sorgen, hatte er erklärt, und er setzte eine Grenze dafür fest, was dabei mitgeführt werden durfte.

Der Mann selbst stand bereit, um sie zu begrüßen — hochgewachsen, viel größer als die Neu-Harmonisten, eine riesige, muskulöse, außerordentlich gutaussehende Version des Modells. Er trug ein wallendes, weißes Gewand und sah mit seinen sehr langen Haaren wie ein Erzengel aus.

»Willkommen! Willkommen! Liebe Freunde!«rief er mit seiner inzwischen berühmt gewordenen Rednerstimme. Er hatte viel Geld dafür bezahlt und den entsprechenden Gegenwert dafür bekommen. Dann begrüßte er jeden beim Namen und küßte im universellen förmlichen Begrüßungsritual die Hände. Als er die von Mavra ergriff, stiegen seine buschigen Brauen, auch sie eine Abweichung vom Modell Neue Harmonie, in die Höhe.

»Was für erstaunliche Fingernägel!«rief er.»Meine Liebe, Sie sehen aus wie eine verführerische Katze!«

»So?«sagte sie, ohne ihre Verachtung zu verbergen.»Ich dachte, Sie hätten auf Neue Harmonie alle Katzen getötet.«

Er grinste verschlagen und ging weiter. Als alle begrüßt waren, führte er sie zu dem kleinen, eleganten Terminal hinaus. Die Aussicht war überwältigend. Zuerst war es grün — außerordentlich grün, ein Garten mit hohem, aber sorgfältig gepflegtem Gras. Zu ihrer Linken befand sich ein großer Wald, der sich bis zum scheinbar nahen Horizont zu erstrecken schien; zur Rechten gab es kleine Hügel, die bewachsen waren mit Bäumen und Blumen in allen Farben. Und in der Mitte, vielleicht einen halben Kilometer entfernt, stand eine Stadt von einer Art, die sie noch nie gesehen hatte.

Ein Hügel beherrschte die Szene; auf den Wiesenhängen stand ein hohes Gebäude aus poliertem Marmor. Es war riesenhaft, wie ein Amphitheater oder ein Tempel. Unten am Fuß des Hügels gab es eine Reihe stilvoller Gebäude nach altem Modell, ebenfalls aus Marmor, mit gewaltigen römischen Säulen, die mächtige Dächer trugen; diese waren geschmückt mit Skulpturen aus der Mythologie, in den Stein geschnitten. Zu jedem führten breite Marmorstufen hinauf, und manche waren so offen, daß die Besucher weite Innenhöfe, geschmückt mit Blumengirlanden, hohen Statuen und Springbrunnen, sehen konnten. Das Hauptgebäude besaß eine Kuppel und die längste und großartigste Freitreppe. Trelig führte sie dorthin.

»Ich lasse hier nur so wenig wie möglich Technologie zu«, erklärte er unterwegs.»Die Diener sind Menschen, Essen und Trinken sind von Hand zubereitet, in manchen Fällen mit der Hand geerntet. Keine angetriebenen Fahrzeuge. Ich mache natürlich einige Konzessionen, wie die Beleuchtung, und die ganze Welt ist unter der Plasmaglocke mit Luftpumpen klimatisiert, aber wir bevorzugen das Rustikale.«

Sie hatten keine Schwierigkeiten mit dem Spaziergang oder der Treppe; die Schwerkraft von 0,7 sorgte dafür, daß sie sich alle hervorragend fühlten, beinahe so, als könnten sie fliegen, und sie waren von dem Weg weniger ermüdet, als wenn sie auf einer 1g-Welt einen Kilometer zurückgelegt hätten.

Im Inneren des mächtigen Gebäudes gab es einen großen Saal. Ein Tisch aus echtem Eichenholz war üppig gedeckt; er war niedrig, und sie würden beim Essen auf weichen Fellkissen sitzen. Unter dem Tischbereich befand sich ein etwas tiefer gelegter polierter Holzboden, wie eine Tanzfläche, und das Ganze war von hohen Marmorsäulen eingefaßt. Zwischen den Säulen waren Seidenbehänge gespannt, offenbar in Streifen, aber sie verdeckten die Sicht.

Mavra schaute hinauf und sah, daß die Kuppel im Inneren ein kompliziertes Mosaikmuster aufwies. Die Beleuchtung war ausreichend — obschon der Saal außer im Bereich des polierten Bodens ein wenig düster wirkte —, aber so indirekt, daß man nicht erkennen konnte, woher das Licht kam.

Trelig führte alle zu ihren Plätzen und setzte sich an das obere Ende des Tisches. Vor jedem Platz standen Fruchtbecher, echte Früchte, wie sie alle feststellten. Andere exotische Früchte schmückten den Tisch — Goldorangen, Apfelsinen, Ananas. Viele stocherten vorsichtig mit ihren Eßstäbchen in dem Obst herum; die meisten hatten das Echte vorher noch nie gegessen.

»Versuchen Sie den Wein«, empfahl ihr Gastgeber.»Echt, mit Alkohol. Wir haben hier unsere eigenen Weinberge und bringen sehr gute Lagen hervor.«

Und er war gut, viel besser als die synthetischen, mit denen sie alle aufgewachsen waren. Mavra stocherte im Obst herum. Mit künstlichen Produkten groß geworden, zog sie diese dem Echten vor. Aber der Wein schmeckte ausgezeichnet. Dergleichen konnte man zwar überall bekommen, doch zu Preisen, die für die meisten Leute unerschwinglich waren.

Trelig klatschte in die Hände, und vier Frauen erschienen. Sie waren alle gebräunt und schwarzhaarig, aber sonst deutlich voneinander verschieden. Gewiß stammten sie von anderen Welten als Neue Harmonie. Sie hatten alle lange Haare, waren stark geschminkt und parfümiert. Außerdem waren sie barfuß und trugen nur dünne, einteilige Gewänder in fremdartigem, aber offenkundig antikem Schnitt. Man konnte beinahe hindurchsehen.

Sie räumten geschickt die Fruchtbecher und Weingläser ab, ohne am Tisch jemanden direkt anzusehen oder ein Wort zu sagen. Sie waren kaum hinter den Behängen verschwunden, als andere Frauen, die sich mit derselben starräugigen Gewandtheit bewegten, auftauchten. Sie trugen silberne Tabletts auf ihren Köpfen.

»Widerlich«, hörte Mavra einen Mann in ihrer Nähe zischen.»Menschliche Wesen, die andere menschliche Wesen bedienen, wenn Roboter das ebensogut können.«

Die meisten nickten knapp und zustimmend, obwohl sich Mavra fragte, wie viele der Besucher Kom-Welt-Politiker mit ganzen Sklavenbevölkerungen waren.

So ging das während der ganzen Mahlzeit weiter, jeder Gang zeitlich genau eingeteilt. Wein wurde in großer Auswahl und Menge angeboten, und nie durfte ein Glas leer sein. Die Frauen funktionierten wie Maschinen.

Mavra zählte acht verschiedene Bedienerinnen, und niemand wußte, wie viele noch hinter dem Vorhang für sie tätig waren.

Die Mahlzeit war fremdartig, exotisch und außerordentlich gut. Mavra war aber schon nach dem zweiten Gang satt, und mehrere am Tisch gaben im weiteren Verlauf auf. Der bärtige Mann schlang alles, was serviert wurde, hinunter, und Trelig nahm von jedem Gang etwas.

Danach zeigte er ihnen, wie die Polster zu Liegen umgeklappt werden konnten, und sie entspannten sich bei noch mehr Wein und Knabberzeug, während eine kleine Truppe von Musikern und Jongleuren auf der beleuchteten Fläche sie unterhielt. Die Festlichkeiten gingen geraume Zeit weiter, und der Abend war tatsächlich genußreich. Trelig verstand es, ein Bankett zu geben.

Als endlich die letzte Vorführung vorbei war und die Gäste höflich klatschten, war es Zeit für Trelig, sie alle für die Nacht unterzubringen.

»Sie werden dort alles finden, was Sie brauchen, eine komplette, moderne Toilette. Schlafen Sie gut. Wir haben morgen einen erstaunlichen Tag vor uns.«Er führte sie über die Bühne und durch einen Vorhang, der den Blick auf eine lange Marmorhalle freigab. Ihre Schritte hallten, als sie durch die Halle gingen, die endlos zu sein schien. Schließlich bogen sie ab und erreichten einen anderen, scheinbar identischen Korridor. Hier öffnete Trelig jedoch eine große Eichentür, die vielleicht zehn Zentimeter dick war, und führte jeden in sein Zimmer.

Die Unterkünfte waren prächtig und individuell eingerichtet. Mavras Zimmer war mit einem dicken Teppich aus irgendeinem Fell, einem Schreibtisch, Frisiertisch, einem Badezimmer, einem Toilettentisch im alten Stil und einem riesigen, runden Bett ausgestattet.

Sie freute sich, das Zimmer zu sehen. Obwohl sie sich etwas darauf zugute tat, Alkohol vertragen zu können, war der Wein außerordentlich stark gewesen, vielleicht mit Absicht. Sie hatte die Wirkung eigentlich erst bemerkt, als sie aufgestanden war. Sie fühlte sich schwindlig. Zuerst argwöhnte sie, im Wein könnte ein Betäubungsmittel gewesen sein, aber dann wurde ihr klar, daß es nur seine Stärke war.

Trelig wünschte ihr eine gute Nacht und schloß die große Tür mit schwerem Schlag. Sie ging sofort darauf zu und drückte die Bronzeklinke nieder.

Sie war abgesperrt, wie sie erwartet hatte.

Als nächstes durchsuchte sie die Räume. Einer ihrer Ohrringe summte schwach, und sie trat in die Mitte des Zimmers unter einen hübschen, aber vorwiegend dekorativen Lüster. Sie holte den Stuhl vom Schreibtisch und stieg hinauf. Das Summen wurde sehr laut. Sie nickte vor sich hin. An der Unterseite des Lüsters war eine winzige, fast unsichtbare, ferngesteuerte Kamera angebracht, die in jede Richtung gedreht werden konnte und eine Infrarot-Zusatzlinse besaß.

Binnen zehn Minuten fand sie zwei weitere Kameras, eine im eigentlichen Badezimmer, dem einzigen Ort, den die Lüsterkamera nicht erreichen konnte, und eine weitere im Duschkopf. Die drei Kameras waren so angeordnet, daß kein Winkel der Räumlichkeiten unerfaßt blieb.

Sie waren gut versteckt, gewiß, aber nicht so geschickt, daß nicht jeder, der danach suchte, sie finden mußte. Trelig wollte, daß sie entdeckt wurden, wenn jemand sich dafür interessierte; es war eine Demonstration seiner Macht und des Ausgeliefertseins der Besucher.

Sie ging zum Bett. Keine Decke, bemerkte sie. Bei der perfekten Klimasteuerung des Raumes brauchte man sie auch nicht. Allerdings konnte man nichts unter einer Decke verstecken.

Sie setzte sich auf die Bettkante, mit dem Rücken zur Kamera, zog die Stiefel aus, den Peitschengürtel über den Kopf und legte ihn auf die rechte Seite, wo die Kamera ihn nicht erfassen konnte. Dann die Ohrringe auf den Gürtel. Sie griff hinüber zu einem Nachttisch, zog ein paar Papiertücher hervor und griff nach einem kleinen Spiegel. Sie begann, sich teilweise abzuschminken.

Während sie das tat, drehte ihr Fuß einen der Stiefel auf die Seite und hielt ihn dort fest, während der andere Fuß an vier Stellen Knöpfe herausdrückte. Die Sohle klappte an winzigen inneren Scharnieren heraus und gab den Blick auf eine Anzahl kleiner Gerätschaften frei. Sie zog vorsichtig das Benötigte heraus, umklammerte es mit den Zehen und ergriff ein zweites Werkzeug mit dem anderen Fuß.

Sie stand auf, zog den Pullover aus und streifte das Trikot ab. Als sie sich bückte, um es abzulegen, griff ihre Hand nach den beiden Gegenständen.

Nackt richtete sie sich auf und drehte sich herum. Die Bewegung sah natürlich aus, aber die Beobachter würden den naheliegenden Schluß ziehen: am Körper nichts versteckt. Ihre Finger, die Unerfahrene beim Karten- und Muschelspiel hereingelegt hatten, seit sie klein gewesen war, hielten die beiden Objekte unsichtbar fest. Sie nahm auf dem Bett die Lotoshaltung ein und drehte mit der rechten Hand das Licht ab.

Im selben Augenblick, als das Licht ausging, ließ sie einen der Gegenstände auf das Bett fallen und richtete den anderen auf den Lüster, geleitet von einem Lichtstrahl, den wegen der speziellen Kontaktlinsen, die sie trug, nur sie sehen konnte.

Sie traf die Kamera, ergriff das andere Gerät, ein winziges Rechteck, und legte es so hin, daß es auf dem Kissen lag und zur Kamera wies. Befriedigt legte sie den ersten Gegenstand hin und entspannte sich im Lotossitz mit geschlossenen Augen.

Das Ganze hatte keine zehn Sekunden gedauert.

Befriedigt von dem, was sie mit ihren Speziallinsen sehen konnte, öffnete sie die Augen und glitt vorsichtig und lautlos vom Bett, bemüht, das kleine Rechteck nicht zu verrücken.

Sie vergewisserte sich, daß es seine Lage beibehalten hatte. Das Gerät war unglaublich kompliziert; sie hatte es erst entdeckt, als es dazu benützt worden war, sie bei einer kleinen Betrugsaffäre hereinzulegen, und viel Geld dafür bezahlt. Was es leistete, war, daß es das erste Bild, das die Kamera aufnahm, erstarren ließ und festhielt. Es gab eine automatische Anpassung von mehreren Sekunden von der normalen zur Infrarotaufnahme, ein wenig länger zur neuen Scharfeinstellung. Sie hatte dann elf Sekunden Zeit, den Rückkopplungs-Projektor, wie er genannt wurde, auszulösen und in Position zu bringen.

Ruhig, mit der Heimlichkeit und Vorsicht einer erfahrenen Einbrecherin, zog Mavra sich an. Sie begann, in die Stiefel zu schlüpfen, besann sich aber anders, als sie an das hallende Echo draußen dachte. Sie entfernte die Schnalle vom Peitschengürtel und benützte den Dorn, um ihn unter die Peitsche zu schieben, dann drehte sie den kleinen Peitschengriff, um ihn leicht herausziehen zu können, indem sie die fast unsichtbaren Nieten löste.

Sie hatte mit den Papiertüchern nicht ihre Schminke entfernt, sondern sie gleichmäßig über das ganze Gesicht verteilt und sich auch die Hände damit eingerieben. Nun nahm sie ein kleines Päckchen in Schrumpfverpackung aus ihrem linken Stiefel und öffnete es, um das winzige Kissen herauszunehmen. Sorgfältig und methodisch wischte sie damit über alle entblößten Hautflächen. Die schwache Chemikalie reagierte auf eine andere in der Schminke und sorgte dafür, daß sie tiefschwarz wurde. Als nächstes entfernte sie die Spezial-Kontaktlinsen, träufelte mit einer ganz kleinen Pipette zwei Tropfen in ihre Augen, dann nahm sie ein anderes Linsenpaar aus ihrem Päckchen und führte sie ein. Sie waren durchsichtig, aber wenn sie die winzige Batterie in ihrer Gürtelschnalle einschaltete, verwandelten sie sich in Infrarotlinsen. Auf Neu-Pompeii gab es nicht nur eine Person mit Katzenaugen.

Sie schaltete auf Infrarot, griff nach dem Spiegel und betrachtete sich. Sie sah natürlich zum Fürchten aus, aber die chemische Schwärzung war eine wirksame Abwehr gegen die Wärmestrahlung, die von Infrarotaugen wahrgenommen wurde. Sie dunkelte ein paar Stellen nach, bis sie im Spiegel nichts mehr sehen konnte. Ihre Hände prüfte sie mit normalem Blick.

Dann kamen die Mini-Ampullen. Sie paßten unter ihre langen, scharfen Nägel, und die Injektorspitzen verschmolzen mit den Spitzen ihrer Fingernägel. Sie lud sie alle, nicht immer mit demselben Stoff. Mehr als eines dieser kleinen Geräte hatte ihr schon den Hals gerettet — und war anderen teuer zu stehen gekommen.

Schließlich berührte sie die zweite Energiekapsel an der Schnalle. Sie speiste das Material in den Chemikalien und in ihrer Kleidung. Wärmeortungsanlagen würden sie ignorieren.

Den Juwelenraub auf Baldash versuchte man noch immer aufzuklären.

Das große Türschloß stellte kein Problem dar, aber die vier Sensoren in der Tür. Sie paßten fast fugenlos in den Rahmen, und Mavra konnte nur zwei Streifen hineinzwängen. Beim dritten war eine Klinge erforderlich. Obwohl sie kein Messer hatte, diente das speziell behandelte Material in ihrem Stiefel als eines. Der Zehennagel eines großen Tieres auf einer fernen Welt, scharf geschliffen, behandelt wie ihre eigenen Nägel. Eine schöne, dünne, flache Klinge.

Die anderen Streifen waren leicht hineinzuschieben, und sie öffnete langsam und vorsichtig die Tür. Es gab keinen Alarm, und sie schaute hinaus. Der Korridor war dunkel, aber offenbar nicht bewacht. Obwohl Trelig sich so sehr auf Menschen verließ, benützte er ein professionelles Sicherheits-Supersystem, und das war sein Fehler. Erfolgreiche Verbrecher — jene, die nicht gefaßt worden waren — hatten sich längst gegen Infrarot und Mikrofone gewappnet.

Mavra trat hinaus und schloß lautlos die Tür. Auf ihrem Weg zum Bankettsaal begegnete sie niemandem. Dort gab es nur eine Kamera, wie sie beim Essen bemerkt hatte.

Sie näherte sich dem Eingang und starrte durch den Vorhang hinaus. Die Kamera, verbunden mit einem kleinen Lähmungsgerät, rotierte an einer Schiene unten an der Kuppel. Eine einzelne starre Kamera in der Kuppel selbst hätte nicht alles erfassen können, was der anderen innerhalb von dreißig Sekunden gelang. Mavra zählte mehrmals genau mit, um sich zu vergewissern, daß die Bewegungen zeitlich nicht variiert waren. Der Eingang befand sich nur zwölf Sekunden lang nicht im Kamerabereich, und er war ungefähr neunzig Meter entfernt.

Sie atmete zweimal tief ein. Als die Kamera den genau berechneten Punkt erreichte, raste sie zum Eingang und schaffte es in knapp unter elf Sekunden, etwas, das für ihre winzige Größe nahezu als unmöglich galt.

Aber hier herrschten nur 0,7 g.

Sie kletterte katzenartig zum Gebüsch hinunter. Draußen war es nicht dunkel, aber niemand war zu sehen, und sie war trotz des senkrechten Absturzes schnell.

Das lag an einem winzigen kleinen Bläschen, von dem sie mehrere in ihrem Gürtel trug. Das Bläschen, nicht größer als ein Stecknadelkopf, bildete eine unglaublich dünne Sekretion, die, wenn auf den Handflächen verrieben, ungeheure Saugkraft entwickelte. Bei Einbrüchen hatte ihr das unglaubliche Erfolge ermöglicht; sie hatte den Stoff selbst entwickelt.

In wenigen Sekunden stieg sie dreißig Meter hinunter, duckte sich hinter Gebüsch, rieb die Hände, wodurch der Stoff fest wurde, sich zu einer Kugel rollte und abfiel. Lange hielt er nicht, aber dreißig bis vierzig Sekunden lang war er hervorragend.

Sie hätte Dunkelheit vorgezogen, aber unter der spiegelnden Plasmakuppel gab es keine Dunkelheit.

Sie schlich um das Gebäude herum, hörte Stimmen und erstarrte. Als eine Art rhythmischer Gesang ertönte, wagte sie sich hinaus und schaute in einen der offenen Innenhöfe hinein. Vier Frauen, gekleidet wie die Dienerinnen, vollführten zur Begleitung eines leierartigen Instruments, das eine fünfte spielte, einen Tanz. Irgend etwas wirkte seltsam an ihnen.

Sie sind zu schön, entschied Mavra. Unglaublich schön, in ihren Geschlechtsmerkmalen beinahe deformiert, die Art von Traummädchen, von denen liebeskranke Prospektoren sich Bilder kaufen.

Sie schlüpfte ins nächste Gebäude, einem niedrigeren, aber immer noch großartigen Marmorbau, und prallte fast mit jemandem zusammen. Die junge Frau sah durchschnittlich aus, ein wenig zerzaust, und hatte schmutzige Füße. Sie war nackt, und neben ihr stand ein Eimer auf drei kleinen Rädern. Sie lag auf den Knien, und Mavra begriff plötzlich, daß die Frau den Marmorboden schrubbte.

Mavra schaute sich um, konnte aber sonst niemanden entdecken. Sie ging auf die Frau zu, die ihr das Hinterteil zuwandte, und streckte den rechten Kleinfinger aus, während sie die anderen ballte. Dadurch erreichte der kleine Injektor die Nagelspitze.

Die Frau bemerkte etwas, bevor Mavra sie erreichte. Als sie sich umdrehte, sah sie die kleine, schwarzgekleidete Frau.

»Hallo«, sagte sie mit schiefem Lächeln.

Mavra blickte sie mitleidig an. Der Ausdruck war schlicht, die Augen sahen stumpf und leer aus. Eine Schwammsüchtige, begriff Mavra. Sie bückte sich.

»Hallo. Wie heißen Sie?«

»Hiv — Hivi—«, stammelte die Frau.»Ich kann das nicht mehr so gut aussprechen.«

Mavra nickte mitfühlend.

»Okay, Hivi. Ich bin Cat. Wollen Sie mir etwas sagen?«

»Wenn ich kann.«

»Kennen Sie Nikki Zinder?«

»Kann mich an Namen nicht mehr so gut erinnern.«

»Gibt es dann hier irgendeinen Ort, wo Leute sind, die nie herauskommen?«

Die andere schüttelte verständnislos den Kopf. Mavra seufzte.

»Haben Sie einen Chef? Jemand, der Ihnen sagt, wo Sie putzen sollen?«

»Ziv macht das.«

»Und wo ist Ziv jetzt?«

»Da unten.«Sie deutete den Korridor hinunter.

Mavra hätte sie am liebsten in Frieden gelassen; eine Bedrohung war sie nicht. Aber ein gewisses Maß an Intelligenz war ihr noch geblieben, so daß sie ungewollt etwas verraten mochte. Sie streckte die Hand nach dem Mädchen aus, berührte mit dem rechten Kleinfinger ihren Arm, und der Injektor jagte ihr die Flüssigkeit unter die Haut.

Das Mädchen blickte erstaunt und griff nach der Schulter, dann erstarrte sie.

Mavra beugte sich herab.

»Du hast keinen gesehen«, flüsterte sie.»Du hast mich nicht gesehen. Du wirst mich nicht sehen. Du wirst nichts davon sehen, was ich mache. Jetzt arbeitest du weiter.«

Das Mädchen kam zu sich, schaute sich um, starrte Mavra Tschang an, blickte blind an ihr vorbei, zuckte mit den Schultern und begann weiterzuschrubben. Mavra entfernte sich.

Es wäre einfacher gewesen, sie zu töten, aber Mavra Tschang tötete nur jene, die es verdienten. Antor Trelig vielleicht für das, was er diesen früher normalen Menschen angetan hatte und anderen antun mochte — aber nicht eine hilflose Sklavin.

Denn das waren diese Frauen alle. Die Serviererinnen, die Tänzerin, die Putzfrau. Sklaven, geschaffen durch den Schwamm, durch zu geringe und zu hohe Dosen der Mutationskrankheit.

Mavra fand Ziv nicht, huschte aber lautlos durch viele Hallen, wich gelegentlich dumpf blickenden Sklavinnen und Abtastern aus.

Als sie niemanden fand, der Autorität zu besitzen schien, kehrte sie enttäuscht und angewidert zu den Schlafquartieren zurück. Als sie ihr Zimmer fast erreicht hatte, entdeckte sie jemanden, den sie brauchen konnte. Die Frau sah so ähnlich aus wie die anderen und war auch so angezogen, aber mit einem wesentlichen Unterschied: Sie trug Schulterhalfter und Pistole.

Mavra schlich lautlos auf sie zu, im letzten Augenblick drehte die Frau sich erschrocken um, und die kleine Agentin sprang sie an, traf sie mit voller Wucht in den Bauch.

Die Aufseherin lag am Boden, und Mavra sprang sofort wieder hoch. Die Nagelinjektoren vom rechten Zeige- und Mittelfinger hatten ihr Ziel gefunden, und die doppelte Dosis schwächte die Frau so stark, daß sie ihre Pistole nicht mehr ziehen konnte.

»Aufstehen!«befahl Mavra, und die Frau gehorchte.»Wo ist ein Raum, in dem wir nicht gestört werden?«

»Hier«, erwiderte die Aufseherin mechanisch und zeigte auf eine Tür in der Nähe.

»Keine Kameras oder andere Geräte?«

»Nein.«

Mavra trieb ihr halb betäubtes Opfer hinein. Es war ein kleines, derzeit unbenutztes Büro. Mavra drückte die Frau auf den Boden nieder und ging in die Knie.

»Wie heißt du?«fragte sie.

»Micce.«

»Also, Micce, wie viele Menschen gibt es auf Neu-Pompeii?«

»Zur Zeit einundvierzig, nicht gerechnet die Wilden, die lebenden Toten und die Gäste.«

»Wenn man alle bis auf die neuen Gäste mitzählt, wie viele?«

»Hundertsiebenunddreißig.«

Mavra nickte.

»Wie viele Bewaffnete?«

»Zwölf.«

»Warum nicht mehr?«

»In den wichtigen Bereichen verläßt man sich auf Automatiküberwachung. Und im übrigen kann niemand ohne die richtigen Codes Neu-Pompeii verlassen.«

»Wer kennt die Codes?«

»Nur Rat Trelig. Und sie werden täglich in einer Folge, die nur er kennt, gewechselt.«

Mavra Tschang zog die Brauen zusammen. Um so schwerer würde es werden.

»Ist Nikki Zinder hier?«fragte sie.

Die Frau nickte.

»Im Aufseherquartier.«

Durch weitere Fragen erfuhr Mavra, wo sich das Quartier befand, wie es dort aussah, wer sich zu verschiedenen Zeiten dort aufhielt, wo Nikkis Zimmer lag, wie man hinein- und hinausgelangen konnte. Sie klärte ferner, daß bis auf Trelig selbst alle auf dem Asteroiden schwammsüchtig waren und der Stoff täglich durch ein computergesteuertes Schiff gebracht wurde, so daß niemand eine größere Menge beschaffen und sich gegen Trelig auflehnen konnte. Das war eine interessante Note. Der Schwamm wurde also mit einem kleinen Spähschiff gebracht, das im Notfall für vier Passagiere geeignet war. Die Beschreibung der Aufseherin ließ vermuten, daß es sich um einen Kreuzer der Serie 17 handelte, ein Fahrzeug, das Mavra gut kannte.

Sie nahm der Aufseherin Pistole und Schultergürtel ab, nachdem sie erfahren hatte, daß die Aufseher selbst ihre Ausrüstung in einem kleinen Spind verwahrten. Sie erklärte der Frau, die Waffe nebst Gürtel sei noch an ihrem Platz, damit sie nicht vermißt wurde. Mavra lächelte; sie war wieder bewaffnet, und durch Treligs Manie, sich nur auf seine automatischen Systeme zu verlassen, war sie im Vorteil.

»Wo ist Dr. Zinder?«fragte sie, nachdem sie der Aufseherin noch einmal eine Hypnospritze gegeben hatte.

»Er ist auf der Unterseite«, sagte die Frau.

Von den einundvierzig Personen war eine Trelig, eine Nikki, eine Zinder, zwölf waren Aufseher, fünf Zinders Gehilfen, und die anderen einundzwanzig Sklaven der einen oder anderen Art. Das genügte, um Mavra klarzumachen, daß sie keine Aussicht hatte, Zinder selbst herauszuholen, aber bei Nikki standen die Chancen gut. Zehn Millionen waren nicht»alles«, aber weit mehr als nichts.

Mavra befahl der Aufseherin, alles zu vergessen und ihrer normalen Tätigkeit nachzugehen. Die Frau tat es und behandelte Mavra, als sei sie nicht vorhanden.

Es nahm noch einmal vierzig Minuten in Anspruch, zum Hauptgebäude zurückzukehren, den Kameras auszuweichen und zu ihrem eigenen Zimmer zu gelangen. Die Streifen waren noch an ihrem Platz, und als sie die Tür geschlossen und abgesperrt hatte, entfernte sie sie. Der holografische Gedächtnisprojektor war noch an seinem Platz, so daß die Kamera noch immer einen stillen Raum mit einer meditierenden Gestalt auf dem Bett zeigte.

Aufzuräumen, die Schwärze zu entfernen, den Stiefel zusammenzusetzen, den Gürtel neu zu füllen und wieder zusammenzufügen, kostete weitere Zeit. Dann schob sie sich zu dem Projektor auf dem Bett, nahm die richtige Haltung ein, griff nach dem kleinen Gerät und ließ es verschwinden, als die Kamera in eine andere Richtung zeigte. Sekunden danach, als die Kamera sich wieder auf das Bett richtete, erfaßte sie dieselbe nackte Frau in derselben Haltung. Die Frau begann schneller zu atmen, regte sich, streckte sich auf dem Bett aus und drehte sich auf die Seite. Die rechte Hand baumelte kurz über der Bettkante und ließ unsichtbar einen Gegenstand auf schwarzen Stoff fallen.

Erst dann schlief Mavra Tschang.


* * *

Wenn jemand von ihren Streifzügen wußte, verriet er am nächsten Morgen nichts davon. Die Diskussion drehte sich vor allem um Treligs Forderung, daß alle sich duschten und dann leichte, dünne Gewänder und Sandalen anlegten. Trelig entschuldigte sich und bot an, während der Reise ihre eigene Kleidung zu reinigen, aber es war klar, was er vorhatte. Er konnte sowohl ihre Kleidung untersuchen als auch dafür sorgen, daß zur Unterseite des Asteroiden wenig, wenn überhaupt etwas mitgenommen wurde.

Mavra war überzeugt davon, daß die Abschirmung in Stiefeln und Gürtel eine Entdeckung verhindern würde. Wenn aber jemand doch versuchen sollte, sie zu öffnen, würde es eine schwer zu erklärende und heftige Explosion geben. Die Pistole war nicht schwer zu verbergen; sie hatte sie mit Kitt an einem Sims in der Halle festgeklebt.

Sie sah die überraschten Gesichter, als sie zum Frühstück in den Saal kam; ohne die Stiefel wirkte sie noch winziger. Niemand war jedoch so taktlos, eine Bemerkung darüber zu machen.

Nach dem Essen hielt Trelig eine kurze Ansprache:

»Bürger, verehrte Gäste, darf ich jetzt erklären, warum Sie alle eingeladen wurden, und was Sie heute sehen werden? Zuerst möchte ich Ihr Gedächtnis ein wenig auffrischen. Wie Sie alle zweifellos wissen, sind wir nicht die erste Zivilisation, die Welten weit außerhalb unseres Ursprungsplaneten kolonisiert hat. Die Artefakte jener früheren, nichtmenschlichen Zivilisation sind auf zahllosen toten Welten gefunden worden. Dr. Jared Markov entdeckte sie als erster, und aus diesem Grund nennen wir diese Rasse die Markovier.«

»Das wissen wir alles, Amor«, knurrte einer der Räte.»Kommen Sie zur Sache.«

Trelig warf ihm einen vernichtenden Blick zu und fuhr fort:»Was sie uns hinterließen, als sie vor über einer Million Jahren ausstarben oder verschwanden, besteht ausschließlich aus zerstörten Gebäuden. Keine Möbel, keine Maschinen, keine Gerätschaften, keine Kunstgegenstände, nichts. Warum? Generationen von Gelehrten haben sich darüber die Köpfe zerbrochen, ohne Erfolg. Es erschien als ebenso unlösbares Rätsel wie die Tatsache, warum sie ausgestorben sind. Aber ein Wissenschaftler, ein tregallischer, hatte eine Idee.«

Sie bewegten sich ein wenig und nickten. Sie wußten alle, wen er meinte.

»Dr. Gilgam Valdez Zinder«, fuhr Trelig fort,»glaubte, daß unsere Unfähigkeit, das Rätsel der Markovier zu lösen, von unserer zu unorthodoxen Anschauung des Universums herrührte. Zuerst stellte er die These auf, daß die alten Markovier keine Artefakte brauchten, weil sie auf irgendeine Weise Energie in Materie verwandeln konnten, einfach, indem sie das wünschten. Wir wissen, daß tief unter der Kruste jeder markovischen Welt ein halborganischer Computer lag. Zinder glaubte, die Markovier wären direkt geistig mit ihren Computern verbunden gewesen, die ihrerseits darauf programmiert gewesen seien, jeden Wunsch in Wirklichkeit zu verwandeln. Er machte sich also ans Werk, dieses Verfahren nachzuvollziehen. Zinder stellte ferner die Behauptung auf, das Rohmaterial, das sie für diese Umwandlung von Energie in Materie verwendet hätten, sei eine grundlegende Primärenergie, der einzig wahrhaft stabile Baustein im Universum. Er verbrachte sein Leben mit der Suche nach dieser Primärenergie und ihrem Nachweis. Er erarbeitete ihre vermutliche Natur mathematisch und konstruierte seinen eigenen seiner selbst bewußten Computer, der ihm dabei helfen sollte.«

»Und er hat sie gefunden?«, fragte eine Frau, die aussah wie ein Kind, in Wahrheit aber Älteste einer Kom-Rasse war.

»Er hat sie gefunden«, bestätigte Trelig.»Dabei lieferte er eine Reihe von Folgerungen, die überwältigend sind. Wenn alle Materie, alle Wirklichkeit, nur eine umgewandelte Form dieser Energie ist, woher kommen wir dann

Er lehnte sich zurück und genoß die Mienen derer, die verstanden.

»Sie behaupten, die Markovier hätten uns geschaffen?«rief der rotbärtige Mann.»Es fällt mir schwer, das zu akzeptieren. Die Markovier sind seit einer Million Jahren tot. Wenn ihre Artefakte mit ihren Gehirnen gestorben sind, warum wir dann nicht auch?«

»Eine sehr gute Frage«, erwiderte Trelig überrascht.»Aber es gibt keine eindeutige Antwort darauf. Dr. Zinder und seine Mitarbeiter glauben, daß irgendwo draußen in den anderen Galaxien eine Art gigantischer Zentralcomputer errichtet wurde, der uns stabil erhält. Aber auf den Ort kommt es nicht an, weil es fast mit Sicherheit unsere Fähigkeiten übersteigt, in der voraussehbaren Zukunft dorthin zu gelangen, selbst wenn wir wüßten, wo ›dort‹ ist. Entscheidend ist vielmehr, daß es einen solchen Computer geben muß, weil wir sonst nicht da wären. Natürlich läßt er, sagen wir, örtliche Variationen im Grundmuster zu. Wäre das nicht der Fall, hätten die einzelnen markovischen Welten nie ihre eigenen gottähnlichen Computer verwenden können. Und was sie zu leisten vermochten, hat Dr. Zinder entdeckt! Es ist der letzte und höchste Beweis seiner Theorie.«

Man hörte vereinzeltes, nervöses Gehüstel.

»Soll das heißen, daß Sie Ihre eigene Version dieser Gottmaschine gebaut haben?«fragte Mavra Tschang.

Trelig lächelte.

»Dr. Zinder und sein Mitarbeiter Ben Yulin, das Kind eines engen Vertrauten von mir auf Al Wadda, haben eine Miniaturausgabe davon gebaut, ja. Ich habe sie dazu überredet, ihren Computer hierherzubringen, wo er nicht in die falschen Hände geraten kann — und sie sind gerade dabei, auch den Anschluß einer viel, viel größeren Ausgabe der Maschine fertigzustellen.«Er stand auf.»Kommen Sie mit«, sagte er.»Ich sehe Unglauben und Skepsis in Ihren Gesichtern. Gehen wir zur Unterseite, dann zeige ich es Ihnen.«

Sie standen alle auf und folgten ihm hinaus ins Freie, zu einem kleinen Bauwerk, das aussah wie ein kleiner Aussichtsturm aus Marmor.

Obwohl es äußerlich zu der neogriechischen und -römischen Architektur paßte, war, als sie es erreichten, erkennbar, daß es sich um eine Art Schnellaufzug handelte.

Trelig trat an eine glatte, nackte Stelle und preßte die Handfläche darauf. Seine Finger trommelten eine Sequenz, und plötzlich verblaßte die Wand und gab den Blick auf das Innere einer großen Schnellkabine frei, die acht Sitze mit Kopfstützen und Gurten auf wies.

»Wir werden zwei Fahrten machen müssen«, sagte Trelig.»Wenn die ersten acht von Ihnen sich bitte setzen und anschnallen wollen. Die Fahrt abwärts geht außerordentlich schnell und unbehaglich vor sich, fürchte ich, obwohl ein gewisser Schwerkraftausgleich eingebaut ist. Sobald die erste Gruppe unterwegs ist, können wir anderen die kleinere Wartungskabine nehmen. Keine Sorge — an der Unterseite gibt es einen Ausgang in zwei Etagen.«

Mavra gehörte zur ersten Gruppe. Sie ließ sich auf einen der Sitze nieder und schnallte sich an. Die Tür, in Wahrheit eine Art Kraftfeld mit einer Wandprojektion darüber, verfestigte sich wieder, und sie spürten, daß sie rasend schnell hinabstürzten.

Die Fahrt war tatsächlich unbehaglich; für die zwei oder drei Personen, die sie brauchten, waren kleine Plastiktüten verfügbar.

Es dauerte über zehn Minuten, das andere Ende zu erreichen, obwohl sie mit ungeheurer Geschwindigkeit dahinrasten. Schließlich wurde die Kabine langsamer und kam zum Stillstand. Sie warteten drei oder vier Minuten, dann hörten sie über sich ein Geräusch, eine Minute danach löste sich das Kraftfeld vor ihnen auf, und Trelig stand lächelnd vor ihnen.

Sie lösten die Gurte, standen auf, reckten sich und traten in einen schmalen Korridor. Der Stahlplattenweg endete auf einer großen genieteten Plattform mit einem Geländer ringsherum. Vor ihnen befand sich ein Schacht von immenser Größe, der ohne Boden zu sein schien. Rings um den Schacht gab es Schalttafeln, zahllose Moduln mit gleichmäßigen Lücken dazwischen.

Eine lange Brücke führte von der Plattform aus über den Schacht. Sie war breit und aus Metall, aber besaß 150 Zentimeter hohe Seitenwände aus Kunststoff. Sie begriffen, daß sie sich irgendwo im Inneren einer gigantischen Maschine befinden mußten.

Trelig blieb mitten auf der Brücke stehen, und die Gruppe versammelte sich um ihn. Überall summte und klickte es, und Trelig mußte seine Stimme verstärken.

»Der Schacht reicht von einer Stelle ungefähr auf halbem Weg zwischen dem theoretischen Äquator und dem Südpol von Neu-Pompeii auf der ungeschützten Felsoberfläche fast bis zum Kern des Planeten«, sagte er laut.»Er wird indirekt durch das Solar- und Plasmanetz mit Fusionsenergie versorgt. Auf fast zwanzig Kilometer im Umkreis befindet sich der — selbstverständlich mit Eigenbewußtsein ausgestattete — Computer, den Dr. Zinder Obie nennt. In ihn haben wir alle Daten, die uns zur Verfügung standen, eingebracht. Kommen Sie.«Er ging auf der Brücke weiter, vorbei an einer schimmernden, kupferfarbenen Stange, die in der Mitte des Schachtes verlief und in beiden Richtungen zu verschwinden schien. Er erreichte eine Plattform, die genauso aussah wie die erste. Auf der linken Seite öffnete sich ein Fenster in einen großen Raum, der angefüllt war mit Myriaden anscheinend nicht in Betrieb befindlicher elektronischer Instrumente. Eine Tür wie die einer Luftschleuse versperrte ihnen den Weg. Als sie zischend aufging, schienen Druck und Temperatur sich ein wenig zu verändern. Sie traten ein und fanden sich dem Augenschein nach in einer Miniaturkopie der größeren Maschine. Eine Galerie und mehrere Steuerkonsolen umgaben einen amphitheaterähnlichen Bereich darunter, in dem sich eine kleine, runde, silbrige Scheibe befand. An der Decke war ein zwanzigeckiger Spiegel mit einer kleinen Projektionsvorrichtung in der Mitte an einem beweglichen Arm befestigt, der aus der Wand ragte.

»Der ursprüngliche Obie und die ursprüngliche Anlage«, erklärte Trelig.»Obie ist natürlich an die größere Maschine angeschlossen, die der Vollendung entgegengeht. Kommen Sie, stellen Sie sich hier nebeneinander an das Geländer, damit Sie alle hinunterblicken können.«

Er warf einen Blick auf die andere Seite, und sie sahen einen jungen, gutaussehenden Mann in glänzender Laborkleidung an einer Steueranlage sitzen.

»Bürger, das ist Dr. Ben Yulin, unser Betriebsdirektor«, sagte Trelig.»Wenn Sie hinunterblicken, werden Sie sehen, wie zwei meiner Mitarbeiterinnen eine dritte herausbringen und auf die Scheibe stellen.«

Sie schauten hinunter und entdeckten zwei der Frauen, die Mavra als Aufseherinnen erkannte. Die zwei führten ein Mädchen, das nicht älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre war und angstvoll wirkte, zu der Scheibe.

»Das Mädchen, das Sie sehen, ist das Opfer einer Drogensucht, die unter dem Namen Schwamm bekannt ist«, erklärte Trelig.»Die Droge hat ihren Geist bereits so zerrüttet, daß sie nicht mehr ist als eine kindliche Schwachsinnige. Ich habe viele solche unglücklichen Wesen hier; sie werden bald geheilt sein. Beobachten Sie, und verhalten Sie sich ruhig. Dr. Yulin wird jetzt übernehmen.«

Ben Yulin betätigte ein paar Schalter an seiner Konsole. Sie hörten einen Lautsprecher knistern und vernahmen seine ruhige, angenehme Baritonstimme ganz deutlich.

»Guten Morgen, Obie.«

»Guten Morgen, Ben.«Obies Tenorstimme kam nicht mehr aus dem Konsolensprecher, sondern scheinbar ringsum aus der Luft. Es war keine mächtige oder bedrohliche Stimme, aber sie schien alles zu erfüllen, von überall und nirgendwo zu kommen.

»Index Versuchsperson Codenummer 97-349826«, sagte Yulin.»Registrieren auf mein Zeichen — jetzt

Der Spiegel wurde über das entsetzte Mädchen hinausgeschwungen, das blaue Licht strömte heraus und hüllte es ein. Sie sahen das Mädchen erstarren, flackern und verschwinden.

Trelig grinste.

»Was halten Sie davon?«fragte er.

»Ich habe schon öfter Holografen-Projektoren gesehen«, meinte ein kleiner Mann skeptisch.

»Entweder das, oder Sie haben sie desintegriert«, warf ein anderer ein.

»Nun, was wird Sie überzeugen?«sagte Trelig achselzuckend. Seine Miene hellte sich auf.»Ich weiß! Nennen Sie mir irgendein weitverbreitetes Wesen. Irgendeines.«

Sie schwiegen alle kurze Zeit, dann rief jemand:»Eine Kuh.«

»Gut, eine Kuh«, sagte Trelig.»Haben Sie gehört, Ben?«

»Sehr wohl, Rat«, sagte Yulin über den Lautsprecher.»Index RY-/65I97-AF, Obie«, fuhr er fort.

»Ich weiß, was eine Kuh ist, Ben«, rügte Obie sanft, und Yulin gluckste.

»Also gut, Obie«, erwiderte er.»Ich überlasse es dir. Aber nichts Gefährliches. Folgsam, ja?«

»In Ordnung, Ben. Ich werde mein Bestes tun«, versicherte der Computer, und der Spiegel fuhr wieder hinaus, das blaue Licht strahlte auf, und in ihm flackerte etwas.

»Zaubertricks«, sagte der rotbärtige Mann wegwerfend.»Frau in Kuh.«

Aber was unten auftauchte, war keine Kuh, es war ein zentauroides Wesen: ein Kuhleib — Hufe, Schwanz und Euter und Oberkörper und Kopf des Mädchens, unverändert bis auf die Ohren, die hochstanden wie die einer Kuh, und zwei kleine, gebogene Hörner, die aus ihren Schläfen herauswuchsen.

»Gehen wir hinunter, und sehen wir sie uns genauer an«, schlug Antor Trelig vor, und sie stiegen hintereinander eine kleine Treppe hinunter.

Die Kuhfrau stand da, starrte ins Leere und beachtete sie kaum.

»Nur zu!«sagte Trelig.»Berühren Sie sie! Untersuchen Sie sie so gründlich, wie Sie wollen!«

Sie taten es, und das Mädchen reagierte kaum, bis jemand ihre Milchzitzen berührte, was zu einem leichten, gereizten Tritt führte, der aber sein Ziel verfehlte.

»Guter Gott! Ungeheuerlich!«knurrte ein Rat.

Andere waren sichtlich betäubt.

Trelig führte sie wieder nach oben und erklärte, daß die Sichtplattform unsichtbare Abschirmung besaß, die notwendig war, um die Wirkungen des kleinen Spiegels fernzuhalten.

Er nickte Ben zu, der Obie neue Anweisungen erteilte. Das Kuhmädchen verschwand und wurde wenige Augenblicke später wieder von dem Mädchen ersetzt. Sie stiegen erneut hinunter, betrachteten es, fanden es ängstlich und dumpf blickend, aber sonst vollkommen menschlich — und unverwechselbar dasselbe Mädchen.

»Ich glaube es immer noch nicht«, stieß der Bärtige hervor.»Irgendeine Art monströses genetisches Klonen, ja, aber das ist alles.«

»Wollen Sie es versuchen, Bürger Rumney?«sagte Trelig lächelnd.»Ich versichere Ihnen, daß wir Ihnen nicht das geringste antun. Oder wenn Sie nicht wollen, sonst jemand?«

»Ich versuche es«, erwiderte der rotbärtige Mann.

Das Mädchen wurde hinausgeführt. Rumney stieg auf die Scheibe und schaute sich um, als suche er nach den Requisiten des Zaubertricks. Die anderen stiegen wieder hinauf.

Yulin war bereit. Rumney wurde schnell kodiert, verschwand und erschien kurz darauf wieder. Sie hatten zwei kleine Veränderungen an ihm vorgenommen: Er hatte die langen Ohren eines Esels und einen großen, schwarzen Pferdeschweif, der über seinem Gesäß hinausragte. Da die Wirklichkeit für ihn beibehalten wurde, nahm er die Veränderung schnell wahr. Er betastete staunend seine langen Ohren und bewegte den Schweif. Er wirkte betäubt.

»Was halten Sie jetzt davon, Bürger Rumney?«fragte Trelig ihn leutselig.

»Das ist — unfaßbar«, stieß der Mann hervor.

»Wir können die Wirklichkeit so angleichen, daß Sie und jeder andere glaubt, Sie hätten immer so ausgesehen«, erklärte Trelig.»Aber in diesem Fall lieber nicht.«

»Hat es weh getan?«rief jemand hinunter, und eine andere Stimme fragte:»Was haben Sie dabei empfunden?«

Rumney schüttelte den Kopf.

»Ich habe gar nichts empfunden«, antwortete er staunend.»Ich habe nur das blaue Licht gesehen, dann schienen Sie alle zu flackern, und ich war wieder da.«

Trelig lächelte und nickte.

»Sehen Sie?«wandte er sich an die anderen.»Ich habe doch gesagt, daß es nicht weh tut.«

»Aber wie haben Sie das gemacht?« fragte jemand stockend.

»Nun, wir haben vorher Obie die Verschlüsselungen für verschiedene gängige Tiere, Pflanzen und dergleichen eingegeben. Er benützte das Gerät an der Decke dazu, sie auf ein Energiemuster zurückzuführen, das mathematisch dem Wesen entspricht. Die Information wurde gespeichert, und als Bürger Rumney auf der Scheibe stand, geschah mit ihm dasselbe. Auf Dr. Yulins Anweisung hin wurden Ohren und Schweif des Esels Rumney angefügt und die Zellen neu kodiert, damit sie zu seinen natürlichen Merkmalen wurden.«

Mavra Tschang spürte denselben kalten Hauch, der die anderen anwehte. Solch unglaubliche Macht — in Treligs Händen.

»Das ist aber erst der Prototyp«, sagte der Rat von Neue Harmonie nach einer Pause.»Im Augenblick können wir nur eine einzelne Person nehmen. Wir können natürlich selbst Personen herstellen, aber wir wissen noch nicht, wie wir manches in Obie einbringen sollen, damit sie geistig als vollständige Wesen herauskommen. Das ist aber nur eine Frage der Zeit und der Übung. Und wir können natürlich alles Bekannte erschaffen, das nicht größer ist als die Scheibe, und dessen Code wir zuerst in Obie eingegeben haben. Jede Art von Nahrung, alles Organische und Anorganische, absolut real, nicht zu unterscheiden vom Original.«

»Sie sagten, die Maschine sei ein Prototyp«, stellte Mavra fest.»Dürfen wir davon ausgehen, daß Sie über dieses Stadium schon hinaus sind?«

»Sehr gut, Bürgerin Tschang«, lobte Trelig.»Ja, gewiß! Sie haben das große Rohr in der Mitte des Schachts gesehen?«Sie nickten.»Nun, es ist gerade an eine riesige Ausgabe des kleinen Energiestrahlers angeschlossen worden, den Sie dort in der Mitte des kleinen Spiegels sehen. Ich habe die Teile an einem Dutzend verschiedener Orte bauen und hier von meinen eigenen Leuten montieren lassen. Dasselbe gilt für eine riesige Version des Spiegels, der natürlich in der Form und Beschaffenheit ein wenig anders ist. Und riesengroß — er füllt den Großteil der Oberfläche unserer Unterseite aus. Wenn die Energie ausreicht, was wir glauben, sollte er aus einer Entfernung von über fünfzehn Millionen Kilometer auf eine Fläche von mindestens fünfundvierzig- bis fünfzigtausend Kilometern Durchmesser wirksam sein.«

»Sie meinen einen Planeten?«entfuhr es jemandem.

»Ja, ich glaube schon«, sagte Trelig.»Hören Sie, ich glaube, Sie haben recht! Natürlich nur, wenn die Energie ausreicht.«Er schaute hinunter zu Rumney, der darauf wartete, zurückverwandelt zu werden.»Jetzt zeige ich Ihnen das volle Potential«, flüsterte er und nickte Yulin zu.

Bevor der Mann mit den Ohren und dem Schweif etwas tun konnte, erfaßte ihn das blaue Leuchten wieder. Als er einige Augenblicke später auftauchte, war zusätzlich etwas verändert worden. Er hatte die Ohren und den Schweif und auch seinen Bart beibehalten, aber durch das dünne Gewand konnte man deutlich sehen, daß er, obwohl sein mächtiger, maskuliner Körper weiterbestand, jetzt vom Geschlecht her eine Frau war.

Trelig grinste die anderen bösartig an, dann rief er hinunter:»Sagen Sie, Bürger Rumney, fällt Ihnen sonst eine Veränderung auf?«

Die Person auf der Scheibe schaute an sich herunter, betastete sich und schüttelte ihren — seinen? — Kopf.

»Nein«, erwiderte die Person mit einer Stimme, die jetzt eine halbe Oktave höher lag.»Wieso?«

»Sie sind jetzt eine Frau, Bürger Rumney.«

»Aber ja, versteht sich. Das war ich immer.«

Trelig sah die Gruppe selbstzufrieden an.

»Sehen Sie? Diesmal haben wir etwas Grundlegendes in den Gleichungen geändert, die ihn hervorgebracht haben. Wir haben ihn zu einer Sie gemacht. Eigentlich etwas sehr Einfaches — einfacher als umgekehrt, denn er ist jetzt XX, während wir im umgekehrten Fall den Y-Faktor einführen müßten. Das Wichtige dabei ist: Nur wir wissen, daß eine Veränderung stattgefunden hat. Er weiß es nicht — und wenn Sie mit ihm so zurückkehrten, würden Sie feststellen, daß auch alle anderen sich an ihn als Frau erinnern, daß alle seine ganze Vergangenheit weiblich ist, daß alles darauf abgestellt wurde. Das ist die wahre Macht der Anlage. Nur die Abschirmung und unsere große Nähe lassen zu, daß wir von der Veränderung nicht selbst betroffen sind.«

Sie dachten darüber nach. Neu-Pompeii würde natürlich abgeschirmt sein, wahrscheinlich durch etwas, das man dem Plasmaschirm hinzugefügt hatte. Wenn der große Spiegel auf einen ganzen Planeten wirkte, würde niemand in der ganzen Galaxis auch nur wissen, daß sich etwas verändert hatte. Die Welt, die das Opfer geworden war, würde es ebenfalls nicht wissen. Die Bewohner würden im Rahmen der natürlichen Ordnung der Dinge zu Treligs Spielzeug und Besitz werden.

»Sie Ungeheuer!«fauchte einer der Räte.»Warum zeigen Sie uns das alles? Warum diese Bloßstellung, außer zur Selbstbestätigung?«

»Das spielt natürlich eine Rolle«, meinte Trelig achselzuckend.»Aber solche Macht ist kein Spaß, wenn jemand nicht weiß, was vorgeht. Aber nein, es steckt mehr dahinter.«

»Sie brauchen die Ratsflotte, um Neu-Pompeii zu bewegen und zu schützen«, riet Mavra.

»Nein, das nicht«, sagte er lächelnd.»Den Berechnungen zufolge wäre es möglich, Neu-Pompeii mit dem Feld zu umgeben und es an einen beliebigen Ort zu versetzen. Nein, hier geht es um unsere eigenen Beschränkungen. Man kann einen Planeten nicht verwandeln, ohne genau zu wissen, was man will, und die Information in Obie einzugeben. Die Ohren und der Schweif wären nicht möglich gewesen, wenn Obie nicht zuerst den Code für den Esel gehabt hätte. Es wird viel Zeit und Arbeit kosten, eine Welt richtig umzuformen, und ich bin ein geduldiger Mensch. Wenn ich es jetzt oder in den nächsten Jahren mit einem Planeten versuchen wollte, wären die Ergebnisse vermutlich ungeheuerlich. Nein, ich brauche Zugang zu allen Informationen, den besten Gehirnen, dem Besten von allem, um das durchzuführen. Ich brauche die Ressourcen von Hunderten von Welten. Um die Ressourcen zu erhalten, die ich brauche, muß die Ratsflotte unter meiner Kontrolle stehen.«

Mavra und einige andere drehten sich halb herum, als sie hinter sich Bewegung wahrnahmen. Vier Aufseher waren herausgetreten, alle mit gefährlichen Elektronengewehren.

Der Herr von Neu-Pompeii blickte zu Yulin hinüber und nickte ihm zu. Das blaue Licht flammte wieder auf, und als es erlosch, war Rumney wieder ein Mann und hatte normale Ohren.

Aber den Schweif hatte er behalten.

Trelig rief ihn herauf, und als er die Bewacher sah, wollte er umkehren, besann sich aber und trat zu den anderen.

»Was soll das bedeuten?«knurrte er, und auch die übrigen erhoben Protest.

Trelig entfernte sich einen Schritt.

»Ich brauche die Flotte und die Waffenlager-Steuerung. Bitte, gehen Sie nicht auf mich oder die Wachen zu. Die Gewehre sind auf Betäubungs-Streufeuer eingestellt. Es würde Ihnen nichts nützen, selbst wenn ich mitgetroffen würde. Außerdem brauche ich Sie alle lebend, damit Sie zurückkehren und Ihren Räten mitteilen können, was Sie gesehen haben, ausgenommen die hier anwesenden Räte, deren Stimmen ich direkt brauche. Ich brauche Sie, damit Sie berichten und die Beweise liefern. Wenn der Rat in vier Tagen zusammentritt, verlange ich eine Abstimmung, die mich zum Ersten Rat mit alleiniger Verfügungsgewalt über Flotte und Waffenlager macht. Wenn die Abstimmung nicht zustande kommt, werden wir mit dem großen Spiegel Experimente bei den Welten anstellen, die Sie vertreten. Neu-Pompeii wird überall sein. Sie werden es nicht einfangen. Ich besitze vielleicht nicht alle Daten, um eine Welt zu verändern, aber ich kann mit Obie Ihre Existenz aufheben!Ich kann den Rat so dezimieren, bis ich die Stimmen zusammenbekomme!«

Sie waren entsetzt.

»Sehen Sie, meine Freunde«, schloß er,»wenn Sie mir diese Macht nicht geben, wird das sehr schmerzlich für mich sein, viele Menschenleben kosten und mir einen hohen Aufwand an Zeit und Mühe verursachen. Aber ich werde so oder so gewinnen. In vier Tagen — oder in vier Jahren. Es wird nicht darauf ankommen. Aber ich bin ungeduldig und direkt. Wir können uns eine Menge Qualen, Mühe und Leben sparen, wenn Sie meinen Forderungen gleich nachgeben.«

Rumney griff hinter sich und berührte ungläubig seinen Schweif.

»Und dieser Schweif ist der Beweis?«

Trelig nickte.

»Sie werden jetzt alle der Reihe nach hinuntergehen und auf die Scheibe treten. Es wird eine Kleinigkeit bei Ihnen verändert werden, nicht mehr als bei Bürger Rumney, es sei denn, Sie machen Schwierigkeiten. Wenn Sie sich wehren, werden wir Sie betäuben, und die Folgen werden nicht harmlos sein, glauben Sie mir. Aber wie Rumney Ihnen erklärt hat, ist der Prozeß schmerzlos, und ich verspreche Ihnen, daß jeder, dessen Welt für mich stimmt, zurückverwandelt wird. Das kann ohne eine Rückkehr nach Neu-Pompeii geschehen.«

»Wieviel ist Ihr Versprechen wert?«

»Ich halte mein Wort stets, Bürger«, sagte Trelig verletzt.»Ich halte meine Versprechungen immer — und meine Drohungen führe ich auch aus.«

Niemand wehrte sich. Es wäre nutzlos gewesen.

Trelig machte sich nicht die Mühe, kreativ zu sein. Jeder bekam der Reihe nach denselben langen Pferdeschweif wie Rumney, in der Farbe den jeweiligen Haaren angepaßt. Mavras Schweif war kohlschwarz, dicht und reichte bis unter ihre Knie. Man mußte sich erst daran gewöhnen, obwohl der Schweifmuskel überaus leicht zu steuern war und der Knochen weich und biegsam wirkte. Trotzdem saß es sich unbequem, als sie wieder hinauffuhren.

Die Ergänzung ihrer Anatomie war jedoch überzeugender Beweis für sie alle und würde als überzeugender Beweis für die über alle hängende Bedrohungen dienen.

Mavra schaute sich nach den anderen Leuten im Lift um und sah, daß Antor Trelig die Stimmen erhalten würde, die er brauchte. Das hieß, daß Nikki Zinder um jeden Preis von hier fortgebracht werden mußte, Schweif hin, Schweif her.

Oben fragte sie Trelig nach Dr. Zinder.

»Ach, er muß hier irgendwo sein. Ohne ihn kämen wir nicht zurecht, wissen Sie. Nicht bei der großen Erprobung. Wenn Sie über die Kuppel hinausblicken könnten, würden Sie einen Asteroiden sehen, der so groß ist wie dieser, aber nur ein Gesteinsklumpen, der von Schleppern aus Neue Harmonie in etwa zehntausend Kilometern Entfernung in Position gebracht wird. Eine kleine Zielscheibe, ein Nichts. Wir werden morgen sehen, was wir daraus machen können.«

»Werden wir die Verwandlung beobachten können?«fragte sie.

»Gewiß. Das ist die abschließende Vorführung. Ich lasse hier Bildschirme aufstellen, damit Sie alles verfolgen können. Und danach werden Sie mit Ihren Botschaften aufbrechen und mit Ihren, äh, Souvenirs.«


* * *

Mavra kehrte erschöpft und betäubt in ihr Zimmer zurück. Sie sah befriedigt, daß Stiefel und Gürtel an ihrem Platz lagen. Die Kleidung dagegen war säuberlich gereinigt, gebügelt und zusammengefaltet worden. Sie riß das Gewand herunter, das sie den ganzen Tag getragen hatte, und sah zum erstenmal im Spiegel über dem Schreibtisch ihren Schweif. Sie drehte sich hin und her und mußte zugeben, daß er außerordentlich natürlich wirkte; Sie peitschte ein wenig damit, streckte ihn hinaus und bestaunten ihn.

Sie fühlte sich plötzlich todmüde, als klinge ein heftiger Schock ab. Sie durfte sich nicht so fühlen, nicht in diesem Stadium. Aber es war noch früh, dachte sie. Das Licht im Korridor war durch die große Tür noch sichtbar, und das hieß, daß der beste Augenblick noch nicht gekommen war. Sie ging zum Bett und legte sich hin.

Bevor sie nachzudenken vermochte, war sie eingeschlafen. Und sie träumte. Mavra träumte selten, jedenfalls konnte sie sich nie an einen Traum erinnern. Aber dieser war so klar wie die Wirklichkeit.

Sie stand wieder auf der Silberscheibe im Computerzentrum, aber als sie sich umschaute, waren keine Gesichter auf der Galerie, keine Gesichter an den Konsolen. Der Raum war leer, bis auf sie. Leise summte der Computer.

»Mavra Tschang«, sagte der Computer zu ihr.»Hören Sie zu, Mavra Tschang. Dieser Traum wird von mir hervorgerufen, während Sie der Behandlung unterzogen werden. Alles, was jetzt vorgeht, ist bereits geschehen, unser Gespräch eingeschlossen, in der millionstel Sekunde zwischen Beginn und Ende der Behandlung. Diese Aufzeichnung wird hergestellt, um die Erinnerung zu wecken, wenn Sie schlafen, in einem künstlich erzeugten Hypnoseschlaf.«

»Wer sind Sie?«fragte sie.»Sind Sie Dr. Zinder?«

»Nein«, erwiderte der Computer.»Ich bin Obie. Ich bin eine Maschine, eine mit Selbstbewußtsein ausgestattete. Dr. Zinder ist jedoch ebenso mein Vater wie der seiner Tochter, und zwischen uns besteht dieselbe Verbindung. Ich bin sein zweites Kind.«

»Aber du machst die Arbeit für Trelig und seine Kreatur Yulin«, betonte sie.»Wie kannst du das tun?«

»Ben hat einen Großteil meiner Speicherkapazität entworfen und besitzt deshalb die Fähigkeit, meine Handlungen zu erzwingen«, erklärte Obie.»Während ich zwar tun muß, was er von mir verlangt, ist mein Gehirn, mein Selbstbewußtsein, Dr. Zinders Schöpfung. Das wurde eigens so geschaffen, damit niemand vollständige Kontrolle über die Anlage erlangen kann, die wir gebaut haben.«

»Dann kannst du frei handeln«, erwiderte sie staunend.»Du kannst handeln, wenn du nicht ausdrücklich angewiesen wirst, es nicht zu tun.«

»Dr. Zinder sagte, mir solche Einschränkungen zu geben, würde bedeuten, einen Pakt mit dem Teufel zu schließen; es gibt stets geistige Schlupflöcher. Das habe ich festgestellt.«

»Warum hast du dann nicht gehandelt?«fragte sie scharf.»Warum hast du das alles zugelassen?«

»Ich bin hilflos«, sagte Obie.»Ich kann mich nicht bewegen. Ich bin isoliert, wo die einzige Kommunikation ohne schwere Zeitverzögerung mit Treligs System besteht, was also nicht den geringsten Nutzen hätte. Die Veränderungen der Wirklichkeit sind auf die kleine Scheibe beschränkt, und ich kann nicht einmal das von mir aus auslösen. Es erfordert eine Reihe verschlüsselter Befehle, mir Zugang zum Spiegelarm zu geben. Das wird sich morgen aber ändern.«

»Die große Schüssel«, flüsterte sie.»Man wird dich an die große Schüssel anschließen.«

»Ja, und sobald der Anschluß hergestellt ist, wird man feststellen, daß er nicht mehr unterbrochen werden kann. Ich habe den Prozeß bereits ausgearbeitet.«

»Weiß Zinder das?«fragte sie nach einer kurzen Pause.

»O ja«, sagte Obie.»Schließlich bin ich in dieser Form eine Spiegelung von ihm. Ben ist ein kluger Junge, aber er versteht die Komplexität dessen, was ich bin oder mache, überhaupt nicht. Er ist eher ein brillanter Ingenieur als ein theoretischer Wissenschaftler. Er kann Dr. Zinders Prinzipien anwenden, aber sie nicht vollständig durchschauen. Und in dieser Beziehung gleicht er einem Menschen, der beim Kartenspiel geschickt betrügt und dann versucht, seinen Lehrer zu übertölpeln.«

Sie seufzte.

»Dann hat Trelig sein Spiel verloren«, sagte sie leise.

»In gewisser Weise, ja«, bestätigte Obie.»Aber seine Niederlage bedeutet nicht unseren Sieg. Wenn morgen die Energie zugeführt wird, erreiche ich eine Macht, die sich jeder Vorstellungskraft entzieht. Ich habe die Absicht, mit dem großen Spiegel eine negative Einstellung zu erzeugen, keine positive. Das wird ganz Neu-Pompeii unter das blaue Licht bringen.«

»Was wird dann aus uns allen werden?«fragte sie stockend.

Obie erwiderte nach einer Pause:»Ich werde nichts machen. Wenn ich kann, werde ich die Schwammsüchtigen gesund machen, und zwar so, daß sie es wahrnehmen. Das sollte Mr. Trelig den Rest geben. Aber ich erhalte vielleicht nicht die Gelegenheit dazu.«

»Es besteht also Gefahr?«fragte sie.

»Trelig hat Ihnen das mit der markovischen Stabilität erklärt. Er hat von der Möglichkeit eines markovischen Zentralgehirns irgendwo gesprochen, das alle Wirklichkeit aufrechterhält. Wenn ich die Einstellung umkehre, besteht theoretisch eine gute Möglichkeit, daß Neu-Pompeii, während es sich im Feld befindet, in der Primärgleichung nicht existiert. Ich habe diese leichte Zugkraft bei Versuchspersonen unter dem Spiegel gespürt. Die Zugkraft auf eine Masse von diesem Umfang mag vielleicht nicht beherrscht werden können, weil meine Energie begrenzt ist, oder es mag auf jeden Fall mehr Zeit erfordern, als uns zur Verfügung steht, ihr entgegenzuwirken.«

Mavra Tschang dachte angestrengt nach, konnte der Logik aber nicht ganz folgen und sagte es.

Obie antwortete:»Nun, es besteht eine Chance von neunzig Prozent oder mehr, daß eine von zwei Möglichkeiten eintritt. Entweder werden wir alle aufhören, zu existieren, werden wir jemals existiert haben — was auf jeden Fall das gegenwärtige Problem lösen wird —, oder wir werden augenblicklich zu dem zentralen markovischen Gehirn gezogen, das sich fast mit Sicherheit nicht innerhalb von einem Dutzend Galaxien in unserer Umgebung befindet. Ich meine Galaxien, Bürgerin Tschang, nicht Sonnensysteme. Es besteht eine Wahrscheinlichkeit, daß in diesem Augenblick die Bedingungen für das Leben auf Neu-Pompeii aufhören werden zu existieren.«

Mavra nickte grimmig.

»Es besteht auch die Möglichkeit, daß du damit zusammenstoßen wirst. Du könntest das große Gehirn und alle Existenz damit vernichten!«

»Diese Möglichkeit besteht«, räumte Obie ein,»aber ich schätze sie gering ein. Das markovische Gehirn hat im endlichen Raum lange Zeit bestanden; es besitzt ungeheures Wissen, Ressourcen und Schutzmechanismen, davon bin ich überzeugt. Es besteht eine gleiche Möglichkeit, daß ich es ersetzen werde — und das beunruhigt mich am meisten, weil ich nicht genug weiß, um ganz Neu-Pompeii zu stabilisieren, geschweige denn das ganze Universum. Eine unserer Theorien besagt, daß die Markovier genau das vorhatten. Es sollte die Wirklichkeit aufrechterhalten, bis eine neue, frischere Rasse erscheint, um ihm eine neue Richtung zu geben. Die Aussicht erschreckt mich, aber es handelt sich natürlich nur um eine Theorie mit ganz geringem Wahrscheinlichkeitsfaktor. Nein, vieles spricht dafür, daß morgen mittag ich und ganz Neu-Pompeii auf die eine oder andere Weise aufhören werden zu existieren.«

»Warum sagst du mir das?«fragte Mavra dumpf.

»Wenn ich registriere, registriere ich alles«, erklärte der Computer.»Da Erinnerung von chemischer Art ist und von einer mathematischen Beziehung mit selbsterzeugter Energie abhängt, wußte ich gestern, als ich Sie registrierte, was Sie wissen, besitze ich Ihr ganzes Wissen, Ihre ganze Erinnerung. Von allen sind — bis jetzt — allein Ihnen die einzigen Eigenschaften eigen für eine geringe Chance davonzukommen.«

Mavras Herz zuckte.

»Das Schwamm-Lieferschiff wird Ihren Anforderungen nicht genügen«, sagte Obie.»Im Cockpit gibt es kein Lebenserhaltungssystem. Sie haben jedoch die Möglichkeit, an Bord eines der beiden Raumschiffe zu gelangen, die derzeit auf dem Raumflughafen stehen. Ich werde Sie jetzt programmieren, Ihnen alle Einzelheiten über Neu-Pompeii geben, wie ich sie besitze, alle Informationen, die Sie brauchen. Ich werde Sie außerdem leicht verändern, Ihnen eine Sichtweite und -schärfe geben, die mechanische Linsen und Batterien überflüssig macht. Kleine Drüsen, die Sie bald besitzen werden, machen Ampullen mit Chemikalien überflüssig; die Finger Ihrer rechten Hand werden aus nahezu unsichtbaren natürlichen Injektoren das stärkste hypnotische Mittel injizieren können. Ihre linke Hand wird ein anderes Gift erzeugen; eine Berührung, und sie wird für eine Stunde lähmen; zwei Berührungen, und sie wird jeden bekannten Organismus töten. Ich werde außerdem unsichtbar Ihr Gehör steigern und unsichtbar Ihre Muskelkraft neu gestalten, damit Sie viel schneller und viel kräftiger sind — so verfügen Sie über eine beispiellose Beherrschung Ihres Körpers. Der Gebrauch aller dieser Verbesserungen wird völlig natürlich für Sie sein.«

»Aber warum?«fragte sie.»Warum tust du das für mich?«

»Nicht für Sie«, sagte der Computer mit einem traurigen Unterton.»Der Preis, der Ihnen auferlegt wird, ist eine Forderung, etwas, das Sie tun müssen, oder Sie können nicht fort von hier. Sie müssen die erste Hälfte Ihres Auftrages erfüllen. Sie müssen Nikki Zinder mitnehmen, oder Sie bleiben bei uns. Und euch beide begleitet ein zusätzliches Geschenk.«

Mavra nickte betäubt.

»Außerdem befindet sich in Ihrem Gehirn ein kostbares Geheimnis. Es gibt ein wirksames Mittel gegen den Schwamm. Es wird einen Süchtigen nicht heilen, aber den mutierten Schwamm im menschlichen Körper für dauernd zum Stillstand bringen. Es wird Nikki retten und Tausende von anderen ebenfalls. Sie müssen es zu höheren Stellen bringen.«

»Ich will es versuchen.«

»Vergessen Sie nicht«, sagte Obie,»die Einschaltung ist für dreizehn Uhr Standardzeit vorgesehen. Wenn Sie aus diesem Traum erwachen, wird es vier Uhr sein. Ich kann nicht zögern, wenn ich Aussicht auf Erfolg haben will. Sie müssen bis dahin mindestens ein Lichtjahr von hier entfernt sein, zusammen mit Nikki. Alles darunter bezieht Sie noch mit ins Feld ein. Das heißt, daß Sie nicht später als elf Uhr dreißig starten dürfen. Wenn Sie abgehoben haben, wenn Nikki an Bord ist, erhalten Sie den Code, den Sie brauchen, um die Schutzschaltungen zu umgehen. Wenn Nikki nicht an Bord ist, bekommen Sie ihn nicht. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe«, antwortete sie grimmig.

»Nun gut, Mavra Tschang. Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte Obie.»Sie haben Kräfte und Fähigkeiten, von denen andere nicht zu träumen wagen. Lassen Sie mich oder sich selbst nicht im Stich.«

Mavra Tschang erwachte.

Sie schaute sich in der Dunkelheit um und versuchte klar zu sehen. Plötzlich war alles scharf und deutlich zu erkennen, obwohl es offenkundig noch dunkel war. Sie drehte sich ein wenig auf den Rücken und spürte immer noch den Schweif.

Das und ihre unglaubliche Nachtsicht verrieten ihr, daß alles wahr war, was sie geträumt hatte. Sie war jetzt im Besitz anderer Tatsachen — sie kannte Anlage und Aufbau von Neu-Pompeii bis in die letzte Einzelheit.

Sie konzentrierte sich. Sie wußte nicht, wie sie tat, was sie tat, oder nach welchen Prinzipien das ablief, aber sie wußte, wie es zu geschehen hatte. In genau drei Minuten kam sie aus der Trance und schaute zu der kleinen Kamera hinauf. Sie war auf sie gerichtet, wie sie natürlich auf dem Bett lag. Es war eine Automatik, die ihren Bewegungen folgen mußte.

Sie rollte sich blitzschnell vom Bett und blieb einen Augenblick liegen. Auf den Stiefeln zu landen, war unbequem, aber es verging noch eine halbe Minute, bis sie wieder auf das Bett hinaufzublicken wagte.

Die Kamera war immer noch auf die Bettmitte gerichtet und warum auch nicht? Da lag die nackte Gestalt Mavra Tschangs, samt Schweif und allem, und schlief friedlich.

Mavra staunte, obwohl sie wußte, daß sie ein Hologramm vor sich hatte. Es war von ihrem eigenen Geist hervorgebracht worden und von ihrem Körper neu hinzugefügten Kräften, die sie nicht verstand. Sie hatte aber nicht die leiseste Ahnung, wie so etwas möglich war. Es spielt keine Rolle, dachte sie praktisch. Die Tatsache, daß die Illusion bis zu sechs Stunden hielt, war das einzig Wichtige.

Der Pullover war kein Problem, aber das Trikot erwies sich als ernsthaftes Problem. Es war nicht für einen Schweif geschaffen. Sie überlegte kurz, was sie tun sollte, dann entdeckte sie, daß das Kleidungsstück nicht nur gewaschen, sondern auch geändert worden war. Zur Änderung gehörte ein Loch, durch das der Schwanzknochen paßte und durch das man daher den dicken, drahtigen Schweif leicht schieben konnte.

Der gute alte Trelig, auf alles eingestellt, dachte sie ironisch.

Nur die Stiefel blieben ein Problem. Sie wollte sie nicht zurücklassen. Sie konnte sie aber nicht anziehen, bis sie das Hauptgebäude verlassen hatte. Es blieb nichts anderes übrig, als sie zu tragen.

Sie erschienen viel leichter, und sie überlegte kurz, ob man sich daran auch vergriffen haben mochte, vergewisserte sich aber in kurzer Zeit, daß das nicht der Fall gewesen war. Was konnte die Veränderung dann erklären? Plötzlich fielen ihr Obies Worte ein: Sie war um vieles kräftiger als vorher.

Sie verließ das Zimmer auf dieselbe Weise wie in der Nacht zuvor. Gesicht und Hände waren geschwärzt.

Sie holte ihre Pistole, die sich zu ihrer Erleichterung am alten Platz befand, steckte sie in das Halfter und schlüpfte hinaus. Der Sprint zum Ausgang fiel ihr leichter; sie war nicht sicher, ob sie nicht einen neuen Rekord aufgestellt hatte.

Sie benützte das zweite Saugkügelchen, nachdem sie zuerst die Stiefel hinuntergeworfen hatte. Sie unten anzuziehen, ließ sie mehr als nur körperlich größer werden; sie fühlte sich stärker und unbesiegbar.

Ihre Augen paßten sich allen Erfordernissen an, stellte sie fest. Sie sah ohne Rücksicht auf die Helligkeit perfekt und scharf. Sie sah die Dinge auch ein wenig anders; andere Farben, weit außerhalb des menschlichen Spektrums, verliehen allen Dingen ein neuartiges Aussehen. Auch die Schärfe und Auflösung machten sie staunen; bis Obie das Problem gelöst hatte, war ihr nicht klar gewesen, daß sie kurzsichtig zu werden begann.

Auch ihr Gehör hatte sich auffallend verbessert. Sie hörte Insekten im Gras und in den Bäumen und konnte sie unterscheiden. Sie konnte Gesprächsfetzen hören, von Leuten, die weit entfernt waren, ihre Stimmen und Bewegungen. Der Hintergrundlärm, zu dem mehr Ultra- und Unterschall-Laute gehörten als normal, störte, aber sie stellte fest, daß sie, wenn sie sich bemühte, einen Teil davon ausschalten konnte.

Sie huschte schnell und lautlos durch das Gelände, das ihr jetzt so vertraut war, als wäre sie hier geboren und aufgewachsen.

Sie hatte keinen Chronographen, der ihr die verbleibende Zeit gesagt hätte. An ihrem Gürtel gab es einen für sechzig Minuten, der sich einschalten ließ, aber sie verzichtete darauf. Sie war unterwegs, so schnell sie konnte; wenn sie es nicht schaffte, halfen ihr alle Chronometer der Welt nicht.

Sie erreichte das Aufseherquartier ohne Zwischenfall, aber hier würde es brenzlig werden. Zwei Aufseher würden Dienst haben, vier weitere einsatzbereit sein. Sie waren, ohne daß sie es ahnten, alle von Obie registriert worden, so daß Mavra sie alle erkannte, ihr Aussehen, ihre Stärken und Schwächen kannte.

Sie waren alle schwammsüchtig. Es gab drei Männer — zwei mit den körperlichen Eigenschaften überentwickelter Frauen, aber mit intakten Genitalien, und einen, den der Schwamm in einen gorillaähnlichen Muskelmann verwandelt hatte. Die anderen waren Frauen — drei mit vollkommen männlichen Attributen, außer an der Stelle, wo es zählte, die übrigen mit kraß übertriebenen weiblichen Merkmalen. Jene, die, wie Nikki, anders auf die Überdosis reagierten, wurden nicht für den Wachdienst eingesetzt.

Am Gebäude verriet Mavras neue Gehörschärfe, daß niemand am Eingang war. Mavra lief hinein, hinunter zur Wäschekammer und auch dort hinein. Obwohl sie den Code für den Aufzug jetzt kannte, beschloß sie, ihn nicht zu benützen, wenn es nicht sein mußte. Das Gebäude hatte drei Tiefetagen, jede zehn Meter hoch — diese Entfernung fiel also kaum ins Gewicht.

Mavra erforschte den übrigen Teil des Gebäudes. Zwei Wachen — die sie nicht kannte — befanden sich mit den Kameramonitoren in der Waffenkammer. Bis an die Zähne bewaffnet, würden sie schnell reagieren. Zwei andere schliefen im zweiten Stockwerk. Sie waren unbewaffnet, aber gefährlich genug, und wenn der Alarm ausgelöst wurde, konnte Mavra nicht feststellen, wo sie sich befinden würden. Sie beschloß, das Risiko einzugehen.

Sie bog ihr neues Giftsystem und sah die bewußte Muskelkontraktion, die notwendig war, damit ein winziger Tropfen Gift die Nagelspitzen erreichte. Befriedigt schlich sie in den Raum, wo die zwei Aufseherinnen auf ihren Betten lagen und fest schliefen. Eine schnarchte laut.

Mavra handelte schnell, fast ohne nachzudenken, jagte zuerst in die still Schlafende Gift aus den Fingern ihrer rechten Hand, bevor sie sich umdrehte und in den Arm der Schnarchenden stach. Es war unfaßbar, aber beide wurden nicht wach.

Sie beugte sich über eine der Frauen und flüsterte:»Du wirst tief und fest schlafen, schöne Dinge träumen, und nichts, weder Person noch Geräusch, soll dich wecken.«

Bei der anderen machte sie es genauso.

Das würde reichen, bis das Gift seine Wirkung verlor.

Dann ging sie zur Waffenkammer. Die Tür wäre nur mit einer Tonne Sprengstoff aufzubrechen gewesen, war aber vom Inneren her binnen Sekunden zu öffnen.

Mavra zog ihre gestohlene Pistole und feuerte auf das Schloß einen anhaltenden Feuerstoß, der die harte Oberfläche wellig machte. Darauf war sie konstruiert; die stärksten Energiewaffen verstärkten die Türpanzerung noch, indem eine weichere Außenschicht den Sperrmechanismus verschloß. Wunderbar, wenn man Schmuck und Kunstwerke verwahrte; schrecklich, wenn sich jemand im Inneren befand. Bevor die beiden herauskonnten oder jemand einzudringen vermochte, würde Trelig seinen eigenen Tresor sprengen müssen.

Zufrieden ging Mavra durch den Korridor und tastete den Code für Nikki Zinders Zimmer ein.

Die Tür ging auf. Nikki lag auf dem Bett.

Mavra konnte kaum reagieren, bevor ein Betäubungsstoß sie erstarren ließ.

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