Eine winzige Gestalt huschte am Felsen entlang, gefolgt von einer zweiten und einer dritten. In der Nähe schwebten andere auf lautlosen Schwingen.
»Da sind sie«, flüsterte eine und deutete hinunter auf Hütte und Karren, wo Mavra Tschang, Renard und Nikki Zinder in der Falle saßen.
»Erstaunlich, daß sie so weit gekommen sind«, wisperte eine andere.
Die erste nickte zustimmend. Im Gegensatz zu den Zyklopen verfügten sie über eine sehr gute Sehfähigkeit bei Nacht. Sie konnten zwar auch bei Tag sehen, wenngleich nur schwach, waren aber im Grunde Nachtwesen.
Sie blickten hinüber zu der Stelle, wo die beiden Riesen schnarchten.
»Wir müssen sie stechen, und zwar schnell«, sagte die Anführerin.»Mindestens jeweils zwei von uns für einen Zyklopen, wenn nicht mehr.«
»Wird das Gift wirken?«fragte eine andere.
»Ja. Ich habe vorher noch einmal nachgeschlagen.«
»Wenn hier nur Strahler funktionieren würden«, meinte die Zweiflerin.»Riskant ist es immer noch.«
»Du weißt, daß das ein Nicht-Tech-Hex ist. Es könnte sein, daß Zünderwaffen wirken, aber wir hatten keine Zeit, in Museen und bei Sammlern nachzuforschen. Also, Jebbi, Tasala und Miry, ihr nehmt den größeren, Sadi, Nanigu und ich den anderen. Vistaru, du nimmst Bahage und Asmaro mit und siehst, was du für die Gefangenen tun kannst. Die anderen halten sich in Bereitschaft. Greift da ein, wo es nötig erscheint.«
Sie nickten einander zu. Die Wesen am Felsen schwangen sich hinaus in die Luft, und sie teilten sich zu ihren Einsätzen auf.
Mavra Tschang schlief. Sie war hundertmal zu dem Gitter hinaufgeklettert und war jedesmal fast heruntergestürzt, bevor sie das schwere Ding auch nur einen Zentimeter zu bewegen vermochte. Sie hatte die anderen in Schlaf versenkt, um ihrem Jammern ein Ende zu machen, und war selbst eingeschlafen.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch, so, als sei etwas ziemlich Schweres auf dem Gitter gelandet. Sie starrte hinauf. Dort stand wirklich etwas Größeres.
»Mehensch? Hörst du mich, Mehensch?«flüsterte eine fremde Stimme. Sie war auf sehr exotische Weise akzentuiert, hoch und hell, die sinnliche Stimme einer kleinen Frau.
»Ich höre dich«, sagte Mavra Tschang halblaut.
»Wir schläfern die Großwesen ein«, erklärte das Wesen.»Macht euch bereit, daß wir euch herausholen.«
Mavra versuchte zu erkennen, wie das Wesen aussah, aber es war zu dunkel.
Plötzlich zerriß ein Brüllen die Stille. Der große männliche Zyklop war aufgewacht, fluchte fürchterlich und stieß dann einen Schmerzensschrei aus. Mavra hörte ein gewaltiges Krachen, als er zu Boden stürzte, seine Begleiterin lärmte ebenfalls und brach kurz danach zusammen.
Mavra Tschang fragte sich, was für Ungeheuer derart riesige und gefährliche Wesen so mühelos niederwerfen konnten.
Sie hörte sie in einer fremden Sprache, die aus hellen und leisen Glockentönen zu bestehen schien, miteinander reden, eine sehr schöne, aber gänzlich unmenschliche Sprache.
Das eine Wesen, das sich in der Konföderationssprache ausdrücken konnte, kehrte zurück.
»Mehensch, wie viele von euch sind da unten?«
»Drei!«rief Mavra hinauf.»Aber zwei sind im Betäubungsschlaf!«
Eine Gestalt, offenbar eine sehr kleine, beugte sich tiefer und blickte durch das Gitter.
»Ah, ja, jetzt sehe ich es. Wir müssen das Gitter wegziehen, also geh zu ihnen hinüber.«
Man hörte ein Knirschen und Quietschen. Offenbar hatte man am Gitter Seile befestigt. Ein klingender Ruf, und sie zerrten alle gemeinsam daran. Das Gitter schwebte in die Höhe und kippte nach außen. Die Gestalt kehrte zurück, schien dann herabzusinken und landete im Wagen.
Es war eine winzige Frau, eigentlich ein Mädchen, dem Anschein nach nicht älter als neun oder zehn Jahre, ungefähr einen Meter groß, mit feingemeißelten Zügen, wohlproportioniert. Mavra begriff, daß sie kein Kind vor sich hatte, sondern eine Erwachsene. Sie war sehr schmal und leicht, wog ganz gewiß nicht mehr als zwölf bis fünfzehn Kilogramm, wenn überhaupt soviel. Sie besaß zwei winzige Brüste, kaum entwickelt, aber in ihrer Art genau richtig. Das Gesicht war das Abbild mädchenhafter Unschuld, jugendlich und engelhaft.
Dann schien das Mädchen plötzlich zu leuchten. Das Licht strahlte von ihrem ganzen Körper aus, ein goldener Schein, der unfaßbar und unerklärbar war.
In der Helligkeit konnte man das Wesen nun genau erkennen. Die Haut war von rötlicher Farbe, ein blasser Widerschein des Leuchtens; die Haare waren zu einer Pagenfrisur geformt, von blauschwarzer Farbe. Zwei winzige Ohren, sehr spitz, ragten am Kopf empor, und die Augen schienen wie die einer Katze das Licht widerzuspiegeln. An ihrem Rücken wuchsen paarweise vier für den Körper verhältnismäßig große und völlig durchsichtige Doppelflügel. Das Wesen lächelte und ging auf Mavra zu, die Hand grüßend erhoben. Beim Gehen hörte man ein leises Scharren. Mavra sah, daß es von etwas sehr Starrem herrührte, das von ihrem Rückgrat bis zum Boden hinabreichte. Der Auswuchs war von viel dunklerem Rot als der Teint des Mädchens und endete in einer gefährlich aussehenden Spitze, die eine Spur am Boden hinterließ.
»'allo, ich bin Vistaru«, sagte das Wesen.
»Mavra Tschang. Der große Mann dort ist Renard, das dicke Mädchen Nikki.«
»Riihnard«, wiederholte das Mädchen.»Nihkih.«
»Sie leiden an einer Drogensucht«, erklärte Mavra.»Man nennt sie Schwamm. Sie brauchen sehr schnell Hilfe.«
Die Miene des Mädchens wurde grimmig. Sie sagte etwas zu sich in ihrer eigenen Sprache.
»Wir müssen sie sehr schnell fortbringen«, bestätigte Vistaru.»Und sie sind so schwer.«
»Ich komme allein hinaus«, sagte Mavra.»Vielleicht kann ich draußen mithelfen.«
Die Frau, die fliegen konnte, nickte, und Mavra kletterte an der Wagenwand hinauf und sprang hinunter auf den Boden.
Der Himmel war klarer geworden, und von den großen Sternkugelhaufen drang Licht herunter.
Sie sah die beiden Zyklopen regungslos am Boden liegen. Sie schienen tot zu sein.
Von ihren Retterinnen schien es eine ganze Anzahl zu geben, fünfzehn oder zwanzig. Sie schwebten lautlos umher, unbeeinflußt von den Gesetzen der Schwerkraft. Ihre Flügel summten leise, wenn sie ganz in der Nähe flogen, sonst waren sie lautlos. Einige nutzten jetzt ihre innere Leuchtkraft und erwiesen sich als in allen Regenbogenfarben schillernd, Rot und Orange, Grün, Blau, Braun, alles, und manche waren sehr dunkel, andere ganz hell. Abgesehen davon sahen sie alle ganz gleich aus. Einige hatten Packen an die Bäuche geschnallt. Von dort stammten offenbar die Seile her.
Zusammen mit den Wesen, die Lata hießen, wie Vistaru ihr mitteilte, gelang es Mavra, eine Klappe an der Rückseite des Wagens zu öffnen und herunterzukippen, so daß sie die Bewußtlosen herausziehen konnten.
»Können Sie sie wehecken?«fragte Vistaru.
Mavra nickte, und die Lata sahen erstaunt zu, als sie die beiden mit ihren Fingernägeln stach.
»Nikki, kannst du mich hören?«fragte sie.
Das Mädchen nickte mit geschlossenen Augen.
»Du stehst auf und gehst mit mir«, fuhr Mavra fort. Das Mädchen öffnete die Augen, stand unsicher auf und blieb stehen.»Du gehst, wenn ich gehe, bleibst mit mir stehen und setzt dich mit mir hin.«
Dasselbe machte sie mit Renard, während sie befriedigt vermerkte, daß Nikki alle ihre Bewegungen getreu nachvollzog.
Das schien die Lata zu verwundern. Vistaru kam auf sie zu, während die anderen ihre Glockentöne hervorbrachten.
»Wie machen Sie das?«fragte sie.»Sie wollen wissen, ob Sie Stacheln in den Fingern haben?«
»Sozusagen«, sagte Mavra, und sie machten sich auf den Weg.
Es ging ziemlich mühelos. Mavra kam dahinter, daß der Grat der Berge auch die Grenze zwischen dem Zyklopen-Sechseck war, das Teliagin genannt wurde, und dem Hex namens Kromm. Der Unterschied war erstaunlich. Vom Regen war die Luft noch kühl, und der Wind wehte scharf, als sie die Grenze erreichten. Es gab dort keine Markierungen, Wachen oder Aufpasser, aber man wußte, daß es die Grenze war. Man kam sich vor, als trete man durch einen Vorhang.
Die Luft war plötzlich schwül und schwer, so feucht, daß Mavra binnen Minuten schweißbedeckt war. Insektengeräusche, schwach und leise in Teliagin, drängten sich hier auf, als hätte man einen Lautsprecher eingeschaltet. Das Atmen fiel schwer, der Geruch war merkwürdig.
»Keine Sorge«, sagte Vistaru.»Anders, ja, aber nicht gefährlich.«
Das mochte sein, dachte Mavra, aber aus dem getrockneten Schlamm wurde wieder richtiger Schlamm, der Boden wirkte immer feuchter, die Vegetation beinahe dschungelartig. Am Fuß der Berge gab es einen Sumpf, der sich in alle Richtungen zu erstrecken schien. Das Wasser war nicht sehr tief — vielleicht einen halben Meter —, aber dunkel und still und stinkend, und es gab gewiß tiefe Stellen. Überall wucherte Moos.
»Müssen wir weit durch dieses Gelände gehen?«fragte sie die Lata.»Ihr könnt fliegen, aber wir nicht.«
»Nur kurz«, erwiderte das Mädchen.
Sie stapften eine Stunde durch den Schlamm, und das Wasser wurde tatsächlich tiefer, bis es ihr zu den Stiefeln hineinlief. Einmal stolperte sie über eine Ranke unter Wasser und fiel mit dem Gesicht voraus in glücklicherweise seichtes Wasser.
Renard und Nikki, die sich nirgends verfangen hatten, stürzten pflichtgemäß ebenfalls zu Boden, und es kostete einige Anstrengung, sie in die Höhe zu bringen, bevor sie ertranken.
Mavra wusch sich mit dem Wasser Schlick aus Augen, Nase und Mund und säuberte die beiden anderen mit Hilfe der Lata, aber danach sahen sie immer noch schlimmer aus als irgendein Wesen, dem sie auf der Schacht-Welt bisher begegnet waren. Selbst ihr Geschenk von Trelig, der Pferdeschweif, war so mit Schlamm verbacken, daß sie das Gefühl hatte, hinten säße jemand auf ihr.
Endlich verwandelte sich alles — vom schrecklichen Sumpf zu stillem Meer. Vistaru bat sie zu warten, und eine Lata flog zu einer fernen Ansammlung schwimmender Büsche.
Das Meer, wenn es ein Meer war, besaß eine seltsame Schönheit. Der Himmel war trotz der drückenden Schwüle klar, und die Sternenhaufen und Gaswolken spiegelten sich in der dunklen Oberfläche.
Einer der schwimmenden Büsche schien sich zu lösen und kam auf sie zu. Obenauf saß Barissa, eines der Lata-Wesen, bläulich leuchtend.
Der Busch erwies sich als Riesenblume. Er sah aus wie eine gigantische Rose mit geschlossener Knospe, umgeben von einer großen, dicken, grünen Membranplattform.
Barissa lächelte und sagte etwas. Mavra sah Vistaru an.
»Er sagt, der alte Macham ist schläfrig und mürrisch, aber er kennt das Problem und wird Sie und die anderen mitnehmen.«
Mavra sah das Wesen wieder an. Es war von hellem Orangerot oder würde es sein, sobald es sich ganz öffnete. Aus der Mitte der geschlossenen Blume ragten zwei Stengel wie riesige Weizenhalme. Sie trat auf einen Wink der Lata auf das grüne Blatt, Nikki und Renard folgten ihr und ahmten sie nach, als sie sich auf dem Rand niederließ.
Das Wesen drehte sich langsam herum und fuhr auf den stillen See hinaus. Es schien sich durch diese Kreisbewegung in Gang zu halten, und es ging zwar nicht übermäßig schnell, aber man wurde doch rasch schwindlig. Nach einer Stunde wünschte Mavra sich abwechselnd, tot zu sein oder wieder an Land. Das Maß ihrer Übelkeit ließ sich nicht beschreiben.
Nach einer Ewigkeit brach der Tag an. Sie würgte immer wieder und sah die beiden Hypnotisierten, die sie inzwischen beneidete, sie nachahmen. Vistaru ging zu ihr hinüber.
»Immer noch krank?«fragte sie überflüssigerweise.
»Und ob!«stieß Mavra hervor.
»Wir sind fast da.«
Inzwischen war Mavra nahezu alles gleichgültig, aber zum erstenmal seit langer Zeit gelang es ihr, sich umzuschauen.
Sie waren nicht mehr allein.
Zu Tausenden drehten sich überall andere Blumen in einem großartigen Ballett auf dem Wasser. Sie brachten Myriaden Farben und Farbkombinationen hervor und öffneten sich den gleißenden Strahlen der Sonne. Unter anderen Umständen hätte Mavra sogar Gefallen daran gefunden.
Der Krommianer, auf dem sie saßen, wurde zu ihrer unbeschreiblichen Erleichterung langsamer. Auch er hatte sich über ihnen geöffnet und bildete einen Schleier aus leuchtenden Braun- und Orangetönen. Die langen Stengel waren Augen, entdeckte sie — lange, ovale, neugierige braune Augen mit schwarzen Pupillen, die so merkwürdig aussahen, als hätte ein Witzzeichner sie aufgemalt. Sie waren unabhängig voneinander und blickten manchmal in verschiedene Richtungen. Vom Kern, dem ›Kopf‹ des Wesens, konnte man nur wenig sehen. Er schien eine weiche, grellgelbe Masse zu sein und hatte eher Ähnlichkeit mit dichtem, glattem Haar als mit dem Zentrum einer Blume. Die Drehung war inzwischen so langsam geworden, daß Mavra sich sogar zu fragen vermochte, ob diese Wesen wirklich Pflanzen oder unglaublich exotische Tiere waren.
Das Wesen hörte endlich ganz auf, zu rotieren, und trieb langsam in einer Richtung. Damit hörte zwar nicht die ganze Welt auf, sich zu drehen, aber es war doch viel erträglicher. Sie waren weit gekommen, soviel stand fest. Mavra kroch ein wenig auf der Plattform herum, wobei sie darauf achtete, daß ihre Nachahmer nicht ins Wasser fielen, und blickte in die Richtung, in der sie trieben. Sie konnte eine Insel sehen — einen hohen, aber nicht sehr großen Felsen mitten im Meer. In der Wand schien sich eine künstliche Höhle zu befinden, kohlschwarz und ohne Perspektive.
Mavra begriff plötzlich, daß es ein schwarzes Hexagon war.
Vistaru flog heran.
»Wir legen in der Nähe des Zone-Tores an«, sagte sie.»Sie müssen den anderen sagen, daß sie hineingehen.«
Sie wies auf das sich rasch nähernde Loch.
»Ich nicht?«fragte Mavra.
Vistaru schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht jetzt. Später. Der Botschafter von Kromm sagt, Sie jetzt noch nicht.«
»Das Ding dort wird meinen beiden Freunden helfen?«fragte Mavra.
Vistaru nickte.
»Es ist ein Tor. Es wird sie zu Zone bringen. Sie werden durch den Schacht der Seelen gehen. Sie werden Bewohner dieses Planeten werden, wie ich.«
»Sie meinen — sie werden in Lata verwandelt?«fragte Mavra.
»Vielleicht. Wenn nicht Lata, etwas anderes. Kein Schwamm mehr. Gedächtnis wieder da, alles.«
Mavra war nicht bereit, das alles zu akzeptieren, aber sie mußte so tun, als glaubte sie daran. Daß sie selbst den beiden nicht helfen konnte, stand fest.
Vistaru sah die Zweifel und begriff, daß sie von der Unkenntnis der Schacht-Welt herrührten.
»Jeder, der von einer anderen Welt kommt, geht durch den Schacht, alle werden verändert. Bei mir war es auch so. Ich war einmal wie ihr. Bin durch den Schacht gegangen, als Lata aufgewacht.«
Mavra glaubte ihr jetzt beinahe. Das erklärte, woher das Wesen ihre Sprache kannte. Aber es führte zu einer neuen Frage.
»Warum dann ich nicht auch?«
»Befehl«, sagte Vistaru achselzuckend.»Sie sagen, Sie sind nicht Mavra Tschang. Sie sagen, Sie sind eine böse Person.«
Mavra öffnete verblüfft den Mund und klappte ihn dann wieder zu.
»Das ist doch lächerlich«, erklärte sie.»Wie kommt man denn darauf?«
»Sie sagen, sie hätten Mavra Tschang, Renard und Nikki schon kennengelernt. Sie sagen, ihr seid Betrüger.«
Mavra wollte etwas erwidern, besann sich aber und setzte sich hin. Sie war so wütend wie noch nie. Es war der letzte Tropfen in einem übervollen Faß.
Dafür würde jemand bezahlen müssen.