Die Durchquerung dauerte, wiewohl ohne Zwischenfälle, drei kostbare Tage. Sie flogen über rauhe See in Tuliga und hatten den Wind fast ständig gegen sich.
Sie blieben in sicherer Höhe, um nicht das Risiko einzugehen, daß irgendeiner der dunkeln Umrisse im Wasser hochfuhr und sie packte. Es wurde friedlicher, als sie die Grenze von Galidon erreichten, aber die Atmosphäre wirkte dort ein wenig sonderbar, und sie hielten auf die Landspitze zu, die eine von Olborns sechs Spitzen auf der Seite Tuligas bezeichnete.
Olborn selbst schien eine willkommene Erleichterung zu bieten — solide aussehend, zumeist Küstenebenen, ein wenig kalt, aber sie hatten warme Kleidung mitgebracht.
Sie warteten, bis es dunkel wurde, bevor sie am Strand landeten. Sie hatten beschlossen, dort zu kampieren, mit der Möglichkeit zur schnellen Flucht. Die mächtige Doma versteckten sie so gut, wie es ging.
Keine Straßen führten zur Küste hinab. Bei Meeresnachbarn wie Galidon kam ihnen das nicht merkwürdig vor.
Es war eine klare Nacht; über ihnen zeigte sich der spektakuläre Himmel der Sechseckwelt in seiner ganzen Pracht, und im Norden bedeckte eine silberne Scheibe einen Teil des Horizonts.
Es war das erstemal, daß sie im richtigen Augenblick beim richtigen Wetter in der richtigen Position waren, um Neu-Pompeii zu sehen. Sie starrten den Asteroiden stumm und nachdenklich an.
»So nah, so verdammt nah«, murmelte Mavra schließlich. Man hatte beinahe das Gefühl, hingreifen und ihn berühren zu können. Sie dachte an die armen Menschen, die dort inzwischen wohl hatten sterben müssen, und an den freundlichen, fast menschlichen Computer Obie, der ihr zur Flucht verholfen hatte. Sie wollte dorthin zurück und schwor sich, das eines Tages auch zu bewerkstelligen.
Sie legten sich schlafen. Obwohl die Lata Nachtwesen waren, schliefen sie ebenfalls, denn die Reise war lang und anstrengend gewesen. Natürlich wechselten sich Wachen ab.
Mavra hatte die zweite Wache. Sie saß da, schaute hinaus auf die ein wenig rauhe See, hörte das Rauschen der Brandung und betrachtete den Himmel. Ab und zu blickte sie zu den Schlafenden hinüber.
Sie dachte darüber nach, was die Sechseckwelt für sie bedeutete. Sie war ein Abenteuer, eine Herausforderung, aber nicht ihr Element. Eines Tages durch den Schacht zu gehen und als ein anderes Wesen herauszukommen — es würde keine Rolle spielen. Der Schacht veränderte einen nicht innerlich, nur physiologisch. Sie wollte wieder hinaus zu den Sternen.
Ihre Gedanken wurden durch schwache Geräusche in nicht sehr weiter Entfernung unterbrochen. Sie lauschte aufmerksam. Es schien sich etwas zu nähern.
Sie überlegte, ob sie die anderen wecken sollte, verzichtete aber darauf. Die Geräusche hatten aufgehört. Trotzdem wollte sie ihnen nachgehen. Ein Schrei von ihr würde die anderen ohnehin sofort aus dem Schlaf reißen.
Lautlos schlich sie dorthin, wo sie die Geräusche zuletzt gehört hatte. In der Nähe einer Flußmündung gab es ein paar Bäume; von dort mußte es gekommen sein. Sie huschte zu den Bäumen, hörte auf ihrer rechten Seite wieder etwas, duckte sich hinter einen Busch und schaute hinaus.
Dort sah sie einen seltsamen, großen Vogel. Sein Leib glich dem eines Pfaus, der Kopf war eine runde Kugel, aus der ein Schnabel ragte, der Ähnlichkeit mit einem winzigen Nebelhorn hatte. Die Augen waren rund und gelb und spiegelten das Sternenlicht wider. Es war also ein Nachtwesen. Sie atmete erleichtert auf, und der Vogel mußte sie gehört haben. Er drehte sich um und sagte ziemlich laut und ein wenig grob: »Bwock wok!«
»Selber bwock wok«, flüsterte Mavra und wollte zum Lager zurückgehen.
Die Bäume explodierten. Große Körper sprangen überall herab, einer davon direkt auf sie.
»Renard!«kreischte sie. »Vistaru!«
Aber das war alles, wozu ihr Zeit blieb. Irgend etwas schien ihren Kopf einzuhüllen und ihr Bewußtsein auszulöschen.
Doma zuckte zusammen, und die drei anderen fuhren bei den kurzen, abgehackten Schreien hoch.
Renard sah sie, als die Lata hochstiegen; große Gestalten, die sie aus den nahen Bäumen überfielen. Er hatte Doma beinahe erreicht, als eine von ihnen, viel größer und mit dichterem Pelz als er, mit Augen, die gelbschwarz leuchteten, ihn packte.
Das war ein Fehler.
Es knisterte, der Olbornier schrie auf, und es roch nach verbranntem Haar und Fleisch. Ein anderer versuchte Domas Zügel zu ergreifen, aber das Pferd wich zurück, während Renard in den Sattel sprang. Der Olbornier fauchte und fuhr herum, um Renard zu packen.
Der Agitar sah ein großes, schwarzes Katzengesicht mit unheimlich glühenden, geschlitzten Katzenaugen, und er berührte eine behaarte Klauenhand mit drei Fingern und dem Daumen.
Was den Olbornier in den Katzenhimmel schickte.
Doma brauchte kein Stichwort. Das riesige geflügelte Pferd donnerte den Strand hinunter, stieß schwarze Gestalten um, die nicht rechtzeitig auswichen, und erhob sich in die Luft.
Die Lata, deren Stacheln eine Gasse gebahnt hatten, flogen zu ihm.
»Wir müssen Mavra finden!«schrie Renard.»Sie haben sie!«
»Bleib hier!«rief Hosuru.»Wir wissen nicht, was sie haben, und können uns nicht leisten, Doma zu verlieren! Wir jagen ihr nach, und wenn wir sie nicht befreien können, bleibt eine von uns bei ihr, während die andere Sie holt!«
Es blieb Renard nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Weder er noch Doma konnten nachts so gut sehen wie die Lata.
Die beiden Lata entdeckten in der Dunkelheit eine Art Wagen hinter dem Fluß, der auf großen hölzernen Rädern rollte, gezogen von acht winzigen eselartigen Wesen. Vier Olbornier, bewaffnet mit Projektilpistolen, standen auf Trittbrettern, zwei andere lenkten das Fahrzeug, einer hatte ein Gewehr in den Händen. An der Art, wie der Fahrer die Peitsche schwang, erkannten die Lata, was sich im Wagen befinden mußte.
»Wir können nichts anderes tun, als dem verdammten Ding zu folgen«, fluchte Vistaru.»Renard kommt schon zurecht.«
Der Wagen fegte über das Gras, bis er eine glatte, geteerte Straße erreichte und nach Osten davonfuhr. Er war nicht übermäßig schnell, und die Lata hatten keine Schwierigkeiten, ihm unbemerkt zu folgen.
»Wir könnten sie totstechen«, sagte Vistaru.
»Wieviel hast du noch?«knurrte Hosuru.»Ich habe dreimal zugestochen und bin fast trocken.«
Sie betrachteten die Olbornier und ihren Wagen. Die Wesen waren ungefähr einsachtzig groß, rundum mit schwarzem Pelz bedeckt, aber sie trugen auch Kleidung, weite, schwarze Hosen und ärmellose Hemden mit hellen Säumen und eingewebtem Abzeichen in der Mitte. Sie hatten lange, schwarze Schwänze und glatte Katzenleiber, aber ihre Arme und Beine waren muskulös, und sie gingen offenkundig auf natürliche Weise zweibeinig und aufrecht.
Die kleinen Packesel, deren Hinterbeine höher waren als die vorderen, wurden unbarmherzig vorangepeitscht. Sie waren ganz offensichtlich zu klein und zu wenige für die Last, die sie zu ziehen hatten, aber sie schafften es.
Schließlich bogen sie in einen großartigen Besitz ein, einen grandios aussehenden Palast, dessen hufeisenförmige Einfahrt von Fackeln beleuchtet war; Fackeln brannten auch an den Türen, die von Wachen mit Gewehren gesichert wurden. Der Wagen hielt, und die Olbornier sprangen herunter. Eine Tür zum Gebäude öffnete sich, zwei von den Wesen stiegen heraus und zogen etwas Schwarzes und Großes heraus.
Es war Mavra Tschang, und sie schien so steif wie ein Brett zu sein.
»Ist sie tot?«fragte Hosuru dumpf.
Vistaru schüttelte den Kopf.
»Nein, dafür sind sie zu vorsichtig. Vermutlich betäubt.«
»Was tun wir?«
»Du verständigst Renard. Ich halte hier Wache und versuche zu beobachten, wo sie Mavra hinbringen. Morgen früh, wenn Renard ganz frisch ist, holen wir sie heraus.«
Mavra kam langsam zu sich, schaute sich um und entdeckte, daß sie nicht den Kopf, sondern nur die Augen bewegen konnte.
Sie stand aufrecht, an eine Wand gelehnt. Sie glaubte sich an Händen und Füßen gefesselt, war sich dessen aber nicht sicher.
Sie strengte sich an, etwas zu erkennen, aber das Mittel war zu stark. Der Ort war ein Stall, in dem es nach tierischen Exkrementen und verfaulendem Stroh roch, und an den Wänden hing seltsames Zaumzeug.
Es gelang ihr, für einen Augenblick eines der Tiere zu sehen. Sie sahen aus wie Miniatur-Maultiere. Schwarze Nase, große, kantige Schnauze, mit Ohren, die für den Kopf viel zu groß zu sein schienen, ein sehr langer Hals an einem kleinen Körper, hohe Hinter- und kurze Vorderbeine.
Und traurige, große, braune Augen.
Drei Olbornier kamen herein, zwei in schwarzgoldener Livree, der dritte mit einer Art Krone und einer langen Goldkette, an der ein sechseckiger Anhänger befestigt war. Seine Kleidung war scharlachrot, mit weiten, goldenen Hosen. Er war alt und hatte Spuren von Grau im schwarzen Fell.
»So, Spionin!«sagte er zu Mavra.»Wach, wie? Gut.«Er wandte sich an seine Begleiter.»Kümmert euch. Wir müssen uns beeilen. Ihre Begleiter werden versuchen, sie zu befreien.«
Mavra empfand Erleichterung; die anderen drei waren also entkommen. Und sie war überzeugt davon, daß man sie herausholen würde. Man brauchte sie.
Sie kam sich vor wie eine Marionette mit Drähten im Körper, so daß man diesen in jede gewünschte Stellung bringen konnte. Man setzte sie auf eines der kleinen Maultiere, in einen einfachen Sattel. Der große Mann führte das Tier hinten hinaus in einen dunklen Hain.
Vistaru, die darüber schwebte, bemerkte es beinahe nicht. Sie sah nur ganz kurz Mavra und ihre drei katzenartigen Bewacher hinaushuschen und in den Wald laufen. Sie folgte ihnen und versuchte vorauszudenken.
Nach ungefähr zweitausend Metern tauchte eine Lichtung auf, wo ein großes Steinbauwerk aus den Felsen herausgemeißelt zu sein schien. Dort standen zwei Wachen, die an einem sechseckigen Eingang gerade Fackeln entzündet hatten. Kein Zone-Tor, entschied Vistaru. Das hatte hier jemand gebaut.
Sie versuchte sich darüber klarzuwerden, woran sie der Ort erinnerte, und plötzlich hatte sie es. Ein alter Tempel. Ein Altar. Opferdienst?
Sie fegte sofort zurück zu Renard und Hosuru. Es galt, keine Zeit zu verlieren.
Man hob Mavra an der sechseckigen Öffnung vom Maultier und trug sie hinein. Dort befand sich eine Kammer, die Vergrößerung einer natürlichen Kalksteinhöhle. In dem breiten Gang, der zur Kammer führte, loderten Fackeln.
Es war ein Tempel, kein Zweifel. Es gab einen Bereich, wo die Betenden sich aufhalten konnten, ein Geländer, dann auf beiden Seiten eines großen gelben Steinblocks, der aus dem Felsen zu ragen schien, Tische. Der Tempel besaß zahllose Facetten, die im Fackelschein glitzerten. An beiden Wänden waren in massivem Gold sechseckige Symbole befestigt.
Der Hohepriester — denn jetzt erwies sich, daß er das war ging voraus und zündete kleine Kerzen in sechsarmigen Leuchtern an. Dann trat er hinter das Geländer und nickte den Wachen zu. Sie brachten Mavra zu ihm.
»Ausziehen«, zischte der Priester, und die Wachen rissen ihr die Kleider vom Leib. Es war plötzlich kalt.
Sie stand nackt vor dem gelben Steinblock.
Die Wachen warfen die Kleidung über das Geländer, dann trat der Priester auf sie zu. Seine gelben Katzenaugen glühten im Fackelschein auf unheimliche Weise.
»Spionin«, sagte er kalt,»du bist vom Hohen Priesterrat des Heiligen Schachts für schuldig befunden worden.«
Er bewegte die rechte Hand, und sie konnte ihren Kopf wieder bewegen. Sie befeuchtete die Lippen, wußte aber schon, daß sie sprechen konnte.
»Ich hatte nicht einmal einen Prozeß, das wissen Sie«, sagte sie heiser.»Ich hatte keine Gelegenheit, mich zu äußern.«
»Ich habe nicht gesagt, daß du vor Gericht gestellt würdest, sondern daß du für schuldig befunden worden bist. Es gibt keine mildernden Umstände. Im Norden pochen Heiden an unsere Tür, Heiden töten brutal und auf grausame Weise Zehntausende von Auserwählten des Schachts im Süden. Jetzt kommst du. Du bist gewiß nicht von den Olborniern. Ebensowenig kommst du auf Einladung oder mit Erlaubnis des Hohen Priesterrates. Du bist eine Spionin, und so frage ich dich: Kannst du deine Unschuld auf irgendeine Art schlüssig beweisen?«
Was für eine einseitige Frage! dachte sie. Beweise, daß du nicht gelächelt hast. Beweise, daß du deine Mutter nicht getötet hast, die der Gerichtshof nicht kennt.
»Sie wissen, daß niemand einen negativen Beweis erbringen kann«, gab sie zurück.
Er nickte.
»Versteht sich. Aber es gibt einen endgültigen Schiedsrichter.«
»Sie wollen mich töten?«
Der Priester sah sie entsetzt an. Mavra fragte sich, warum sie früher Katzen gemocht hatte.
»Natürlich töten wir nicht, außer in Notwehr. Alles Leben kommt vom Heiligen Schacht und darf nicht leichthin genommen werden. Da du im Gegensatz zu deinen Begleitern kein Leben genommen hast, könnten wir dir das deine nicht nehmen.«
Das gab ihr ein wenig Hoffnung.
»Der Schacht hat in Seiner unendlichen Weisheit und Barmherzigkeit unter den Olborniern eine gerechtere Methode des endgültigen Urteilens geschaffen — endgültig, absolut und schlüssig. Der Stein, vor dem du stehst, ist einer von sechs Steinen an den sechs Ecken von Olborn. Er ist Beweis für die Bevorzugung Olborns durch den Heiligen Schacht. Seine Kraft kommt aus dem Schacht selbst. Was er tut, kann nie ungeschehen gemacht werden.«
Sie erschrak. Sie dachte an Renard, der in ein anderes Wesen verwandelt worden war. Was konnte dieser Stein bewirken?
»Der Schacht sah in Seiner unendlichen Weisheit, daß Sein auserwähltes Volk in einem rauhen Land war, reich, aber ohne Lasttiere, die ihm hätten helfen können, das Land zu bestellen, die Lasten zu schleppen, die Wasserräder zu drehen. So haben wir die Heiligen Steine. Wenn ein Missetäter, ob ein fremder oder ein olbornischer, beschuldigt wird, bringt man ihn vor einen der Hohen Priester des Heiligen Schachts und dann in seiner Begleitung zum Heiligen Stein. Bist du unschuldig, dann wird dir nichts geschehen. Du darfst frei deiner Wege gehen, geschützt vom Siegel des Heiligen Schachts. Bist du aber schuldig, dann wird er dir die wunderbarste Gerechtigkeit zuteil werden lassen.«Er machte eine Pause.»Du hast den Detik gesehen, auf dem man dich hergebracht hat?«
Sie dachte kurz nach. Die kleinen Maultiere mit den großen Ohren und den traurigen Augen.
»Ja«, sagte sie.
Wo, zum Teufel, blieben Renard und die Lata?
»Sie sind geschlechtslos, freudlos. Völlig gehorsam, sind sie unfähig, irgend jemandem etwas anzutun, und müssen allen Befehlen gehorchen. Bist du schuldig, dann wirst du dich in einen Detik, ein Tier, verwandeln, das dazu verurteilt ist, für den Rest seines Lebens in stummer Arbeit den Olborniern zu dienen.«
Sie starrte ihn ungläubig an.
»Sie meinen, die Maultiere — sie alle — waren einmal Leute?«
Der Priester nickte.»So ist es.«Er wandte sich an die Wachen.»Haltet ihre Arme fest.«
Dann trat er näher auf Mavra zu. Sie spürte, wie ihre Arme an den Handgelenken festgehalten wurden. Der Priester bewegte die Arme, und sie spürte, daß sie ihren ganzen Körper wieder bewegen konnte.
»Führt ihre Hände an den Heiligen Stein!«befahl der Priester mit hallender Stimme. Die kraftvollen Arme überwanden ihren Widerstand und drückten ihre Hände auf den facettierten gelben Stein.
Etwas, das wie ein starker, brennender Elektroschock wirkte, fuhr durch ihre Arme zu den Schultern. Die Wirkung war so stark und schmerzhaft, daß sie aufschrie und sich zurückwarf.
»Das war Mavra!«rief Vistaru.
»Schnell! Beeilt euch!«schrie sie Hosuru und Renard zu.
Im Inneren der Kammer schien der Priester zu lächeln. Er sagte noch einmal:»Hin mit ihr!«
Diesmal drang der heftige Stoß von ihren Hüften zu ihren Zehen und endete seltsamerweise in ihren Ohren. Wieder kreischte sie und versuchte sich loszureißen.
»Erneut!«befahl der Priester, aber in diesem Augenblick griffen Lata und Agitar an, und Renard stieß markerschütternde Schreie aus, die grauenhaft von den Steinwänden widerhallten.
Der Priester fuhr entsetzt herum. Wie viele Fanatiker hatte er es nicht für möglich gehalten, jemand könne in sein Allerheiligstes eindringen, und er stand wie erstarrt. Die beiden Wachen ließen Mavra los und fuhren herum. Sie hatten zum Glück keine Pistolen, trugen aber Stahlschwerter, die sie herausrissen.
»Lauf, Mavra!«schrien Renard und Vistaru.»Schau, daß du wegkommst! Wir machen das schon!«
Der erste Bewacher stürzte sich auf Renard, das Schwert erhoben.
Renard lächelte grimmig und stieß mit dem Taster zu. Funken flogen, der Bewacher schrie auf und stürzte zu Boden.
Vistaru, die noch etwas Gift in sich hatte, fegte auf den anderen zu und begann plötzlich zu leuchten, um ihn abzulenken. Der Bewacher ließ sich aber nicht beirren. Er stieß mit dem Schwert zu.
Und verfehlte.
Vistaru schwang sich in der Luft herum, stieß ihren Stachel in seinen Bauch und stemmte sich ab. Der Bewacher schrie auf, dann schien er zu erstarren und brach zusammen.
Mavra spürte den kalten Stein unter sich, als die Wachen sie losließen. Ihr ganzer Körper prickelte, und sie konnte nicht klar denken, hörte aber Renards Rufe und ergriff die Flucht. Eine nackte, halb betäubte Mavra Tschang würde im Kampf nicht viel ausrichten können.
Sie war schwindlig und schien nicht aufstehen zu können, so daß sie auf allen vieren davonkroch. Ihr Kopf wirkte schwer; sie konnte ihn nicht heben, sah jedoch genug, um den Ausgang zu erreichen.
Sie wollte schnell kriechen, konnte den Kopf aber nicht hoch genug heben; ein Nerv am Hinterkopf folterte sie, und ihr Haar hing vorne herunter. Indes, sie erreichte die Stufen und huschte hinunter, vorbei an den toten Wachen unter den noch brennenden Fackeln. Draußen war Dunkelheit, und dort wollte sie hin.
Sie kroch ins Gebüsch, bevor sie keuchend anhielt und den Kopf zu heben versuchte. Es ging nicht.
Als sie wieder Luft bekam, wurde ihr Kopf klarer. Es war dunkel, aber Obie hatte ihr Sehvermögen für die Nacht gegeben. Immer noch auf allen vieren, preßte sie das Kinn an ihre Brust und versuchte sich selbst in Augenschein zu nehmen. Ihr Haar fiel gerade hinab.
Ihr schmaler, biegsamer Körper war unverändert, ihre kleinen Brüste hingen herab und wirkten ein wenig schwer.
Meine Arme! dachte sie plötzlich in Panik. Was haben sie mit mir gemacht?
Sie hatte keine Arme mehr. Sie hatte Vorderbeine — dünn und mit einem Kniegelenk, das sich nur in einer Richtung beugen ließ. Das Bein führte hinab zu einem dicken Huf aus weißlichgrauem Material wie Fingernägel. Sie hatte keine Behaarung; die Beine waren von derselben Fleischfarbe wie ihr Körper, die Haut sah nach wie vor menschlich aus. Aber sie waren die Beine eines kleinen Maultieres.
Sie blickte seitlich an sich hinab, sah, was sie erwartet hatte, und seufzte. Jetzt begriff sie, warum sie nicht von allen vieren hochkonnte und warum sie den Kopf nicht richtig zu heben vermochte. Die Vorderbeine waren gute zwanzig Prozent kürzer als die Hinterbeine. Beim Maultier glich der lange Hals das aus, bei menschlichem Kopf und Hals war das nicht möglich.
Renard und die beiden Lata kamen aus der Höhle. Sie hörte sie mehr, als sie sie sah, und rief ihnen nach kurzem Zögern. Sie stürzten hin.
»Mavra, du hättest das Gesicht von dem Alten sehen sollen, als —«, begann Renard fröhlich, als sie aus dem Gebüsch in das Fackellicht kam. Sie hielten alle drei den Atem an und gafften mit offenen Mündern. Zum erstenmal konnten sie sehen, was die Olbornier aus Mavra Tschang gemacht hatten.
Man nehme einem Frauenrumpf zuerst Arme und Bein weg und lege ihn dann waagrecht, die Hüften ungefähr einen Meter hoch, die Schultern achtzig Zentimeter. Anschließend bringe man an den Hüften zwei passende Maultier-Hinterbeine an, an den Schultern zwei kürzere Vorderbeine. Man verzichte auf Tierbehaarung oder tierische Haut — man belasse alles menschlich, den Rumpf genau angepaßt, mit Ausnahme von harten, nagelähnlichen Hufen an allen vier Füßen, man entferne schließlich die menschlichen Ohren und ersetze sie durch große, fast einen Meter lange Eselsohren, auch diese aus demselben menschlichen Körpergewebe. Dann lasse man das Haar der Frau über dem Rücken zu einer dichteren Mähne derselben Haarfarbe weiterverlaufen, am Rückgrat entlang bis etwa dorthin, wo an der Unterseite die Brüste hängen. Und da der Leib sonst nicht verändert worden ist, vergesse man nicht, Mavras Pferdeschweif am Ende der Wirbelsäule herauswachsen zu lassen, über den Hüften, knapp vor den Hinterbeinen, und ihn über das After zu legen.
In den anderen stiegen Tränen des Mitleids hoch.
»Guter Gott!«war alles, was Renard sagen konnte, und verfluchte sich sofort im stillen dafür.
Mavra drehte den Kopf zur Seite, um ihn anzusehen. Ihre Haare hingen weit über ihr Gesicht herunter. Ihre Stimme war die gleiche geblieben, aber ihre Augen sagten, daß etwas anderes in ihr war.
»Ich weiß«, sagte sie.»Ich habe begriffen. Die kleinen Maultiere, die sie haben — sie machen sie mit dem Stein, den sie haben, aus Leuten. Ich habe ihn zweimal berührt. Sagt — ist sonst noch etwas verändert?«
Renard unterdrückte die Tränen, setzte sich zu ihr und beschrieb ihr alles, einschließlich der Ohren und des Schweifs.
Das Seltsame war, sie sah fremdartig und exotisch aus, fanden sie alle, für Renard beinahe erotisch. Sie war ein sonderbares und nicht unattraktives kleines Wesen, das Mitleid und Zuneigung erregte. Aber es war doch ein unpraktisches, mißgestaltetes Wesen, einzigartig auf einer Welt mit 1560 Rassen.
»Vielleicht sollte ich noch einmal hineingehen und die Verwandlung ganz durchführen«, sagte sie und hoffte, daß die Heiserkeit und Schwere ihrer Stimme nicht verriet, was sie wirklich empfand.
»Das würde ich nicht tun«, widersprach Vistaru leise und mitfühlend.»Haben Sie gesehen, wie sie mit den Maultieren umgehen? Der Geist wird dann auch beeinflußt. Sie wären ein Tier, so gut wie tot.«
»Wartet!«stieß Renard plötzlich hervor.»Das ist nicht für immer!«
»Der Priester sagte, es sei nicht mehr ungeschehen zu machen«, erklärte Mavra hoffnungslos.»Er sagte es so begeistert, daß ich ihm glaubte.«
»Nein, nein! Sie sind noch nicht durch den Schacht gegangen!«
»Der Priester sagte, die Macht des Steines komme vom Schacht.«
»Das ist wahr«, warf Vistaru ein,»aber das gilt für alles auf der Sechseckwelt. Warum es den Stein gibt und er das bewirken kann, werden wir vermutlich nie wissen — er ist ein Ersatz für etwas, das sie auf ihrem eigenen Planeten bewältigen müßten, mehr nicht. Sie sind immer noch nicht klassifiziert und in den Schacht eingegeben, also werden die Veränderungen durch den Stein darauf keine Auswirkung haben.«
Mavra verspürte wieder Hoffnung.
»Nicht für immer«, murmelte sie leise und atmete tief ein.
»Nicht für immer«, bestätigte Renard.»Hören Sie, wollen Sie gleich zu einem Zone-Tor? Nicht zu dem von Olborn, natürlich, aber wir können sicher anderswo hinein. Wir können Sie genauso hindurchschicken, wie Sie mich hindurchgeschickt haben.«
Mavra schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, nein, noch nicht. Später, ja. So schnell wie möglich. Aber die Sechsecke der Umgebung sind im Krieg. Dieses Sechseck ist im Krieg. Das ist etwas für normale Zeiten. Wir müssen nach Gedemondas.«
»Das kann ich machen«, sagte Vistaru.
Mavra schüttelte wieder den Kopf.
»Nein. Ihr wißt nicht, wie die Antriebskapsel aussieht oder wie man sie zerstören kann. Außerdem habe ich noch nie einen Auftrag zurückgegeben. Man wollte mich dabeihaben, und ich habe zugestimmt. Danach — ein Zone-Tor — vielleicht in Gedemondas, wenn man überhaupt mit uns spricht, oder in Dillia daneben.«
»Seien Sie vernünftig, Mavra«, sagte Renard.»Sehen Sie sich an. Sie sehen keine drei Meter weit. Sie können sich nicht selbst ernähren, Sie sind splitternackt, ohne Schutz gegen die Elemente, in einem Gebiet, dessen Bewohner Sie sofort zum Stein zurückbringen würden, um die Verwandlung zu vollenden.«Er stand auf, sah auf sie hinunter und zog den Pferdeschweif ein wenig weg.»Sie werden sogar Toilettenprobleme haben. Ihre Vagina ist da, wo Ihr Hintern sein sollte, und der Hintern ist weiter oben. Die menschliche Anatomie ist für Sitzen oder Hocken gedacht. Diese Beine sind nichts für Ihren Körper. Sie können nicht weitermachen!«
Sie versuchte, ihn direkt anzusehen, gab es aber auf. Es war zu schmerzhaft.
»Ich gehe«, sagte sie störrisch.»Mit euch, wenn ihr mich mitnehmt. Ohne euch, wenn nicht. Wenn Sie wollen, können Sie mein Führer und Gehilfe sein, wenn ich weit sehen oder essen muß, und Sie können mich saubermachen, wenn ich kacke. Wenn nicht, gehe ich trotzdem, und ich schaffe es. Ich lasse mich nicht aufhalten.«
»Sie hat recht, wißt ihr«, meinte Hosuru leise.»Wenigstens darin, daß der Auftrag Vorrang hat. Die ganze Welt steht in Gedemondas auf dem Spiel. Sie wird dort gebraucht. Wenn wir sie hinbringen können, ist es unsere Pflicht, es zu versuchen.«
»Also gut«, sagte Vistaru zweifelnd zu Mavra.»Wenn Sie stur bleiben, gehen wir alle. Aber ich glaube, ein, zwei Tage in diesem neuen Zustand werden Sie eines Besseren belehren. Wenn es so kommen wird, schämen Sie sich bitte nicht, zu verlangen, daß wir Sie zu einem Zone-Tor bringen. Ich würde es auch tun.«
»Wo sind meine Sachen?«erwiderte Mavra sachlich.»Wir müssen trachten, daß wir weiterkommen.«
Renard hob die Hände.
»Ihre Sachen habe ich. Wir werden ja sehen. Also los.«
Seine Stimme klang resigniert und verständnislos.
Er kann es nicht verstehen, dachte Mavra. Keiner kann es.
Offenbar war der Schock für die Olbornier zu groß. Es gab keine Verfolgung.
Mavra entdeckte, daß sie traben konnte wie die kleinen Maultiere. Die linken Beine vor, abstoßen, die rechten Beine vor, abstoßen, und immer wieder, schneller und schneller. Sie hatte in den Hufen keinerlei Gefühl, was nützlich war, aber die bloße Haut war eben bloße Haut. Die Lata flogen voraus und sagten ihr, was im Weg war, damit sie nicht an Bäume prallte.
Bis zum Morgen waren sie ein gutes Stück weitergekommen. Renard bestieg Doma, die er geführt hatte, und sie erkundeten das Gelände. Es war klar, daß es nicht so schwierig sein würde, wie sie befürchtet hatten.
Sie blieben in freier Landschaft, die jetzt fast ganz verlassen war, da alle im Süden kämpften oder die Heiligen Steine und das Zone-Tor bewachten.
Domas Packtaschen waren im Lager nicht abgenommen worden, so daß sie noch alle ihre Vorräte besaßen. Zuerst aßen sie; für Mavra war es ein demütigendes Erlebnis, an das sie sich erst gewöhnen mußte. Man begann damit, sie zu füttern, aber sie wehrte sich. Man tat ihr Essen schließlich in eine Holzschüssel, sie stellte sich auf die Hinterbeine, kniete auf den Vorderbeinen und konnte so essen wie ein Hund oder eine Katze. Es war mühsam; die dünnen Beine waren an den Knöcheln noch dünner, sie bewegten sich vor, nicht zurück, und die verdammte Holzschüssel rutschte immer wieder weg, aber Mavra kam zurecht, und es schmeckte ihr gut. Wasser trank sie auf zweierlei Art: schlabbernd wie ein Tier oder indem sie das Gesicht in den Topf steckte und die obere Hälfte wegtrank.
Aber es ging, und das genügte ihr.
Vistaru band ihr Haar zwischen und hinter den riesigen Ohren mit einem Elastikband zusammen. Mavra konnte dadurch sogar geradeaus blicken, wenn sie sich auf die Vorderbeine stellte und sich hinten niederließ. Auch das war unbequem, aber es störte sie nicht.
Die Kleidung war ein größeres Problem, das nicht zu umgehen war. In Olborn war es kühl, und in den Höhen von Gedemondas würde es eisig kalt werden.
Sie schnitten die Ärmel von ihrem Hemd ab und vermochten es ihr überzustreifen. Die Hose war problematischer, und sie reichte nicht ganz aus, aber Vistaru schnallte den breiten Gürtel um ihren nackten Bauch, und das half. Es sah falsch und albern aus, die Hose rutschte, aber es war immerhin etwas und tat gut. Der lange, für Gedemondas geschneiderte Mantel würde den unmöglichen Schweif bedecken, hofften sie. Abgeschnittene Handschuhe konnten im Schnee von Gedemondas vielleicht dazu beitragen, die Haut zu schützen.
Mavra fühlte sich besser. Hindernisse waren dazu da, um überwunden zu werden.
Das Schlafen erforderte den ärgsten Kompromiß; die Tierbeine waren für das Schlafen im Stehen gedacht, der menschliche Körper aber nicht, und auf dem Bauch konnte sie nicht mehr liegen. Sie legte sich auf die Seite.
Inzwischen verlief der Krieg für Olborn immer schlechter. Sie sahen Flüchtlinge und Militärstreifen, aber mit den letzteren wurden das Gift der Lata und Renards starke Ladung fertig.
Trotzdem kamen sie nur langsam voran, und sie befaßten sich damit, Mavra und Renard zusammen auf Doma unterzubringen. Das Problem waren die riesigen Flügel, die nicht behindert werden durften.
Schließlich ergaben Experimente einen Kompromiß, den Doma und die Praxis akzeptieren konnten. Man verzichtete auf nicht unabdingbare Vorräte, und die Lata trugen in ihren Beuteln, soviel sie konnten. Das Gewicht würde sie behindern, aber auch Doma würde behindert sein. Wenn man die Instrumente entfernte — Renard bestand darauf, daß das erfolgte, da er sie ohnehin nie benützt hatte —, konnte Mavra mit gespreizten Beinen auf Domas Hals sitzen, Renard unmittelbar hinter ihr.
Sie wurde angeschnallt, und Doma kam zurecht. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, daß Doma niederknien und die anderen drei mithelfen mußten, um Mavra überhaupt hinaufzubringen.
Aber endlich konnten sie fliegen, und die Entfernungen schmolzen zusammen. Sie mieden die Ecke des Hexagons, wo andere Priester-Fanatiker lauern mochten, und erreichten Palim.
Die Bewohner des Sechsecks betrachteten sie nervös, griffen aber nicht an. Die Palim hatten große Ähnlichkeit mit langhaarigen Riesenelefanten, doch ihre Form täuschte. Sie waren hochtechnologische Leute, und sie hielten sich aus dem Krieg heraus.
Trotz der Behinderung gelangte der Trupp in knapp zwei Tagen an die Grenze von Gedemondas. Es gab keinen Zweifel daran, wo sie waren; die hohen Berge des kalten Hexagons waren von der Ebene aus schon von weitem zu sehen, wie eine gigantische Mauer. Sie flogen ein paar Stunden herum, bis sie die relativ kleine Ebene in Gedemondas selbst fanden. Es war der logische Ort für den Aufmarsch der beiden Armeen. Als sie eintrafen, gab es dort nur kleinere Wildtiere.
Sie waren die ersten — aber mit welchem Vorsprung?
Sie studierten die Karten. Es lag nahe, daß die Makiem über Alestol fliegen würden, vermutlich zu der Stelle, wo sie sich jetzt befanden. Die Yaxa würden das Schienensystem der Palim benutzen und dreißig Kilometer über Land zum Nordrand der Ebene vorstoßen. Renard fragte sich nebenbei, ob es für die beiden Armeen genug Platz geben würde.
»Es wird eine gewaltige Schlacht werden«, prophezeite Mavra grimmig.»Wenn eine Seite vor der anderen ankommt, wird die andere versuchen müssen, sie zu vertreiben. Wenn sie gleichzeitig eintreffen, kommt der Zusammenprall eben früher, und das Gebiet hier wird das Niemandsland sein.«
»Der Karte nach gibt es drüben bei dem Einschnitt in den Felsen einen kleinen Unterschlupf«, sagte Vistaru.»Da sollen wir unseren Führer treffen, wenn noch jemand da ist.«
Mavra versuchte hinüberzublicken, aber ihr Kopf ließ sich nicht hoch genug heben. Zwei oder drei Meter, weiter sah sie nicht. Sie fluchte gereizt, aber ihre Entschlossenheit minderte sich nicht.
Auf der Ebene herrschten etwa fünfzehn Grad Celsius, was erträglich war, aber so warm würde es nicht lange bleiben. Auf je dreihundert Meter Höhe sank die Temperatur um fast zwei Grad, und manche der Bergpässe lagen über dreitausend Meter hoch.
Sie gingen gemächlich zum Unterschlupf und verfehlten ihn beinahe. Es war eine niedrige Hütte aus alten Steinen und Holz am Fels, so alt und verwittert, daß sie beinahe ein Teil der natürlichen Formationen zu sein schien. Sie sah verlassen aus, trotzdem gingen sie vorsichtig darauf zu.
Plötzlich öffnete sich knarrend die hohe Tür, und ein Wesen kam heraus.
Es sah beinahe aus wie eine menschliche Frau. Lange Haare, hinten zu einer Art Pferdeschwanz zusammengebunden, ein attraktives, ovales Gesicht und lange, schlanke Arme. Aber sie hatte kleine, spitze Ohren und von den Hüften abwärts, unter der leichten Jacke, den Körper eines schwarzweiß gefleckten Pferdes.
Eine Zentaurin, dachte der gebildete Renard schon lange nicht mehr verwundert. Einem solchen Wesen zu begegnen, war nicht mehr seltsam, man hatte beinahe schon damit rechnen können.
Die Frau lächelte, als sie die anderen sah, und winkte.
»Hallo!«rief sie mit angenehmer Sopranstimme.»Kommt herauf! Ich hatte euch fast schon aufgegeben!«
Vistaru erwiderte erstaunt:»Sind Sie unser Führer aus Dillia?«
Die Dillianerin war noch ein Mädchen, vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahre alt.
Sie nickte.
»Ich bin Tael. Kommt herein, ich mache ein kleines Feuer an.«
Sie betraten die Hütte. Tael warf einen verwunderten Blick auf Mavra, sagte aber nichts. Doma wartete draußen und tat sich an Gras gütlich.
Die Hütte war für Dillianer gebaut — es gab stallähnliche Boxen für vier von ihnen, am Boden Stroh und auf Ziegelsteinen einen kleinen Ofen. Tael zündete ein Feuer an.
Dillianer setzten sich nie; ihre Körper konnten das nicht aushalten. Die anderen ließen sich auf dem Stroh nieder, und Mavra lehnte sich auf die Seite. Platz gab es genug.
»Ah, entschuldigen Sie, Tael«, sagte Renard nach den ersten Bemerkungen,»aber sind Sie nicht ein bißchen jung für das alles?«
»Ich gebe zu, daß ich erst fünfzehn bin, aber ich bin im Gebirge von Dillia geboren. Meine Familie hat seit langer Zeit auf beiden Seiten der Grenze gejagt und Fallen gestellt. Ich kenne jede Fährte und jeden Weg hier.«
»Und die Gedemondas?«fragte Mavra.
»Sie haben mir nie etwas getan«, entgegnete Tael achselzuckend.»Ab und zu sieht man sie — große, weiße Gestalten vor dem Schnee. Nie aus der Nähe. Wenn man hinkommt, sind sie immer fort. Manchmal hört man sie auch knurren und brüllen und alle möglichen seltsamen Laute erzeugen, die von den Bergen widerhallen.«
»Ist das ihre Sprache?«fragte Vistaru.
»Das glaube ich nicht. Ich habe es früher auch gedacht, aber man hat mir einen Übersetzer-Kristall eingesetzt, und ich kann keinen Unterschied feststellen. Ich frage mich manchmal, ob sie überhaupt eine Sprache haben, so wie wir das verstehen.«
»Das könnte schlecht sein«, meinte Renard.»Wie kann man mit jemandem reden, der nicht zu antworten vermag?«
Tael nickte.
»Ich bin immer noch ganz aufgeregt. Wir haben immer wieder versucht, mit ihnen in Verbindung zu treten, und ich möchte dabeisein, wenn es gelingt.«
»Falls es gelingt«, sagte Hosuru pessimistisch.
»Ich mache mir Sorgen wegen dem Rauch aus dem Ofen«, bemerkte Mavra.»Nicht die Gedemondas ängstigen mich, sondern die Kriegführenden. Sie müssen in der Nähe sein.«
»Ich habe sie schon gesehen«, erklärte Tael,»aber sie haben mich nur scharf beobachtet und sind weitergezogen. Ein paar fliegende Pferde wie das Ihre, und sehr seltsame, schöne Wesen mit drei Meter langen Schmetterlingsflügeln. Gelandet ist niemand.«
»Yaxa und Agitar«, sagte Vistaru besorgt.»Späher. Wir können nicht lange hierbleiben.«
»Nein«, meinte auch Tael.»Wenn es hell wird, steigen wir den Bergweg hinter der Hütte hinauf. Mit etwas Glück erreichen wir am frühen Nachmittag Lager 43, und von dort kommen wir in den Schnee — und die Luft wird dünn.«
»Wie hoch liegt das Lager?«fragte Renard.
»1562 Meter«, erwiderte Tael.»Aber ihr seid schon fast vierhundert Meter hoch. Man sieht es der Ebene nicht an, daß sie ansteigt.«
»So weit könnten wir hinauf fliegen«, sagte Vistaru.»Wir kommen bis auf etwa achtzehnhundert Meter hinauf, und Doma schafft das auch, glaube ich.«
»Das hilft aber unserer Führerin hier nicht. Sie hat keine Flügel«, gab Renard zu bedenken.
Tael lachte.
»Das macht nichts. Ich sagte schon, daß ich im Gebirge aufgewachsen bin. Es ist sogar noch besser, wenn wir einen Vorsprung bekommen, doch nach Lager 43 wird es mit dem Fliegen schwierig. Ich kann heute abend losgehen und euch am Morgen dort treffen.«Sie sah Mavra an.»Aber Sie werden sich ganz anders anziehen müssen. Ihr alle. Erfrierungen sind die große Gefahr.«
»Wir haben Wintersachen«, erwiderte Hosuru.»Und Sie sollten, wurde uns gesagt, auch etwas mitbringen.«
Tael nickte, ging zu einer Box und zog schwere Säcke heraus, ohne sich anstrengen zu müssen. Sie brachte die Sachen zum Vorschein: Wärmeanzüge, eigens für die Lata angefertigt, mit durchsichtigen, aber festen und starren Schutzverkleidungen für die Flügel, einen dicken Mantel und Handschuhe für Renard.
»Das werden Sie auch brauchen können«, sagte sie und warf ihm kleine Gegenstände hin, die sich als Umkleidungen für seine Hufe erwiesen, mit einer flachen, scheibenförmigen Dornensohle, damit er sich in Schnee und Eis besser halten konnte. Sie holte noch mehr Kleidung heraus, größere und ohne Flügelschutz. Sie blickte ein wenig betroffen. Diese Stücke waren offenkundig für Zweibeiner mit Händen und Füßen vorgesehen.
Mavra erklärte hastig, was geschehen war. Das Mädchen nickte mitfühlend.
»Ich wüßte aber nicht, wie man nun die Sachen verwenden könnte«, sagte sie.»Mit den Füßen müßten Sie, wie ich, im Schnee zurechtkommen, aber Sie brauchen etwas um den Körper, weil Sie nicht meine schützende Hautschicht und Behaarung haben.«
»Wir werden tun, was wir können«, erwiderte Mavra.»Renard wird Doma führen müssen, wenn wir oben sind. Ich reite auf ihr, solange es geht. Das sollte uns helfen.«
Renard ging zur Tür und schaute zum Himmel hinauf. Keine Spur von fremden oder feindseligen Wesen, ein paar träge Vögel, das war alles. Aber er fragte sich, wie weit die Armeen entfernt sein mochten.