Selbst zu Fuß sind zwanzig Kilometer eigentlich gar nicht so weit wenn man weiß, wohin man will. Aber der Sonnenaufgang am zweiten Tag hatte dichtes Gewölk gebracht, das die Sonne völlig verbarg. Die ganze Nacht hindurch war fernes Trommeldröhnen zu hören gewesen, Botschaften, die in einer unverständlichen Sprache durch das ganze Sechseck gingen.
Mavra Tschang vermutete, daß es sich um Spekulationen über die fremden, kleinen Wesen handelte, die mit einer Art fliegender Maschine abgestürzt waren und nun irgendwo im Land herumliefen.
Wenigstens regnete es nicht; dafür waren sie dankbar. Aber es blieb den ganzen Tag dunkel und dräuend. Sie konnten die Sonne nicht sehen und die Richtung nicht an ihr bestimmen. Sie wußte nicht, wohin sie unterwegs waren. Natürlich hatte sie die östliche Richtung eingeschlagen, aber der Wald war dicht, sie mußten Wiesen und Wege meiden, und wer wußte, ob sie noch auf dem richtigen Pfad waren?
Das einzig wirklich Erfreuliche waren die Äpfel gewesen. Wenigstens sahen sie wie Äpfel aus, auch wenn sie auf Sträuchern wuchsen und eine seltsame purpurrote Haut hatten. Fast verzweifelt hatte sie das Risiko auf sich genommen. Die großen Nagetiere fraßen die Früchte unbekümmert, und sie ließ sich davon anregen. Nikki war trotz der Appetitzügler immer noch die Hungrigste, und man hätte sie wohl ohnehin nicht mehr lange zügeln können. Mavra ließ das Mädchen eine Frucht essen. Sie wußte, daß sie eigentlich ein paar Stunden warten sollten, aber als sie erklärte, der Apfel sei süß und schmackhaft und leicht zu kauen, wurde die Versuchung für Mavra zu groß.
Der zweite Tag war viel erträglicher gewesen als der erste. Trotzdem ließ Mavras Unbehagen nicht nach. Auch die beiden anderen hatten inzwischen die Riesenzyklopen gesehen, die Handkarren auf den Wegen schleppten und Herden von Tieren hüteten, die wie gewöhnliche Schafe aussahen.
Große Veränderungen waren bei den beiden Schwammsüchtigen noch nicht zu erkennen, aber Mavra wußte, daß das täuschte. Im normalen Gespräch gab es wenig Unterschiede zwischen einem IQ von 100 und einem solchen von 150. Es stand außer Frage, daß Nikki schneller verkommen würde; sie war knapp über dem Durchschnitt, kein Genie.
Als es am Ende des zweiten Tages dunkel wurde, waren die Berge noch immer nicht zu sehen, und die Landschaft schien sich kaum verändert zu haben. Die Luft war kühl, und es nieselte leicht.
Nikki schlief, wie gewohnt, als erste. Sie saß eine Weile mit Renard zusammen und wußte wenig zu sagen. Er hatte den Arm um sie gelegt und preßte sie an sich, aber das war kein Versuch, romantisch zu werden.
Schließlich sagte er:»Mavra, glauben Sie wirklich, daß das alles einen Sinn hat? Wir beide wissen, daß wir nicht einmal eine Ahnung haben, wo wir sind oder was hinter dem nächsten Hügel liegt oder ob es nicht derselbe Hügel ist, den wir schon einmal überstiegen haben.«
»Alles hat einen Sinn, bis man tot ist«, erwiderte sie gereizt.
»Glauben Sie wirklich? Ist das nicht nur zur inneren Aufmunterung?«
Sie starrte in die Dunkelheit.
»Ich bin von einer rauhen Frachterpilotin aufgezogen worden. Wohl nicht die ideale Mutter, aber sie hat mich auf ihre Weise geliebt, und ich liebte sie. Ich bin im Weltraum aufgewachsen, das große Frachtschiff war mein Spielplatz, alle paar Wochen kamen neue Häfen, glitzernd und aufregend.«
»Muß einsam gewesen sein«, meinte er.
»Nein, gar nicht. Für mich war das ja normal. Und es hat mich gelehrt, allein sein zu können. Das war wichtig, weil meine Mutter viele illegale Dinge trieb. Das machen die meisten Frachterkapitäne, aber bei ihr muß es sehr bedeutsam gewesen sein. Die Kom-Polizei faßte sie, und das Schiff wurde beschlagnahmt. Ich war damals dreizehn und kaufte gerade in den Läden am Raumflughafen ein. Ich konnte nichts tun, mich nicht einmal zeigen. Also blieb ich auf Kaliva.«
»Hatten Sie nie Schuldgefühle, weil Sie nicht versucht haben, sie herauszuholen?«
»Nein, ich glaube nicht. Ich hatte natürlich alle möglichen Ideen, aber ich bekam keine Chance, sie auszuführen. Es ging alles viel zu schnell. Nein, ich war allein.«
»Ihrem Ton nach mögen Sie die Kom-Welten nicht sehr, wie?«
»Man hat meine Familie ermordet«, zischte sie.»Ich war kaum älter als fünf Jahre, aber ich erinnere mich an sie. Ich erfuhr später von Maki, meiner Stiefmutter, wie alles gewesen war. Sie heuerten einen Raumfahrer an, der mich fortschaffen sollte, weil sie sahen, daß sie selbst nicht mehr wegkamen, als ihre Welt in den Kom-Verband ging. Ich erinnere mich seltsamerweise nach all den Jahren noch immer an den Piloten. Ein seltsamer kleiner Mann in farbenfroher Kleidung mit mächtiger Stimme, teilweise recht zynisch, aber er hatte eine Sanftheit und Güte an sich, die zu verbergen er verzweifelt bemüht war, ohne daß es ihm gelungen wäre. Seltsam — ich bin mir nicht einmal sicher, wie er hieß, und ich war mit fünf Jahren nur einige Tage mit ihm zusammen, aber er ist für mich so real wie meine Stiefmutter. Ich vertraute ihm einfach, ich weiß selbst nicht, warum. Ich bin nie mehr einer solchen Person begegnet.«
»Haben Sie je versucht, ihn zu finden?«fragte Renard.
»Ich hatte in den folgenden Jahren zuviel damit zu tun, am Leben zu bleiben«, erwiderte sie achselzuckend.»Bis ich die Mittel dazu besaß, war er wohl schon tot. Ich muß zugeben, daß eine Reihe von Leuten ihn nach meiner Beschreibung zu erkennen schien, aber es gab nichts Greifbares. Manche sagten, ich spräche von einer Legende, einem mystischen Raumschiffkapitän, der nie existiert habe, eine epische Gestalt, wie es sie in vielen Berufszweigen gibt. Einmal bin ich einem Kapitän begegnet, einem alten Veteranen, der erklärte, den Mann gäbe es wirklich irgendwo, und er sei sehr alt, angeblich unsterblich, zurückreichend bis in die Vorgeschichte.«
»Und wie heißt diese Legendengestalt?«
»Nathan Brazil. Ist das nicht ein seltsamer Name? Irgend jemand sagte, Brazil sei der Name eines vorgeschichtlichen Ortes, einer der frühen Raumfahrtmächte.«
»Der Ewige Jude«, murmelte Renard.
»Wie?«
»Eine uralte Legende bei einigen der früheren Religionen«, sagte er.»Es gibt, glaube ich, noch ein oder zwei christliche Planeten. Sie sind die Nachkommen einer noch obskureren und älteren Religion, des Judaismus. Die gibt es noch, diese Leute — irgendwo verstreut. Wahrscheinlich traditionell die größte Bin —«Er verstummte und sah sie betroffen an.»Bin —«
»Bindekraft?«sagte sie.
»Das ist es. Warum ist mir das Wort nicht eingefallen?«Er ging nicht weiter darauf ein, aber Mavra hatte ein unheimliches Gefühl. Eine Kleinigkeit, aber bedeutsam.
»Jedenfalls gab es diesen Mann, der jüdisch war und behauptete, Gottes Sohn zu sein. Deshalb töteten ihn die damaligen Machthaber, weil sie befürchteten, er könnte eine Revolution anzetteln. Angeblich soll er von den Toten auferstanden sein. Ein Jude soll ihn bei seiner Hinrichtung verflucht und erfahren haben, er werde am Leben bleiben, bis dieser Gott-Mensch wiederkehre. Dieser Nathan Brazil hört sich an wie die Modernisierung dieser Legende.«
Sie nickte.
»Ich habe an diese Dinge nie geglaubt, nicht an Unsterbliche, die Raumschiffe steuern, aber viele Raumfahrer, die an nichts anderes glauben, halten das für wahr.«
»Das erklärt vielleicht, was mit Ihnen geschehen ist«, sagte Renard lächelnd.»Wenn die Legende weit verbreitet ist, dann könnte vielleicht jemand, der ihn kannte, ihn imitieren und die anderen Raumfahrer davon überzeugen, er sei diese legendäre Gestalt. Sie würden für ihn Dinge tun, die ein anderer nicht erwarten könnte.«
»Ich weiß nicht, vielleicht haben Sie recht. Aber an dem Mann war wirklich etwas Besonderes, das ich nicht erklären kann.«
»Sie waren fünf Jahre alt«, sagte er.»Da hat man oft merkwürdige Eindrücke.«
Mavra wollte das Gespräch abbrechen, weil es sie bedrückte, aber auch weil Renard Schwierigkeiten zu haben schien, bestimmte Worte zu finden. Er sprach auch langsamer und bedächtiger als früher.
Er schien jedoch auf die Unterhaltung Wert zu legen, also war es wohl das Beste, wenn sie einen Großteil des Gespräches bestritt.
»War das nicht sehr schwer, mit dreizehn Jahren schon allein zurechtkommen zu müssen?«fragte er.
»Doch. Ich saß auf einer fremden Welt, sah aus wie eine Achtjährige, hatte nur ein paar Münzen und kannte nicht einmal die Sprache der Straße. Wenigstens war es keine Kom-Welt. Ich benützte mein letztes Geld dazu, einem kleinen Mädchen die Kleidung abzukaufen, die ganz schmutzig und zerfetzt war. Ich sah aus wie eine richtige Gassengöre. Dann machte ich mich an die Arbeit. Ich bettelte und verdiente nicht schlecht.«
»Keine Probleme mit Vergewaltigung oder Banden?«fragte er erstaunt.
»Eigentlich nicht. Ich hatte ein paarmal Schwierigkeiten, aber es kam immer jemand daher, oder ich konnte fliehen. Und die Bettler halten zusammen, wenn man erst einmal in die Bruderschaft aufgenommen ist. Ich wohnte schließlich in einer alten Hütte vor der Stadt.«
»Wie lange ging das so?«
»Über drei Jahre. Es war kein schlechtes Leben. Man gewöhnte sich daran. Und ich wuchs auf, entwickelte mich ein wenig und träumte. Jeden Tag ging ich zum Raumflughafen, sah mir die Schiffe an und guckte in die Kneipen der Raumfahrer. Ich wußte, wo ich hinwollte, und mir wurde auch klar, daß ich mit dem Betteln zwar mein Leben fristen konnte, aber nie fortkommen würde. Manche Raumfahrer warfen mit dem Geld nur so um sich, weil sie außer dem Schiff kein Zuhause hatten.«
Renard war entsetzt.
»Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie —«
»Ich war zu klein, um Kellnerin zu werden, und ich konnte nicht über die Bar greifen«, sagte sie achselzuckend.»Tanzen lernte ich nie richtig, ich war nicht gebildet und konnte mich in Gesellschaft nur schlecht bewegen. Ich redete wie eine Werftratte. Ich hatte nur eines zu verkaufen, und ich lernte, es richtig zu verkaufen. Männer, Frauen, einmal, zweimal, zehnmal in der Nacht, wenn es ging. Nach einer Weile wurde es ziemlich langweilig, und das Ganze bedeutete überhaupt nichts, aber du lieber Himmel, wie strömte das Geld!«
Er sah sie betroffen an.
»Jetzt können Sie sich aber sehr gut ausdrücken«, meinte er verlegen.
»Und Sie sagten, Sie wären Pilotin. Haben Sie genug Geld verdient, um das alles nachzuholen?«
Sie lachte trocken.
»Nein, nicht damit. Ich lernte einen Mann kennen — einen sehr guten und sanften Mann, der Frachterkapitän war. Er kam regelmäßig zu mir. Ich mochte ihn. Er hatte Eigenschaften wie der Retter, von dem ich vorhin erzählt habe. Er war laut, wild, zynisch, haßte die Kom-Welten und war so tapfer wie kein zweiter. Ich glaube, ich wußte, daß ich ihn liebte, daß ich froh war, wenn er kam, was ich bei den anderen nie erlebt hatte. Als ich dahinterkam, daß er oft Umwege machte, um mich zu sehen, wurde unsere Beziehung noch enger. Und er hatte sein eigenes Schiff, die ›Assateague‹, ein wirklich gutes, schnelles, modernes Raumschiff.«
»Das ist eigentlich ungewöhnlich, nicht?«meinte Renard.»Ich meine, solche Schiffe sind für Konzerne, nicht für einzelne Personen gedacht. Ich habe nie gehört, daß ein Kapitän sein eigenes Schiff hatte.«
»Es ist ungewöhnlich, gewiß«, gab sie zu.»Ich kam erst später dahinter, als er mich bat, mitzukommen, er könne sich die dauernden Abstecher nicht leisten. Das hatte ich mir immer gewünscht, also tat ich es natürlich. Und dann mußte er mir sagen, warum er so viel Geld hatte. Er war ein Dieb.«
Renard mußte lachen.
»Was hat er gestohlen und bei wem?«
»Alles, bei jedem«, sagte sie.»Der Frachter war Tarnung und sorgte für Beweglichkeit. Juwelen, Kunstwerke, Gold, Silber, was Sie wollen. Wenn es wertvoll war, stahl er es. Bei reichen Leuten, Konzernchefs, Parteiführern auf Kom-Welten. Manchmal unternahm er Einbrüche, manchmal machte er es mit Elektronik und intimer Kenntnis der Bürokratie. Nachdem wir uns zusammengetan hatten, wurden wir ein Team. Er kaufte alle möglichen Lehrmaschinen, Schlaflerngeräte, Hypnohilfen und dergleichen, und er schulte mich, bis ich gebildet sprechen und mich richtig benehmen konnte.«Sie kicherte.»Einmal brachen wir in den Zentralspeicher der Union Aller Monde ein, tauschten Chips aus und ließen drei Tage lang das Planetareinkommen automatisch auf Sonderkonten bei Konföderationsbanken überweisen. Man ist nie dahintergekommen.«
»Und was ist aus Ihrem Mann geworden?«fragte Renard.
Sie wurde ernst.
»Wir sind von der Polizei nie erwischt worden. Nie. Wir waren zu gut. Aber eines Tages holten wir uns zwei herrliche massiv goldene Figuren des alten Künstlers Sun Tat, und sie mußten einem großen Sammler verkauft werden. Das Treffen fand in einer Bar statt, und wir hatten keinen Grund, Verdacht zu schöpfen. Der Sammler war aber ein Strohmann für einen großen Syndikatsboß, den wir ein Jahr vorher ausgeraubt hatten, und das Ganze war abgekartet. Sie zerteilten ihn in kleine Stücke und ließen die Überreste neben den Figuren liegen.«
»Und Sie haben das Schiff geerbt«, riet Renard.
»Ja. Ungefähr ein Jahr zuvor hatten wir uns für alle Fälle zu einer traditionellen Zeremonie entschlossen. Er bestand darauf, und es war gut so. Ich war seine Alleinerbin.«
»Und seitdem sind Sie allein gewesen?«
Ihre Stimme klang kalt und ätzend.
»Ich habe ein halbes Jahr dafür aufgewendet, seine Mörder aufzuspüren. Sie sind alle gestorben — langsam. Jeder wußte, warum. Zuerst konnte sich der große Boß nicht einmal an ihn erinnern.«In ihren Augen standen Tränen.»Aber am Ende fiel es ihm wieder ein«, fügte sie befriedigt hinzu.»Seitdem habe ich sozusagen das Familiengeschäft fortgeführt. Ich habe für das Beste bezahlt, was die Unterwelt zu bieten hat, und mich in Topform gehalten. Chirurgen haben mich in eine tödliche kleine Waffe verwandelt und Dinge eingebaut, an die Sie im Traum nicht denken würden. Selbst wenn man mich je fassen sollte, würde man das, was ich Ihnen eben erzählt habe, auch selbst mit Tiefensonden nicht herausholen können.«
»Sie sind beauftragt worden, Nikki herauszuholen, nicht?«sagte er.
»Ja. Wenn man einen Gauner nicht erwischen kann, setz ihn dazu ein, andere Gauner zu fangen. Das war der Gedanke. Es hätte beinahe geklappt.«
Er gab einen Brummlaut von sich.
»Über mich gibt es eigentlich nichts zu sagen«, erklärte er leise.»Nichts Gewalttätiges oder Romantisches.«
»Sie sagten, Sie wären Lehrer gewesen«, meinte sie.
Er nickte.
»Ich komme von Moskowitien«, erwiderte er.»Eine Kom-Welt, ja, aber keine wirklich schlimme. Nichts von genetischer Manipulation. Traditionelle Familienstruktur und fünfmal am Tag Gebete — ›Es gibt keinen Gott außer Marx, und Lenin ist sein Prophet‹.«Er suchte merklich nach Worten. Sie fielen ihm schwer. Es schien ihm nicht aufzufallen.»Ich war begabt, also kam ich in die Schule. Etwas Nützliches interessierte mich aber nicht, deshalb studierte ich alte Literatur«— er sprach es aus, so gut er konnte —»und wurde Lehrer. Ich war immer ein wenig feminin, aber nicht innerlich. Man lachte mich oft aus. Das tat weh. Selbst die Schüler waren gemein, meist hinter meinem Rücken, aber ich wußte genau, was sie sagten. Ich mochte die Männer nicht, die andere Männer wollen, und die Frauen glaubten alle, ich wollte sie nicht. Ich zog mich in mich selbst zurück.«
»Warum nicht zum Psychiater?«
»Ich bin ein paarmal zu solchen Leuten gegangen«, antwortete er.»Sie redeten alle wildes Zeug, ob ich meinen Vater geliebt hätte und dergleichen mehr. Nichts wirkte. Ich wurde immer unglücklicher. Ich dachte an Selbstmord, aber das schienen die Untersuchungen ergeben zu haben, und die Polizei kam und holte mich. Ich kam in das politische Heim. Man schien das persönlich übelzunehmen, meinen Wunsch, mich umzubringen. Wenn ich versagt hatte, dann hatte das ganze System versagt, so ungefähr. Man überlegte, ob man mich löschen und zur Frau machen sollte, mit einer neuen Persönlichkeit.«
»Warum hat man Sie nicht einfach getötet, und aus?«fragte Mavra.»Das wäre billiger und einfacher gewesen.«
Er sah sie entsetzt an, dann dachte er an ihre Herkunft.
»Auf Kom-Welten tut man so etwas einfach nicht. Jedenfalls nicht auf Moskowitien. Nein, ich wurde dort lange festgehalten, ich weiß nicht genau, wie lange. Dann kam jemand und erklärte mir, ein hohes Tier wolle mit mir reden. Ich hatte keine Wahl, also ging ich hin. Er war von einer anderen Kom-Welt, einer ganz verkommenen — echter Hermaphroditismus, genetisch identische Menschen, darauf programmiert, ihre Arbeit zu lieben, und so weiter. Er sagte, er brauche — ausgerechnet! — einen Bibliothekar. Leute, die Bücher lesen konnten und mit ihnen vertraut waren, gab es selten, gewiß. Selbst Moskowitien hatte zweiundneunzig Prozent Anal-Nicht-Leser.«Wieder hatte er Schwierigkeiten mit den längeren Wörtern.
»Trelig«, sagte sie.
Er nickte.
»Genau. Ich wurde mit seinem Schiff nach Neu-Pompeii gebracht, bekam eine große Überdosis Schwamm und war süchtig. Meine Mädchenhaftigkeit verstärkte sich hundertfach, meine Züge und mein Körper wurden immer weiblicher, bis hin zu den Brüsten. Aber es war seltsam. Meine männlichen Organe wuchsen sogar noch, und im Kopf blieb ich ein Mann. Auf Neu-Pompeii hatte ich dann mein erstes sexuelles Erlebnis. Ich war auch wirklich sein Bibliothekar — und zugleich einer der Aufseher für besondere Gefangene wie Nikki. Alle Leute auf Neu-Pompeii hatten psychische Probleme irgendeiner Art und eine besondere Fähigkeit, die Trelig nutzen konnte. Er rekrutierte sein Personal bei den besten Anstalten im Kom-Verband.«
»Und hier sind Sie«, sagte sie leise.
»Ja, hier bin ich«, nickte er seufzend.»Als ich Ziggi niederschoß und Ihnen half, zu entkommen, fühlte ich, daß es die erste wichtige Tat in meinem Leben war. Ich kam mir beinahe vor, als wäre ich nur für diesen einen Augenblick geboren worden. Und jetzt sehen Sie sich an, in welcher Klemme wir sitzen.«
Sie küßte ihn sanft auf die Wange.
»Schlafen Sie, und machen Sie sich nicht so viele Sorgen. Ich habe noch nicht verloren — und wenn ich nicht, dann Sie auch nicht.«
Sie wünschte sich, daran glauben zu können.