Schacht-Welt, südliche Halbkugel, Teliagin

Mavra Tschang hatte wider Willen ein wenig gedöst. Sie wurde aber plötzlich ruckartig wach und schaute sich dumpf um. Nikki und Renard schliefen noch im Gras und schienen sich zu erholen. Sie schaute sich nervös um, versuchte mit allen Sinnen zu erfassen, was vorging.

Ein warmer Wind wehte flauschige weiße Wolken über einen blauen Himmel, und sie konnte Baumwipfel rauschen und fremde Vögel und Insekten schnattern und summen hören. Auf dem Grasland waren Tiere in Aufregung. Sie kannte die Anzeichen; jemand kam. Sie schüttelte Renard, der stöhnte und sagte:»Hm? Was?«

»Aufwachen!«zischte sie.»Wir bekommen Besuch!«

Sie weckten beide Nikki, die langsamer wach wurde als Renard, und Mavra überlegte, was zu tun sei.

»Wir müssen weg von hier«, sagte sie,»und zwar sofort. Ich möchte sehen, womit wir es zu tun haben, bevor man uns findet.«

Sie standen auf und folgten ihr in den Wald.

»Wenn jemand weiß, was die Kapsel dort drüben ist, wird man uns suchen«, sagte sie.»Aber ich will wissen, was uns erwartet. Bleibt hier und versteckt euch im Dickicht. Ich schleiche zurück und sehe mich um.«

Sie kroch zur Lichtung zurück, duckte sich hinter einen Busch und hielt den Atem an. Sie hatte alles mögliche erwartet, aber kaum das, was sie auf sich zukommen sah.

Es war riesengroß — zwischen drei und vier Metern groß, mit unglaublichen Schultern und wulstigen Muskeln. Brust und Arme waren rötlich und humanoid — also ein menschlich aussehender Muskelmann. Das Gesicht war gewaltig und häßlich, fast ein Oval mit breiter, platter Nase und gespreizten Nüstern und einem zornig aussehenden Mund, aus dessen Winkeln zwei lange, spitze Reißzähne herausragten. Die Ohren waren groß und sahen großen Meermuscheln ähnlich, wenngleich sie oben spitz zuliefen. Eine Mähne von blauschwarzem Haar bedeckte den Kopf und lief zwischen zwei gefährlich aussehenden, spitzen Hörnern zusammen, die fast einen Meter lang waren.

Aber es war das Auge, das Aufmerksamkeit erregte. Es sah wie ein riesiges menschliches Auge aus, saß genau über der Nase und im Mittelpunkt unter der Stirn. Ein zweiter Blick zeigte, daß es in Segmente aufgeteilt war, so, als handle es sich um eine Ansammlung von Augen mit einem einzigen großen Lid.

Von den Hüften abwärts war das Wesen mit dichtem, wolligem, rostrotem Haar bedeckt, und die mächtigen muskulösen Beine endeten in elefantengroßen Hufen. Das Geschöpf trug ein einzelnes Kleidungsstück, eine schmutzigweiße, kurze Hose um die Lenden, womit das männliche Sexualorgan, das der Größe des Körpers entsprach, kaum verhüllt wurde. Das Wesen schien zu knurren und zu murren, während es näher kam.

Es blieb stehen, schien zu schnuppern, drehte sich hin und her. Mavra duckte sich unwillkürlich und spannte die Muskeln an.

Dann sah sie das Seltsamste. Das Wesen hatte ein Band aus einer Art Haut um den linken Arm gewickelt; daran befand sich — es konnte nichts anderes sein — eine riesengroße, aufziehbare Armbanduhr.

Zum erstenmal begriff Mavra, daß sie eine der beherrschenden Rassen dieses seltsamen Planeten vor sich hatte.

Der Wind drehte ein wenig, und das Geschöpf schien die Witterung zu verlieren. Es richtete den Blick wieder auf die Raumschiffkapsel. Es war fast so groß wie diese und betrachtete das Ding prüfend. Dann schien es die offene Luke zu entdecken und versuchte sich hochzuziehen. Das mißlang ein paarmal, und das Wesen brüllte zornig auf und hieb mit einer sehr menschlichen Geste der Enttäuschung die rechte Faust in die linke Handfläche.

Dann tauchte ein zweiter Zyklop auf und brüllte dem ersten etwas zu. Die Laute klangen für Mavras Ohren tierisch, aber sie wußte, daß es eine Art Sprache sein mußte. Tiere gebrauchten keine Armbanduhren.

Der Neuankömmling näherte sich, und in der Ferne glaubte Mavra das Gebrüll von anderen zu hören. Offenbar waren sie — welch ein Glück! — nicht in einem dichtbesiedelten Gebiet gelandet, aber zusammen mit Neugierigen erschienen solche, die der Sache nachgingen.

Der zweite Zyklop erreichte den ersten und sprudelte Fauch- und Knurrlaute heraus, begleitet von den entsprechenden Gesten. Der erste, etwas größer, antwortete, wies auf die Kapsel und fuchtelte wild herum.

Nach einer Weile erschienen ein dritter, vierter und fünfter. Zwei davon waren weiblich, fast einen Meter kleiner als die Männer, also nur drei Meter groß, und weniger muskelbepackt. Sie wirkten auch ein wenig O-beinig, gedrungener und hatten kleine, steinharte Brüste. Sie besaßen überdies keine Hörner, sahen aber genauso zornig aus wie die Männer und schienen etwas längere Fangzähne zu haben.

Auch eine der Frauen besaß eine Armbanduhr, und zwei der Neuankömmlinge schienen Schmuck zu tragen — aus Gebeinen hergestellt —, der von den Ohren und um ihre Hälse baumelte.

Der erste Mann brüllte so laut, daß die Vögel im Umkreis von einem Viertelkilometer erschreckt davonflogen, und gestikulierte. Sie versuchten zuerst, ihn auf die Kapsel zu hieven, aber die Oberfläche war zu glatt für ihn. Dann gingen sie auf die andere Seite herum und begannen sich gegen die Kapsel zu stemmen, bis sie umkippte. Eine der Frauen hob einen Steinblock auf, der fast so groß wie Mavra war, und klemmte ihn unter die Kapsel.

Der große Zyklop ging auf die andere Seite und brüllte zustimmend. Die offene Luke war jetzt in seiner Augenhöhe, und er schaute neugierig hinein. Ein massiver Arm schob sich in die Öffnung, und es gab ein schreckliches, knirschendes Geräusch. Die Hand kam mit einem Sitz heraus, der aus seiner Verankerung gerissen worden war, und der Zyklop betrachtete ihn. Einer der Männer bückte sich ein wenig und hielt seine Hand knapp über das Knie. Mavra konnte sich vorstellen, was gesprochen wurde. Sie versuchten die Größe der Wesen zu schätzen, die mit der Kapsel gekommen waren.

Sie schlich zurück in den Wald. Diese Wesen waren offenbar klug, wenn auch primitiv, und sie wollte sie nicht kennenlernen, solange sie nicht wußte, was die Riesen zu essen pflegten.

»Mavra! Gott sei Dank!«rief Renard und umarmte sie.»Wir haben das Brüllen und Knurren gehört und wußten nicht, was geschehen ist!«

Sie berichtete hastig von den Zyklopen, und die beiden anderen hörten mit wachsendem Entsetzen zu.

»Wir müssen so schnell wie möglich von hier fort«, sagte sie.»Sie wissen schon, daß wir irgendwo in der Nähe sind.«

»Aber in welche Richtung?«fragte Nikki.»Wir könnten auf eine ihrer Städte zulaufen oder was sie sonst haben, ohne es zu ahnen.«

Mavra überlegte kurz.

»Wartet mal. Wir wissen, daß nicht die ganze Welt so ist. östlich von hier gibt es einen Ozean und Berge, ganz bestimmt nicht die richtige Gegend für diese Giganten.«

»Aber wo ist Osten?«fragte Renard.

»Die Rotation des Planeten ging von Westen nach Osten«, erinnerte ihn Mavra.»Das heißt, daß die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht. Ich würde sagen, es wird bald Abend, also muß die Sonne dort drüben sein, und Osten ist hier.«Sie deutete in die Richtung.»Gehen wir.«

Sie hatten keine Wahl und folgten ihr tiefer in den Wald. Hinter sich hörten sie immer noch das Brüllen und Schreien.

Schweigend liefen sie eine Weile dahin. Nikki hielt sich verhältnismäßig gut, hatte aber eine Klage.

»Ich verhungere«, jammerte sie bei jeder kurzen Rast.

Renard begann selbst etwas hungrig zu werden.

»Vielleicht kann ich eines der kleinen Tiere betäuben, die wir immer wieder sehen«, meinte er.»Ein kurzer Stoß mit der Pistole, mehr nicht.«

»Also gut, versuchen Sie es«, sagte Mavra.»Aber achten Sie darauf, daß kein Waldbrand entsteht.«

Wie auf ein Stichwort raschelte eines der Tiere, von denen sie gesprochen hatten, im Unterholz. Es war groß — fast einen Meter lang —, aber niedrig, mit schmaler Schnauze, buschigem Schnurrhaar und kleinen Nagetieraugen.

Renard errechnete aus den Geräuschen, wo es herauskommen mußte, und zielte mit der Pistole. Endlich tauchte das Wesen auf, und Renard drückte ab.

Nichts geschah.

Das kleine Tier drehte sich nach ihnen um, keckerte etwas, das beleidigend klang, und huschte ins Dunkel.

»Was soll das?«entfuhr es Renard. Er klopfte auf die Pistole und starrte die Ladeanzeige an.»Keine Ladung«, sagte er entgeistert.»Sie müßte noch drei Viertel ausmachen.«

Er wollte die Waffe wegwerfen, aber Mavra hielt ihn zurück.

»Behalten Sie sie«, sagte sie.»Unser Schiff hat hier auch nicht funktioniert, wenn Sie sich erinnern. Vielleicht ist das mit allen Maschinen so. Die Pistole kann später, wenn wir das Meer erreichen, noch nützlich sein. Selbst wenn das nicht so sein sollte, weiß keiner, daß sie leer ist.«

»Also müssen wir uns hungrig schlafen legen«, meinte er.»Tut mir leid, Nikki.«

Das Mädchen seufzte.

»Ich besorge morgen etwas zu essen, das verspreche ich«, sagte Mavra und glaubte es selbst halb. Sie war schon oft in verzweifelter Lage gewesen und hatte alles überstanden.»Wir übernachten hier«, sagte sie.»Ein Feuer dürfen wir nicht anzünden, aber ich übernehme die erste Wache, dann löst mich Renard ab, und Nikki löst ihn ab.«

Sie machten es sich bequem, so gut es ging. Mavra zog ihre Gerätschaften aus dem Fach in ihrem Stiefel und überprüfte sie. Ohne Batterie waren sie allerdings nicht viel wert, und wie erwartet, funktionierte sie nicht. Sie gab es auf.

Die Dunkelheit sank herab wie eine schwarze Decke, und ihre Augen schalteten auf Infrarot um.

Nikki schlief fast augenblicklich ein, aber Mavra hörte, wie Renard sich immer wieder herumwarf und schließlich aufsetzte.

»Was ist denn?«flüsterte sie.»Zuviel für einen Tag?«

Er schlich zu ihr.

»Das ist es nicht, aber ich habe nachgedacht. Es fängt langsam an.«

»Was fängt an?«

»Der Schwamm«, sagte er tonlos.»Ich habe starke Schmerzen. Das ist wie eine sehnsüchtige Qual, die den ganzen Körper erfaßt.«

»Die ganze Zeit?«fragte sie besorgt.

»Nein, in Wellen. Jetzt ist es besonders schlimm. Ich weiß nicht, ob Nikki das schon spürt, aber wenn nicht, dann kommt es.«Er zögerte.»Mavra, wir sterben«, sagte er langsam.

»Was geschieht da, Renard?«fragte sie nach einer Pause stockend.»Und wie lange dauert es?«

»Die Gehirnzellen sind als erste betroffen«, erwiderte er seufzend.»Jedesmal wenn einer der kleinen Anfälle eintritt und sie werden zunehmend schlimmer —, verliert man Zellen in seinem Körper und Zellen im Gehirn. Es ist eher ein langsamer Stillstand als ein Tod. Ich habe es bei anderen erlebt. Man behält sein Gedächtnis, verliert aber immer mehr die Fähigkeit, es zu gebrauchen. Gedankenabläufe und Urteile fallen immer schwerer. Das kaum erträgliche Heute wird zum unerträglichen Morgen. Die Dauer ist bei jedem unterschiedlich, aber grob gesprochen verliert man am Tag zehn Prozent seiner Fähigkeiten, und das läßt sich nicht mehr gutmachen, selbst wenn man danach mehr Schwamm bekommt — wofür nichts spricht. Ich war immer recht begabt — früher bin ich Lehrer gewesen, wissen Sie —, aber ich merke schon, daß sich etwas verändert. Ich bin zehn Prozent dümmer als gestern, doch das bedeutet nicht viel, wenn man vergleichsweise hoch anfängt. Aber wenn man einen Intelligenzquotienten von 150 hat, kann man sich die Dauer ausrechnen.«

Mavra tat es. Wenn Renard gestern einen IQ von 150 gehabt hatte, belief sich dieser heute noch auf 135. Nun gut, das fiel nicht weiter ins Gewicht. Aber morgen würden es 122 sein, übermorgen 110, was ungefähr dem Durchschnitt entsprach. Dann fing es aber erst an. Aus 110 würden 99 werden, dann 89. Das ging langsamer — wieviel, vier Tage? Dann 80 in fünf, 72 in sechs — ein Schwachsinniger. 65 nach einer Woche, geistig und motorisch einem Dreijährigen entsprechend. Und dann vielleicht ein Automat oder eine Art tierisches Wesen.

»Nikki?«fragte sie ihn.

»Bei ihr wird es schneller gehen, denke ich. Vielleicht ein, zwei Tage weniger bis zum kritischen Punkt.«

Sie griff nach seinem Arm. Bevor er reagieren konnte, stach sie mit ihren Fingernägeln zu, und die Hypnoseflüssigkeit drang unter seine Haut. Er zuckte überrascht zusammen, dann schien er zu erschlaffen.

»Renard, hör mir zu!«befahl sie.

»Ja, Mavra«, antwortete er mit der Stimme eines kleinen Kindes.

»Du wirst mir voll vertrauen. Du wirst ganz an mich und meine Fähigkeiten glauben und tun, was ich sage. Du wirst dich stark und gut und gesund fühlen, keine Schmerzen, keine Sehnsucht nach dem Schwamm. Verstehst du mich?«

»Ja, Mavra«, erwiderte er dumpf.

»Außerdem wirst du nicht an den Schwamm denken. Du wirst nicht glauben, daß du stirbst oder langsam zugrunde gehst. Wenn du morgens wach wirst, wirst du nicht das Gefühl haben, anders zu sein als zuvor, und auch an Nikki wirst du keine Veränderung bemerken. Hast du verstanden?«

»Ja, Mavra.«

»Gut. Jetzt gehst du hinüber und legst dich hin, schläfst gut und fest und traumlos und fühlst dich, wenn du wach wirst, sehr gut, ohne Erinnerung an dieses Gespräch. Geh jetzt!«

Er löste sich von ihr, ging zu seinem Platz, legte sich hin und schlief sofort ein.

Die Suggestion würde natürlich nicht halten, das wußte sie. Sie würde sie in Abständen erneuern und versuchen müssen, dasselbe bei Nikki zu tun. Aber das würde nur ihr eigenes Problem mildern, nicht das der beiden anderen. Sie würden weiterhin dem Gift erliegen, bis Mavras Einfluß nichts mehr zu bewirken vermochte.

Sechs Tage bis dahin.

Irgendwo auf dieser Welt mußte es jemanden geben, der ihnen helfen konnte, helfen würde. Daran mußte sie glauben.

Sechs Tage.

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